Roy Glashan's Library
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"Die Geheimnisse von Udolpho" erzählt die Geschichte von Emily St. Aubert, einer jungen Frau, die nach dem Tod ihrer Eltern unter die Obhut ihres tyrannischen Onkels Montoni gestellt wird. Montoni bringt Emily in das düstere Schloss Udolpho in den abgelegenen und wilden Apenninen.
Während ihres Aufenthalts im Schloss erlebt Emily eine Reihe von unheimlichen und unerklärlichen Ereignissen, die ihre Tapferkeit und Widerstandskraft auf die Probe stellen. Sie muss sich mit den Geheimnissen ihrer eigenen Vergangenheit, den verborgenen Wahrheiten des Schlosses und den bösen Absichten Montonis auseinandersetzen.
Der Roman ist geprägt von Themen wie Unschuld, Tugend und dem Kampf gegen Unterdrückung. Radcliffe schafft es meisterhaft, eine Atmosphäre der Spannung und des Geheimnisses zu erzeugen, die den Leser fesselt.
Titelblatt von Band 3 der Erstaugabe
Im Jahr 1584 stand in der Provinz Gasconien, an den reizenden Ufern der Garonne das Schloß des Herrn St. Aubert. Es gewährte eine Aussicht auf die Landschaften von Guyenne und Gasconien, die sich im Schmucke dicker Gehölze, Weinberge und Olivenwäldchen längs dem Flusse hinzogen. Nach Süden wurde der Blick durch die majestätischen Pyrenäen begränzt, deren Gipfel, bis an die Wolken ragend, bald in schauerlichen Formen da standen, bald von den herabrollenden Dünsten zum Theil verhüllt, kahl und öde durch die blaue Lufthülle schimmerten, oder von düstern Fichtenwäldern eingefaßt, sich in schwarzen Schatten herab senkten. In sanftem Abstich gegen diese schrecklichen Gebürge lagen zu ihren Füßen Fluren, von kleinem Gehölze begränzt, wo unter weidenden Heerden, und einfachen ländlichen Hütten das Auge gern ausruhte, wenn es die schwebenden Klüfte über sich ausgemessen hatte. Nach Norden und Osten verloren sich im fernen Nebel Guyennens und Languedocs Ebnen; nach Westen begränzten Biscayens Gewässer das Gasconische Gebiet.
Herr von St. Aubert mochte gern mit seiner Frau und Tochter am Ufer der Garonne wandeln, und der Musik zuhören, die auf den Wellen zu schweben schien. Im bunten Gewühle der Welt hatte er das Leben in allen Gestalten kennen gelernt; aber nur zu schmerzhaft hatte Erfahrung die verschönerten Gemählde berichtigt, die sich sein Herz in früher Jugend von der Menschheit schuf. Doch waren bei allem Wechsel des Schiksals, bei allen sonderbaren Lagen, worin er geriet, seine Grundsätze unerschüttert, seine wohlwollenden Gefühle ungeschwächt geblieben; und sein Herz fühlte mehr Mitleid als Erbitterung über die Thorheiten des großen Haufens, als er sich aus der Welt zu dem reinern Genusse zurückzog, den einfache Natur, Lectüre und die Ausübung häuslicher Tugenden gewähren.
Er war der jüngere Abkömmling einer vornehmen Familie, nach deren Wunsche eine reiche Heirath, oder eine glänzende Bedienung den Mangel väterlichen Vermögens bei ihm ersetzen sollte. Allein St. Aubert besaß ein zu zartes Ehrgefühl, um das erste zu suchen, und zu wenig Ehrgeitz, um das, was er Glückseeligkeit nannte, dem Streben nach Glanz und Reichthum aufzuopfern. Nach seines Vaters Tode heirathete er ein sehr liebenswürdiges Weib, die ihm an Geburt gleich, und nicht reicher als er war. Der Verstorbene hatte durch seine Freigebigkeit oder vielmehr Verschwendung, seine Angelegenheiten in solche Verwirrung gebracht, daß sein Sohn es nothwendig fand, einen Theil der Familiengüter zu verkaufen. Würklich veräusserte er auch wenig Jahre nach seiner Heirath den größten Theil davon an den Bruder seiner Frau, Herrn Quesnel, und begab sich auf ein kleines Gut in Gasconien, wo er seine Zeit zwischen dem Genusse ehelicher Glückseeligkeit, der Ausübung väterlicher Pflichten und der Beschäftigung mit den Schätzen der Gelehrsamkeit und des Genies theilte.
Er hatte von Kindheit auf an diesem Pläzchen gehangen. Oft machte er als Knabe kleine Reisen dahin, und nichts hatte die frühen Eindrücke vertilgen können, welche die Gutmüthigkeit des freundlichen, grauköpfigen Pachters auf ihn machte, der nie unterließ, seinen jungen Gast mit Sahne und Früchten, und allem, was seine kleine Hütte vermochte, zu bewirthen. Nie dachte er ohne wehmüthige Schwärmerei zurück an die grünen Wiesen, auf welchen er so oft im Wohlgefühl der Gesundheit und jugendlicher Freiheit umhersprang; an die Wälder, unter deren erfrischenden Schatten er zuerst der sinnenden Melancholie Raum gab, die späterhin einen Hauptzug seines Charakters ausmachte — an die wilden Spatziergänge auf den Bergen; an den Fluß, auf dessen Wellen er sich wogte, an die fernen Fluren, die sich eben so gränzenlos ausdehnten, als seine frühen Hoffnungen. Es war ihm unbeschreiblich wohl, als er sich endlich von der Welt losmachen und sich hieher zurückziehn konnte, um die Wünsche so mancher Jahre in Erfüllung zu bringen.
Das Gebäude bestand damals nur aus einer Sommerhütte, die blos durch reinliche Einfachheit und angenehme Lage dem Fremden gefiel, und sehr erweitert werden mußte, um einer Familie bequemen Raum zu geben. St. Aubert fühlte eine gewisse Anhänglichkeit für jeden Theil des Gebäudes, an welchem irgend eine Erinnrung aus seiner Jugend klebte, und konnte sich nicht entschließen, einen Stein aus seiner Stelle zu rücken. Der neue Anbau wurde folglich nur dem alten angepaßt und machte mit ihm zusammen nur eine einfache und elegante Wohnung aus. Der Geschmack der Frau von St. Aubert hatte sich an der innern Einrichtung gezeigt. Dieselbe reine Einfalt, welche die Sitten der Einwohner bezeichnete, blickte auch aus dem Amöblement und wenigem Zierrath der Zimmer hervor.
Die Bibliothek, die mit einer Sammlung der besten Schriften aus den alten und neuen Sprachen bereichert war, nahm die westliche Seite des Schlosses ein. Dieses Zimmer stieß an ein Wäldchen an der Spitze eines kleinen Berges, der sich zum Flusse hinabsenkte. Die schlanken Bäume gaben ihm einen melancholischen, angenehmen Schatten, während das Auge aus dem Fenster die reiche, lachende Landschaft erblickte, die sich nach Westen hinzog und zur Linken von den kühnen Spitzen der Pyrenäen beschattet wurde. An die Bibliothek stieß ein mit schönen und seltnen Pflanzen angefülltes Gewächshaus: denn die Botanik war ein Lieblingsstudium des Herrn von St. Aubert. Oft brachte er den Tag zwischen den benachbarten Gebürgen hin, die dem Naturforscher eine reiche Erndte für seinen Geschmack darboten. Zuweilen begleitete ihn seine Gemahlin auf diesen kleinen Wanderungen, öfterer aber seine Tochter. Mit einem kleinen Körbchen zum Einsammlen der Pflanzen an einem, und einem andern Körbchen voll kalter Küche, die man in der Hütte des Schäfers nicht fand, am andern Arm, durchstrich sie an seiner Seite die romantischen, prächtigen Gegenden, ohne sich durch die Reize der demüthigen Kinder der Natur von der Beschauung ihrer ungeheuern Werke abziehn zu lassen. Waren sie es müde, auf Klippen umher zu klettern, die nur den Fußtritten des Schwärmers zugänglich schienen, und wo nur die Spur der wilden Gemse auf dem Grase das Daseyn eines lebendigen Geschöpfes verrieth, so suchten sie sich eine der grünen Hölen, die so schön den Busen dieser Berge schmücken, und verzehrten unter dem Schatten der Fichte oder Ceder ihr einfaches Mahl, versüßt durch das Wasser des klaren Stroms und durch den Duft der wilden Blumen und aromatischen Pflanzen, welche die Felsen einfaßten und aus dem Grase hervorschimmerten.
An die östliche Seite des Gewächshaußes stieß ein Zimmer, welches Emilie das ihrige nannte, und worin sie ihre Bücher, Zeichnungen und musikalischen Instrumente nebst einigen Lieblingsvögeln um sich versammlet hatte. Hier beschäftigte sie sich gewöhnlich mit den schönen Künsten, die sie blos aus Neigung trieb, und in welchen ihr Genie, durch die Anweisung ihrer Eltern unterstüzt, sie früh Fortschritte machen lehrte. Die Fenster dieses Zimmers, die bis zur Erde herabgiengen, hatten eine vorzüglich angenehme Aussicht auf einen kleinen Grasplatz, der rings das Haus umgab. Hier wurde das Auge zwischen Lustwäldchen von Mandeln, Palmen, Ellern und Myrthen hin auf die ferne Landschaft geleitet, wo die Garonne sich ergoß.
Oft sah man die ländlichen Bewohner dieses glücklichen Himmelsstrichs Abends nach vollendeter Arbeit am Rande des Flusses tanzen. Ihre frölichen Melodien, ihr leichter Schritt, die lebhafte Phantasie, die aus der oft barocken Figur ihrer Tänze hervorleuchtete, mit dem geschmakvollen, schalkhaften Anzug der Mädgen zusammengenommen, gaben der Scene ein durchaus französisches Ansehn.
Die Vorderseite des Schlosses, dessen südliche Aussicht auf die erhabnen Berge stieß, enthielt unten an der Erde einen ländlichen Saal und zwei niedliche Wohnzimmer. Der erste Stock (einen zweiten hatte die Hütte nicht) war zu Schlafzimmern eingerichtet, ein einziges Zimmer, das auf einen Balcon stieß, und wo gewöhnlich gefrühstückt wurde, ausgenommen.
Auf dem umliegenden Grunde hatte St. Aubert sehr geschmackvolle Verbesserungen angebracht. Doch hieng er so sehr an den Eindrücken seiner Knabenjahre, daß er oft den Geschmack der Empfindung aufopferte. So hatte er von zwei alten Buchen, die das Gebäude beschatteten und die Aussicht hinderten, oft gesagt, daß er schwach genug seyn würde, über ihren Fall zu weinen, und statt sie abzuhauen, pflanzte er lieber noch ein kleines Wäldchen von Fichten und Ellern dazu an. Von einer, durch das schwellende Ufer des Flusses gebildeten hohen Terrasse erhub sich ein Wäldchen von Orangen, Limonien und Palmbäumen, deren Früchte in der Abendkühle balsamischen Wohlgeruch aushauchten. In einzelne Gruppen verstreut, standen noch hie und da Bäume andrer Art. Hier, unter dem dicken Schatten eines Ahornbaumes, der seinen majestätischen Wipfel nach dem Flusse hinstreckte, mochte gern in den schönen Sommerabenden St. Aubert mit seiner Frau und Kindern sitzen, und unter dem Laubwerk hervor die untergehende Sonne, den milden Glanz ihres von der Landschaft hinweg schwindenden Lichtes betrachten, bis der Schatten der Dämmerung die mannigfaltigen Formen in ein bleiches Grau zusammenschmolz. Auf diesem Pläzchen las er gerne, sprach mit seiner Frau, oder spielte mit seinen Kindern, und gab sich ganz dem Eindruck der süßen Gefühle hin, die aus Natur und Einfalt quellen. Oft sagte er mit Thränen der Freude in seinen Augen, daß diese Augenblicke unendlich süßer wären, als irgend welche in dem glänzenden Geräusch, wonach die Welt strebt, zugebracht. Sein Herz war ausgefüllt; es kannte keinen Wunsch nach höherer Glückseeligkeit als er empfand. Das Bewußtseyn, recht zu handeln, verbreitete eine Heiterkeit über sein Wesen, welche nur dieß Bewußtseyn bei einem Manne von so feinem moralischen Gefühl hervorbringen konnte, und die den Genuß jeder ihn umgebenden Freude erhöhte.
Der tiefste Schatten der Dämmerung konnte ihn nicht von seinem Lieblingsbaume vertreiben. Er liebte die süße Stunde, wo die lezten Farben des Lichts erstarben, wo die dicht gesäeten Sterne durch den Aether zittern, und aus der dunkeln Fläche des Wassers wiederstrahlen; die Stunde, welche vor allen andern die Seele in wehmüthig süßes Nachdenken verstekt, und sie erst zu erhabnen Betrachtungen emporhebt. Oft verweilte er noch hier, wenn schon der Mond seine sanften Stralen durch das Laub hingoß, und oft wurde sein ländliches Mahl von Milch und Früchten unter seinem Schatten ausgebreitet, bis durch die Stille der Nacht der harmonische Gesang der Nachtigall drang, und die Seele in schwermüthig süße Gefühle einwiegte.
Der Tod seiner Söhne war die erste Unterbrechung des Glücks, das er in seiner ländlichen Einsamkeit genoß. Er verlor sie in dem Alter, wo die kindische Unbefangenheit so sehr fesseln kann, und wenn er gleich um seiner Gattin willen, den Ausdruck seines Schmerzes zu unterdrücken, und alle Philosophie aufzubieten suchte, so fühlte er doch nur zu gut, daß es keine Philosophie giebt, die bei einem solchen Verluste beruhigen kann. Eine Tochter war nunmehr sein einziges Kind, und während er mit sorgsamer Zärtlichkeit die Entfaltung ihrer jungen Geisteskräfte beobachtete, bemühte er sich mit unablässiger Sorgfalt den Zügen in ihrem Charakter entgegen zu arbeiten, die in der Folge ihre Glückseeligkeit stören konnten. Sie verrieth in ihrem frühsten Alter ungewöhnliche Zartheit des Gefühls, und äusserste Güte; nur war mit diesen Eigenschaften ein für ihre künftige Ruhe zu feiner Grad von Zärtlichkeit verbunden. So wie sie an Jahren zunahm, gab diese Fühlbarkeit ihrem Geist einen Hang zum Nachdenken und ihrem Wesen eine Sanftheit, die den Reiz ihrer Schönheit erhöhte, und sie unendlich liebenswürdig machte. Allein St. Aubert besas zu viel gesunde Vernunft, um einen Schmuck einer Tugend vorzuziehn, und war scharfsinnig genug einzusehn, daß dieser Schmuck zu gefährlich für die Besitzerin war, um ein Glück genannt zu werden. Er gab sich alle Mühe, ihre Seele zu stärken, und sie an Herrschaft über sich selbst zu gewöhnen; er lehrte sie, dem ersten Antriebe ihrer Gefühle zu widerstehn, und mit kaltem Blute die Vereitlung ihrer Wünsche zu betrachten, die er selbst ihr oft in den Weg zu legen wußte. Indem er sie unterrichtete, dem ersten Eindrucke zu widerstehn, und sich die standhafte Seelenwürde zu erwerben, die allein den Leidenschaften das Gegengewicht zu halten, und uns über die Gewalt der Umstände empor zu heben vermag, gab er sich selbst eine Lehre der Stärke; denn oft mußte er mit anscheinender Gleichgültigkeit die Thränen und Kämpfe ansehn, welche seine Sorgfalt ihr kostete.
Emilie glich von Person ihrer Mutter; sie hatte ihr feines Ebenmaas der Gestalt, ihre Feinheit der Züge und ihre blauen Augen, voll süßer Zärtlichkeit. Allein so liebenswürdig auch ihre Person war, bestand doch ihr Hauptreiz in dem Ausdrucke ihres Gesichts, das mit zarter Bewegbarkeit alle Gefühle ihrer Seele verrieth, sobald Gespräch und Unterhaltung sie belebten.
St. Aubert bebaute ihren Verstand mit der ängstlichsten Sorgfalt: er brachte ihr eine allgemeine Uebersicht von den Wissenschaften, und eine genaue Bekanntschaft mit allen Theilen der schönen Litteratur bei. Er lehrte sie Latein und Englisch, damit sie die Schönheiten der besten und erhabensten Dichter verstehen konnte. Sie zeigte von Kindheit an besondern Geschmack für Werke des Genies, und es war St. Auberts Grundsatz, sowohl als es seiner Neigung gemäß war, jede unschuldige Mittel der Glückseeligkeit bei ihr zu befördern. Ein wohl angebauter Geist, sagte er oft, ist die beste Sicherheit gegen die Pest der Thorheit und des Lasters. Die leere Seele hascht immer nach Zeitvertreib, und stürzt sich lieber in Verwirrungen, um nur der Langenweile zu entgehn. Man bereichre sie mit Ideen, man lehre sie das Vergnügen des Denkens kosten, und gewiß wird die Befriedigung, die sie in ihrer innern Welt findet, die Versuchungen der äussern aufwiegen. Eine geübte Denkkraft, ausgebildete Seelenkräfte sind gleich nothwendig zum Glück eines ländlichen und städtischen Lebens; beim erstern verhindern sie die unangenehme Empfindung der Unthätigkeit und gewähren ein veredeltes Vergnügen durch den Geschmack, den sie am Großen und Schönen erzeugen; beim leztern machen sie Zerstreuung weniger zu einem Gegenstande des Bedürfnisses und folglich des Bestrebens für uns.
Spatziergänge in der schönen Natur gehörten unter Emiliens frühste Vergnügungen, mehr aber noch als die sanfte und glühende Landschaft liebte sie die wilden Spatziergänge in den Wäldern, die das Gebürge einfaßten; vorzüglich aber die ungeheuern Klüfte und Berghölen, wo die Stille und Größe der Einsamkeit dem Ganzen eine schauerliche Ehrfurcht einflößte, und ihre Gedanken zu dem Gotte des Himmels und der Erde emporhub. Oft wandelte sie hier einsam umher, in melancholischen Zauber gewiegt, bis der lezte Schimmer des Tages vom Westen verschwand; bis nichts mehr, als der einsame Laut einer Schäferglocke, oder das ferne Bellen eines Haushundes die Abendstille unterbrach: dann weckte die Dunkelheit der Wälder, das Zittern des Laubs in dem Lüftchen, die Fledermaus, die durch die Dämmerung schwirrte, das einzelne, bald verschwindende, bald wiederkehrende Licht in den Hütten, die Kräfte ihrer Seele zur Begeisterung und Poesie.
Ihr liebster Gang war zu einer kleinen Fischerhütte, die St. Aubert in einer Waldhöle am Rande eines Flüßchens angelegt hatte, das von den Pyrenäen herab strömte, und nachdem es schäumend die Klippen herabgestürzt war, seinen stillen Lauf unter den Schatten hinwand, die sich in seinen klaren Fluten spiegelten. Ueber den Wäldern, die diese Höle einzäunten, erhoben sich die hohen Gipfel der Pyrenäen, welche oft kühn durch die dunkeln Schatten ins Auge sprangen. Oft sah man nur das zertrümmerte Haupt eines Felsen, mit wildem Gesträuch gekrönt, oder eine Schäferhütte, die von dunkeln Cypressen, oder wallenden Ellern beschattet, an einer Klippe hieng. Aus den Tiefen der Wälder hervorgehend öfnete sich der Prospekt auf die ferne Landschaft, wo die reichen Weiden und mit Wein bedeckten Hügel von Gasconien sich allmählig zu den Ebnen herabneigten, bis endlich an den sich windenden Ufern der Garonne, Wäldchen und Dörfer und Lusthäuser, die Schärfe ihrer Formen in der weiten Ferne verlierend, vor dem Auge in ein reiches harmonisches Colorit zusammenschmolzen.
Dieß war auch St. Auberts Lieblingsaufenthalt, wohin er sich oft von der Hitze des Mittags mit seiner Frau, seiner Tochter und seinen Büchern zurückzog; oft kam er in der süßen Abendstunde, um die schweigende Dämmrung zu begrüßen, oder die Musik der Nachtigallen zu belauschen. Oft auch brachte er sich selbst Musik mit, und weckte das schlafende Echo durch den sanften Laut seiner Hoboe, wofern nicht Emiliens Töne neue Süßigkeit aus den Wellen zogen, über welchen sie bebten.
Einst bemerkte sie auf einem Spatziergange nach diesem Orte einige Zeilen von unbekannter Hand mit einer Bleifeder an die Wand geschrieben. Voll Verwundrung trat sie näher herzu und fand ein niedliches Sonnet, das an die unbekannte Göttin dieser Schatten gerichtet war. Emilie besaß nicht Eitelkeit genug, diese Zeilen auf sich zu deuten, eben so wenig aber konnte sie, wenn sie den kleinen Zirkel ihrer Bekannten durchlief, einen andern Gegenstand finden, an den sie gerichtet seyn könnten. Sie blieb also in Ungewißheit, die einem weniger beschäftigten Geist peinlicher gewesen seyn würde, als sie es ihr war. Sie hatte nicht Musse, diesen zuerst unbedeutenden Umstand, durch öfteres Erinnern wichtiger für sie werden zu lassen. Die kleine Eitelkeit die vielleicht dadurch erregt worden war — denn dieselbe Ungewißheit welche ihr verbot, sich für den Gegenstand zu halten, der den unbekannten Dichter zu diesem Sonnet könnte begeistert haben, verbot ihr auch, bestimmt das Gegentheil zu glauben — gieng wieder vorüber und unter ihren Studien, Büchern und der Ausübung geselliger Tugenden verschwand bald die ganze Sache aus ihren Gedanken.
Bald nachher erweckte eine Unpäßlichkeit ihres Vaters, der von einem Fieber befallen wurde, ängstliche Besorgnisse in ihrem Herzen. Wiewohl seine Krankheit nicht eigentlich gefährlich war, erlitt doch seine Gesundheit dadurch einen harten Stoß. Frau von St. Aubert und Emilie pflegten ihn mit unermüdeter Sorgfalt, allein seine Genesung gieng langsam, und so wie seine Kräfte wiederkehrten, schienen seiner Gattin Kräfte abzunehmen.
Seine liebe Fischerhütte war das erste Pläzchen, das er besuchte sobald er sich wieder stark genug fühlte, der freien Luft zu genießen. Ein Körbchen mit Eßwaaren, mit Büchern und Emiliens Laute wurde vorausgeschickt; Fischergeräth bedurfte er nicht, denn er konnte nie Freude daran finden zu quälen oder zu zerstören.
Nachdem er sich wohl eine Stunde mit Botanisiren beschäftigt hatte, wurde die Mittagsmahlzeit aufgetragen. Es war ein Mahl, durch das Dankgefühl, diesen Ort wieder besuchen zu können, gewürzt, und noch einmahl lächelte reines Familienglück unter diesen Schatten. Herr von St. Aubert sprach mit ungewöhnlicher Heiterkeit; jeder Gegenstand labte seine Sinnen. Die erquickende Freude, welche der erste Anblick der Natur nach dem Schmerz der Krankheit und der Verhaftung im Krankenzimmer gewährt, übersteigt alle Beschreibung, so wie die Begriffe des Gesunden. Die grünen Wälder und Weiden, der blumichte Rasen, das blaue Gewölke des Himmels; die balsamische Luft; das Murmeln des hellen Stroms und selbst das Gesumse jedes kleinen Insekts der Gebüsche schienen die Seele zu beleben und schon das bloße Daseyn zum Seegen zu machen.
Frau von St. Aubert, neu belebt durch die Heiterkeit und Wiedergenesung ihres Gatten, fühlte die Krankheit nicht mehr, die vor kurzem sie niedergebeugt hatte; sie wandelte an der Hand ihres Mannes und ihrer Tochter durch die romantischen Gänge dieses schönen Waldes, und oft wenn sie mit ihnen sprach, und sie abwechselnd ansah, bemächtigte sich ihrer eine wehmüthige Zärtlichkeit, die ihre Augen mit Thränen füllte. St. Aubert bemerkte dieß mehr als einmal und machte ihr einen sanften Vorwurf darüber; allein sie konnte nur lächeln, seine und Emiliens Hand ergreifen und noch stärker weinen. Er selbst fühlte sich bis zum schmerzhaften von gleich zärtlicher Wehmuth durchdrungen, und konnte sich nicht enthalten, insgeheim zu seufzen. »Vielleicht werde ich einst auf diese Augenblicke als auf dem Gipfel meines Glüks mit hofnungsloser Trauer zurückblicken. Aber ich will sie nicht durch voreiliges Grämen trüben; ich will hoffen, daß ich nicht erleben werde, den Verlust derer zu beweinen, die mir theurer sind, als das Leben selbst.«
Um seinen Tiefsinn zu zerstreuen, oder vielleicht ihm ungestört nachzuhängen, bat er Emilien, ihre Laute zu holen, die sie mit so süßem Ausdruck zu spielen wußte. Als sie sich der Fischerhütte näherte, erstaunte sie, die Töne des Instruments zu hören, das von der Hand des Geschmacks berührt, eine klagende Melodie hören ließ, die ihre ganze Aufmerksamkeit anzog. Sie hörte in tiefer Stille zu, und fürchtete, sich von der Stelle zu bewegen, damit nicht der Schall ihrer Tritte sie um eine Note der Musik brächte, oder den Musikus störte. Ausserhalb des Gebäudes war alles still und niemand ließ sich sehen. Sie horchte weiter, bis Ueberraschung und Freude durch Furchtsamkeit verdrängt wurden. Diese Furchtsamkeit stieg höher, wenn sie an die Zeilen an der Wand zurückdachte, und sie besann sich, ob sie weiter gehn oder umkehren sollte.
Indem hörte die Musik auf, und nach einem kurzen Besinnen faßte sie Muth, auf die Fischerhütte los zu gehn, die sie mit schwankenden Schritten betrat und — leer fand. Ihre Laute lag auf dem Tuch, alles schien ruhig, und fast glaubte sie schon, ein andres Instrument gehört zu haben, bis sie sich erinnerte, daß ihre Laute auf der Fensterbank liegen geblieben war, als sie mit ihren Eltern in den Wald gieng. Sie fühlte sich beunruhigt, ohne zu wissen warum; die melancholische Dunkelheit des Abends, die tiefe Stille des Orts, nur durch das leise Zittern des Laubes unterbrochen, erhöhte ihre phantastische Aengstlichkeit, und sie wünschte die Hütte zu verlassen, als eine Schwäche sie anwandelte und sie nöthigte, sich niederzusetzen. Indem sie sich wieder aufzuraffen suchte, fielen ihr die an die Wand geschriebenen Zeilen ins Auge; sie fuhr zusammen als hätte sie einen Fremden gesehn; doch überwand sie endlich ihre Angst und gieng ans Fenster hin; sie sah, daß zu den bereits geschriebnen Zeilen noch andre hinzugesetzt waren, in welchen ihr Name stand.
Sie konnte nun nicht länger mehr zweifeln, daß sie damit gemeint sey, doch blieb es ihr noch eben so unerklärlich, als zuvor, wer der Verfasser seyn könne. Während sie darüber nachsann, glaubte sie einen Fußtritt ausserhalb des Gebäudes zu hören, und aufs neue erschreckt ergrif sie schnell ihre Laute und eilte davon. Ihre Eltern fand sie auf einem kleinen Fußpfade, der sich längs der Hütte hinzog.
Sie setzten sich auf einem grünen von Palmbäumen beschatteten Hügel, von wo man Gasconiens Thäler und Fluren übersah, und während ihre Augen über die prächtige Scene hinirrten, und sie den süßen Duft der Blumen und Kräuter einhauchten, spielte und sang Emilie einige ihrer Lieblingsarien mit der Delikatesse des Ausdrucks, worinn sie so ganz Meisterin war.
Musik und Gespräche hielten sie auf diesem bezauberten Pläzchen fest, bis der Sonne lezter Stral auf die Fluren sank; bis die weissen Seegel, die unter den Bergen auf der Garonne hinglitten, sich verdunkelten, und die Abenddämmrung sich über die Landschaft schlich. Es war eine melancholische aber nicht unangenehme Dämmrung. St. Aubert und seine Familie standen auf und verließen mit Leidwesen den Ort — ach Frau von St. Aubert wußte nicht, daß sie ihn auf immer verließ.
Als sie die Fischerhütte erreichten, vermißte ihre Mutter ihr Armband und besann sich, daß sie es nach der Mahlzeit vom Arm genommen und auf dem Tisch hatte liegen lassen. Nach langem Suchen, wobei Emilie sehr thätig war, mußte sie sich endlich in den Verlust ergeben. Dieß Armband hatte doppelten Werth für sie, weil ein Miniatürgemälde ihrer Tochter, das erst vor einigen Monaten gemalt und ihr sehr ähnlich war, sich daran befand. Emilie erröthete, und wurde nachdenkend; ihre Laute und die neugeschriebenen Zeilen hatten sie bereits überzeugt, daß in ihrer Abwesenheit ein Fremder in der Hütte gewesen seyn mußte und der Inhalt dieser Zeilen machte es nicht unwahrscheinlich, daß der Dichter, der Spieler und der Dieb eine Person waren. Allein ohngeachtet diese Umstände so ziemlich ein Ganzes ausmachten, hielt doch ein gewisses Gefühl sie unwiderstehlich zurück, etwas davon zu erwähnen, nur nahm sie sich insgeheim vor, nie wieder ohne Begleitung ihrer Eltern die Hütte zu besuchen.
Schweigend kehrten sie nach dem Schlosse zurük: Emilie dachte nach über den sonderbaren Vorfall; St. Aubert dachte in stiller Dankbarkeit an das Glück, welches er genoß, und Frau von St. Aubert dachte mit Unruhe und Verlegenheit an den Verlust des Gemäldes. Als sie dem Hause nahe kamen; bemerkten sie ein ungewöhnliches Geräusch; sie hörten deutlich Stimmen; sahen Bedienten und Pferde zwischen den Bäumen und endlich auch einen Wagen, der schnell nach dem Schlosse hinrollte. Wie sie näher kamen, erkannte St. Aubert die Livree seines Schwagers und fand Herrn und Madame Quesnel bereits im Besuchzimmer. Sie hatten einige Tage zuvor Paris verlassen, und waren auf dem Wege nach ihrem Gute, das nur zehn Meilen von La Vallée lag, und das Herr Quesnel einige Jahre zuvor von St. Aubert gekauft hatte. Es war Frau von St. Auberts einziger Bruder; allein da Uebereinstimmung des Charakters die Bande der Verwandschaft nie bei ihnen verstärkt hatte, pflegten sie nicht viel zusammen zu kommen. Herr Quesnel hatte immer in der großen Welt gelebt: Glanz und Schimmer war sein Wunsch und seine Gewandheit und Menschenkenntniß hatte ihm den Besitz beinahe von allem was er suchte verschafft. Es war wohl nicht zu verwundern, daß ein Mann von solchem Charakter St. Auberts Tugenden nicht würdigen konnte, und seinen reinen Geschmack, seine Einfachheit und gemäßigten Wünsche für Zeichen eines schwachen Geistes und eingeschränkten Kopfes hielt. Seiner Schwester Heirath mit St. Aubert war für seinen Stolz kränkend gewesen, denn er hatte immer gehofft eine Verbindung für sie zu knüpfen, die ihm zu der Wichtigkeit helfen könnte, die sein höchster Wunsch war, und wirklich hatte sie auch Anträge von Personen gehabt, deren Rang und Vermögen seinen Hoffnungen schmeichelte. Allein seine Schwester glaubte bey der Bewerbung des Herrn St. Auberts zu finden, daß Glanz und Glückseeligkeit verschiedne Dinge wären, und besann sich nicht, die leztere dem ersten vorzuziehn. Herr Quesnel, wenn er auch die Wahrheit dieser Bemerkung nicht läugnen konnte, würde dennoch gern seiner Schwester Glück der Befriedigung seines Ehrgeizes aufgeopfert haben; und äusserte bey ihrer Heirath mit St. Aubert insgeheim seine Verachtung über ihre einfältige Wahl. Frau von St. Aubert war zwar klug genug, diese Beleidigung vor ihrem Manne zu verbergen, doch fühlte sie eine geheime Erbitterung in ihrem Herzen aufsteigen, und wenn gleich Achtung für ihre eigene Würde und Rücksichten der Klugheit sie verhinderten, ihren Unwillen merken zu lassen, so behielt sie doch stets eine gewisse Zurückhaltung gegen ihren Bruder bey, deren Ursache er sehr wohl verstand.
Er selbst folgte bei seiner Heirath dem Beispiele seiner Schwester nicht. Seine Frau war eine Italienerin, von Geburt eine reiche Erbin, durch Natur und Erziehung aber eine eitle Närrin.
Sie beschlossen, die Nacht bey St. Aubert hinzubringen, und weil das Schloß nicht groß genug war, ihre Bedienten zu beherbergen, wurden diese in das benachbarte Dorf geschickt. Nachdem man sich gehörig begrüßt, und die Einrichtungen für die Nacht getroffen hatte, fieng Herr Quesnel an, seinen Verstand und Wichtigkeit auszukramen, während St. Aubert, der lange genug in der Einsamkeit gelebt hatte, um diese Gegenstände wenigstens neu zu finden, ihm mit einer Geduld und Aufmerksamkeit zuhörte, die sein Gast fälschlich für demüthige Verwunderung nahm. Er beschrieb die wenigen Festivitäten, welche die Unruhe der Zeit damals am Hofe Heinrich des dritten zuließ, mit einer Genauigkeit, welche die Zuhörer einigermaßen für seine Pralerei entschädigte; als er aber auf den Character des Herzogs von Zogeuse, auf einen geheimen Traktat, der, wie er wissen wollte, mit der Pforte in Werke sey, und auf die Art, wie man Heinreich von Navarra empfangen hatte, zu sprechen kam, erinnerte sich Herr von St. Aubert seiner vormaligen Erfahrung genug, um zu merken, daß sein Gast nur zu einer untergeordneten Klasse von Politikern gehörte, und daß er unmöglich die Wichtigkeit, die er vorgab, würklich besitzen konnte, da er so viel Werth auf kleine Gegenstände legte.
Madame Quesnel äusserte indessen der Madame St. Aubert ihre Verwunderung, daß sie es aushalten könnte, ihr Leben in diesem entlegenen Winkel der Welt hinzubringen, und beschrieb, wahrscheinlich um Neid zu erregen, den Glanz der Bälle, Banquete und Prozessionen, die eben zur Hochzeitfeier des Herzogs von Zogeuse mit Margarethen von Lothringen, der Königin Schwester waren veranstaltet worden. Sie beschrieb mit gleicher Umständlichkeit sowohl die Pracht, die sie mit angesehen hatte, als die, von welcher sie ausgeschlossen blieb; indeß Emiliens lebhafte Phantasie, während sie mit der heissen Neugier der Jugend zuhorchte, sich die Scenen erhöhte, die sie beschreiben hörte. Frau von St. Aubert aber dachte, indem sie mit einer Thräne im Auge ihre Familie ansah, daß wenn auch Glanz die Glückseeligkeit schmücken, doch Tugend allein sie geben kann.
Es werden nun zwölf Jahre seyn, St. Aubert, sagte Herr Quesnel, daß ich ihr Familiengut kaufte. — Beinahe — erwiederte St. Aubert, indem er einen Seufzer unterdrückte. — Ich bin nun seit fünf Jahren nicht da gewesen, fuhr Herr Quesnel fort: Paris und seine Nachbarschaft ist doch in der That der einzige Ort, wo man leben kann, und ich bin nun einmal so tief in politische Angelegenheiten verwickelt, und habe alle Hände so voll zu thun, daß es mir schwer wird, mich nur auf ein oder ein paar Monate fortzustehlen.
St. Aubert schwieg und Herr Quesnel fuhr fort — ich habe mich oft gewundert, wie ein Mann, der in der Hauptstadt gelebt hat, und an Gesellschaft gewöhnt gewesen ist, wie Sie, auf dem Lande ausdauern kann — besonders in einem so entlegnen Winkel wie hier, wo Sie nichts sehen und hören, und sich kaum bewußt seyn können, daß Sie leben.
Ich lebe für meine Familie und für mich selbst, und bin zufrieden, jezt nur das Glück zu kennen; vormals kannte ich das Leben.
»Ich bin Willens, ein dreissig oder vierzig tausend Livres auf Verbesserungen zu wenden«, sagte Herr Quesnel, ohne daß er St. Auberts Worte zu bemerken schien, »denn ich habe mir vorgenommen, zukünftigen Sommer meine Freunde, den Herzog von Durefort und den Marquis Ramont auf ein oder ein paar Monate mit mir hieher zu bringen.«
Auf St. Auberts Frage, worinn diese beabsichteten Veränderungen bestehn sollten, antwortete er, daß er den alten östlichen Flügel des Gebäudes niederreissen und statt dessen eine Reihe von Ställen hinsetzen wolle. »Dann«, sagte er, »werde ich einen Eßsaal, einen Gesellschaftssaal, einen Vorsaal und eine Reihe von Bedientenzimmern anlegen: denn gegenwärtig kann ich kaum den dritten Theil meiner Leute lassen.«
»Für unsers Vaters Haushalt war das Gebäude groß genug«, sagte St. Aubert, dem es weh that, daß das alte Haus so verändert werden sollte — »und der war doch wahrlich nicht klein.«
»Unsere Begriffe haben sich seitdem erweitert«, sagte Herr Quesnel, »was damals auf anständigen Fuß leben hieß, wäre jezt nicht zum Aushalten.«
— Sogar dem ruhigen St. Aubert stieg bei diesen Worten das Blut ins Gesicht, doch machte sein Unwillen bald der Verachtung Raum.
»Der Platz um das Schloß ist mit Bäumen überladen; ich denke einige davon umzuhauen.«
»Auch die Bäume umhauen!« sagte St. Aubert.
»Allerdings. Und warum nicht, da sie die Aussicht hindern. Da steht ein Wallnusbaum, der seine Zweige vor der ganzen Südseite des Schlosses ausbreitet, und so alt ist, daß der hohle Stamm, wie ich höre, ein ganzes Dutzend Menschen in sich fassen kann. Bey aller Ihrer Schwärmerei, werden Sie mir doch nicht streitig machen, daß ein so saftloser alter Baum wie dieser, weder zum Nutzen noch zur Schönheit gereichen kann.«
»Um Gotteswillen!« rief St. Aubert, »Sie werden doch den edeln Nußbaum nicht zerstören, der schon seit Jahrhunderten der Stolz der Gegend gewesen ist! Er stand schon in seiner Reife, als das jetzige Gebäude errichtet wurde. Wie oft kletterte ich in meiner Jugend auf seinen breiten Zweigen umher, und saß, wie in einer Laube unter einer Welt von Blättern, wenn es dick über mir regnete, und doch kein Tropfen bis zu mir drang! Wie oft habe ich mit meinem Buche in der Hand da gesessen, bald gelesen, bald zwischen den Zweigen hinauf die weite Landschaft und die untergehende Sonne gesehn, bis die Dämmerung einfiel und die Vögel zu ihren kleinen Nestern zwischen dem Laube nach Haus trieb. Wie oft — aber verzeihen Sie«, sezte er hinzu, indem er sich schnell besann, daß er mit einem Manne sprach, der seine Gefühle weder fassen, noch ihnen Nachsicht einräumen konnte; »ich spreche von Zeiten und Empfindungen, die eben so altmodisch sind, als der Geschmack, der diesen ehrwürdigen Baum verschonen wollte.«
»Er wird zuverlässig abgehauen werden«, sagte Herr Quesnel, »ich werde vermuthlich einige Pappelweiden zwischen die dicken Wallnusbäume setzen, die ich vor dem Schlosse stehen lassen will. Meine Frau hat eine besondere Vorliebe für die Pappelweiden und hat mir oft gesagt, wie sehr ein Lustschloß ihres Onkels, nicht weit von Venedig, dadurch verschönert wird.«
»An den Ufern des Brenta, wo die pyramidalische Form der Pappelweide durch Fichten und Cypressen gehoben wird, und wo ihre Zweige über lichte Portico's und Säulen wehn, verziert sie unstreitig die Gegend; allein unter den Riesen des Waldes und neben einem schwerfälligen, gothischen Gebäude —«
»Gut, gut«, unterbrach ihn Herr Quesnel — »ich will nicht mit Ihnen streiten, Sie müßten wieder nach Paris gehn, wenn wir in unsern Ideen überein kommen wollten. Aber — weil wir doch einmal von Venedig sprechen, ich bin Willens, nächsten Sommer dahin zu gehn. Vielleicht werden sich die Umstände so fügen, daß ich von dieser Villa Besitz nehme, die über alle Beschreibung schön seyn soll. In dem Falle werde ich mich eine Zeitlang in Italien aufhalten, und die Verbesserungen, wovon wir sprachen, einem andern überlassen.«
Emilie wunderte sich, ihn von einem Aufenthalt in Italien reden zu hören, da er kurz zuvor geäussert hatte, daß seine Gegenwart in Paris so nothwendig wäre, daß es ihm schwer würde, sich nur ein paar Monate von da wegzustehlen: allein St. Aubert durchschaute die Selbstwichtigkeit des Mannes zu gut um sich über so etwas zu wundern; und die Möglichkeit, daß die Verbesserungen, woran er so ungern dachte, verschoben werden konnten, ließ ihn hoffen, daß sie vielleicht ganz unterbleiben würden.
Ehe sie einander gute Nacht sagten, wünschte Herr Quesnel mit St. Aubert alleine zu sprechen, und sie verfügten sich in ein Nebenzimmer, wo sie lange Zeit verweilten. Der Inhalt dieses Gespräches blieb verschwiegen, allein es war merklich, daß St. Aubert, als sie zum Abendessen zurückkamen, ganz ausser Fassung war, und daß ein Unmuth, den er nicht unterdrücken konnte, seine Züge beschattete. Seine Frau wurde unruhig, und gerieth in Versuchung, ihn zu befragen, sobald sie allein waren, aber eine gewisse Delikatesse hielt sie zurück, da sie bedachte, daß St. Aubert nicht auf ihr Fragen warten würde, wenn er sie mit dem Gegenstand seiner Bekümmerniß bekannt zu machen wünschte.
Den andern Tag hatte Herr Quesnel vor seiner Abreise noch eine zweite lange Conferenz mit St. Aubert.
Nachdem die Gäste Mittag im Schlosse gehalten hatten, machten sie sich in der Abendkühle auf den Weg nach Epourville, wohin sie Herrn und Frau von St. Aubert dringend einluden, wahrscheinlich mehr aus Eitelkeit, um ihre Herrlichkeit vor ihnen auszukramen, als aus dem Wunsche, ihren Freunden Vergnügen zu machen.
Emilie kehrte mit großer Freude wieder zu der Freiheit, die dieser Gäste Gegenwart eingeschränkt hatte, zu ihren Büchern, Spaziergängen und zu der verständigen Unterhaltung ihrer Eltern zurück, die sich nicht minder zu freuen schienen, von den Fesseln befreit zu seyn, welche Hochmuth und Frivolität ihnen aufgelegt hatten.
Frau von St. Aubert klagte, daß sie sich nicht wohl genug befände, an dem gewöhnlichen Abendspaziergang Theil zu nehmen, und St. Aubert gieng mit Emilien allein.
Sie wählten einen Spaziergang nach den Gebürgen, um einige arme Alte zu besuchen, die St. Aubert von seinem sehr geringen Einkommen zu unterstützen Mittel fand, welches allem Vermuthen nach Herr Quesnel von seinem sehr großen Vermögen nicht würde gethan haben.
Nachdem er seinen Armen ihr kleines Wochengeld ausgezahlt, geduldig die Klagen von einigen angehört, den Beschwerden andrer abgeholfen und das Leiden aller durch den Blick des zärtlichen Mitleids und das Lächeln des Wohlwollens gemildert hatte, kehrte er mit Emilien durch die Abenddämmerung schweigend zurück, eingewiegt in die süße Ruhe, die aus dem Bewusstseyn guter Handlungen entsteht, und uns geneigt macht, aus jedem Gegenstande um uns her Freude zu schöpfen.
Frau von St. Aubert hatte sich bereits in ihr Schlafzimmer begeben; die Ermattung und Schwermuth, welche sie zeither niedergedrückt hatte, war nach der Anstrengung, womit sie sich vor ihren Gästen zu verbergen suchte, jezt mit doppelter Gewalt wieder zurückgekehrt. Den Tag darauf ließen sich Zeichen von Fieber sehn, und St. Aubert hörte von dem Arzt, den er rufen ließ, daß sie dasselbe Fieber hätte, wovon er erst kürzlich genesen war. Wahrscheinlich hatte er sie angesteckt, während sie ihn in seiner Krankheit verpflegte und das Gift war in ihrem schwachen Körper umher geschlichen, bis es endlich zum Ausbruch kam. St. Aubert, dessen ängstliche Besorgnis für seine Gattin keinen andern Gedanken zuließ, behielt den Arzt im Hause. Er erinnerte sich an die Gefühle und Betrachtungen, die ihn für einen Augenblick niederdrückten, als er das leztemal in Begleitung seiner Frau und Tochter die Fischerhütte besuchte, und konnte einem bangen Vorgefühl nicht widerstehn, das diese Krankheit von gefährlichen Folgen seyn würde. Doch gab er sich alle Mühe diese Gedanken vor ihr selbst und vor seiner Tochter zu verbergen, die er mit der Hoffnung, daß die angewandte Sorgfalt nicht vergebens sehn würde, aufzurichten suchte. Der Arzt antwortete auf St. Auberts Frage, was er von der Krankheit hielte, daß der Ausgang von Umständen abhienge, die er nicht voraus bestimmen könnte. Frau von St. Aubert schien besser zu wissen, wie sie daran war, allein sie gab es nur durch Blicke zu verstehn. Sie sah oft ihre bekümmerten Freunde mit einem Ausdruck von Mitleid und Zärtlichkeit an, als ahndete sie den Kummer vorher, der ihrer wartete, und als wollte sie sagen, daß sie nur um ihrentwillen das Leben ungern verließe. Am siebenten Tage hatte die Krankheit den entscheidenden Punkt erreicht. Der Arzt nahm eine ernsthafte Miene an; sie bemerkte es, und sagte ihm heimlich, sie fühlte, daß ihr Tod nahe wäre. Geben Sie sich nicht die Mühe, mich zu hintergehn, sagte sie, ich fühle, daß ich nicht länger leben kann. Ich bin auf diesen Ausgang gefaßt, und war schon lange darauf vorbereitet. Da ich nicht lange mehr zu leben habe, so lassen Sie sich durch kein falsches Mitleid verleiten, meiner Familie mit leeren Hoffnungen zu schmeicheln; ihr Schmerz würde am Ende nur noch heftiger seyn; ich will mich bemühen, sie durch mein Beispiel Ergebung zu lehren.
Der Arzt versprach voll Rührung ihr zu folgen, und sagte ihrem Manne mit wenigen Worten, daß keine Hoffnung mehr übrig sey. Dieser war nicht Philosoph genug, um seine Empfindungen bey einer solchen Nachricht zu unterdrücken, allein die Betrachtung, wie sehr der Anblick seines Schmerzes seiner Frau Leiden vermehren müßte, sezte ihn bald in Stand, sich in ihrer Gegenwart Gewalt anzuthun. Emilie wurde anfangs von der Nachricht überwältigt, bald aber belebten ihre heissen Wünsche die Hoffnung in ihrem Herzen, daß ihre Mutter doch noch genesen würde, und an dieser Hoffnung hieng sie hartnäckig beinahe bis auf die lezte Stunde.
Bey Frau von St. Aubert zeigte sich der Fortschritt der Krankheit durch geduldiges Ausharren und unterdrückte Wünsche. Die Fassung, womit sie ihrem Tode entgegen sah, konnte nur aus dem Rückblick auf ein Leben entstehn, das, so weit die menschliche Schwäche es zuläßt, durch das Bewußtseyn stets in der Gegenwart Gottes zu seyn, und durch Hoffnung auf eine bessere Welt geleitet wurde. Aber ganz konnte ihre Frömmigkeit nicht den Schmerz besiegen, sich von denen zu trennen, die sie so zärtlich liebte. Sie sprach in ihren lezten Stunden viel mit St. Aubert und Emilien über die Aussicht auf die Zukunft und über andre religieuse Gegenstände. Ihre Ergebung, ihre feste Hoffnung, in einer zukünftigen Welt die Freunde wieder zu treffen, die sie in dieser verlassen mußte, und die sichtliche Anstrengung, womit sie ihren Schmerz über die bevorstehende kurze Trennung zu unterdrücken suchte, rührten ihren Mann oft so sehr, daß er das Zimmer verlassen mußte. Wenn er eine Zeitlang seinen Thränen Luft gemacht hatte, trocknete er sie, und kehrte mit einem Gesicht, dem er gewaltsam eine Fassung zu geben suchte, die nur seinen Schmerz vermehrte, in das Krankenzimmer zurück.
Nie hatte Emilie so tief als in diesen Augenblicken die Wichtigkeit der Lehre empfunden, ihre Fühlbarkeit zu unterdrücken, und nie hatte sie mit so vollständigem Siege sie ausgeübt. Als aber der lezte Augenblick vorüber war, sank sie mit eins unter der Last ihres Schmerzes zu Boden, und fühlte dann, daß sie ihre bisherige Fassung mehr der Hoffnung, die sie noch immer insgeheim genährt hatte, als ihrer Seelenstärke verdankte. St. Aubert war für eine Zeitlang selbst zu trostlos, um seiner Tochter Trost mittheilen zu können.
Frau von St. Aubert wurde in der benachbarten Dorfkirche begraben: ihr Mann und ihre Tochter begleiteten sie zum Grabe, wohin ein langer Zug von Bauern ihnen folgte, die aufrichtig diese vortrefliche Frau beklagten.
St. Aubert verschloß sich nach seiner Zurückkunft von dem Leichenbegängniß in seinem Zimmer. Als er wieder hervor kam, war sein Gesicht heiter, obgleich blaß von Kummer. Er ließ sein ganzes Hausgesinde zusammenrufen. Emilie hatte, überwältigt von der eben angesehenen Scene sich in ihr Kabinet zurückgezogen, um ungestört zu weinen. St. Aubert folgte ihr dahin; er ergrif stillschweigend ihre Hand, während sie fortfuhr zu weinen, und es verstrichen einige Augenblicke, ehe er Herr genug über seine Stimme ward, um zu sprechen. Mit bebenden Lippen sagte er ihr: »meine Emilie, ich gehe, um mit meinen Leuten zu beten. Wir müssen Hülfe von oben herab flehen, wo sollen wir sonst sie suchen, wo anders sie finden?«
Emilie hielt ihre Thränen zurück und folgte ihrem Vater in den Saal, wo die Bedienten bereits versammlet waren. St. Aubert las mit leiser feyerlicher Stimme die Abendandacht und fügte ein Gebet für die Seele der Abgeschiednen hinzu. Oft bebte seine Stimme, Thränen fielen auf das Buch und endlich hielt er inne. Allmählig aber erhoben die seeligen Gefühle reiner Andacht seine Seele über diese Welt und brachten endlich Trost in sein Herz.
Nachdem er den Gottesdienst geendigt und die Bedienten fortgeschickt hatte, küßte er zärtlich Emilien und sagte: »ich habe von deiner frühsten Jugend an mich bemüht, dir die Pflicht der Selbstbeherrschung zu lehren. Ich habe dich aufmerksam gemacht, wie wichtig sie uns durchs ganze Leben ist, da sie uns nicht nur bey den mancherlei und gefährlichen Versuchungen, die uns von Rechtschaffenheit und Tugend ableiten, aufrecht erhält, sondern auch der weichen Nachsicht entgegen arbeitet, welche Tugend genannt wird, aber über eine gewisse Gränze hinausgetrieben, in Laster ausartet, und traurige Folgen nach sich zieht. Alles Uebermaß ist Fehler; selbst der in seinem Ursprung liebenswürdige Schmerz wird zur selbstsüchtigen ungerechten Leidenschaft, wenn wir ihm auf Kosten unsrer Pflichten nachhängen; unter Pflichten verstehe ich, was wir uns selbst sowohl als andern schuldig sind. Die Nachsicht gegen den übermäßigen Schmerz entnervt die Seele und macht sie unempfänglich für den mannigfaltigen unschuldigen Genuß, den ein wohlthätiger Gott zum Sonnenschein unsers Lebens bestimmte. Erinnre dich, meine Emilie, der Lehren, die ich dir so oft gegeben habe, und die deine eigne Erfahrung dir als weise gezeigt hat. Dein Grämen ist unnütz. Nimm dieß nicht blos als eine Alltagsbemerkung auf, sondern laß würklich deine Vernunft den Gram unterdrücken. Ich wünsche nicht, deine Gefühle zu tödten, mein Kind, sondern blos dich sie beherrschen zu lehren: denn was für Uebel auch aus einem zu empfänglichen Herzen entspringen mögen, so läßt sich doch von einem unempfindlichen nichts hoffen; ein solches ist ganz Laster; und zwar Laster, dessen Häßlichkeit durch keinen Schein oder Möglichkeit des Guten gemildert wird. Du kennst mein Leiden, und bist also gewiß überzeugt, daß dieß nicht leere Worte sind, die bey solchen Gelegenheiten so oft wiederhohlt werden, um selbst die Quellen eines rühmlichen Gefühls zu vernichten oder, die oft blos dazu dienen, die selbstsüchtige Pralerei einer falschen Philosophie auszukramen. Ich will meiner Emilie zeigen, daß ich ausüben kann, was ich lehre. Ich habe so viel gesagt, denn ich kann es nicht ansehn, daß du dich in fruchtlosen Kummer verzehrst, weil dir die Kraft zum Widerstande mangelt, die man von der Seele fordern muß: und ich habe es erst jezt gesagt, weil es einen Zeitpunkt giebt, wo alles Vernünfteln der Natur weichen muß. Dieser ist vorüber; ein andrer aber, wo übertriebne, zur Gewohnheit gewordne Nachsicht alle Spannkraft so niederdrückt, daß der Sieg beynahe unmöglich wird, naht heran: du, meine Emilie, wirst zeigen, daß du ihn zu vermeiden bereit bist.«
Emilie lächelte durch ihre Thränen hin auf ihren Vater. Bester Vater, sagte sie, und ihre Stimme bebte — ich werde mich Ihrer würdig zeigen — wollte sie sagen, aber ein Gemisch von Dankbarkeit, Zärtlichkeit und Schmerz überwältigte sie. St. Aubert ließ sie ungestört ausweinen und fieng dann von andern Gegenständen zu reden an.
Die erste Person, welche dem St. Aubert ihr Beyleid zu bezeugen kam, war ein gewisser Herr Barreaux, ein harter und dem Anschein nach fühlloser Mann. Ein Geschmack an Botanik, der sie oft bey ihren Wanderungen zwischen den Gebürgen zusammen führte, hatte sie zuerst mit einander bekannt gemacht. Herr Barreaux hatte sich von der Welt, und beynahe von der Gesellschaft zurückgezogen, um in einem angenehmen Schlosse, am Saume der Wälder, nahebei La Vallée zu leben. Auch er hatte sich in seiner Meynung vom Menschengeschlechte betrogen, aber er vergoß nicht Thränen um selbiges, wie St. Aubert; er fühlte mehr Unwillen über ihre Laster, als Mitleid mit ihrer Schwäche.
St. Aubert wunderte sich beynahe, ihn zu sehn, denn so oft er ihn auch auf sein Schloß eingeladen hatte, war er doch nie gekommen, und jezt trat er auf einmal ohne alle Umstände als ein alter Freund ins Zimmer. Die Ansprüche des Unglücks schienen alle Rauhigkeit und Vorurtheile seines Herzens besiegt zu haben. Der unglückliche St. Aubert war der einzige Gegenstand, der seine Gedanken beschäftigte. Mehr durch sein Wesen als durch Worte bezeugte er seine Theilnahme an seinen Freunden. Er sprach wenig über den Gegenstand ihres Schmerzes; allein die sorgsame Aufmerksamkeit, die er ihnen widmete; der Ton seiner Stimme und der sanfte Blick, der sie begleitete, kamen aus seinem Herzen und sprachen zu dem ihrigen.
In dieser traurigen Zeit erhielt St. Aubert auch einen Besuch von Madame Cheron, seiner einzigen noch lebenden Schwester, die seit einem Jahre Wittwe war, und jezt auf ihrem Gute, nahe bey Toulouse wohnte. Er hatte nie häufigen Umgang mit ihr gehabt. Sie ließ es nicht an Worten fehlen, ihm ihr Beyleid zu bezeugen; allein die Zauberkraft des Blicks, der zur Seele spricht, der Stimme, die wie Balsam zum Herzen dringt, verstand sie nicht — doch versicherte sie St. Aubert, daß sie aufrichtig mit ihm sympathisire, pries die Tugenden seiner verstorbenen Frau und bot ihm dar, was sie für Trost hielt. Emilie weinte unaufhörlich, während sie sprach. St. Aubert blieb ruhig, hörte sie stillschweigend an, und lenkte dann die Unterredung auf einen andern Gegenstand.
Beym Abschiede lud sie ihn und ihre Nichte dringend ein, sie bald zu besuchen. »Veränderung des Orts wird Euch zerstreuen«, sagte sie, »und es ist nicht recht, dem Kummer zu viel einzuräumen.« So abgedroschen auch diese Worte waren, erkannte doch St. Aubert ihre Wahrheit; nur fühlte er sich weniger als je geneigt, den Ort zu verlassen, den seine verschwundne Glückseeligkeit geheiligt hatte. Die Gegenwart seiner Frau hatte jeden Gegenstand um ihn her geweiht, und jeder neue Tag verstärkte, in eben dem Maße, wie er die Schärfe seines Leidens milderte, den zärtlichen Zauber, der ihn an seine Heimath band.
Allein es gab Aufforderungen, die er nicht ablehnen konnte, und der Besuch, den er seinem Schwager Quesnel machte, gehörte darunter. Eine Sache von Wichtigkeit nöthigte ihn, diesen Besuch nicht länger zu verschieben, und um Emilien aus ihrer Niedergeschlagenheit zu reissen, nahm er sie nach Epourville mit.
Als der Wagen in den Wald fuhr, der an sein väterliches Gebiet gränzte, fielen seine Augen noch einmal auf die thurmigten Spitzen des Schlosses. Er seufzte bey dem Gedanken an die Veränderungen, die sich seit seinem lezten Aufenthalte mit diesem Orte zugetragen hatten, der nunmehr das Eigenthum eines Mannes war, der seinen Werth weder ehrte noch schäzte. Endlich betrat er den Eingang, dessen hohe Bäume ihn so oft entzückten, als er noch Knabe war, und dessen melancholischer Schatten jetzt so ganz mit der Stimmung seiner Seele harmonirte. Jeder Theil des Gebäudes, das sich durch eine gewisse schwerfällige Größe auszeichnete, trat nach und nach zwischen den Bäumen hervor. Sein Auge verweilte lange auf dem breiten Thurme, auf dem gewölbten Thorwege, der in die Vorhöfe führte, auf der Zugbrücke und dem vertrockneten Graben, der das Ganze umzingelte.
Das Geräusch des Wagens brachte einen Haufen Bedienten an das große Thor. Hier stieg St. Aubert aus, und führte Emilien in den gothischen Saal, den jetzt nicht mehr die Waffen und alten Fahnen der Familie schmückten. Sie waren längst aus dem Wege geräumt und das eichne Täfelwerk und die Reifen, welche quer über die Decke hinliefen, waren weiß überstrichen. Auch der große Tisch, der ehemals die obere Ecke des Saales einnahm, an welchem der Herr des Hauses seine Gastfreyheit so gerne zeigen mochte, und wo der Schall frölichen Gelächters und der Gesang geselliger Freude so oft ertönten, war fortgeschafft; selbst die Bänke, die ringsum den Saal einfaßten, standen nicht mehr. Die dicken Mauern waren mit kleinlichen Verzierungen behangen und alles was man sah, verrieth den falschen, verderbten Geschmack des gegenwärtigen Besitzers.
St. Aubert folgte einem leichtfüssigen Pariser Bedienten in einen Saal, wo er Herr und Frau von Quesnel fand, die ihn mit steifer Höflichkeit empfiengen und nach einigen wenigen Beyleidskomplimenten ganz zu vergessen schienen, daß sie je eine Schwester hatten.
Emilie fühlte ihre Augen von Thränen schwellen, die bald wieder Unwillen zurücktrieb. St. Aubert, ruhig und besonnen, behielt seine Würde bey, ohne Wichtigkeit zu affektiren, und Quesnel fühlte sich durch ihre Gegenwart bedrückt, ohne deutlich sagen zu können, warum.
Nach einigen allgemeinen Gesprächen verlangte St. Aubert mit ihm allein zu reden, und Emilie, die bey Frau von Quesnel zurückblieb, hörte bald, daß eine große Gesellschaft zu Mittage aufs Schloß eingeladen war, und mußte erfahren, daß nichts, was geschehen und unwiederbringlich verloren war, die laute Freude der gegenwärtigen Stunde stören konnte.
Quesnels Fühllosigkeit, an diesem Tage eine große Gesellschaft einzuladen, empörte St. Aubert so sehr, daß er unverzüglich wieder nach Hause zurückkehren wollte; allein er erfuhr, daß Madame Cheron eingeladen war, um hier mit ihm zusammen zu kommen; und wenn er Emilien ansah und bedachte, daß die Zeit vielleicht nicht mehr fern war, wo ihres Onkels Feindschaft ihr schaden konnte, beschloß er, ihn nicht durch ein Betragen zu erbittern, welches dieselben Personen, die jetzt so wenig Sinn für Schicklichkeit zeigten, als höchst unschicklich tadeln würden.
Unter den versammleten Gästen befanden sich zwey Italiener; der eine, Namens Montoni, ein weitläuftiger Verwandter von Frau von Quesnel, schien ein Mann von ohngefähr vierzig Jahren. Er war ausnehmend schön von Person, allein seine männlichen und ausdrucksvollen Gesichtszüge verriethen eben so viel gebieterischen Stolz als Scharfsinn und schnelle Geisteskraft.
Signor Cavigni, sein Freund, mochte etwan dreissig Jahre alt seyn. An Würde stand er ihm nach, an Scharfsinn schien er ihm gleich, an Gefälligkeit des Betragens aber übertraf er ihn weit.
Emilie erschrack, als sie Madame Cheron ihren Vater mit den Worten bewillkommen hörte: »Lieber Bruder, es thut mir leid, daß du so übel aussiehst; frage doch einen Arzt um Rath.«
St. Aubert antwortete mit schwermüthigem Lächeln, daß er sich wie gewöhnlich befände, allein Emiliens ängstliche Besorgniß glaubte eine Veränderung in seinen Zügen zu sehn, die sie alles ärgste fürchten ließ.
Emilie würde sich an den neuen Characteren, die sie kennen lernte, und an der Mannigfaltigkeit der Unterhaltung bey der Tafel, die an Glanz und Pracht alles, was sie noch von der Art gesehn hatte, übertraf, ergözt haben, wäre ihre Seele weniger bekümmert gewesen. Signor Montoni war erst kürzlich aus Italien zurückgekommen, und sprach von den Unruhen, welche damals dieses Land zerrütteten: er sprach mit Wärme von den Streitigkeiten der Partheyen und beklagte die wahrscheinlichen Folgen dieser Gährung. Sein Freund Cavigni sprach mit gleicher Wärme von den politischen Angelegenheiten seines Landes, pries die Regierungsform und den Wohlstand von Venedig, und rühmte seine entschiednen Vorzüge über alle andern italienischen Staaten. Er wandte sich darauf zu den Frauenzimmern und sprach mit derselben Beredsamkeit von Pariser Moden, von der französischen Oper und französischen Gebräuchen, wobey er nichts einzumischen vergaß, was dem französischen Geschmack so vorzüglich angenehm ist. Diejenigen, denen diese Schmeicheley galt, fühlten sie nicht, wiewohl die Würkung davon sich in einer demüthigen Aufmerksamkeit zeigte, die seiner Bemerkung nicht entgieng. So oft er sich von der Zudringlichkeit der andern Damen losmachen konnte, richtete er das Gespräch an Emilien; allein sie verstand nichts von Pariser Moden und Pariser Opern, und ihre Bescheidenheit, Einfachheit und sittsames Betragen stachen sehr gegen die freyen Sitten ihrer Gesellschafterinnen ab.
Nach Tisch schlich sich St. Aubert aus dem Zimmer, um noch einmal den alten Nußbaum zu sehn, den Quesnel umhauen wollte. Als er unter seinem Schatten stand und unter den noch immer reichbelaubten Zweigen emporblickte, und hie und da den blauen Himmel zwischen ihnen zittern sah, drängten sich die Begebenheiten seiner frühern Jahre, die Bilder seiner Freunde, die längst von der Erde verschwunden waren, vor seiner Seele vorüber, und er schien sich ein isolirtes Wesen, das ausser Emilien niemanden mehr hatte, sein Herz zu erwärmen.
Verloren unter den Scenen von Jahren, welche die Phantasie hervorrief, stand er da, bis die Reihe sich mit dem Gemälde seines sterbenden Weibes schloß — er starrte hinweg, um es wo möglich im Rausche gesellschaftlicher Betäubung zu vergessen.
St. Aubert bestellte seinen Wagen frühzeitig, und Emilie bemerkte, daß er auf dem Rückwege ungewöhnlich still und niedergeschlagen war: doch hielt sie dieß für die Wirkung seines Besuchs nach einem Orte, der so beredt von vergangnen Zeiten sprach, ohne zu argwöhnen, daß er eine Ursache des Kummers hatte, die er vor ihr verbarg.
Als sie das Schloß betraten, fühlte sie sich niedergeschlagner als je, denn sie vermißte mehr als je die Gegenwart der theuren Mutter, die sonst ihre Zurückkunft mit zärtlichem Lächeln begrüßte, alles war jezt still und verlassen.
Allein was Vernunft und Anstrengung nicht vermögen, vermag oft die Zeit. Woche nach Woche verstrich und jede nahm so wie sie vorübergieng, etwas von der Bitterkeit des Schmerzes mit sich hinweg, bis er zu der zärtlichen Wehmuth herab schmolz, die dem fühlenden Herzen heilig ist. St. Aubert aber nahm sichtlich an Kräften ab, wiewohl Emilie, die ihn stets umgab, beynahe die lezte war, die es bemerkte. Er hatte sich noch nicht ganz von dem lezten Fieber erhohlt, und der Stoß, den nachher der Frau von St. Aubert Tod ihm beybrachte, gab seinen Kräften den lezten Rest. Sein Arzt rieth ihm eine Reise zu machen, denn es war sichtlich, daß der Gram seine ohnehin durch die lezte Krankheit angegrifnen Nerven geschwächt hatte, und der Arzt hoffte, daß Abwechslung der Gegenstände sein Gemüth erheitern, und den Nerven ihre verlorne Spannkraft wieder geben würde.
Emilie beschäftigte sich einige Tage lang mit Zurüstungen zur Reise, während er darauf dachte, seine Ausgaben zu Hause indeß einzuschränken, zu welchem Ende er sich entschloß, seine Domestiken zu verabschieden. Emilie war nicht gewohnt, sich durch Fragen oder Vorstellungen ihres Vaters Willen zu widersetzen, sonst würde sie gefragt haben, warum er nicht einen Bedienten mitnähme, und ihm vorgestellt haben, daß dieß bey seiner schlechten Gesundheit beynahe nothwendig sey. Als sie aber am Abend vor ihrer Abreise fand, daß er Jakob, Franciska und Marien abdankte, und nur Theresen, die alte Haushälterin behielt, wunderte sie sich sehr und wagte es, ihn um die Ursache zu befragen. — »Um Ausgaben zu sparen«, war seine Antwort; »wir gehn auf eine kostbare Reise.«
Der Arzt hatte ihm die Luft von Languedoc und Provence angerathen, und St. Aubert beschloß, gemächlich längs den Ufern des mittelländischen Meeres nach Provence zu reisen.
Den Abend vor ihrer Abreise eilten sie frühzeitig in ihre Schlafzimmer; allein Emilie hatte noch einige Bücher und andere Dinge zu ordnen, und die Glocke hatte schon zwölfe geschlagen, ehe sie fertig war, oder sich erinnerte, daß ihre Zeicheninstrumente, die sie mitnehmen wollte, unten im Saal lagen. Sie mußte, um sie zu hohlen, vor ihres Vaters Zimmer vorbey gehn, und da sie die Thüre halb offen sah, glaubte sie, daß er mit Lesen beschäftigt wäre, denn seit seiner Frauen Tode pflegte er oft von seinem rastlosen Bette aufzustehn, und sich dahin zu begeben, um wieder Fassung zu sammlen. Als sie die Treppe herunter war, sah sie in dies Zimmer, ohne ihn zu erblicken, und konnte, als sie nach dem ihrigen zurückgieng, sich nicht enthalten anzuklopfen und leise hinein zu gehn, um zu sehn, ob er da wäre.
Das Zimmer war dunkel, aber ein Licht schimmerte durch ein Glasfenster über der Thüre eines kleinen Kabinets. Emilie glaubte, daß ihr Vater in dem Kabinet sey; verwundert ihn noch so spät aufzufinden, fürchtete sie, daß es ihm nicht wohl sey und wollte zu ihm gehn und nach seinem Befinden fragen; um ihn aber nicht durch ihre plötzliche Erscheinung zu einer so ungewöhnlichen Stunde zu erschrecken, stellte sie ihr Licht auf die Treppe und schlich leise ins Kabinet. Sie sah durch die Glasscheiben und erblickte ihn an einem kleinen Tisch, mit Papieren vor ihm ausgebreitet, die er mit großer Aufmerksamkeit und Theilnahme las, oft durch Weinen und lautes Schluchzen unterbrochen. Emilie, die an die Thüre gegangen war, um zu sehn, ob ihr Vater krank sey, wurde nun durch eine Regung von Neugier und Zärtlichkeit zurückgehalten. Sie konnte seinen Kummer nicht ansehn, ohne ängstlich um den Gegenstand desselben besorgt zu seyn, und blieb stehn, um ihn zu beobachten, indem sie glaubte, daß die Papiere Briefe von ihrer verstorbenen Mutter seyn müßten. Er kniete nieder, und betete lange mit einem so feyerlichen Blick, als sie noch selten bey ihm gesehn hatte, gemischt mit einem wilden Ausdruck, der mehr Grausen als eine andre Empfindung verrieth.
Als er aufstand lag eine Geisterblässe auf seinem Gesicht. Emilie zog sich schnell zurück, allein er drehte sich wieder nach den Papieren und sie stand abermals still. Er zog ein kleines Futteral hervor, und nahm ein kleines Miniatürgemälde heraus. Die Stralen des Lichts fielen so hell darauf, daß sie es für das Gemälde eines Frauenzimmers, aber nicht für das ihrer Mutter erkannte.
St. Aubert starrte mit ernster Zärtlichkeit das Gemälde an, drückte es an seine Lippen und dann an sein Herz und seufzte mit krampfhafter Gewalt. Emilie konnte kaum glauben was sie würklich sah. Es war ihr bis jezt unbekannt gewesen, daß er ein andres Gemälde als das ihrer Mutter besäße, und zumal eins, worauf er so hohen Werth zu legen schien, allein nachdem sie es nochmals mit scharfer Aufmerksamkeit betrachtet hatte, sah sie deutlich, daß es von einer andern, ihr unbekannten Person war.
Endlich legte St. Aubert das Gemälde wieder in das Gehäuse und Emilie schlich sich leise in ihr Zimmer zurück, um nicht unbescheiden in seinen geheimen Kummer zu dringen.
St. Aubert wählte statt des geraden Wegs, der sich längs den Pyrenäen hinzog, einen andern, der sich über die Gebürge wand und eine weitere Aussicht und größere Mannigfaltigkeit romantischer Gegenden gewährte. Er machte einen kleinen Umweg, um Abschied von Herrn Barreaux zu nehmen, den er im Walde nahe bey seinem Schlosse botanisiren fand. Als er die Absicht dieses Besuchs hörte, ließ er eine Bekümmerniß blicken, deren St. Aubert ihn kaum fähig geglaubt hätte. Sie trennten sich mit gegenseitiger Rührung.
Wenn irgend etwas vermögend wäre, mich aus meiner Einsamkeit zu locken, sagte Herr Barreaux, so würde es der Wunsch seyn, Sie auf dieser kleinen Reise zu begleiten. Ich lasse mich nicht gern auf leere Worte ein, und Sie können mir also glauben, wenn ich Sie versichre, daß ich mit Ungeduld ihre Zurückkunft erwarte.
Die Reisenden sezten ihren Weg fort. Als sie die Anhöhen hinauf klimmten, blickte St. Aubert oft zurück auf sein Schloß unten im Thale: zärtliche Bilder drängten sich an seine Seele; seine melancholische Einbildungskraft gab ihm ein, daß er nicht wieder zurück kehren würde, und wiewohl er diesen beunruhigenden Gedanken zu unterdrücken suchte, senkten sich doch seine Blicke unwillkührlich zurück, bis die weite Entfernung seine kleine Heimath in eine Masse mit der ganzen Landschaft begrub.
Er und Emilie legten einige Meilen in nachdenkendem Stillschweigen zurück. Emilie erwachte zuerst daraus, und ihre junge Phantasie, von der Größe der Gegenstände um sie her gerührt, gab allmählich süßern Eindrücken Raum. Der Weg senkte sich jetzt in einen schmalen Prospect herab, den ungeheure Felsenwände einschlossen, die grau und kahl da standen, wenn nicht hie und da Kräuter ihre Gipfel einfaßten, oder Flecken von magern Gras ihre Klüfte färbten, zwischen welchen oft die wilde Ziege umher flatterte. Endlich wand sich der Weg die hohen Klippen hinauf, und die Landschaft lag in weiter Pracht vor ihnen da.
Emilie konnte ihr Entzücken nicht zurückhalten, als sie über die Fichtenwälder der Gebürge auf die weiten Ebnen hinsah, die mit Wäldern, Städten, blühenden Weinbergen und Wäldchen von Mandeln, Palmen und Oliven bereichert, sich ausstreckten, bis ihre bunten Farben durch die Ferne in einen harmonischen Hauch zusammenschmolzen, der Erde und Himmel zu vereinigen schien. Durch das Ganze dieser prachtvollen Scene hin floß die majestätische Garonne, die von ihrem Quell zwischen den Pyrenäen herab fiel und ihre blauen Wellen bis zum biscayischen Meerbusen hinwand.
Die Rauhigkeit des unbesuchten Wegs nöthigte oft die Reisenden aus ihrem kleinen Wagen zu steigen, allein sie fanden sich für diese Unbequemlichkeit reichlich durch die Erhabenheit der Gegenstände, die ihnen ins Auge fielen, belohnt. Während ihr Führer seine Maulesel langsam über die aufgerißne Erde hintrieb, hatten sie Muße zwischen den Einöden umher zu wandeln, und den erhabnen Betrachtungen nachzuhängen, welche das Herz sänftigen, indem sie es erheben und mit der Ueberzeugung eines gegenwärtigen Gottes erfüllen. St. Auberts Genuß hatte noch immer das Gepräge der nachdenkenden Schwermuth, welche jedem Gegenstande eine gelbere Farbe giebt, und einen geheimen Zauber über alles rings um uns aushaucht.
Um nicht zu sehr durch die schlechte Bewirthung in den Gasthöfen zu leiden, hatten sie einen Vorrath von Lebensmitteln mitgenommen, so dass sie an jedem angenehmen Ort in freyer Luft Tafel halten und die Nächte zubringen konnten, wo sie eine gemächliche Hütte fanden. Auch für den Geist hatten sie durch ein botanisches Werk des Herrn Barreaux und durch verschiedne lateinische und italienische Dichter gesorgt, während Emiliens Pinsel sie in Stand sezte, einige der seltsamen Mischungen von Formen aufzubewahren, die sie auf jedem Schritte bezauberten.
Die Einsamkeit des Weges, auf welchem man nur hie und da einen Bauer seinen Maulesel treiben, oder ein paar Kinder der Gebürgbewohner zwischen den Felsen spielen sah, erhöhten die Würkung der Scene. Auf St. Aubert machte sie einen solchen Eindruck, daß er beschloß, wenn er einen Weg ausfindig machen könnte, noch weiter zwischen die Gebürge zu dringen, südwärts nach Roussillon einzulenken, und längs der mittelländischen Küste durch einen Theil dieser Provinz nach Languedoc zu gehn.
Bald nach Mittag erreichten sie den Gipfel einer der Klippen, die vom Grün der Palmbäume glänzend, gleich Juweelen die furchtbaren Mauern der Felsen schmücken, und den größern Theil von Gasconien und einen Theil von Languedoc bestreichen. Hier fanden sie Schatten und das frische Wasser eines Quells, der zwischen dem Rasen unter den Bäumen hinglitt, und von Felsen zu Felsen herabstürzte, bis sein prasselndes Gemurmel sich im Abgrunde verlor, und man nur noch den weissen Schaum zwischen den dunkeln Fichten unten empor sprudeln sah.
Dieses Pläzchen schien zur Ruhe gemacht und die Reisenden stiegen aus um Mittag zu halten, während die Maulesel ausgeschirrt wurden, um an den saftigen Kräutern zu grasen, welche diesen Gipfel bereicherten.
Es verstrich einige Zeit, ehe St. Aubert und Emilie ihre Aufmerksamkeit von den umliegenden Gegenständen so weit abziehn konnten, ihr kleines Mahl zu verzehren. Im Schatten der Palmen sitzend, machte St. Aubert sie aufmerksam auf den Lauf der Flüsse, auf die Lage großer Städte und die Gränzen von Provinzen, welche mehr seine geographischen Kenntnisse, als das Auge ihn in Stand setzte zu beschreiben. Ohngeachtet dieser Beschäftigung wurde er oft, wenn er ein Weilchen gesprochen hatte, plötzlich still, gedankenvoll und Thränen traten ihm in die Augen. Emilie bemerkte es, und das Gefühl ihres eignen Herzens verrieth ihr die Ursache. Die Gegend vor ihnen hatte einige Aehnlichkeit — wiewohl im vergrößerten Maßstab mit einer Lieblingsgegend der Frau von St. Aubert, die man von der Fischerhütte aus übersah. Beyde machten diese Bemerkung und dachten, wie sehr sie sich an der vorliegenden Landschaft würde gelabt haben, indem sie zugleich wußten, daß ihre Augen sich nie, ach nie mehr auf dieser Welt öfnen sollten. St. Aubert erinnerte sich, wie er das leztemal diesen Ort in ihrer Gesellschaft besuchte, und an die traurigen Vorahndungen, die damals in seiner Seele aufstiegen, und nun, ach so bald! in Erfüllung gegangen waren. Die Erinnerung überwältigte ihn, und er stand plötzlich von seinem Platze auf, und gieng seitwärts, wo kein Auge seinen Schmerz beobachten konnte.
Als er zurückkam, hatte sein Gesicht die gewohnte Heiterkeit wieder angenommen, er ergrif Emiliens Hand, drückte sie zärtlich ohne zu sprechen und rief bald darauf ihren Führer, der in einer kleinen Entfernung saß, um ihn wegen eines Wegs zwischen den Gebürgen nach Roussillon zu befragen. Michel antwortete, daß verschiedne Wege dahin führten, allein er wüßte nicht, wie weit sie sich erstreckten, oder ob sie gar zu befahren wären, und St. Aubert, der nicht Willens war, nach Sonnenuntergang zu reisen, fragte ihn, welches Dorf sie bis Abend erreichen könnten. Der Mauleselführer rechnete ihm vor, daß sie auf ihrem jetzigen Wege leicht bis Mateau kommen würden, daß sie aber, wenn sie sich mehr seitwärts nach Roussillon hielten, an ein Dörfchen kämen, welches er vor Dunkelwerden zu erreichen dächte.
St. Aubert beschloß nach einigem Besinnen den leztern Weg zu wählen, und Michel machte sich, nachdem er seine Mahlzeit verzehrt und seine Maulesel geschirrt hatte, wieder auf. Bald aber hielt er still, und St. Aubert sah ihn seine Andacht vor einem Kreutze verrichten, das auf einem Felsen stand, der über ihrem Wege hing. Nach verrichteter Andacht, ließ er seine Peitsche durch die Lüfte knallen und rasselte trotz des unebnen Wegs und der Schweistropfen seiner armen Maulesel, die er doch kurz vorher so sehr beklagt hatte, am Rande eines Abgrunds hinab, der das Auge schwindeln machte. Emilie erschrack beynahe bis zum Ohnmächtigwerden, und da St. Aubert noch größere Gefahr fürchtete, wenn er den Fuhrmann plötzlich halten ließe, blieb ihm nichts übrig, als ruhig sitzen zu bleiben, und sein Schicksal der Stärke und Behutsamkeit der Maulesel anzuvertrauen, die von letzterer Eigenschaft ein größeres Maß zu besitzen schienen als ihr Herr: denn sie brachten die Reisenden wohlbehalten ins Thal und standen dann am Rande des Flüßchens, das es durchwässerte, still.
Sie verließen nun die Pracht weiter Aussichten und kamen in ein schmales Thal, das von übereinander gethürmten Felsen eingeschlossen wurde. Die kahle Gegend wurde nur hie und da durch die ausgebreiteten Zweige des Lerchbaums und der Ceder belebt, die ihren Schatten über die Klippe oder quer über den Strom warfen, der durch das Thal rollte. Kein lebendiges Geschöpf ließ sich sehen, ausser der Gemse, die zwischen den Felsen kletterte, und oft auf so gefährlichen Spitzen hing, daß die Phantasie vor dem Anblick derselben zurückschauerte. Es war eine Scene, die Salvator, hätte er damals gelebt, zu einem Entwurf würde gewählt haben. St. Aubert, durch das romantische der Gegend überrascht, erwartete beynahe jeden Augenblick Banditen hinter einem Felsen hervorkommen zu sehn und legte die Hand an das Gewehr, das er auf Reisen immer mit sich zu führen pflegte.
So wie sie vorwärts kamen, öfnete sich das Thal: die wilden Züge desselben sänftigten sich allmählich, und gegen Abend befanden sie sich zwischen Bergen, mit Hayde bewachsen, die sich in weiter Aussicht hinstreckten, während man oft die einsame Schäferglocke und die Stimme des Hirten hörte, der seine wandernden Heerden in das nächtliche Lager rief. Seine von Fichten beschattete Hütte war die einzige menschliche Wohnung, die man bis jezt erblickte. Der Grund dieses Thals war mit einem Teppich vom lebhaftesten Grün bedeckt, und in den kleinen hohlen Klüften der Berge unter dem Schatten der Eiche und Wallnus weideten Heerden. Oft auch sah man das Vieh in Haufen am Ufer des Flusses ruhen, oder im kühlen Strome waden und seine Wellen einschlürfen.
Jetzt ging die Sonne hinter dem Thale unter; ihr leztes Licht schimmerte auf dem Wasser und erhöhte das reiche Gelb und Purpur des Hayde- und Pfriemenkrauts, das die Gebürge überzog. St. Aubert fragte Micheln, wie weit das Dörfchen noch entfernt sey, allein er konnte es nicht mit Gewißheit sagen und Emilie fieng an zu fürchten, daß er den Weg verfehlt hätte. Kein menschliches Wesen war hier, das ihnen beystehn oder sie zurecht weisen konnte; sie hatten den Schäfer und seine Hütte weit zurückgelassen und die Gegend verdunkelte sich so sehr in der Dämmrung, dass das Auge der fernen Aussicht durchs Thal nicht folgen konnte, um eine Hütte oder Dörfchen zu suchen. Ein rother Schimmer am Horizont bezeichnete noch den Westen und half unsern Reisenden noch einigermaßen aus. Michel suchte seinen Muth durch Singen aufrecht zu halten; indessen war seine Musik nicht von der Art, die Schwermuth zu zerstreuen; er sang in einer Art von Lied die scheuslichste Melodie, welche seine gegenwärtigen Zuhörer jemals gehört hatten, und St. Aubert entdeckte endlich, daß es eine Abendhymne an seinen Lieblingsheiligen war.
Sie reisten weiter, versenkt in die nachdenkende Schwermuth, womit Dämmrung und Einsamkeit die Seele erfüllen. Michel hatte sein Lied nunmehr geendigt und man hörte nichts mehr, als das schwerfällige Murmeln des Windes zwischen den Blättern, und sein leichtes Rauschen, wenn er kühl in den Wagen blies. Endlich wurden sie durch den Knall einer Flinte erweckt. St. Aubert ließ den Fuhrmann still halten, und sie horchten auf. Der Schuß wurde nicht wiederhohlt, allein gleich darauf hörten sie ein Rauschen im Gesträuch. St. Aubert zog ein Pistol hervor, und hieß Micheln so schnell als möglich fortfahren. Er hatte noch nicht lange gehorcht, als ein Horn ertönte, das durch die Berge wiederhallte. Er lehnte sich aus dem Kutschenschlage und sah einen jungen Mann, dem eine Kuppel Hunde folgte, aus dem Gebüsch in den Weg springen. Er war in Jägerkleidung. Seine Flinte trug er quer über den Schultern; das Jagdhorn hing am Wehrgehänge und in der Hand hielt er einen Stab, der durch die Art wie er ihn trug, die männliche Grazie seiner Figur vermehrte, und der Schnelligkeit seiner Schritte zu Hülfe kam.
St. Aubert besann sich einen Augenblick und ließ aufs neue halten, um den Fremden zu erwarten und sich bey ihm nach dem Dörfchen, welches sie suchten, zu erkundigen. Der Fremde sagte ihm, daß es nur noch eine halbe Stunde weit wäre, daß er selbst dahin zu gehn dächte und sich ein Vergnügen daraus machen würde, ihnen den Weg zu zeigen. St. Aubert dankte ihm für sein Erbieten, und da er an seinem ritterlichen Ansehn und seiner ofnen Gesichtsbildung Gefallen fand, bat er ihn, sich zu ihnen zu setzen, welches der Fremde mit höflichem Danke ablehnte, indem er erklärte, daß er mit den Maulthieren Schritt halten wollte.
»Allein ich fürchte«, sagte er, »Sie werden sehr unbequem schlafen. Die Bewohner dieser Berge sind ein einfältiges Volk, dem es nicht nur an den Annehmlichkeiten des Lebens, sondern beynahe an allem, was man an andern Orten für nothwendiges Bedürfnis hält, gebricht.«
»Ich merke, daß Sie nicht unter diese Einwohner gehören«, sagte St. Aubert.
»Nein, ich bin nur ein Wandrer hier.«
Der Wagen fuhr weiter, und bey der zunehmenden Dunkelheit war es den Reisenden sehr erwünscht, daß sie einen Führer hatten. Auch die häufigen Abgründe, die sich zwischen den Bergen öfneten, würden ihre Verlegenheit vermehrt haben. Emilie sah, als sie einen dieser Abgründe hinauf blickte, in weiter Entfernung etwas gleich einer glänzenden Wolke in der Luft. »Was für ein Licht ist dort?« fragte sie. St. Aubert sah hin und fand, daß es die weisse Spitze eines Berges war, der so hoch über alle andern hervorragte, daß er noch immer die Sonnenstralen zurückwarf, während die untern in tiefem Schatten lagen.
Endlich sahn sie Lichter durch die Dämmrung schimmern, und bald darauf wurden sie einige Hütten im Walde gewahr, oder sahn sie vielmehr wiederstrahlend im Strom, an dessen Rande sie standen und der noch vom Abendlichte glänzte.
Der Fremde kam nun zu ihnen und St. Aubert erfuhr bey weitern Nachfragen, daß weder ein Wirthshaus noch sonst ein öffentliches Haus an diesem Orte wäre. Doch erbot sich ihr Führer, vorauszugehn und sich nach einer Hütte zu ihrer Herberge umzusehn. St. Aubert dankte ihm, und sagte, da das Dorf so nahe wäre, wollte er aussteigen und ihn begleiten. Emilie folgte langsam im Wagen.
Unterwegs fragte St. Aubert seinen Gefährten, ob er viel Glück auf der Jagd gehabt hätte? »Nicht viel«, war die Antwort, »auch bekümmre ich mich nicht sehr darum. Dieß Land gefällt mir, und ich denke einige Wochen in der Gegend umher zu streifen. Meine Hunde nehme ich mehr der Gesellschaft als des Wildes wegen mit. Auch giebt mir diese Kleidung ein gewisses Ansehn und verschafft mir bey den Bewohnern dieser Gegend die Achtung, die sie vielleicht einem einsamen Fremden, der keinen scheinbaren Vorwand hätte, zu ihnen zu kommen, verweigern würden.«
»Ich bewundre ihren Geschmack«, sagte St. Aubert, »und wenn ich ein junger Mann wäre, möchte ich sehr gerne einige Wochen auf Ihre Weise hinbringen, allein ich habe einen andern Plan, als Sie. Ich suche sowohl Gesundheit als Vergnügen.« St. Aubert seufzte und schwieg; gleich darauf aber, als wolle er sich sammlen, fuhr er fort: »Wenn ich einen leidlichen Weg auffinden kann, so denke ich nach Roussillon und längs dem Seeufer nach Languedoc zu gehn. Sie, mein Herr, scheinen mit dem Lande bekannt zu seyn und können mir vielleicht Auskunft hierüber geben.«
Der Fremde erwiederte, es gäbe einen Weg mehr ostwärts, der nach einer Stadt führte, von wo es leicht seyn würde, nach Roussillon zu kommen.
Sie hatten nunmehr das Dorf erreicht und sahen sich nach einer Hütte um, wo sie die Nacht zubringen könnten. In verschiednen, welche sie betraten, schienen Unwissenheit, Armuth und Frölichkeit in gleichem Maße zu herrschen, und die Eigenthümer sahen St. Aubert mit einer Mischung von Neugier und Furchtsamkeit an. Nichts einem Bette ähnliches konnte gefunden werden, und er hatte schon aufgehört, darnach zu fragen, als Emilie zu ihnen kam. Sie fand, dass ihr Vater sehr übel aussähe und beklagte, daß er einen Weg gewählt hätte, der so schlecht mit den nothwendigen Bequemlichkeiten für einen kränklichen Mann versehn sey. Andre Hütten, die sie besahen, schienen etwas weniger wüste, als die vorige; sie bestanden aus zwei Zimmern, wenn man diese Löcher so nennen kann, wovon das erste von Mauleseln und Schweinen, das andre von der Familie bewohnt wurde, die gewöhnlich aus sechs oder acht Kindern mit ihren Eltern bestand. Diese ganze Familie schlief auf Betten von Thierhäuten, und getrockneten Blättern, die auf einem feuchten Boden ausgebreitet waren. Hier wurde durch eine Spalte in der Decke das Licht zu und der Rauch hinaus gelassen, und hier war auch der Geruch von Brandtewein, (denn die reisenden Krämer, welche die Pyrenäen durchstreifen, hatten dieß rohe Volk mit dem Gebrauch starker Getränke bekannt gemacht) merklich genug. Emilie wandte sich von diesen Gegenständen ab, und sah ihren Vater mit ängstlicher Zärtlichkeit an. Der junge Fremde schien es zu bemerken; er zog St. Aubert bey Seite und bot ihm sein eignes Bette an. »Unter andern Umständen«, sagte er, »würde ich mich schämen, es Ihnen anzubieten, aber in Vergleich mit dem, was wir hier sehn, ist es ein sehr anständiges Lager.«
St. Aubert bezeigte ihm seinen sehr großen Dank für dieses Erbieten, weigerte sich aber es anzunehmen, bis der junge Fremdling durchaus darauf bestand. »Machen Sie mir nicht den Schmerz zu denken«, sagte er, »daß ein Kranker, wie Sie, auf harten Fellen liegt, während ich im Bette schlafe. Zudem, mein Herr, verwundet ihre Weigerung meinen Stolz: ich muß glauben, daß Sie mein Erbieten nicht würdig halten, es anzunehmen. Lassen Sie mich Ihnen den Weg zeigen. Ich zweifle nicht, daß meine Wirthin diese junge Dame ebenfalls aufnehmen kann.«
St. Aubert ließ sich unter dieser Bedingung endlich das Anerbieten gefallen, wiewohl er sich insgeheim verwunderte, dass der Fremde so wenig Galanterie bezeigte, lieber für die Ruhe eines kränklichen Mannes als eines liebenswürdigen jungen Mädgens zu sorgen: denn er hatte Emilien nicht einmal das Zimmer angeboten. Allein sie dachte nicht an sich selbst, und ihr beseeltes Lächeln sagte ihm, wie sehr sie sich ihm für den Vorzug, den er ihrem Vater gab, verpflichtet fühlte.
Der Fremde, der sich Valancourt nannte, gieng voraus, um mit seiner Wirthin zu sprechen; sie kam heraus und führte St. Aubert in eine Hütte, die alle andern, die sie noch gesehn hatten, weit übertraf. Diese gute Frau schien sehr bereit, die Fremden aufzunehmen, die man bald nöthigte, sich der zwey einzigen Betten im ganzen Orte zu bedienen. Eyer und Milch waren alles, was die Hütte darboth; allein St. Aubert hatte für Hungersnoth gesorgt; er lud Valancourt ein, zu bleiben und an ihrer kleinen Mahlzeit Theil zu nehmen, welches dieser sich nicht zweymal sagen ließ. Sie brachten eine Stunde in angenehmer Unterhaltung hin, und St. Aubert fand großen Gefallen an der männlichen Freymüthigkeit, Einfachheit und scharfen Empfänglichkeit für die Größe der Natur, welche sein neuer Bekannter sehen ließ. Er hatte oft gesagt, daß ohne eine gewisse Einfalt des Herzens dieser Geschmack nie in starkem Grade statt finden könnte.
Ihre Unterhaltung wurde durch ein heftiges Geräusch von aussen unterbrochen, wobey die Stimme des Mauleseltreibers sich vor allen andern hervorthat. Valancourt sprang von seinem Sitze auf, um nach der Ursach zu fragen, allein der Streit dauerte so lange, daß St. Aubert selbst gieng. Er fand Micheln in großem Zank mit der Wirthin, die sich geweigert hatte, seine Maulesel in einem kleinen Zimmer liegen zu lassen, wo er und drey von ihren Söhnen die Nacht zubringen wollten. Der Ort war kläglich genug, allein es war kein andrer vorhanden, wo diese Leutchen schlafen konnten, und mit etwas mehr Delikatesse, als man gewöhnlich unter den Einwohnern dieses wilden Landstrichs findet, bestand sie hartnäckig auf ihrer Weigerung, den unvernünftigen Thieren ein Schlafzimmer mit ihren Kindern einzuräumen. Dieß war für den Mauleseltreiber ein kizlicher Punkt; seine eigne Ehre wurde gekränkt, wenn man seinen Maulthieren nicht die gehörige Achtung bezeigte, und er würde vielleicht mit mehr Geduld Prügel sogar verschmerzt haben. Er erklärte, daß seine Thiere so rechtliche und gute Thiere wären, als irgend welche in der ganzen Provinz, und daß sie ein Recht hätten, gute Behandlung zu fodern, wohin sie auch giengen. »Sie sind so unschuldig als Lämmer«, sagte er, »wenn man ihnen nichts zu Leide thut. Seit meiner ganzen Lebzeit haben sie sich nur ein oder zweymal ungebührlich aufgeführt, und dann hatten sie wohl Ursache dazu. Einmal zwar schlug das eine hinten aus, und brach einem Knaben, der schlafend im Stalle lag, das Bein, allein ich machte es tüchtig herunter und beym heiligen Antonius, ich glaube, es verstand mich, denn es hat es nie wieder gethan.«
Er beschloß diese erbauliche Rede mit der Betheurung, daß seine Maulesel es so gut haben sollten, als er, wohin er auch käme.
Der Streit wurde endlich durch Valancourt beygelegt, der die Wirthin bey Seite zog, und sie bat, dem Mauleseltreiber und seinen Thieren den streitigen Ort einzugeben; er würde ihren Söhnen das für ihn bestimmte Bette von Fellen überlassen und sich selbst in seinen Mantel wickeln und auf der Bank vor der Thüre der Hütte schlafen. Allein sie hielt es für ihre Pflicht, sich diesem Vorschlag zu widersetzen und fand es ihrer Neigung gemäß, dem Mauleseltreiber seinen Willen nicht zu lassen. Valancourt indessen bestand auf seinem Kopfe und der langweilige Handel wurde endlich geschlichtet.
Es war schon spät, als St. Aubert und Emilie sich in ihre Zimmer begaben. Valancourt nahm ebenfalls seinen Posten vor der Thüre in Besitz, den er bey dieser milden Jahreszeit einer engen Kammer und einem Lager von Thierhäuten unendlich vorzog. St. Aubert wunderte sich anfangs, in seinem Schlafzimmer den Homer, Horaz und Petrarch zu finden, allein der Name Valancourt, den er darin geschrieben fand, erklärte ihm, woher sie kämen.
St. Aubert erwachte früh; erquickt durch den Schlaf und begierig weiter zu kommen. Er lud den Fremden ein, mit ihnen zu frühstücken, und da sie wieder vom Wege sprachen, sagte Valancourt, daß er vor einigen Monaten bis Beaujeu, eine Stadt von einiger Bedeutung auf dem Wege nach Roussillon gereist wäre. Er rieth St. Aubert denselben Weg zu nehmen, und dieser entschloß sich auch dazu.
Der Weg von diesem Dörfchen, sagte Valancourt, und der nach Beanjeu scheiden sich ohngefähr anderthalb Meilen von hier; wenn Sie es mir erlauben wollen, werde ich Ihren Fuhrmann so weit zurechte weisen. Ich habe mir doch einmal vorgenommen, umher zu streifen, und Ihre Gesellschaft wird mir diesen Weg vor jedem andern angenehm machen.
St. Aubert nahm sein Erbieten dankbar an, und sie machten sich zusammen auf; der junge Fremde zu Fuß, denn er wollte St. Auberts Einladung, sich zu ihm in den Wagen zu setzen, nicht annehmen.
Der Weg wand sich längs dem Fuße der Gebürge durch ein Schäferthal, vom schönsten Grün geschmückt und mit Wäldchen von Zwergeichen, Buchen und wilden Feigen bepflanzt, unter deren Zweigen Viehheerden ruhten. Auch die Esche und Thränenweide warfen oft ihr herabhängendes Laub über die steilen Klüfte, wo der dürftige Boden kaum ihre Wurzeln verbarg, und wo ihre leichten Zweige in jedes Lüftchen flatterten, das von den Bergen wehte.
Die Reisenden stießen oft in dieser frühen Stunde — denn die Sonne hatte sich noch nicht über das Thal erhoben, auf Schäfer, die unermesliche Heerden aus den Hürden trieben, um auf den Hügeln zu grasen. St. Aubert hatte sich so früh aufgemacht, um nicht nur den ersten Sonnenaufgang zu genießen, sondern auch die reine Morgenluft einzuathmen, die über alles stärkend für geschwächte Lebensgeister ist. Vorzüglich war sie es in diesen Regionen, wo eine Fülle von wilden Blumen und aromatischen Kräutern ihren Duft in die Luft hauchten.
Die Morgendämmrung, welche mit ihrem eignen grauen Pinsel die Gegend sanft berührte, verschwand nun, und Emilie belauschte das Fortrücken des Tages, der zuerst auf den Gipfeln der höchsten Kuppen zitterte, dann sie mit glänzendem Lichte färbte, während ihre Seiten und das Thal unten noch in feuchten Nebel gehüllt lagen. Indessen begann das mürrische Grau der östlichen Wolken sich sanft zu röthen, dann stärker zu färben, und endlich von tausend Farben zu glühen, bis das goldne Licht über die ganze Luft strahlte, die tiefern Spitzen der Berge vergüldete, und in langen Stralen über dem Thale und Strome glänzte. Die ganze Natur schien vom Tode ins Leben erwacht zu seyn; St. Auberts Geist war neu erfrischt. Sein Herz war voll: er weinte und seine Gedanken stiegen zum großen Schöpfer empor.
Emilie sehnte sich nach dem Rasen, der so grün und vom Thau perlend da lag, und wünschte die volle Süßigkeit der Freyheit zu schmecken, die der Steinbock, der auf der Spitze der Klippen umherhüpfte, zu genießen schien; während Valancourt oftmals still stand, um mit seinen Reisegefährten zu sprechen, und mit geselliger Empfindung ihnen die besondern Gegenstände seiner Bewundrung mitzutheilen. St. Aubert freute sich über ihn. »Hier ist die ächte Offenherzigkeit und das Feuer der Jugend«, sagte er zu sich selbst. »Dieser junge Mann ist nie zu Paris gewesen.«
Es that ihm leid, als sie an den Ort kamen, wo die Wege sich trennen, und sein Herz nahm zärtlichern Abschied von ihm, als man sonst nach so kurzer Bekanntschaft zu nehmen pflegt. Valancourt stand lange neben dem Wagen: er schien mehr als einmal gehen zu wollen, zögerte aber immer und suchte ängstlich Gegenstände des Gesprächs hervor, um sein Zögern zu beschönigen. Endlich nahm er Abschied. St. Aubert bemerkte, daß er beym Weggehen einen ernsten, nachdenkenden Blick auf Emilien heftete, die sich mit einem Gesicht voll furchtsamer, süßer Empfindung gegen ihn neigte, indem der Wagen fortfuhr. Als St. Aubert sich bald nachher aus dem Fenster lehnte, sah er, daß Valancourt am Wege stand, sich mit übereinander geschlagnen Armen auf seinen Stab lehnte und den Wagen mit den Augen verfolgte. Er winkte mit der Hand, und Valancourt, der aus seiner Träumerey zu erwachen schien, erwiederte den Gruß und eilte davon.
Das Land gewann nunmehr eine andere Gestalt, und die Reisenden fanden sich bald zwischen Bergen, die beynahe vom Fuße bis zum Gipfel mit dunkeln Fichtenwäldern bedeckt waren, ausser wo ein Felsen von Granit aus dem Thale emporschoß und sein beschneytes Haupt in den Wolken verlor. Das Flüßchen, welches sie bisher begleitet hatte, erweiterte sich nunmehr in einen Fluß, und warf, indem es tief und still dahin rollte, wie in einem Spiegel die Dunkelheit der überhängenden Schatten zurück. Zu Zeiten sah man eine Klippe ihr kühnes Haupt über die Wälder und Dünste emporheben, die mitten herab von den Bergen flossen; und oft stieg ein Pfeiler von senkrechtem Marmor aus des Wassers Lande auf, über welchen der Lerchbaum, hier abgeschält vom Blitze, dort in reichem Laubwerke prangend, seine gigantischen Arme ausbreitete.
Sie setzten ihren Weg über eine rauhe unbesuchte Straße fort, sahen nur hie und da den einsamen Schäfer mit seinem Hunde das Thal hinab schleichen; hörten nur das Plätschern der Flüsse, welche die Wälder dem Auge verbargen, das dumpfe lange Murmeln des Windes, wenn er über die Fichten wehte, oder die Töne des Adlers und Geyers, die rings um die hervorragenden Klippen schwirrten.
Oft, wenn der Wagen langsam über den unebnen Boden hinfuhr, stieg St. Aubert aus und ergözte sich damit, die seltnen Pflanzen zu untersuchen, die am Wege standen und in diesen Gegenden zu Hause sind, während Emilie, in hohe Begeistrung gewiegt, unter den Schatten hinwandelte, und tiefschweigend dem einsamen Gemurmel der Wälder zuhorchte.
Viele Meilen weit sah man weder Dorf noch Häuser; des Ziegenhirten oder Jägers Hütte, zwischen den Felsenklüften hingeklebt, war die einzige menschliche Wohnung, welche das Auge erblickte.
Die Reisenden verzehrten wieder ihre Mahlzeit in freyer Luft auf einem anmuthigen Pläzchen im Thal unter dem breiten Schatten der Cedern und machten sich nun weiter auf den Weg nach Beaujeu.
Der Weg ging nun bergan und wand sich, indem er die Fichtenwälder zurückließ, zwischen Felsenklippen hinauf. Die Abenddämmrung hüllte wieder die Gegend ein, und die Reisenden wußten nicht, wie weit sie noch von Beaujeu seyn möchten. St. Aubert schloß indessen, daß die Entfernung nicht groß mehr seyn könnte und tröstete sich mit der Hofnung, auf einer mehr besuchten Straße zu reisen, wenn er die Stadt erreicht haben würde, wo er die Nacht zuzubringen dachte. Nur noch undeutlich sah man Wälder und Felsen und mit Hayde bewachsne Berge durch die Dämmrung, aber bald schwanden auch diese unvollständigen Bilder in Nacht. Michel fuhr behutsam weiter, denn er konnte kaum den Weg unterscheiden, doch schienen seine Maulesel, die einen sichern Schritt giengen, mehr Scharfsinn zu besitzen.
Indem sie sich um den Winkel eines Berges drehten, sahen sie in einiger Entfernung ein Licht schimmern, das die Felsen und den Horizont in weitem Umfang erleuchtete. Es war augenscheinlich ein großes Feuer; allein ob zufällig oder nicht, konnten sie auf keine Weise wissen. St. Aubert vermuthete, daß es von einigen der zahlreichen Banditen angezündet wäre, welche die Pyrenäen überschwemmen, und wurde aufmerksam und ängstlich zu wissen, ob der Weg an diesem Feuer vorüber gienge. Er hatte Gewehr bey sich, das im Nothfall einigen Schutz geben konnte, obgleich nur einen sehr schwachen gegen eine Bande von so verzweifelten Räubern, als gewöhnlich die sind, welche in diesen wilden Regionen umher streifen. Während mancherley Betrachtungen in ihm aufstiegen, hörte er eine Stimme von hinten jauchzen und dem Fuhrmann zurufen. St. Aubert hieß ihn so schnell als möglich fahren; allein entweder Michel oder seine Pferde waren hartnäckig, denn sie wichen nicht von der Stelle. Man unterschied nun den Tritt eines Pferdes; ein Mann ritt an den Wagen, und rief aufs neue dem Fuhrmann still zu halten. St. Aubert, der nicht länger an des Unbekannten Absicht zweifeln konnte, entschloß sich ungern, ein Pistol zu seiner Vertheidigung abzudrücken. Der Mann schwankte auf dem Pferde; dem Knall der Pistole folgte ein Heulen und man denke sich St. Auberts Schrecken, als er den Augenblick darauf Valancourts schwache Stimme zu hören glaubte. Er ließ sogleich den Mauleseltreiber still halten, und da er den Namen Valancourt aussprach, antwortete ihm eine Stimme, die ihn nicht länger zweifeln ließ. St. Aubert, der sogleich ausstieg und ihm zu Hülfe eilte, fand ihn noch auf dem Pferde sitzen, aber stark bluten, und dem Ansehn nach in großen Schmerzen, wiewohl er sich bemühte, St. Auberts Schrecken durch die Versicherung zu mildern, dass er nicht gefährlich, sondern nur leicht am Arm verwundet sey. St. Aubert und der Fuhrmann halfen ihm vom Pferde, und er sezte sich am Wege nieder, wo St. Aubert ihm den Arm zu verbinden suchte; allein seine Hände zitterten so sehr, daß er es nicht vermochte, und da Michel sich aufgemacht hatte, um das Pferd zu verfolgen, das davon gelaufen war, nachdem es seinen Reuter verloren hatte, so rief er Emilien zu Hülfe. Er erhielt keine Antwort und gieng selbst an den Wagen, wo er sie ohnmächtig zurückgesunken fand. Zwischen der Angst über diesen Unfall, und der Angst, Valancourt in seinem Blute liegen zu lassen, getheilt, wußte er kaum, was er that. Doch suchte er sie aufzuheben und rief Micheln, Wasser aus dem Flusse zu schöpfen, der am Wege hinfloß: allein Michel war so weit, daß ihn seine Stimme nicht mehr erreichen konnte. Valancourt, der dieß Rufen und auch Emiliens Namen wiederholen hörte, errieth sogleich die Ursache, und eilte ihr zu Hülfe, indem er beynahe seinen eignen Zustand vergaß. Sie lebte eben wieder auf, als er den Wagen erreichte, und als er nun erfuhr, daß Besorgniß um ihn diese Ohnmacht veranlaßt hatte, versicherte er ihr mit einer Stimme, die nicht von Schmerz, sondern von andern Gefühlen bebte, daß seine Wunde nicht von Bedeutung sey. Indem er dieß sagte, drehte St. Aubert sich um, und da er ihn noch immer bluten sah, veränderte sich der Gegenstand seiner Angst aufs neue, und er knüpfte eilends ein paar Schnupftücher zu einer Binde zusammen. Dieß stillte das Blut; allein St. Aubert, der die Folge der Wunde fürchtete, fragte wiederholt, wie weit sie noch von Beaujeu wären. Als er hörte, daß es noch zwey Meilen entfernt läge, vermehrte sich seine Angst, denn er sah nicht ein, wie Valancourt in seinem jetzigen Zustande die Bewegung des Wagens aushalten würde, zumal da er schon von Blutverlust ganz entkräftet war. Als er die Ursache seiner Angst erwähnte, bat ihn Valancourt, sich um seinetwillen nicht so sehr zu beunruhigen; denn er zweifelte nicht, daß er im Stande seyn würde, sich sehr gut zu halten, wobei er nur sehr obenhin von dem Zufall sprach. Der Mauleseltreiber, der endlich Valancourts Pferd zurückbrachte, half ihm in den Wagen, und da auch Emilie jezt wieder hergestellt war, fuhren sie langsam auf Beaujeu zu.
Als sich St. Aubert von seinem Schrecken über diesen Unfall einigermaßen erholt hatte, bezeugte er seine Verwunderung Valancourt zu sehn, der ihn darauf seine unerwartete Erscheinung erklärte.
»Sie hatten meinen Geschmack an der Geselligkeit neu belebt«, sagte er, »denn nachdem Sie die Hütte verlassen hatten, schien sie mir in der That eine Einöde. Ich beschloß also, da Vergnügen mein einziger Zweck war, die Scene zu verändern, und wählte diesen Weg, weil ich weiß, daß er durch noch romantischere Gegenden führt, als ich verlassen habe. Ausserdem will ich gerne gestehn«, sezte er nach einem kleinen Besinnen hinzu, »und warum sollte ich es nicht? daß ich mir einige Hoffnung machte, Sie wieder einzuhohlen.«
»Und ich habe Ihnen einen sehr unerwarteten Lohn für Ihre Höflichkeit gegeben«, sagte St. Aubert, der aufs neue die Uebereilung beklagte, die an diesem Unfall Schuld war, und die Ursache seiner Unruhe erklärte. Allein Valancourt schien einzig besorgt, aus den Gemüthern seiner Freunde jedes unangenehme Gefühl, was ihn selbst betraf, zu verbannen; er bekämpfte seinen Schmerz und bemühte sich, heiter zu seyn. Emilie war indessen still, ausser wann Valancourt das Gespräch besonders an sie richtete, und dann hatte seine Stimme einen gewissen bebenden Ton, der mehr als Worte sprach.
Sie waren nun dem Feuer, das lange in der Ferne durch die Dunkelheit der Nacht auf die Straße hingeglänzt hatte, so nahe, daß sie Gestalten unterscheiden konnten, die sich um die Flamme bewegten. Der Weg wand sich immer näher, und sie nahmen im Thale eine der zahlreichen Zigeunerbanden wahr, die in dieser Zeit vorzüglich die Wildnisse der Pyrenäen durchstreiften und zum Theil vom Plündern der Reisenden lebten. Emilie betrachtete mit einigem Schrecken die wilden Gesichtsbildungen dieses Volks. Das Feuer, welches sie beleuchtete, erhöhte die romantische Wüsteney der Scene, durch den rothen düstern Schimmer, den es auf die Felsen und auf das Laubwerk der Bäume warf, indeß schwarze schwere Massen von Schatten, welche das Auge zu durchdringen fürchtete, im Hintergrunde zurückblieben.
Sie waren eben beschäftigt, sich die Abendmahlzeit zu bereiten; ein großer Topf, den verschiedne Figuren umringten, stand am Feuer. Bey dem Schimmer desselben sah man ein plumpes Zelt, um welches rings umher viel Kinder und Hunde spielten. Das Ganze machte ein sehr groteskes Gemälde. Die Reisenden sahen deutlich ihre Gefahr. Valancourt war still, allein er legte seine Hand auf eine von St. Auberts Pistolen. St. Aubert zog die andre hervor, und befahl Micheln so schnell als möglich fortzufahren. Indessen kamen sie vorüber, ohne angegriffen zu werden: die Räuber waren vermuthlich auf keinen Angriff bereitet und zu sehr mit ihrer Abendmahlzeit beschäftigt, um für den Augenblick ein andres Interesse zu fühlen.
Nachdem sie etwan anderthalb Meilen im Dunkeln zurückgelegt hatten, kamen sie zu Beaujeu an und fuhren nach dem einzigen Wirthshause im Orte. Es war schlecht genug, wiewohl es alle andern, die sie noch in den Gebürgen gefunden hatten, weit übertraf.
Es wurde sogleich zum Wundarzt geschickt, wenn anders ein Pfuscher, der so gut Pferde als Menschen curirte, und wenigstens eben so geschickt Bärte puzte, als Glieder einsetzte, diesen Namen verdient. Nachdem er Valancourts Arm untersucht und gefunden hatte, dass die Kugel durchs Fleisch gedrungen war, ohne das Bein zu berühren, verband er ihn und verließ ihn mit der feyerlichen Vorschrift, sich ruhig zu halten, welcher zu gehorsamen der Patient sich nicht sehr geneigt fühlte. Die Süßigkeit der Befreyung von Schmerz folgte jezt auf die vorige Pein, denn die Schmerzlosigkeit kann auch zu einem bestimmten Gefühl werden, wenn sie dem Schmerz entgegen gesetzt wird. Da seine Lebensgeister nunmehr wieder neu gestärkt waren, wünschte er an St. Auberts und Emiliens Gespräch Theil zu nehmen, die sich nunmehr, von so manchen ängstlichen Besorgnissen befreyt, ungewöhnlich heiter fühlten. So spät es auch war, sah St. Aubert sich doch genöthigt, mit dem Wirth auszugehn, um etwas zum Abendessen einzukaufen, und Emilie, die sich indeß so lange als möglich unter dem Vorwande, nach ihrer Bewirthung, die sie im Ganzen besser fand, als sie erwartet hatte, zu sehn, entfernt hatte, sah sich endlich genöthigt, zurückzukommen und mit Valancourt allein zu bleiben. Sie sprachen von den Gegenständen, vor denen sie vorübergekommen waren; von der Naturgeschichte des Landes, von Poesie und von St. Aubert; eine Materie, wovon Emilie stets mit besonderm Vergnügen sprach und sprechen hörte.
Sie brachten einen angenehmen Abend zusammen hin; allein da St. Aubert von der Reise müde war, und Valancourt aufs neue Schmerz zu fühlen schien, trennten sie sich bald nach der Mahlzeit.
Frühmorgens fand St. Aubert, daß Valancourt eine schlaflose Nacht gehabt hatte; er schien ein Fieber zu haben, und sehr an seiner Wunde zu leiden. Der Wundarzt rieth ihm, ruhig zu Beaujeu zu bleiben, ein Rath, der zu vernünftig war, um nicht befolgt zu werden. St. Aubert hatte indessen keine günstige Meynung von diesem Arzt, und wünschte Valancourt bessern Händen zu übergeben. Als er aber bey weitern Nachfragen hörte, daß innerhalb verschiedner Meilen keine Stadt zu finden sey, wo er bessern Rath antreffen würde, veränderte er seinen Reiseplan und beschloß, die Genesung Valancourts abzuwarten, der mit mehr Höflichkeit als Aufrichtigkeit viele Einwendungen gegen diesen Aufschub machte. Der Vorschrift seines Wundarztes getreu wollte Valancourt diesen Tag das Haus nicht verlassen, allein St. Aubert und Emilie übersahen mit Entzücken die umliegende Gegend am Fuße der Pyrenäischen Alpen, die zum Theil in abgerißnen Klüften aufstiegen, zum Theil in Wälder von Cedern, Fichten und Cypressen anschwollen, die sich beynahe bis zu ihren höchsten Gipfeln hinauf zogen. Das heitre Grün der Buche und Esche schimmerte oft gleich einem Lichtstral unter dem dunkeln Grün des Waldes hervor, und oft schickte ein Strom seine schäumenden Fluten hochsprudelnd zwischen den Wellen empor.
Valancourts Krankheit hielt die Reisenden verschiedne Tage zu Beaujeu zurück und St. Aubert hatte oft genug in dieser Zeit Gelegenheit, seines jungen Freundes Character, seine Talente und den philosophischen Scharfsinn, der ihm so ganz eigen war, zu beobachten. Er sah einen ofnen, edeln Character, voll Feuer, hoch empfänglich für alles was gros und schön ist, aber ungestüm, wild und oft romantisch. Valancourt hatte wenig von der Welt gesehn. Seine Begriffe waren klar und seine Gefühle richtig; und er äusserte mit gleichem Feuer seinen Unwillen über eine unwürdige, oder seine Bewundrung einer großmüthigen Handlung. St. Aubert lächelte oftmals über seine Hitze, verwieß sie ihm aber selten, und sagte oft zu sich selbst: »dieser junge Mann ist nie zu Paris gewesen.«
Oft folgte ein Seufzer diesem stillen Ausruf. Er beschloß, Valancourt nicht eher zu verlassen, bis er vollkommen wieder hergestellt wäre, und da er sich nun gut genug befand, um zu reisen, wiewohl er noch nicht im Stande war, sein Pferd zu führen, lud St. Aubert ihm ein, einige Tage mit ihnen im Wagen zu fahren. Er war um so bereitwilliger, ihm dies Erbieten zu thun, da er erfahren hatte, daß Valancourt von einer Familie dieses Namens in Gasconien abstammte, die er vormals kannte. Dieser nahm das Anerbieten mit großem Vergnügen an, und sie machten sich wieder durch die romantischen Wildnisse, die nach Roussillon führten, auf den Weg. Sie reisten gemächlich, machten oft Stillstand, wenn sie an eine ungewöhnlich schöne Gegend kamen, und stiegen oft aus, um eine Anhöhe, die ihre Maulesel nicht erreichen konnten, zu ersteigen, um da die Aussicht in voller Pracht zu genießen: oft wandelten sie über Hügel mit Lavendel, wilden Thymian, Wacholder und Tamarisk bedeckt; und unter den Schatten von Wäldern, zwischen deren Oefnungen sie die lange Bergkette hinunter sahn; eine Aussicht, die an Pracht alles übertraf, was Emilie sich je geträumt hatte.
St. Aubert ergözte sich zu Zeiten mit botanisiren, indeß Valancourt und Emilie weiter fortwandelten: er machte sie aufmerksam auf die Gegenstände, die ihn vorzüglich rührten, und recitirte schöne Stellen aus den lateinischen und italienischen Dichtern, die er sie hatte bewundern hören. In den Zwischenräumen des Gesprächs, wo er sich nicht beobachtet glaubte, heftete er oft seine Augen nachdenkend auf ihr Gesicht, das so beseelt den Geschmack und die Stärke ihres Gefühls ausdrückte, und wann er dann wieder sprach, lag eine besondre Zärtlichkeit in dem Ton seiner Stimme, die jeden Versuch, seine Empfindungen zu verbergen, vereitelte. Diese stillen Zwischenräume wurden immer häufiger, bis nur noch Emilie das Bestreben verrieth, sie zu unterbrechen. Sie, die bisher so zurückhaltend gewesen war, sprach nun immer wieder und wieder von den Wäldern und Thälern und Bergen, um nur ein gefährliches sympathetisches Stillschweigen zu vermeiden.
Von Beaujeu aus gieng der Weg immer aufwärts und führte die Reisenden in die höhern Regionen der Luft, wo unermeßliche Eisberge ihre gefrornen Schauer zeigten, und ewiger Schnee die Spitzen der Berge bleichte. Oft standen sie still um diese ungeheuren Gegenstände zu betrachten, und auf einer wilden Klippe sitzend, wo nur einzeln ein Lerchbaum hervortrat, sahen sie über dunkle Fichtenwälder und Klüfte, die noch nie ein menschlicher Fuß betreten hatte, hinweg in Abgründe, die so tief waren, daß man kaum das Rauschen des sprudelnden Stroms hörte, den man auf dem Grunde schäumen sah. Ueber diese Klippen hinweg erhoben sich andre von ungeheurer Größe und phantastischer Gestalt, deren einige sich zu Pyramiden aufthürmten, während andre in ungeheuren Granitmassen sich weit über ihren Fuß hinneigten, und in ihren gebrochnen Hölen oftmals eine Ladung von Schnee beherbergten, die bey jedem Zittern der Luft das Thal zu zerstören drohte. Ringsum an jeder Seite, so weit das Auge dringen konnte, sah man nur große Formen; die lange Reihe der Bergspitzen, mit ätherischem Blau gefärbt, oder weiß von Schnee; Eisthäler und Wälder von dunkeln Fichten. Die Heiterkeit und Klarheit der Luft in diesen Regionen war den Reisenden vorzüglich angenehm; sie schien ihnen einen feinern Lebenssaft einzuhauchen und goß unbeschreibliches Wohlbehagen über ihre Seelen aus. Sie hatten keine Worte, die erhabnen Empfindungen, die sie fühlten, auszudrücken. Eine gewisse Feyerlichkeit bezeichnete St. Auberts ganzes Wesen. Thränen traten ihm oft in die Augen und oft wandte er sich von seinen Gefährten ab. Valancourt sprach nur selten, um Emilien auf einige Gegenstände aufmerksam zu machen. Der dünne Luftkreis, der jeden Gegenstand so deutlich dem Auge zuließ, überraschte und hintergieng sie. Sie konnte kaum glauben, daß Gegenstände, die so nahe schienen, in der That so ferne waren. Die tiefe Stille dieser Einöden wurde nur zu Zeiten durch das Geschrey der Raubvögel, die sich rings um eine Klippe unten lagerten, oder durch den Ruf des Adlers, der hoch in den Lüften schwebte, unterbrochen, wenn nicht die Reisenden dem dumpfen Donner zuhörten, der oft zu ihren Füßen grunzte, während über ihnen das tiefe Blau des Himmels auch nicht durch das kleinste Wölkchen verdunkelt ward. Halb die Berge herab sah man oft große Wogen von Dünsten rollen, die bald das Land unten in Nebel hüllten, bald sich aufthaten, und seine Schönheiten dem Auge eröfneten. Emilie bemerkte mit Entzücken das erhabene Schauspiel der Wolken, wie sie an Gestalt und Farbe wechselten, und ihre verschiedne Würkung auf die untere Welt, deren Züge, zum Theil verschleyert, stets neue, erhabne Formen annahmen.
Nachdem sie diese Regionen viele Meilen weit durchkreuzt hatten, senkten sie sich nach Roussillon herab, und sahen nun wieder sanftere Schönheiten vor sich. Doch konnten sie nicht ohne Wehmuth auf die erhabnen Gegenstände, die sie verlassen hatten, zurückblicken, wiewohl das Auge, durch die Anstrengung ermüdet, gern auf dem Grün der Wälder und Wiesen ruhte, die jezt unten am Rande des Flusses hiengen, oder sich herabsenkte auf die niedrigen von Cedern beschatteten Hütten, auf die Gruppen der spielenden Bergkinder und auf die Blumenwinkel zwischen den Hügeln.
So wie sie herabkamen, sahen sie in einiger Entfernung zur rechten einen der großen Pässe von den Pyrenäen nach Spanien, wo die hohen Zinnen und Thürme im Glanze der untergehenden Sonne spielten; gelbe Spitzen der Wälder färbten die Klippen unten, während hoch empor die beschneyten Spitzen der Berge strebten, die noch immer einen Rosenschimmer wiederstrahlten.
St. Aubert sah sich nach der kleinen Stadt um, wohin man ihn von Beaujeu aus gewiesen hatte, und wo er die Nacht hinzubringen dachte: allein es ließ sich noch keine menschliche Wohnung sehen. Aus der Entfernung konnte weder er, noch Valancourt urtheilen, da der lezte noch nie so weit durch diese Bergkette vorgedrungen war. Doch sahen sie einen Weg vor sich und zweifelten nicht, daß es der rechte seyn müßte, denn seit sie Beaujeu verlassen hatten, waren ihnen noch keine verschiednen Wege aufgestoßen, die sie hätten irre führen oder unschlüssig machen können.
Die Sonne warf nun ihre lezten Strahlen von sich und St. Aubert hieß den Mauleseltreiber so schnell als möglich eilen. Er fühlte sich würklich nach einem Tage, wo er so viel Beschwerde gehabt hatte, an Leib und Seele ungewöhnlich ermattet und sehnte sich nach Ruhe. Sie wurde nicht befördert, als er einen zahlreichen Zug von Menschen, Pferden und bepackten Mauleseln wahrnahm, die einen hohen Berg ihnen gegen über, herab kamen, und von Zeit zu Zeit zwischen den Wäldern erschienen und wieder verschwanden, so daß ihre Zahl sich nicht bestimmen ließ. Etwas glänzendes, das sie für Waffen hielten, schimmerte in den untergehenden Sonnenstrahlen, und sie konnten an dem Vortrupp die kriegerische Tracht unterscheiden. So wie sich der erste Haufe ins Thal wand, drang der Rückzug aus den Wäldern hervor und ließ sie eine große Anzahl bewaffneter Krieger sehen. St. Auberts Furcht verschwand nunmehr; er zweifelte nicht, daß der Zug vor ihm aus Schleichhändlern bestände, die wahrscheinlich beym Transport verbotener Waaren über die Pyrenäen einem Haufen Soldaten in die Hände gefallen und besiegt worden waren.
Die Reisenden hatten nunmehr so lange zwischen den erhabnen Scenen dieser Gebürge verweilt, daß sie sich in ihrer Berechnung, noch vor Sonnenuntergang Montigny erreichen zu können, gänzlich betrogen fanden. Als sie sich aber das Thal hinab wanden, sahen sie auf einer plumpen Brücke, die über eine Tiefe angelegt, zwey hohe Felsen vereinigte, eine Gruppe von Bergkindern, die sich damit ergözten, Steine in den Fluß zu werfen, und zu belauschen, wie der weisse Schaum in die Luft sprang und das Echo der Berge den Schall des Plätschers verlängerte. Unter der Brücke hin hatte man eine perspektivische Aussicht auf das Thal, in welches der Wasserfall von den Felsen herabstürzte, und auf eine von Fichten beschattete Hütte, die auf einer Klippe stand. Wie es schien, waren sie nicht weit von einer kleinen Stadt entfernt. St. Aubert ließ den Mauleseltreiber still halten und rief die Kinder an, um zu fragen, ob sie nahe bey Montigny wären; allein die Entfernung und das Murmeln der Wellen ließ seine Stimme nicht aufkommen, und die Klippen, welche an die Brücke gränzten, waren so furchtbar hoch und steil, daß es für jemanden, der nicht daran gewöhnt war, beynahe unmöglich gewesen seyn würde, sie zu ersteigen. St. Aubert hielt es deswegen für besser, keinen Augenblick länger mit Zögern zu verderben; sie fuhren noch lange nachdem die Dämmrung bereits den Weg verfinstert hatte, der so uneben war, daß sie sämmtlich ausstiegen, weil sie es für sichrer hielten zu Fuß zugehen, als sich dem Wagen anzuvertrauen. Der Mond gieng eben auf, allein sein Licht war noch zu schwach, ihnen zu leuchten. Während sie behutsam fortschlichen, hörten sie die Vesperglocke eines Klosters. Die Dämmrung ließ ihnen nicht zu, die Form eines Gebäudes zu unterscheiden, allein die Töne schienen aus einem Walde zu kommen, der einer Anhöhe zur Rechten überhieng. Valancourt schlug vor, sich auf den Weg zu machen, um dies Kloster aufzusuchen. »Wenn sie uns kein Nachtquartier geben wollen«, sagte er, »so werden sie uns doch gewiß Nachricht geben, wie weit wir noch von Montigny sind, und uns dahin führen können.« Er wollte voraus eilen, ohne St. Auberts Antwort zu erwarten, als dieser ihn aufhielt. »Ich bin sehr müde«, sagte St. Aubert, »und verlange nach nichts so sehr, als nach Ruhe. Wir wollen alle nach dem Kloster gehn. Ihr gutes Ansehn würde unsre Versicherung, daß wir Ruhe und Erhohlung bedürfen, Lügen strafen, allein wenn man mein und Emiliens mattes Gesicht sieht, wird man uns nicht leicht eine Ruhestätte verweigern.«
Mit diesen Worten ergrif er Emiliens Arm und befahl Micheln mit dem Wagen zu warten; sie machten sich auf den Weg die Anhöhe hinauf, nach dem Walde zu, von der Glocke des Klosters geleitet. St. Auberts Schritte waren schwach und Valancourt musste ihm den Arm geben. Der Mond warf nun einen schwachen Schimmer auf ihren Weg, und sezte sie bald nachher in Stand, einige Thürme, die über den Spitzen der Wälder aufstiegen, zu unterscheiden. Sie folgten immer dem Geläute der Glocke und betraten den Schatten dieser Wälder, nur von den Mondstrahlen erleuchtet, die zwischen den Blättern hinglitten und einen zitternden, unsichern Schimmer auf den tief liegenden Fußpfad warfen. Die Dunkelheit und Stille, die nur durch den dumpfen Laut der Glocke unterbrochen wurde, erregte bey Emilien eine Bangigkeit, welche nur durch Valancourts Stimme und Unterhaltung einigermaßen gemildert wurde. Als sie eine Weile bergan gestiegen waren, klagte St. Aubert über Müdigkeit, und sie standen still, um auf einem kleinen grünen Hügel auszuruhen, wo die Bäume sich öfneten, und das Mondlicht zuließen. Er sezte sich auf dem Rasen zwischen Emilien und Valancourt nieder. Die Glocke läutete nicht mehr, und kein Laut unterbrach die tiefe Ruhe; das dumpfe Murmeln einiger fernen Ströme diente vielmehr, das Schauerliche der Stille zu erhöhen, als zu unterbrechen.
Vor ihnen lag das Thal ausgebreitet, das sie eben verlassen hatten. Seine Felsen und Wälder zur Linken, durch die Strahlen versilbert, machten einen Contrast mit dem tiefen Schatten, der die gegen über liegenden Klippen einhüllte; ihre eingefaßten Spitzen waren nur schwach in Licht getaucht, während die ferne Aussicht des Thals sich in gelben Nebel des Mondlichts verlor. Die Wandrer saßen eine Zeitlang in süßes Wohlbehagen gewiegt, schweigend da.
»Solche Scenen«, sagte Valancourt endlich, »sänftigen das Herz, gleich den Noten einer süßen Musik und hauchen die süße Schwermuth ein, welche niemand, der einmal sie gefühlt hat, für die lebhaftesten Freuden hingeben würde. Sie erwecken unsre edelsten und reinsten Empfindungen, und machen uns zu Wohlwollen, Mitleid und Freundschaft geneigt. In einer solchen Stunde fühlt unser Herz doppelt für Gegenstände, die uns theuer sind.« Seine Stimme bebte und er hielt inne.
St. Aubert schwieg. Emilie fühlte eine warme Thräne auf die Hand fallen, die er in der seinigen hielt: sie kannte den Gegenstand seiner Gedanken; auch die ihrigen waren von der Erinnrung an ihre Mutter erfüllt. Er schien mit Gewalt sich aufzuraffen. »Ja«, sagte er mit einem halb unterdrückten Seufzer: »die Erinnrung an die, welche wir liebten, an Zeiten, die auf immer dahin sind, schleicht sich in einer solchen Stunde vor die Seele gleich der Melodie einer fernen Musik in der Stille der Nacht — so zart und harmonisch, als diese Landschaft, die im falben Mondenlichte schlummert.« Er hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort: »Ich habe mir immer eingebildet, daß ich in einer solchen Stunde, schärfer und heller dächte, und das Herz, das sich nicht diesem sanften Eindrucke öfnete, müßte in hohem Grade fühllos seyn. Allein es giebt solche Menschen!«
Valancourt seufzte.
»Giebt es deren wirklich viele?« sagte Emilie.
»Noch wenig Jahre, meine Emilie«, erwiederte St. Aubert, »und du wirst bey der Erinnrung an diese Frage lächeln, wenn du nicht weinst. Aber komm, ich fühle mich etwas gestärkt; wir wollen weiter gehn.«
Nachdem sie die Wälder zurückgelegt hatten, sahen sie auf einem rasigten Hügel über ihnen das Kloster vor sich liegen. Eine hohe Mauer, die es umgab, führte sie zu einem alten Thore, an welches sie anklopften. Der arme Mönch, der es öfnete, führte sie in ein kleines Nebenzimmer, wo er sie zu warten bat, indeß er den Prior von ihrem Gesuch benachrichtigte. In dieser Zwischenzeit kamen verschiedne Mönche herein um nach ihnen zu sehen; endlich kam der erste Bruder zurück, und führte sie in ein Zimmer, wo sie den Prior in einem Lehnstuhl mit einem großen, schwarz gebundenen Folianten auf einem Pulte vor sich sitzen sahn. Er empfieng sie höflich, ohne jedoch aufzustehn, und nachdem er einige wenige Fragen an sie gethan hatte, erkundigte er sich nach ihrem Anliegen. Nach einem kurzen Gespräch, das von seiner Seite steif und feyerlich war, verfügten sie sich in das Zimmer, wo sie zu Abend essen sollten, während Valancourt, den einer von den Mönchen sich zu begleiten höflich erbot, sich aufmachte, um Micheln und seine Maulesel zu suchen. Er hatte noch kaum die Hälfte des Berges zurückgelegt, als er schon die Stimme des Mauleseltreibers weit und breit erschallen hörte. Oft rief er St. Auberts und dann wieder Valancourts Namen; nachdem dieser ihn endlich von seiner Furcht für sich und seine Thiere geheilt, daß er sie und ihn in einer Hütte am Rande des Waldes untergebracht hatte, kehrte er zurück, um mit seinen Freunden eine so mäßige Mahlzeit zu halten, als die Mönche ihnen vorzusetzen für gut fanden. St. Aubert befand sich zu übel, um Theil daran zu nehmen; Emilie vergaß in ihrer Angst um ihren Vater sich selbst; und Valancourt, still und nachdenkend, doch nie bis zur Unaufmerksamkeit gegen sie, gab sich alle Mühe, St. Aubert zu bedienen und zu erleichtern. Dieser bemerkte oft, während seine Tochter ihn zum Essen nöthigte, oder das Kissen, welches sie ihm in den Lehnstuhl gelegt hatte, zurechte zog, dass Valancourt einen Blick nachdenkender Zärtlichkeit auf sie heftete, dessen Sinn er nicht ungern verstand.
Sie trennten sich früh und begaben sich in ihre Zimmer. Eine Nonne des Klosters führte Emilien in das ihrige, allein sie war froh, sie fortschicken zu können, denn ihr Herz war schwer belastet und ihre Aufmerksamkeit so abgezogen, daß es ihr lästig war, mit einem Fremden zu sprechen. Sie glaubte, dass ihr Vater sich täglich verschlimmerte, und schrieb seine gegenwärtige Ermattung mehr dem schwachen Zustande seines Körpers, als der Beschwerde der Reise zu. Ein Heer von finstern Ideen drängte sich vor ihre Seele, bis sie in Schlaf sank.
Ohngefähr zwey Stunden nachher wurde sie durch das Geläute einer Glocke erweckt und hörte dann schnelle Schritte über den Gang gehn, der an ihr Zimmer stieß. Sie war der Sitten des Klosters so wenig gewohnt, daß sie darüber erschrack; ihre stets für ihren Vater rege Furcht gab ihr ein, daß er sehr krank sey und sie stand eilends auf, um zu ihm zu gehn. Nachdem sie ein wenig gewartet hatte, um die Personen im Gange vorübergehn zu lassen, öfnete sie die Thüre: indeß sammelten sich ihre Gedanken aus der Verwirrung des Schlafs, und sie vernahm, daß die Glocke der Ruf der Mönche zum Gebet wäre. Das Läuten hatte nun aufgehört, und da alles wieder still war, enthielt sie sich, in St. Auberts Zimmer zu gehn. Ihre Seele war nicht zum Schlafe gestimmt, und das Mondlicht, das in ihre Kammer fiel, lud sie ein, das Fenster zu öfnen und auf die Gegend hinaus zu sehn.
Es war eine schöne, stille Nacht; kein Wölkchen verdunkelte den Himmel und kaum zitterte ein Blatt von den Wäldern in der Luft. Indem sie so da lag, stieg die mitternächtliche Hymne der Mönche sanft von einer Kapelle auf einem der tiefern Berge auf; eine heilige Melodie, die durch das Schweigen der Nacht zum Himmel aufzusteigen schien und ihre Gedanken mit sich empor hub. Ihre Seele erwachte aus der Betrachtung seiner Werke zur Anbetung Gottes in seiner Güte und Macht. Wohin sie ihren Blick wandte, auf die schlummernde Erde, auf den weiten Luftraum, glänzend von Wolken über den Gesichtskreis menschlicher Gedanken erhaben, erschien ihr die Erhabenheit Gottes und die Majestät seiner Gegenwart. Ihre Augen füllten sich mit Thränen ehrfurchtsvoller Liebe und Bewundrung, und sie fühlte die reine Andacht, welche über alle Verschiedenheiten menschlicher Systeme erhaben, die Seele über diese Welt hinaus trägt und sie zu einer edlern Natur empor zu heben scheint; eine Andacht, die man vielleicht nur empfinden kann, wenn die Seele, auf einem Augenblick von der Niedrigkeit irrdischer Gedanken befreyt, hinauf strebt, um seine Macht in der Erhabenheit seiner Werke, und seine Güte in der Unendlichkeit seines Seegens zu betrachten.
Bald darauf versank der mittelnächtliche Gesang in Schweigen; allein Emilie verweilte am Fenster, und sah, wie der Mond untergieng und das Thal in tiefen Schatten sank. Gern wäre sie noch länger in dieser Stimmung geblieben, endlich aber zog sie sich auf ihre Matratze zurück und sank in ruhigen Schlummer.
St. Aubert, der sich durch den ruhigen Schlaf einer Nacht hinlänglich wieder gestärkt fühlte, um seine Reise fortzusetzen, machte sich früh Morgens mit Valancourt und Emilien nach Roussillon auf den Weg, das er noch vor Einbruch der Nacht zu erreichen hoffte. Die Gegenden, durch welche sie nun kamen, waren so wild und romantisch, als sie noch keine gesehn hatten, nur mit dem Unterschied, daß hie und da eine Schönheit die Landschaft sanfter schmolz. Kleine Waldhölen, mit glänzenden Grün und Blumen bedeckt, erschienen zwischen den Bergen, oder ein ländliches Thal öfnete seinen grasigten Busen im Schatten der Klippen, während Schaafe und Heerden längs dem Ufer eines Flusses weideten, der es mit ewigem Grün erfrischte. St. Aubert konnte nicht bereuen, diesen beschwerlichen Weg gewählt zu haben, wiewohl er sich auch diesen Tag oftmals genöthigt sah, auszusteigen, längs dem rauhen Abgrund zu gehn und die steilen mit Kiesel bedeckten Berge hinan zu klettern. Die wundervolle Erhabenheit und Abwechslung der Aussichten belohnte ihn für alle Beschwerde, und die Begeistrung, womit seine jungen Gefährten sie betrachteten, erhöhte seine eigne und erweckte eine Erinnrung an alle die süßen Gefühle seiner frühen Tage, wo der erhabne Reiz der Natur sich zuerst ihm enthüllte. Er fand großes Vergnügen, mit Valancourt zu sprechen und seinen scharfsinnigen Bemerkungen zuzuhören. Sein Feuer und die Einfachheit seiner Sitten machten ihn zu einer characteristischen Figur in den Scenen um sie her und St. Aubert entdeckte in seinen Gesinnungen die Richtigkeit und Würde einer erhabnen Seele, die noch durch keinen Umgang mit der Welt verderbt war. Er fand, daß seine Begriffe mehr aus ihm selbst gebildet, als von andern angenommen waren; sie waren mehr das Resultat von Nachdenken als von Gelehrsamkeit. Von der Welt schien er nichts zu wissen; denn er dachte gut vom ganzen Menschengeschlecht und diese Meinung schöpfte er aus dem wiederstrahlenden Bilde seines eignen Herzens.
St. Aubert blickte oft, wenn er zu Fuße gieng, um die wilden Pflanzen auf seinem Wege aufzusuchen, mit Vergnügen auf Emilien und Valancourt, die mit einander vorausgiengen. Er machte mit einem Gesicht voll beseelter Freude sie aufmerksam auf die umliegenden Gegenstände, und sie hörte ihm zu und sah ihn mit einem Blick voll zärtlichen Ernstes an, die die erhabne Regung ihrer Seele verrieth. Sie glichen zwey Liebenden, die sich nie über die Grenze der Gebürge, worinn sie gebohren waren, hinausgewagt hatten, die ihre Lage von den Frivolitäten des gemeinen Lebens ausschloß, deren Begriffe einfach und groß waren, wie die Landschaften zwischen welchen sie wandelten, und die kein anderes Glück kannten, als die Vereinigung reiner und zärtlicher Herzen. St. Aubert lächelte und seufzte bey dem romantischen Gemälde von Glückseeligkeit, das seine Phantasie zeichnete, und seufzte wiederum bey dem Gedanken, daß Natur und Einfalt der Welt so wenig bekannt waren, daß sie ihre Freuden für romanhaft hielt.
Die Welt, sagte er, indem er diese Reihe von Gedanken fortsezte, verspottet eine Leidenschaft, die sie selten fühlt; ihre Auftritte, die Gegenstände ihres Bestrebens, zerstreuen die Seele, entwürdigen den Geschmack und verderben das Herz, in welchem keine Liebe mehr wohnen kann, wenn es die sanfte Würde der Unschuld verlohren hat. Tugend und Geschmack sind beynahe eins: denn Tugend ist nicht viel mehr als thätiger Geschmack, und die zartesten Regungen von beyden vereinigen sich in wahrer Liebe. Wie sollen wir also in großen Städten, wo Selbstsucht, Zerstreuung und Falschheit die Stelle der Zärtlichkeit, Einfalt und Wahrheit vertreten, noch Liebe suchen?
Es war beynahe Mittag, als die Reisenden auf einem steilen und gefährlichen Wege ausstiegen, um spazieren zu gehn. Der Weg wand sich einen Hügel hinauf, der mit Waldung bekleidet war, und statt dem Wagen zu folgen, machten sie sich in den erfrischenden Schatten. Eine thauigte Kühle war durch die Luft verbreitet und vereinte sich mit dem glänzenden Grün des Rasens, der unter den Bäumen hervorsproßte, mit dem Wohlgeruch der Blumen, mit dem balsamischen Duft des Thymians und Lavendels, die den Boden bereicherten, und mit der Größe der Fichten, Buchen und Wallnüsse, die ihn überschatteten, diesen Aufenthalt entzückend zu machen. Oft verschloß das dicke Laubwerk alle Aussicht auf das Land, oft wieder ließ es einen kleinen Blick auf die ferne Gegend zu, die der Einbildungskraft Winke gab, sich interessantere, reizendere Landschaften zu malen, als sich bisher noch dem Auge gezeigt hatten. Die Wandrer zögerten oft, um diesen Träumereyen der Phantasie nachzuhängen.
Der stummen Pausen, die oft schon Valancourts und Emiliens Gespräche unterbrochen hatten, fanden sich heute mehr als je. Valancourt fiel oft plötzlich aus der beseeltesten Lebhaftigkeit in tiefes Nachsinnen und oft lag eine ungekünstelte Schwermuth in seinem Lächeln, welche Emiliens Herz nicht misverstehn konnte, da es bey dem Gefühl, das sie verrieth, so nahe interessirt war.
St. Aubert fühlte sich erquickt durch die frischen Schatten, und sie schlichen unter ihnen hin, indem sie ihrer Meinung nach, so nahe als möglich der Leitung des Wegs folgten, bis sie gewahr wurden, dass sie ihn gänzlich verloren hatten. Sie hatten sich immer, durch die schöne Gegend gelockt, an der Seite des Berges gehalten, während der Weg jenseits der obern Klippen hinlief. Valancourt rief laut Micheln zu, hörte aber keine Stimme als seine eigne von den Felsen wiederhallen, und seine wiederholten Versuche, den Weg wieder zu gewinnen, blieben gleich fruchtlos. In dieser Verlegenheit entdeckten sie eine ferne Schäferhütte zwischen den Bäumen, und Valancourt sprang zuerst darauf hin, um Beystand zu suchen. Als er sie erreichte, sah er nur zwey kleine Kinder auf dem Rasen vor der Thüre spielen. Er sah in die Hütte, erblickte aber niemand, und der älteste Knabe sagte ihm, daß ihr Vater bey der Heerde und ihre Mutter ins Thal herunter gegangen wäre, aber gleich zurückkommen würde. Indem er da stand, und überlegte, was weiter zu thun sey, hörte er Michels Stimme mannhaft brüllend zwischen den Klippen über ihm ertönen, bis die Echos wiederhallten. Valancourt beantwortete sogleich den Ruf und suchte sich durch das Dickigt einen Weg zu machen, indem er der Leitung des Schalls folgte. Nach vielem Stolpern über Gesträuch und Abgründe erreichte er Micheln, und brachte ihn endlich dahin, still zu schweigen und ihn anzuhören. Die Straße lag weit ab von dem Orte, wo St. Aubert und Emilie sich befanden; der Wagen konnte nicht gut zum Eingange des Waldes zurückkehren, und da es sehr beschwerlich für St. Aubert gewesen seyn würde, den langen steilen Pfad nach dem Ort, wo er jezt stand, hinauf zu klimmen, so bemühte sich Valancourt, einen bequemern Aufgang durch den Weg, den er selbst gekommen war, zu finden.
Indessen näherten sich St. Aubert und Emilie der Hütte, und ruhten auf einer ländlichen zwischen zwey Fichten befestigten Bank, bis Valancourt, dessen Schritte sie beobachteten, zurückkommen würde.
Das älteste der Kinder ließ von seinem Spiel ab und stand still, um die Fremden zu betrachten, während das jüngere sein kleines Kugelspiel fortsetzte und seinen Bruder mit zu spielen quälte. St. Aubert betrachtete mit Vergnügen das Gemälde kindischer Einfalt, bis es die Erinnrung an seine eignen Knaben, die er ohngefähr in gleichem Alter verloren hatte, und an ihre verewigte Mutter in seine Seele zurückbrachte. Er sank in einen Tiefsinn, wovon ihn Emilie sogleich, durch eine der einfachen, lebhaften Arien, die er so gern hörte, und die sie mit so bezaubernder Anmuth vorzutragen wußte, zu zerstreuen suchte. St. Aubert lächelte durch seine Thränen sie an, drückte zärtlich ihre Hand und suchte die schwermüthigen Bilder von seiner Seele zu verscheuchen.
Valancourt kam heran während sie sang, und ungeneigt sie zu unterbrechen blieb er in einiger Entfernung stehn und horchte ihr zu. Als sie geendigt hatte, trat er zu ihnen und sagte, er hätte sowohl Micheln als einen Weg gefunden, durch welchen er sie den Berg hinauf zum Wagen zu führen hoffte. Er zeigte ihnen die waldigten Höhen über ihnen, die St. Aubert mit ängstlichem Auge betrachtete. Er fühlte sich bereits müde von Spazierengehn und fürchtete sich, so hoch hinan zu klettern. Doch glaubte er, würde es weniger beschwerlich seyn, als die lange unebne Straße zu gehn, und beschloß es zu versuchen; allein Emilie, die stets für seine Gemächlichkeit besorgt war, schlug ihm vor, auszuruhen und Mittag zu halten, ehe sie weiter giengen. Der Vorschlag wurde angenommen, und Valancourt gieng sogleich an den Wagen, um Lebensmittel zu holen.
Bey seiner Zurückkunft schlug er vor, ein wenig höher bergauf zu gehen, wo die Wälder sich in eine größere und ausgedehntere Aussicht öffneten, und sie wollten sich eben dahin begeben, als sie ein junges Weib zu den Kindern gehn, sie liebkosen und über ihnen weinen sahn.
Durch den Kummer dieser Frau gerührt, standen sie still um sie zu beobachten. Sie nahm das jüngste Kind in ihre Arme, sobald sie aber die Fremden gewahr ward, trocknete sie schnell ihre Thrähnen, und eilte nach der Hütte. St. Aubert rief sie an, um nach der Ursache ihres Kummers zu fragen, und erfuhr, daß ihr Mann, der ein Schaafhirte war, und die Sommermonathe hier zubrachte, um die Heerden auf diesen Bergen zu hüten, in der vergangnen Nacht seine ganze kleine Habe verloren hatte. Eine Bande Zigeuner, die seit einiger Zeit in der Nachbarschaft umherstreiften, hatte verschiedne von seines Herren Schaafen weggetrieben. »Jakob«, setzte die Frau hinzu, »hatte sich ein bischen Geld gespart und ein paar Schaafe dafür gekauft, und nun muß er sie alle seinem Herrn für die gestohlnen hingeben. Ja, was noch schlimmer ist, wenn sein Herr es erfährt, wird er ihm nicht länger die Heerde anvertrauen: denn er ist ein harter Mann — und was wird dann aus unsern Kindern werden!«
Das unschuldige Gesicht dieser Frau und das Einfache ihrer Erzählung machte St. Aubert geneigt ihr zu glauben; und Valancourt, überzeugt, daß sie die Wahrheit sagte, fragte hitzig, was die gestohlnen Schaafe werth wären? — Als sie es ihm sagte, wandte er sich niedergeschlagen zur Seite. St. Aubert steckte ihr etwas Geld in die Hand; auch Emilie gab aus ihrer kleinen Börse, und so giengen sie nach dem Berge hin; aber Valancourt blieb zurück und sprach mit des Schäfers Frau, die jetzt vor Dankbarkeit und Ueberraschung weinte. Er fragte, wie viel Geld ihr noch fehlte, um die gestohlnen Schaafe zu bezahlen, und fand, daß es beynahe so viel war, als der ganze kleine Vorrath, den er bey sich hatte, betrug. Er fühlte sich verlegen und bekümmert. Diese kleine Summe also, sagte er zu sich selbst, würde hinreichen, diese arme Familie ganz glücklich zu machen! — Aber was soll aus mir werden? Wie soll ich mit dem wenigen Gelde, das mir noch übrig bleiben wird, nach Hause kommen? Er stand einen Augenblick still; es that ihm weh, sich die Befriedigung zu versagen, eine Familie vom Verderben zur Glückseeligkeit zu führen, und doch überlegte er zugleich, daß es ihm unmöglich seyn würde, seine Reise mit dem kleinen Ueberrest fortzusetzen.
Während er sich in dieser Verlegenheit befand, erschien der Schäfer selbst. Seine Kinder sprangen ihm entgegen; er nahm das eine auf den Arm und kam mit zögerndem Schritte mit dem andern herbey, das sich an seinem Rock hielt. Sein trauriges Ansehn bestimmte Valancourt auf einmal; er warf ihm alles Geld was er hatte, einige wenige Louisd'or ausgenommen, hin, und eilte St. Aubert und Emilien nach, die langsam den Berg hinauf giengen. Valancourt hatte noch selten sein Herz so leicht gefühlt, als in diesem Augenblick; seine fröhlichen Lebensgeister hüpften vor Freude; jeder Gegenstand um ihn her schien ihm anziehender oder schöner als zuvor. St. Aubert bemerkte die ungewöhnliche Lebhaftigkeit seines Gesichts. »Was hat Sie denn in so freudige Stimmung gesetzt?«, fragte er. »O was für ein herrlicher Tag«, erwiederte Valancourt, »wie hell glänzt die Sonne! wie rein ist die Luft, wie bezaubernd die Gegend!«
»Es ist in der That bezaubernd«, erwiederte St. Aubert, den frühe Erfahrung mit der Natur von Valancourts gegenwärtigen Gefühlen bekannt gemacht hatte. »Wie traurig, daß die Reichen, die solchen Sonnenschein hervorbringen können, ihre Tage in ewiger Dunkelheit, im kalten Schatten des Eigennutzes hinbringen! Möge Ihnen, mein junger Freund, die Sonne stets so heiter scheinen, als in diesem Augenblick! möge Ihr eignes Betragen stets den Sonnenschein des Wohlwollens und der Vernunft über sie verbreiten.«
Valancourt, der sich durch dieses Lob hoch geschmeichelt fühlte, konnte es nur durch ein dankbares Lächeln erwiedern.
Sie wanden sich unter den Wäldern zwischen den grasigten Hügeln fort, und als sie den schattigten Wipfel erreichten, den er ihnen ausersehn hatte, brach die ganze Gesellschaft in einen Ausruf aus. Hinter dem Flecke, wo sie standen, erhub sich der Felsen senkrecht in eine massive Mauer von ansehnlicher Höhe, und dehnte sich dann in überhangende Spalten aus. Im schönen Abstich mit ihrem bleichen Grau prangten die glänzenden Farben der Pflanzen und wilden Blumen, die in ihren aufgerißnen Seiten wuchsen und durch das Dunkel der Fichten und Cedern, die über ihnen wehten, sanft beschattet wurden. Die Stuffen unten, über welche das Auge schnell ins Thal glitt, waren mit Dickigt von Alpengesträuchen bezäunet, und tiefer noch erschienen die dicht belaubten Spitzen der Wallnuswälder, die ihren Fuß bekleideten; unter ihnen that sich die Schäferhütte, welche die Reisenden verlassen hatten, mit ihrem bläulichen Dampf hoch in die Luft kräuselnd hervor. An jeder Seite ragten die majestätischen Häupter der Pyrenäen. Einige zeigten zitternde Marmorspitzen, deren Ansehn sich jeden Augenblick veränderte, so wie die abwechselnden Lichtstralen auf ihre Oberfläche fielen; andere noch höhere zeigten nur Schneepunkte, während ihre niedrigern Schichten fast einförmig mit Wäldern von Fichten, Lerchbäumen und Eichen besetzt waren, die sich das Thal hinabstreckten. Dies war eines von den engen Thälern, die sich von den Pyrenäen in das Gebiet von Roussillon öffnen, und deren grüne Weiden und angebaute Schönheiten einen scharf bezeichneten, wunderbaren Contrast mit der romantischen Größe rings umher bilden. Durch eine perspektivische Aussicht zwischen Gebürgen sah man die Tiefen von Roussillon, mit dem blauen Nebel der Entfernung gefärbt, wie sie mit den Gewässern des mittelländischen Meeres zusammenschmolzen. Auf einem Vorgebürge, welches die Gränze des Ufers bezeichnete, stand ein einsamer Wachtthurm, über welchen die Seevögel ihre Kreise zogen. Weiter hinauf schlich hie und da ein Seegel, weiß vom Sonnenstrahle, dessen Fortrücken man wahrnahm, so wie es sich dem Leuchtthurm näherte. Zu Zeiten sah man auch ein so fernes Seegel, daß es nur die Scheidungslinie zwischen Himmel und Wasser zu bezeichnen schien.
An der andern Seite des Thales, unmittelbar an dem Orte, wo die Reisenden ruhten, gegen über, öffnete sich ein felsigter Paß gegen Gasconien. Hier sah man keine Spur von Anbau. Die Granitfelsen, welche den Hohlweg einfaßten, stiegen jäh vom Fuße abgerissen auf und streckten ihre kahlen Spitzen in die Wolken, von keinem Walde belebt, nicht einmal durch eine Jägerhütte erheitert. Zuweilen warf wohl ein gigantischer Lerchbaum seinen langen Schatten über den Abgrund und hie und da streckte wohl ein Fels von seiner Spitze ein Kreuz empor, um den Wandrer das Schicksal desjenigen kund zu thun, der sich vor ihm dahin gewagt hatte. Dieser Ort schien der ächte Aufenthalt der Banditen, und Emilie erwartete beynahe, als sie darauf hinblickte, sie aus irgend einer Höhle hervorbrechen zu sehn, um Beute zu suchen. Bald darauf schreckte sie ein neuer gehässiger Gegenstand: — ein Galgen stand auf einer Felsenspitze nahe beym Eingange des Passes, und unmittelbar über einem der Kreutze, das sie vorhin bemerkt hatte. Diese Hieroglyphen erzählten eine plane, schreckhafte Geschichte. Sie enthielt sich, St. Aubert aufmerksam darauf zu machen; allein es warf einen Schatten über ihre Fröhlichkeit und machte, daß sie sich ängstlich weiter wünschte, um noch vor einbrechender Nacht Roussillon zu erreichen. Es war indessen nothwendig, daß St. Aubert einige Erfrischung zu sich nahm; sie sezten sich auf den kurzen, dürren Rasen und öffneten ihr Körbchen, während der Zephyr ihnen Kühlung zuhauchte, und unter ihren Füßen der murmelnde Wasserfall schäumte.
St. Aubert fühlte sich durch die Ruhe und durch die heitre Luft dieses Hügels gestärkt, und Valancourt war so bezaubert von allem rings umher, und von der Unterhaltung seiner Gesellschaft, daß er vergessen zu haben schien, daß er noch weiter zu gehn hätte. Nachdem sie ihre einfache Mahlzeit geendigt hatten, schenckten sie der Gegend noch einen langen Abschiedsblick, und machten sich von neuem auf. St. Aubert freute sich, als er den Wagen erreichte; Emilie sezte sich zu ihm; allein Valancourt, der noch eine weitere Aussicht, als der enge Wagen ihm zuließ, auf dies zaubrische Land zu genießen wünschte, machte seine Hunde los und sprang noch einmal mit ihnen am Saume des Weges hin. Oft verließ er ihn, um Spitzen zu erklettern, die noch eine weitere Aussicht versprachen, da der langsame Schritt der Maulesel ihm vergönnte, seine Reisegefährten mit Muße einzuholen. So oft sich eine ungewöhnlich prächtige Scene eröffnete, eilte er, St. Aubert Nachricht davon zu geben, und dieser, wenn er auch zu müde war, um selbst zu gehn, ließ oft den Wagen warten, während Emilie den nahen Hügel erstieg.
Es war Abend, als sie die niedrigern Alpen herabfuhren, die Roussillon einfassen und eine prachtvolle Ringmauer um diese reizende Gegend bilden, die sie nur nach Osten dem mittelländischen Meere offen lassen. Der heitre Anstrich der Bebauung verschönerte noch einmal die Gegend; denn die Gefilde waren mit den reichsten Farben geschmückt, welche ein üppiger Himmelsstrich und ein fleissiges Volk ins Leben rufen kann. Wäldchen von Orangen und Limonen durchhauchten die Luft; ihre reichen Früchte glühten unter dem Laube, während zu den Thälern sich sanft herabsenkend die Weinberge ihre Schätze ausbreiteten. Jenseits dieser streckten sich Wälder und Wiesen, mit untermischten Städten und Dörfern gegen die See, auf deren glänzende Spiegelfläche manches entfernte Seegel schimmerte, während der Purpurschimmer des Abends die ganze Scene einhüllte. Diese Landschaft mit den sie umringenden Alpen stellte in der That ein vollkommnes Gemälde des lieblichen und erhabnen »der Schönheit im Schooße des Schreckens schlummernd« dar.
Nachdem sie die Thäler erreicht hatten, fuhren sie zwischen Hecken von blühenden Myrthen und Granaten hin nach der Stadt Arlos, wo sie die Nacht zu ruhen dachten. Sie fanden eine einfache aber saubre Bewirthung, und würden nach den Genüssen und Beschwerden des Tags einen angenehmen Abend zugebracht haben, wenn nicht die herannahende Trennung einen Schatten auf ihre Freude geworfen hätte. St. Aubert hatte die Absicht, mit frühen Morgen sich zum Ufer des mittelländischen Meeres zu wenden und längs demselben in die Provinz Languedoc zu gehn; und da Valancourt nunmehr beynahe völlig wieder hergestellt war, und keinen Vorwand mehr hatte, noch länger bey seinen neuen Freunden zu verweilen, entschloß er sich, sie hier zu verlassen. St. Aubert, der ihn liebgewonnen hatte, lud ihn ein, sie noch weiter zu begleiten; weil er aber die Einladung nicht wiederholte, so hatte Valancourt Entschlossenheit genug, der Versuchung zu widerstehn, um sich der Freundschaft nicht unwürdig zu zeigen. Am folgenden Morgen also sollten sie scheiden; St. Aubert, um seinen Weg nach Languedoc fortzusetzen, und Valancourt, um auf seinem Heimwege neue Schönheiten zwischen den Gebürgen aufzuspüren. Oft saß er an diesem Abende still und nachdenkend da. St. Auberts Betragen gegen ihn war zärtlich aber ernsthaft, und Emilie war still, so viel Mühe sie sich auch gab, heiter zu scheinen. Nach einem der schwermüthigsten Abende, die sie noch zusammen hingebracht hatten, trennten sie sich für die Nacht.
Des Morgens frühstückte Valancourt mit St. Aubert und Emilien; alle drey schienen wenig erfrischt durch den Schlaf. Die Mattigkeit der Krankheit lag noch immer auf St. Aubert und Emiliens Besorgnisse sagten ihr, daß seine Unpäßlichkeit mit schnellen Schritten zunähme. Sie hieng mit ängstlicher Zärtlichkeit an seinen Blicken und die ihrigen gaben immer getreu den Ausdruck derselben zurück.
Im Anfange ihrer Bekanntschaft hatte Valancourt ihnen seinen Namen und Familie gesagt: St. Aubert kannte beyde: denn die Familiengüter, welche jetzt Valancourts älterer Bruder besaß, lagen nicht weit von La Vallée und er hatte ihn oft bey Besuchen in der Nachbarschaft getroffen. Diese Bekanntschaft machte St. Aubert noch mehr geneigt, seinen jetzigen Gefährten aufzunehmen; denn wenn auch seine Gesichtsbildung und Betragen ihm St. Auberts Bekanntschaft gewonnen hatten, so würde er doch beyde nicht für hinlänglich gehalten haben, ihn bey seiner Tochter einzuführen.
Das Frühstück wurde beynahe eben so stillschweigend verzehrt, als das Abendessen den Tag zuvor; allein ihre Betrachtungen wurden bald durch das Rasseln der Wagenräder unterbrochen, die St. Aubert und Emilien hinwegführen sollten. Valancourt sprang von seinem Stuhle auf und gieng ans Fenster; es war in der That der Wagen und ohne zu sprechen kehrte er wieder zu seinem Stuhl zurück. Der Augenblick des Schreckens war nun gekommen! St. Aubert sagte zu seinem jungen Freund: er hoffte, daß er nicht durch La Vallée gehn würde, ohne ihm einen Besuch zu schenken; und Valancourt, der ihm freudig dankte, versicherte ihn, er würde es gewiß nie. Er sah bey diesen Worten Emilien furchtsam an, die sich bemühte, den Ernst ihrer Züge hinweg zu lächeln. Sie brachten einige Minuten in interessantem Gespräch hin, und dann gieng St. Aubert nach dem Wagen, wohin Emilie und Valancourt ihm stillschweigend folgten. Dieser zögerte noch verschiedne Minuten am Kutschenschlage, nachdem sie sich schon gesezt hatten, und keiner schien Muth genug zu haben, um Lebewohl zu sagen. Endlich sprach St. Aubert das traurige Wort aus; Emilie trug es zu Valancourt hinüber, er erwiederte es mit niedergeschlagnem Gesicht und der Wagen rollte davon.
Die Reisenden blieben eine Zeitlang in einem Zustande stillen Tiefsinns, der sein Süßes hat. St. Aubert unterbrach ihn durch die Bemerkung: »dieser junge Mann verspricht sehr viel; ich wüßte seit vielen Jahren nicht, daß mir jemand nach so kurzer Bekanntschaft so gut gefallen hätte. Er ruft mir die Tage meiner Jugend ins Gedächtniß zurück, wo jeder Gegenstand neu und entzückend war.« St. Aubert seufzte, und versank wieder in Tiefsinn, und als Emilie den Weg den sie gekommen waren, zurücksah, erblickte sie Valancourt vor der Thüre des kleinen Wirthshauses, wo er sie mit den Augen verfolgte. Er ward sie gewahr, und winkte mit der Hand; sie erwiederte den Abschiedsgruß bis die Krümmung des Weges ihn ihren Augen entzog.
»Ich erinnre mich, als ich in seinem Alter war«, sagte St. Aubert, »daß ich genau so fühlte und dachte als er. Damals that die Welt sich vor mir auf — jezt verschließt sie sich mir.«
»Mein liebster Vater, machen Sie sich doch nicht so trübe Gedanken«, sagte Emilie mit zitternder Stimme. »Ich hoffe, um ihrent, um meinetwillen, dass sie noch viele, viele Jahre zu leben haben.«
»Ach meine Emilie«, erwiederte St. Aubert, »um deinetwillen? — Nun, ich hoffe, es mag so seyn.« Er trocknete sich eine Thräne ab, die seine Wange hinabrollte, brachte seine Züge in ein Lächeln, und sagte mit erheiterter Stimme: »Es liegt ein ganz eigner Zauber in dem Feuer und der Offenheit der Jugend die einem alten Manne besonders wohl gefällt, wann seine Gefühle noch nicht ganz durch die Welt abgestumpft sind. Es erheitert und erquickt wie der Anblick des Frühlings den Kranken; seine Seele saugt etwas von dem Geist der Jahrszeit in sich, und seine Augen werden von einem vorübergehenden Sonnenscheine erhellt. Valancourt war dieser Frühling für mich!«
Emilie, die zärtlich ihres Vaters Hand drückte, hatte noch nie mit so viel Wohlbehagen ein Lob von ihm angehört — selbst nicht, wenn er es an sie selbst richtete.
Sie reiseten zwischen Weinbergen, Wiesen und Wäldern weiter, entzückt über die romantische Schönheit der Landschaft, die von einer Seite durch die erhabnen Pyrenäen, von der andern durch den Ozean begränzt wurde, und bald nach Mittag erreichten sie die Stadt Collioure am mittelländischen Meere. Hier hielten sie Mittag und ruhten bis zur Abendkühle, wo sie ihren Weg längs den Ufern fortsezten — längs diesen bezauberten Ufern, die sich nach Languedoc hinstrecken. Emilie staunte mit Begeistrung auf die weite See, deren Spiegelfläche sich veränderte, so wie Licht und Schatten darauf fielen, und auf ihre waldigten Ufer, in herbstliche Farben getaucht.
St. Aubert verlangte sehr, Perpignan zu erreichen, wo er Briefe von Herrn Quesnel erwartete; die Erwartung dieser Briefe hatte ihn aus Collioure getrieben, so sehr auch sein erschöpfter Körper der Ruhe bedurft hätte. Nachdem er einige Meilen gereist war, fiel er in Schlaf, und Emilie, die einige Bücher in den Wagen gelegt hatte, als sie La Vallée verließen, hatte nunmehr Zeit darin zu blättern. Sie wählte eines, worin Valancourt den Tag zuvor gelesen hatte, und hoffte auf das Vergnügen, Züge wieder zu lesen, auf welchen die Augen eines geliebten Freundes so kürzlich geruht hatten; oder bey Stellen zu verweilen, die er bewundert hatte, sie in der Sprache seines eignen Herzens zu ihr reden zu lassen und ihn selbst in ihre Gegenwart zurückzubringen. Sie konnte das Buch nirgends finden, sah aber statt dessen einen Band von Petrarchs Gedichten, der Valancourt zugehörte, in welchem sein Name geschrieben stand, und woraus er ihr oft mit allem pathetischen Ausdruck, der die Gefühle des Verfassers bezeichnet hatte, Stellen vorlas. Sie war unschlüssig, ob sie glauben sollte, was jede andere wahrscheinlich genug gefunden haben würde, daß er absichtlich dieses Buch an die Stelle des vermißten zurückgelassen, und daß Liebe den Tausch gemacht hätte; als sie es aber mit ungeduldigem Verlangen öffnete, und die Züge seiner Bleifeder unter den verschiednen Stellen, die er laut gelesen hatte, und unter noch andern bemerkte, die mehr seine Zärtlichkeit ausdrückten, als er seiner Stimme anzuvertrauen gewagt hatte, kam endlich die Ueberzeugung in ihre Seele. Einige Augenblicke war sie sich nur bewußt, daß sie geliebt würde; dann aber drang die Erinnrung an den oft wechselnden Ton seiner Stimme, an seinen gesenkten Blick, wenn er diese Sonnette wiederholt hatte, und an die Seele, die aus dem Ausdruck seines Gesichts sprach, in ihr Gedächtniß, und sie weinte über dem Andenken an seine Zärtlichkeit.
Bald nach Sonnenuntergang erreichten sie Perpignan, wo St. Aubert, wie er erwartet hatte, Briefe von Herrn Quesnel fand, deren Inhalt ihn so sichtlich und schmerzhaft angriff, daß Emilie in Unruhe gerieth und so sehr es ihre Delikatesse zulassen wollte, in ihn drang, ihr die Ursache seines Kummers zu entdecken: allein er antwortete nur durch Thränen und fieng sogleich von andern Gegenständen zu reden an. Emilie enthielt sich zwar, des einen zu erwähnen, der ihr am meisten am Herzen lag, war aber sehr niedergeschlagen über ihres Vaters Benehmen und brachte eine Nacht in schlafloser Unruhe hin.
Früh Morgens sezten sie ihre Reise längs der Küste nach Leucate, einer andern Stadt am mittelländischen Meere an den Gränzen von Languedoc und Roussillon fort. Unterwegs erneuerte Emilie das Gespräch vom vorhergehenden Abend, und schien so tief gerührt von St. Auberts Stillschweigen und Niedergeschlagenheit, daß er von seiner Zurückhaltung nachließ. »Ich wollte nicht gern, meine liebe Emilie«, sagte er, »einen Schatten auf die Freude werfen, die du aus den umliegenden Gegenständen schöpfest, und war deswegen Willens, dir für jezt einige Dinge zu verheelen, die du aber über kurz oder lang doch erfahren mußtest. Allein deine ängstliche Bekümmerniß hat meinen Vorsatz vereitelt; du leidest dadurch vielleicht eben so sehr, als du leiden wirst, wenn du die Würklichkeit selbst erfährst. Herrn Quesnels Besuch war für mich sehr unglücklich; er kam, um mir einen Theil der Nachrichten zu sagen, die er jezt bestätigt hat. Vielleicht hast du mich eines gewissen Herrn Motteville aus Paris erwähnen hören; allein du wusstest nicht, daß der größte Theil meines persönlichen Eigenthums in den Händen dieses Mannes war. Ich setzte großes Vertrauen in ihm, und bin noch geneigt zu glauben, daß er meiner Achtung nicht ganz unwürdig ist. Viele Umstände mußten zusammentreffen, ihn zu Grunde zu richten, und — ich bin es mit ihm.«
Er hielt inne, um seine Bewegung zu verbergen.
»Die Briefe, die ich so eben von Herrn Quesnel erhalten habe«, fuhr er fort, indem er kämpfte um mit Festigkeit zu sprechen, »enthielten noch andre von Motteville, die alles was ich fürchtete, bestätigen.«
»Müssen wir denn La Vallée verlassen«, sagte Emilie nach einer langen Pause.
»Das ist noch ungewiß«, versezte St. Aubert. »Es wird davon abhängen, wie Motteville sich mit seinen Gläubigern vergleichen wird. Du weißt, mein Einkommen war niemals groß, und nun wird es in der That sehr geringe werden. Um dich, Emilie, nur um dich mein Kind, bin ich am meisten bekümmert.«
Bey den letzten Worten gebrach ihm die Stimme. Emilie lächelte ihn zärtlich durch ihre Thränen an, und bemühte sich, ihre Bewegung zu unterdrücken. »Mein theuerster Vater«, sagte sie, »grämen Sie sich nicht um mich, oder um Sie selbst, wir können doch noch glücklich seyn — wenn La Vallée uns bleibt, müssen wir glücklich seyn. Wir wollen nur eine Person zur Aufwartung behalten, und Sie sollen die Verändrung in unserm Einkommen kaum gewahr werden. Trösten Sie sich, mein theurer Vater. Wir werden den Mangel der Entbehrlichkeiten nicht fühlen, die andre so hoch schätzen, weil wir nie Geschmack daran fanden, und die Armuth kann uns mancher Tröstungen nicht berauben. Sie kann uns die Liebe nicht rauben, die wir für einander fühlen, und uns eben so wenig in unsrer eignen Meinung, als in der Meinung andrer, woran uns etwas liegt, herabsetzen.«
St. Aubert verbarg sein Gesicht in seinem Schnupftuch und war ausser Stande zu sprechen; Emilie aber fuhr fort, ihrem Vater die Wahrheiten ans Herz zu legen, welche er selbst ihrer Seele eingeprägt hatte.
»Ausserdem, mein bester Vater«, sagte sie, »kann die Armuth uns keine geistigen Freuden rauben. Sie kann Ihnen den Trost nicht rauben, mir ein Beyspiel von Seelenstärke und Wohlwollen zu geben, noch mir die Freude, einen geliebten Vater zu trösten. Sie kann unsern Geschmack am Großen und Schönen nicht tödten, oder uns die Mittel verweigern, ihm nachzuhängen: denn die Scenen der Natur, diese erhabnen Schauspiele, die allen künstlichen Luxus so weit übertreffen, liegen offen da, sowohl zum Genuß des Armen als des Reichen. Ueber was haben wir also zu klagen, so lange es uns noch nicht am Nothwendigen gebricht? Vergnügungen, die der Reichthum erkaufen kann, werden noch immer in unsrer Gewalt seyn. Wir behalten also die erhabnen Freuden der Natur bey, und verlieren nur die nichtswürdigen der Kunst.«
St. Aubert konnte nicht antworten; er drückte Emilien an seine Brust; ihre Thränen flossen zusammen, aber es waren nicht Thränen des Kummers. Nach dieser Sprache des Herzens würde jede andre zu schwach gewesen seyn, und sie blieben eine Weile stumm. Dann aber sprach St. Aubert wie zuvor; denn wenn seine Seele ihre natürliche Ruhe nicht wieder gewonnen hatte, nahm sie doch wenigstens den Schein derselben an.
Sie erreichten früh am Tage die romantische Stadt Leucate; weil aber St. Aubert müde war, beschlossen sie, die Nacht daselbst zuzubringen. Doch machte er sich Abends mit seiner Tochter auf, um die umliegende Gegend zu besehen, die eine Aussicht auf den See Leucate, auf das mittelländische Meer, auf einen Theil von Roussillon und auf einen großen Theil der reichen Provinz Languedoc gewährt, die jezt vom gereiften Weine glühte, den die Bauern zu sammeln beschäftigt waren. St. Aubert und Emilie sahn die geschäftigen Gruppen, hörten den frölichen Gesang, der auf den Lüftchen schwebte und genossen mit sichtlicher Freude ihre nächste Tagesreise über dies fröhliche Gebiet voraus. Doch wollte er gerne noch länger am Seeufer verweilen; zum Theil war es sein Wunsch, unmittelbar nach Hause zurückzureisen, allein der Wunsch, das Vergnügen, welches die Reise seiner Tochter gewährte, zu verlängern, und die Würkung der Seeluft auf seinen Körper zu versuchen, hielt ihn zurück.
Am folgenden Tage also traten sie ihre Reise durch Languedoc wieder an, und wanden sich am Ufer des mittelländischen Meeres hin; die Pyrenäen bildeten noch immer den prächtigen Hintergrund ihrer Aussichten, während zur Rechten der Ozean lag und zur Linken weit ausgedehnte Ebnen in den blauen Horizont verschmolzen. St. Aubert war vergnügt und sprach viel mit Emilien; doch war oft seine Heiterkeit erkünstelt, und oft schlich sich ein Schatten von Schwermuth auf sein Gesicht und verrieth sein innres Gefühl. Doch vertrieb Emiliens Lächeln bald dieses Wölkchen. Zwar lächelte sie mit wundem Herzen: denn sie sah, daß sein Unglück an seiner Seele und an seinem geschwächten Körper nagte.
Es war Abend, als sie ein kleines Dorf von Ober-Languedoc erreichten, wo sie die Nacht hinzubringen dachten: allein sie konnten keine Betten im Orte bekommen, weil hier auch gerade die Zeit der Weinlese war, und sahen sich genöthigt, bis zur nächsten Post zu fahren. Krankheit und Beschwerde hatten St. Aubert aufs neue so sehr angegriffen, daß er die Ruhe bedurfte, und der Abend war schon weit vorgerückt; allein gegen die Nothwendigkeit war nichts zu machen, und er mußte Micheln weiter fahren heissen.
Die reichen Ebnen von Languedoc, welche alle Pracht der Weinlese in der Freude französischer Festlichkeiten darstellten, erweckten St. Aubert nicht länger zur Freude; sein Zustand machte einen traurigen Abstand gegen die Fröhlichkeit und jugendliche Schönheit, die ihn rings umgab. Wenn seine matten Augen über die Scene hinblickten, so dachte er, daß sie bald vielleicht auf immer für diese Welt geschlossen seyn würden. Diese fernen und erhabnen Gebürge, sagte er heimlich, wenn er die Kette der Pyrenäen anstaunte, die sich nach Westen hin erstreckten, diese reichen Ebnen, dies blaue Gewölbe, das heitre Licht des Tags werden bald vor meinen Augen verschlossen seyn. Das Lied des Landmanns, die erfreuliche Stimme des Menschen werden mir nicht länger ertönen.
Emiliens scharfsehende Blicke schienen zu lesen, was in der Seele ihres Vaters vorgieng; sie heftete sie mit einem Ausdruck so zärtlichen Mitleids auf sein Gesicht, daß er alle andern Gegenstände des Bedauerns vergaß, und nur dem Gedanken nachhieng, daß er seine Tochter ohne Schutz zurücklassen mußte. Diese Betrachtung verwandelte sein Bedauern in Schmerz: er seufzte tief und schwieg; aber sie schien den Seufzer zu verstehen, denn sie drückte zärtlich seine Hand und wandte sich ans Fenster, um ihre Thränen zu verbergen. Die Sonne warf nun ihren lezten, falben Schimmer auf die Wellen des mittelländischen Meeres und die Dämmerung überzog schnell die Gegend, bis nur ein dunkler Strahl noch am westlichen Horizont erschien und den Punkt bezeichnete, wo die Sonne im Nebel eines Herbstabends untergegangen war. Ein kühles Lüftchen wehte jezt vom Ufer und Emilie ließ das Fenster herunter: allein die Luft, welche den Gesunden erfrischte, war dem Kranken empfindlich und St. Aubert bat sie, das Fenster wieder aufzuziehen. Seine zunehmende Unpäslichkeit ließ ihn jezt mehr als je das Ende der Reise wünschen, und er hielt den Mauleseltreiber an, um zu fragen, wie weit sie noch bis zur nächsten Station hätten. Neun Meilen, antwortete dieser. »Ich fühle mich ausser Stande, weiter zu gehn«, sagte St. Aubert; »frage doch nach, ob kein Haus auf dem Wege ist, wo wir die Nacht zubringen könnten?« Er fiel in den Wagen zurück und Michel rollte in vollem Gallopp davon, bis St. Aubert fast ohnmächtig ihm zurief, daß er still halten sollte. Emilie sah ängstlich zum Fenster hinaus und ward einen Bauer gewahr, der in einer kleinen Entfernung die Straße herauf kam. Sie erwarteten ihn und fragten, ob wohl ein Haus in der Nähe wäre, um Reisende zu beherbergen. Er wüßte von keinem, war die Antwort. »Zwar liegt ein Schloß zur Rechten im Walde; allein ich glaube, es wird niemand da aufgenommen; auch kann ich Ihnen den Weg nicht zeigen, denn ich bin selbst beynahe fremd hier.«
St. Aubert wollte ihn noch verschiednes wegen des Schlosses fragen, allein er machte sich schnell aus dem Staube und es blieb ihnen nichts übrig, als langsam nach dem Walde hinzufahren. Jeder Augenblick vertiefte die Dämmrung und machte es schwieriger, den Weg zu finden. Bald nachher kam ein andrer Bauer herbey: »Wo ist der Weg nach dem Schlosse im Walde?« rief Michel ihm zu.
»Nach dem Schlosse im Walde!« rief der Bauer. »Meinet ihr jenes dort mit dem Thurm.«
»Ich weiß den Henker von euerm Thurm«, sagte Michel: »ich meine das weiße Gebäude dort, das wir in einiger Entfernung zwischen den Bäumen sehn.«
»Ja, das ist der Thurm, aber wer seyd ihr, dass ihr dahin geht«, fragte der Mann mit Verwunderung.
St. Aubert, dem diese seltsame Frage und der sonderbare Ton, womit sie gethan wurde, auffiel, sah zum Fenster heraus.
»Wir sind Reisende«, sagte er, »die ein bequemes Haus für die Nacht suchen! ist wohl eines hier in der Nähe?«
»Nein, mein Herr, es wäre denn, daß Sie ihr Glück dort versuchen wollten«; erwiederte der Bauer, und zeigte auf den Wald; »allein ich wollte Ihnen nicht rathen, dahin zu gehn.«
»Wem gehört denn das Schloß?«
»Ich kann es wahrhaftig nicht sagen.«
»Wie, es ist also unbewohnt?«
»Nicht doch, der Verwalter und die Haushälterin werden wohl darin seyn.«
Auf diese Nachricht entschloß sich St. Aubert, nach dem Schlosse zu fahren, und es auf die Gefahr zu wagen, vielleicht abgewiesen zu werden. Er bat also den Bauer, Micheln den Weg zu zeigen, und versprach ihm ein Trinkgeld für seine Mühe. Der Mann schwieg einen Augenblick und sagte dann: er gienge jezt in andern Geschäften; allein der Weg wäre nicht zu verfehlen, wenn sie eine Allee zur Rechten, auf die er zeigte, hinauf führen. St. Aubert wollte noch etwas sagen, allein der Bauer wünschte ihm einen guten Abend und gieng weiter.
Der Wagen fuhr nun langsam die Allee, welche von einem Thore geschlossen wurde, hinauf, und nachdem Michel abgestiegen war, um es zu öffnen, traten sie zwischen Reihen von alten Fichten und Wallnüssen, deren verflochtene Zweige ein hohes Gewölbe über ihnen bildeten. Die tiefe Stille, welche in dieser Allee herrschte, ihr trauriges, ödes Ansehn, machte Emilien schaudern, und wenn sie an die Art dachte, wie der Bauer von diesem Schlosse gesprochen hatte, gab sie seinen Worten einen mystischen Sinn, den er sich vielleicht nicht dabey gedacht hatte. Doch suchte sie diese Besorgnisse zu unterdrücken, und war geneigt, sie für die Würkung einer melancholischen Einbildungskraft zu halten, welche ihres Vaters Lage und der Gedanke an ihre eigne Lage für jeden Eindruck empfänglich gemacht hatte.
Sie fuhren langsam weiter, denn sie waren jetzt beynahe ganz im Dunkeln, welches mit dem holprichten Wege und den Wurzeln alter Bäume, die oft aus dem Erdreich hervorschossen, zusammen genommen, es nothwendig machte, behutsam zu fahren. Plötzlich hielt Michel still, und als St. Aubert aus dem Fenster sah, um nach der Ursache zu fragen, sah er in einiger Entfernung eine Gestalt die Allee heraufkommen. Die Dämmrung ließ ihn nicht unterscheiden, was es war, allein er hieß Micheln weiter fahren.
»Dies scheint mir ein seltsamer wilder Platz«, sagte Michel; »es ist kein Haus in der Gegend zu sehn. Denken Ihro Gnaden nicht, daß wir besser thäten, wieder umzukehren?«
»Fahre noch ein bischen zu, und wenn wir dann kein Haus sehn, wollen wir auf die Landstraße zurückkehren.«
Michel fuhr ungern weiter, und sein ausnehmend langsamer Schritt machte, daß St. Aubert aufs neue aus dem Fenster sah, um ihn anzutreiben, worauf er wieder dieselbe Figur erblickte. Er wurde bestürzt; wahrscheinlich machte die Dunkelheit ihn mehr als gewöhnlich zu Besorgnissen geneigt — genug er ließ Micheln halten und befahl ihm, die Person in der Allee anzurufen.
»Gott bewahre, Ihro Gnaden; es kann ja ein Räuber seyn! «
»Es gefällt mir hier nicht«, erwiederte St. Aubert, der sich nicht enthalten konnte, über seine Einfalt zu lächeln, »und wir wollen also lieber auf den Weg wieder zurückkehren: denn ich sehe keine Wahrscheinlichkeit, hier zu finden was wir suchen.«
Michel ließ sich dies nicht zweymal gesagt seyn: er lenkte auf der Stelle um, und fuhr eilends zurück, als sich eine Stimme zwischen den Bäumen zur Linken hören ließ. Es war nicht die Stimme des Gebieters, oder der Bekümmerniß, sondern ein dumpfer hohler Ton, der kaum menschlich zu seyn schien. Michel hieb auf seine Pferde los, und ließ sie aus äussersten Kräften laufen, ohne auf die Dunkelheit, den holprichten Boden, und die Hälse der ganzen Gesellschaft zu achten; auch hielt er nicht einmal still, bis er das Thor erreichte, welches von der Allee in die Landstraße gieng, wo er einen mäßigern Schritt einlenkte.
»Ich befinde mich sehr übel«, sagte St. Aubert und ergriff seiner Tochter Hand. »Sie sind also krank«, sagte Emilie äusserst erschrocken, »Sie sind krank und hier ist keine Hülfe zu haben! Großer Gott, was soll ich anfangen?« Er lehnte sich mit dem Kopf an ihre Schulter, während sie ihn mit ihrem Arm zu unterstützen suchte, und Michel mußte wieder still halten. Als das Rasseln des Wagens aufgehört hatte, vernahmen sie weite Musik in der Luft. Für Emilien war es die Stimme der Hoffnung. »O wir sind einer menschlichen Wohnung nahe«, sagte sie, »hier wird bald Hülfe zu haben seyn.«
Sie horchte ängstlich: die Töne waren fern und schienen aus dem Walde, der am Wege hinlief zu kommen; sie sah sich um und glaubte bey dem schwachen Mondscheine etwas, das die Gestalt gleich eines Schlosses hatte, zu erblicken. Nur war es schwer, dahin zu kommen, weil St. Aubert sich noch zu übel befand, um die Bewegung des Fahrens zu ertragen. Michel konnte nicht von seinen Mauleseln und Emilie, die noch immer ihren Vater umfaßt hielt, fürchtete sich eben so sehr, ihn zu verlassen, als alleine so weit zu gehen, ohne zu wissen wohin oder zu wem. Indessen war es nothwendig, unverzüglich einen Entschluß zu fassen. St. Aubert befahl also Micheln, langsam weiter zu fahren, allein sie waren noch nicht weit gekommen, als er aufs neue in Ohnmacht sank und der Wagen wieder still halten mußte. Er lag ganz ohne Bewußtseyn — »Mein liebster, liebster Vater«, rief Emilie, die würklich fürchtete, ihn unter ihren Händen sterben zu sehn, »reden Sie nur ein Wort! Lassen Sie mich nur den Ton Ihrer Stimme hören!« Aber keine Stimme antwortete. In tödlicher Angst bat sie Micheln, Wasser aus dem Flusse zu holen, der längs dem Wege hinlief. Er brachte es in seinem Huthe, und sie spritzte es mit zitternder Hand über ihres Vaters Gesicht, das jetzt, da die Mondstrahlen darauf fielen, den Eindruck des Todes zu haben schien. Jede Regung selbstischer Furcht wich nun einem stärkern Gefühle. Sie übertrug Micheln, der sich weigerte, seine Maulesel zu verlassen, die Sorge für St. Aubert und stieg aus dem Wagen, um das Schloß aufzusuchen, das sie in der Ferne gesehn hatten. Es war eine stille, mondhelle Nacht, und die Musik, die noch durch die Luft ertönte, lenkte ihre Schritte von der Landstraße ab zu einem schattigten Pfade, der nach dem Walde führte. Ihre Seele war eine Zeitlang so ganz von Angst für ihren Vater erfüllt, daß sie keine für sich selbst empfand, bis die immer dicker werdende Dunkelheit des überhangenden Laubes, das jetzt ganz das Mondenlicht ausschloss, und die Wildheit des Ortes sie zum Gefühl ihrer gefährlichen Lage erweckte. Die Musik hatte aufgehört, und sie hatte keinen Führer als den Zufall. Einen Augenblick stand sie in bestürzten Schrecken da, bis der Gedanke an ihres Vaters Lage alle andern Betrachtungen ausschloss und sie aufs neue forttrieb. Der grüne Pfad verlor sich im Walde, allein sie sah sich vergebens nach einem Hause oder menschlichen Wesen um, und horchte eben so vergebens auf einen Schall, der sie leiten könnte. Doch gieng sie weiter, ohne zu wissen, wohin, vermied die Vertiefungen des Waldes und suchte sich am Saume desselben hin zu halten, bis eine Art von Allee, die auf einen mondhellen Fleck stieß, ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Das Verwilderte dieser Allee erinnerte sie an die, welche zu dem bethurmten Schlosse führte, und fast war sie geneigt zu glauben, dass dies ein Theil desselben Gebiets sey, und wahrscheinlich zu demselben Punkte führte. Während sie sich noch besann, ob sie diesem Wege folgen wollte oder nicht, drang ihr der Schall vieler Stimmen in lautem Jubel ins Ohr. Es schien nicht das Lachen der Freude, sondern der Ausgelassenheit zu seyn und sie stand erschrocken still. Indem hörte sie eine ferne Stimme von dem Orte her, den sie gekommen waren, rufen, und da sie nicht zweifelte, daß es Michels Stimme sey, war ihr erster Gedanke, zurück zu eilen; allein ein zweites Nachdenken veränderte ihren Vorsatz. Sie glaubte, daß nichts geringers als die äusserste Noth Micheln bewegt haben könnte, seine Maulesel zu verlassen; sie fürchtete, dass ihr Vater in lezten Zügen läge, und eilte mit der schwachen Hoffnung, bey den Leuten im Walde Hülfe zu finden, vorwärts. Ihr Herz klopfte von furchtvoller Erwartung, als sie dem Ort, woher die Stimmen schallten, nahe kam, und oft fuhr sie zurück, wenn ihre Schritte in dem abgefallenen Laube rauschten. Der Schall führte sie jezt zu dem mondhellen grünen Pläzchen, das sie zuvor bemerkt hatte; sie stand in kleiner Entfernung davon still, und sah zwischen den Lücken der Bäume einen kleinen Rasenhügel, von Bäumen umgeben, den eine Gruppe menschlicher Figuren umringte. So wie sie näher kam, erkannte sie diese Menschen der Tracht nach für Bauern, und ward verschiedne, rings am Saume des Waldes verstreute Hütten gewahr, die hoch über dieses Pläzchen empor ragten. Während sie staunend da stand und die Aengstlichkeit, welche ihre Schritte zurückhielt, zu überwinden suchte, kamen verschiedne Bauermädgen aus einer Hütte: die Musik spielte sogleich auf und der Tanz begann. Es war die fröhliche Musik der Weinlese; die nemliche, die sie zuvor in der Luft gehört hatte. Ihr von Angst um ihren Vater erfülltes Herz konnte den Abstand nicht fühlen, den diese fröliche Scene mit ihrem eignen Kummer machte: sie gieng eilfertig auf einen Haufen von ältern Bauern los, die vor der Thüre einer Hütte saßen, eröffnete ihnen ihre Lage und bat sie um Hülfe. Mehrere dieser guten Leute standen sogleich auf, erboten sich zu aller Hülfe, die in ihrer Macht wäre, und folgten Emilien, die auf den Flügeln des Windes zu schweben schien, so schnell sie konnten, nach der Landstraße.
Als sie den Wagen erreichte, fand sie St. Aubert wieder zu sich selbst gekommen. Sobald er seine Besinnung wieder erhalten, und von Micheln gehört hatte, wohin seine Tochter gegangen war, überwältigte Angst um sie jeden Gedanken an sich selbst und er schickte ihn ungesäumt fort, um sie aufzusuchen. Doch fühlte er sich noch so matt und so völlig ausser Stande, weiter zu reisen, daß er sich aufs neue nach einem Wirthshause und nach dem Schlosse im Walde erkundigte.
»Im Schlosse können sie nicht einkehren«, sagte ein ehrwürdiger Bauer, der Emilien aus dem Walde gefolgt war; »es ist kaum bewohnt; wenn Sie mir aber die Ehre erzeigen wollen, meine kleine Hütte zu besuchen, so soll Ihnen das Beste, was sie vermag, zu Gebote stehn.«
St. Aubert war selbst ein Franzose und wunderte sich also nicht über französische Höflichkeit; allein so krank er auch war, fühlte er doch den Werth des Anerbietens durch die Art, wie es geschah, erhöht. Er hatte zu viel Delikatesse, um Entschuldigungen zu machen, oder sich nur einen Augenblick unschlüssig zu zeigen, ob er sich die Gastfreyheit des Bauers zu Nutze machen wollte; er nahm sie ohne alle Umstände mit eben der Freymüthigkeit an, womit sie ihm angeboten wurde.
Der Wagen fuhr wieder langsam weiter. Michel folgte dem Bauer auf dem kleinen Fußpfade, den Emilie eben verlassen hatte, bis sie an das lichte Pläzchen kamen. St. Auberts Lebensgeister waren durch die Höflichkeit seines Wirths, und durch die nahe Aussicht auf Ruhe so weit wieder hergestellt, daß er mit süßem Behagen auf die Mondlichtsscene blickte, von schattigten Wäldern umgeben, durch welche hie und da eine Oeffnung den strömenden Glanz zuließ, und eine Hütte, oder ein schimmerndes Flüßchen zeigte. Mit einer nicht mehr schmerzhaften Empfindung hörte er die frölichen Töne der Zitter und Trommel; und wenn gleich Thränen in seine Augen traten, als er dem frölichen Tanze der Bauern zusah, waren es doch nicht ganz Thränen schmerzhafter Rückerinnrung. Mit Emilien war es anders: die erste Angst für ihren Vater war jetzt zu einer sanften Melancholie geschmolzen, welche jeder Ton der Freude, durch die erwachende Vergleichung erhöhte.
Der Tanz hörte auf bey Annäherung des Wagens, der eine seltne Erscheinung in diesen entlegnen Wäldern war, und die Bauern drängten sich mit neugierigem Staunen herbey. Als sie vernahmen, daß er einen kranken Fremden brächte, liefen verschiedne Mädchen über den Rasen und kamen mit Wein und Körben voll Trauben zurück, die sie den Reisenden anboten, indem jede mit höflichem Wettstreit sich um den Vorzug bewarb. Endlich hielt der Wagen bey einer reinlichen Hütte still, und nachdem ihr ehrwürdiger Führer St. Aubert herausgeholfen hatte, führte er ihn und Emilien in ein kleines innres Zimmer, das nur durch die Mondstrahlen erhellt wurde, welche das offne Fenster hineinließ. St. Aubert, den die Ruhe erquickte, setzte sich in einen Lehnstuhl, und labte seine Sinne an der kühlen balsamischen Luft, die den süßen Geruch des umliegenden Klees ins Zimmer wehte. La Voisin, sein Wirth, gieng hinaus, kam aber bald mit Früchten, Sahne und allem Ueberfluß seiner kleinen ländlichen Hütte zurück, den er mit einem Lächeln des ungekünstelten Willkommens niederstellte, und sich dann hinter den Stuhl seines Gastes zurückzog. St. Aubert drang in ihn, sich am Tische niederzusetzen, und nachdem sein trockner Gaumen durch die Früchte wieder erfrischt war, fieng er ein Gespräch mit seinem Wirthe an, der ihm verschiedne, ihn und seine Familie betreffende Umstände mittheilte, die dadurch anziehend wurden, daß sie vom Herzen kamen und ein Gemälde süßer Familienzärtlichkeit zeichneten. Emilie saß neben ihrem Vater, hielt seine Hand, und ihr Herz schwoll bey der Erzählung des alten Mannes von zärtlicher Sympathie — ihre Thränen flossen bey dem traurigen Gedanken, daß der Tod sie wahrscheinlich bald des theuersten Glückes berauben würde, das sie damals besaß. Das sanfte Mondlicht eines Herbstabends, die ferne Musik, die jezt eine klagende Melodie anspielte, erhöhte die Schwermuth ihrer Seele. Der alte Mann fuhr fort, von seiner Familie zu sprechen, und St. Aubert hörte ihm schweigend zu.
»Ich habe nur eine Tochter am Leben«, sagte La Voisin, »allein sie ist glücklich verheyrathet, und ist mir alles. Als ich meine Frau verlor«, setzte er mit einem Seufzer hinzu, »kam ich hieher, um mit Agnes und ihrer Familie zu leben: sie hat verschiedne Kinder, die alle auf jenem Grün so fröhlich, wie die Grashüpfer springen — mögen sie es noch lange! Ich hoffe, unter ihnen zu sterben. Ich bin jetzt alt und kann nicht lange mehr zu leben erwarten; allein es liegt ein Trost darin, von seinen Kindern umgeben, zu sterben.«
»Mein guter Freund«, sagte St. Aubert mit zitternder Stimme; »ich hoffe, Sie werden noch lange unter ihnen leben.«
»Ach Herr, in meinen Jahren kann ich das nicht erwarten«, versezte der alte Mann und hielt inne.
»Kaum kann ich es auch wünschen«, fuhr er fort, »denn ich hoffe, wenn ich sterbe, in den Himmel zu kommen, wohin mein armes Weib mir vorausgegangen ist. Zuweilen kann ich mir sogar einbilden, daß ich sie in einer stillen, mondhellen Nacht zwischen diesen Schatten wandeln sehe, die sie so lieb hatte. Glauben Sie wohl, mein Herr, daß es uns erlaubt seyn wird, die Erde wieder zu besuchen, wenn wir den Körper verlassen haben?«
Emilie konnte nicht länger die Angst ihres Herzens unterdrücken: ihre Thränen fielen dicht auf ihres Vaters Hand, die sie noch in der ihrigen hielt. Er that sich Gewalt an, um zu sprechen, und sagte endlich mit leiser Stimme: »ich hoffe, dass es uns vergönnt sehn wird, auf diejenigen herab zu sehn, die wir auf Erden verlassen haben, allein ich kann es nur hoffen. Die Zukunft liegt sehr verschleyert vor unsern Augen, und Glaube und Hoffnung sind unsre einzigen Wegweiser zu ihr hin. Zwar ist uns nicht befohlen zu glauben, daß entkörperte Geister über den Freunden, die sie geliebt haben, wachen, allein wir dürfen es ungestraft hoffen. Es ist eine Hofnung, die ich nimmer aufgeben will«, fuhr er fort, indem er die Thränen aus seiner Tochter Augen trocknete; »sie wird mir die bittern Augenblicke des Todes versüßen!«
Thränen tröpfelten langsam auf seine Wangen; La Voisin weinte auch, und es entstand eine lange Pause. Endlich knüpfte La Voisin das Gespräch wieder an: »Aber glauben Sie wohl, mein Herr«, sagte er, »daß wir in einer andern Welt die Freunde wieder treffen werden, die wir in dieser liebten? ich fühle mich gezwungen es zu glauben.« — »Dann glauben Sie es ja«, versezte St. Aubert. »Hart in der That, würde der Schmerz der Trennung seyn, wenn wir sie für ewig hielten. Blick auf, meine theure Emilie, wir werden uns wieder finden!« — Er hub seine Augen gen Himmel empor, und ein Schimmer von Mondlicht, der auf sein Gesicht fiel, zeigte Frieden und Ergebung, die sich auf die Züge des Kummers schlichen.
La Voisin fühlte, daß er den Gegenstand zu weit verfolgt hatte, und brach ab. »Wir sind im Dunkeln«, sagte er, um auf etwas anders zu kommen; »ich vergaß ein Licht zu bringen.«
»Nicht doch«, erwiederte St. Aubert, »ich liebe dieses Helldunkel. Setzen Sie sich zu uns, lieber Freund. Emilie, meine Liebe, ich fühle mich hier weit besser, als ich den ganzen Tag war: diese Luft erquickt mich. Ich kann wieder diese ruhige Stunde und die Musik genießen, die so süß in der Ferne flötet. Laß mich dich lächeln sehn. Wer spielt so geschmackvoll die Zitter; sind hier zwey Instrumente, oder höre ich ein Echo?«
»Ich glaube, es ist ein Echo«, mein Herr. »Man hört diese Zitter oft des Nachts, wenn alles still ist, aber niemand weiß, wer sie spielt, und oft wird sie von einer so süßen und klagenden Stimme begleitet, daß man beynahe glauben sollte, der Wald würde von überirrdischen Wesen bewohnt.« — »Er wird auch gewiß bewohnt«, sagte St. Aubert, »allein ich glaube von Sterblichen.« — »Oft habe ich es um Mitternacht, wenn ich nicht schlafen konnte«, versezte La Voisin, der auf diese Bemerkung nicht zu achten schien, »beynahe unter meinem Fenster gehört, und nie habe ich eine ähnliche Musik vernommen. Es hat mich oft an mein armes Weib erinnert, bis ich weinte. Oft bin ich ans Fenster gegangen, um zu sehn, ob ich jemand entdecken könnte, allein sobald ich es aufmachte, war alles still und niemand ließ sich sehen; ich horchte und horchte, bis ich endlich so furchtsam wurde, daß ich selbst beym Zittern des Lüftchens im Laube zusammenfuhr. Man sagt, daß es oft kommt, um Leute vor ihrem Tode zu warnen, allein ich habe es diese vielen Jahre lang gehört und die Warnung überlebt.«
Emilie mußte zwar über diesen sonderbaren Aberglauben lächeln, konnte aber bey der gegenwärtigen Stimmung ihrer Seele nicht ganz dem Eindruck, den diese Erzählung auf sie machte, wehren.
»Aber gut, mein lieber Freund«, sagte St. Aubert, »hat denn niemand Muth genug, den Tönen zu folgen; gewiß würde man sonst schon längst den Musikus entdeckt haben.« — »Ja mein Herr, es ist ihm wohl jemand ein Stückchen in den Wald nachgegangen, allein die Musik hat sich immer zurückgezogen und schien immer ferner, so daß endlich die Leute sich gefürchtet haben weiter zu gehn. Sehr selten habe ich diese Töne Abends so früh gehört. Gewöhnlich kommen sie um Mitternacht, wenn der glänzende Planet, der sich über jenen Thurm dort erhebt, unter die Wälder zur Linken tritt.«
»Was für ein Thurm«, fragte St. Aubert schnell, »ich sehe keinen.«
»Verzeihen Sie, mein Herr, Sie sehen ihn in der That, denn der Mond scheint hell darauf hin — jene Allee weiter hinauf. Das Schloß, wozu er gehört, liegt hinter den Bäumen versteckt.«
»Ja, lieber Vater«, sagte Emilie, und zeigte mit dem Finger. »Sehen Sie nicht etwas über den dunkeln Wäldern schimmern? Es ist, wie mich dünkt, eine Fahne, auf welche die Lichtstrahlen fallen.«
»O ja, ich sehe, was du meinst, und wem gehört das Schloß?«
»Der Marquis von Villeroi war der Besitzer«, erwiederte La Voisin bedeutend.
»Ach«, sagte St. Aubert mit einem tiefen Seufzer. »Sind wir so nahe bey Le Blanc?« — Er schien sehr bewegt.
»Es pflegte des Marquis Lieblingsaufenthalt zu seyn«, fuhr La Voisin fort, »allein er fasste plötzlich eine Abneigung gegen den Ort, und ist seit vielen Jahren nicht da gewesen. Wir haben kürzlich gehört, daß er gestorben, und daß das Guth in andre Hände gefallen sey. «
St. Aubert, der in tiefem Nachdenken gesessen hatte, fuhr bey den lezten Worten plötzlich auf: »Tod«, rief er, »guter Gott! und wann ist er gestorben?«
»Man sagt, vor ungefähr fünf Wochen«, erwiderte La Voisin. »Kannten Sie den Marquis, mein Herr!«
»Das ist doch sehr sonderbar«, sagte St. Aubert, ohne auf die Frage zu achten.
»Wie so, lieber Vater?« fragte Emilie mit furchtsamer Neugier.
Er antwortete nicht, sondern versank wieder in tiefsinniges Träumen; und wenig Augenblicke darauf, als hätte er sich wieder aufgerafft, fragte er, an wen die Güter gefallen wären?
»Ich habe den Titel des jetzigen Besitzers vergessen«, erwiederte La Voisin, »allein er hält sich gewöhnlich zu Paris auf, und ich habe nicht gehört, daß er hieher zu kommen denkt.«
»Das Schloß ist also noch immer verschlossen?«
»Wenigstens nicht viel besser. Die alte Haushälterin und ihr Mann, der Verwalter, haben die Aufsicht darüber; allein sie halten sich meistens in einer Hütte, dicht daneben auf.«
»Das Schloß ist vermuthlich sehr groß«, sagte Emilie, »und würde wohl für zwey einzelne Personen zu traurig seyn.«
»Traurig genug, Fräulein«, erwiederte La Voisin; »ich möchte um keinen Preis eine Nacht darin zubringen.«
»Wie«, sagte St. Aubert, aufs neue aus seinem Tiefsinn erwachend. Als sein Wirth die lezten Worte wiederholte, entfuhr ihm ein tiefer Seufzer, und er fragte schnell, um ihn zu verbergen, wie lange La Voisin in dieser Gegend gelebt hätte. »Beynahe von Kindesbeinen an«, erwiederte sein Wirth.
»Sie erinnern sich also wohl noch der verstorbenen Marquise«, sagte St. Aubert mit veränderter Stimme.«
»Ach gewiß, mein Herr! Es giebt viele, die sich ihrer erinnern!«
»Ja wohl«, sagte St. Aubert, »und ich bin einer davon.«
»Ach, gnädiger Herr, so erinnern Sie sich einer sehr schönen und vortreflichen Dame. Sie hätte ein beßres Schicksal verdient.«
Thränen traten St. Aubert in die Augen. »Genug«, sagte er mit einer durch die Heftigkeit seiner Bewegung erstickten Stimme — »genug mein Freund!«
Emilie, so sehr sie auch ihres Vaters Benehmen befremdete, enthielt sich, durch eine Frage ihre Empfindungen zu äussern. La Voisin wollte sich entschuldigen, allein St. Aubert unterbrach ihn. »Es bedarf keiner Entschuldigung«, sagte er, »laßt uns von etwas andern sprechen. Sie erwähnten eben der Musik, die wir gehört haben.«
»Ja, gnädiger Herr! aber horch, es kömmt wieder. Hören Sie doch die Stimme.« — Alle schwiegen, und lauschten einem Zaubertone. In wenig Minuten starb die Stimme in der Luft, und das Instrument, das sie zuvor gehört hatten, stimmte eine tiefe Symphonie an. St. Aubert bemerkte nunmehr, dass es einen Ton hervorbrachte, der voller und melodischer war, als die Zitter, und sanfter und melancholischer als die Laute. Sie lauschten weiter, allein die Töne kamen nicht wieder.
»Das ist doch seltsam«, sagte St. Aubert, indem er endlich das Stillschweigen unterbrach. — »Sehr seltsam«, sagte Emilie. — »In der That seltsam«, sagte La Voisin, und sie schwiegen wiederum.
Nach einer langen Pause fieng La Voisin an; »es sind nunmehr achtzehn Jahre, seit ich zuerst diese Musik hörte. Ich erinnre mich, daß ich damals in einer schönen Sommernacht, wie diese, aber viel später, allein im Walde spazieren gieng. Auch weiß ich noch, daß ich sehr niedergeschlagen war, denn einer von meinen Knaben lag krank, und wir fürchteten, ihn zu verlieren. Ich hatte den ganzen Abend an seinem Bette gesessen, um seine Mutter, die des Nachts zuvor bey ihm gewacht hatte, ein wenig ruhen zu lassen. Der Tag war sehr schwül gewesen, und ich gieng hinaus, um ein wenig frische Luft zu schöpfen. So wie ich nachdenkend unter den Schatten hingieng, hörte ich in einiger Entfernung Musik, und glaubte, es wäre Claude, der vor der Thüre auf der Flöte spielte, wie er oft des Abends zu thun gewohnt war. Als ich aber auf einen Platz kam, wo die Bäume sich öffneten — nie werde ich es vergessen! — und zu dem Nordlicht hinauf sah, das groß und hell am Himmel schien, hörte ich plötzlich solche Töne — ja Töne, die ich nicht beschreiben kann. Es war gleich der Musik von Engeln, und ich sah wieder gen Himmel, weil es mir vorkam, als müßte ich sie da erblicken. Als ich nach Hause kam, erzählte ich, was ich gehört hatte, allein sie lachten mich aus, und sagten, es müßte einer von den Schäfern gewesen seyn, der auf seiner Pfeife gespielt hätte: auch konnte ich sie nicht vom Gegentheil überreden. Wenig Nächte darauf aber hörte meine Frau zu ihrer großen Verwunderung dieselben Töne, und Vater Denis erschreckte sie sehr, indem er ihr sagte, diese Musik verkündigte ihres Kindes Tod, sie käme oft in Häuser, wo ein Sterbender läge.«
Als Emilie dieses hörte, schauderte sie von einer abergläubischen Furcht, die ihr ganz neu war, und konnte kaum ihre Bewegung vor St. Aubert verbergen.
»Allein der Knabe blieb trotz Vater Denis leben«, fuhr La Voisin fort.
»Vater Denis!« sagte St. Aubert, der mit geduldiger Aufmerksamkeit dem geschwätzigen Alten zugehört hatte. »Sind wir denn bey einem Kloster?«
»Ja mein Herr, das Kloster St. Clair steht nicht weit dort am Seeufer.«
»Ach ja!« — rief St. Aubert, als wenn ihn eine plötzliche Erinnrung träfe — »das Kloster St. Clair!« — Emilie sah Wolken des Kummers mit einem schwachen Ausdruck von Schrecken gemischt, sich auf seiner Stirne sammlen; seine Züge wurden starr, und, vom silberhellen Mondlicht beleuchtet, glich er einer der Marmorstatüen eines Monuments, die sich zu hoffnungslosen Gram über die Asche des Todten zu neigen scheinen.
»Aber mein bester Vater«, sagte Emilie, die seine Gedanken abzuziehn wünschte. »Sie vergessen, daß Ihnen Ruhe nöthig ist. Wenn unser guter Wirth es erlauben will, so werde ich Ihnen das Bett machen, denn ich weiß, wie Sie es gerne haben.«
St. Aubert sammlete sich und bat sie mit zärtlichem Lächeln, sich durch diese Arbeit nicht noch müder zu machen, und La Voisin, dessen Aufmerksamkeit für seinen Gast durch das Interesse, womit er seine Erzählung vorgetragen hatte, unterdrückt worden war, sprang schnell auf, und eilte mit einer Entschuldigung, dass er Agnes nicht schon längst vom Tanzplatze herein gerufen hätte, aus dem Zimmer.
Nach wenig Augenblicken kam er mit seiner Tochter, einem jungen Weibe von angenehmer Gesichtsbildung, zurück, und Emilie hörte von ihr, was sie sich nicht hätte einfallen lassen, daß, um ihrer Bequemlichkeit willen, ein Theil von La Voisins Familie ihre Betten verlassen mußte. Sie bedauerte dieses sehr, allein Agnes bewieß ihr durch ihre Antwort, daß sie, wenigstens zum Theil, ihres Vaters höfliche Gastfreyheit geerbt hatte. Es wurde ausgemacht, dass einige von ihren Kindern nebst Micheln, in der benachbarten Hütte schlafen sollten.
»Wenn ich mich morgen besser befinde«, sagte St. Aubert, als Emilie wieder zu ihm kam, »so denke ich mich früh aufzumachen, damit wir in der Mittagshitze ruhen können, und nach Hause zu reisen. Bey meinen jetzigen Umständen kann ich nicht mit Vergnügen an eine längere Reise denken; auch verlangt mich sehr, wieder nach La Vallée zu kommen.« Emilie, wiewohl sie sich auch zurück nach Hause wünschte, wurde doch über ihres Vaters plötzlichen Wunsch sehr niedergeschlagen, weil sie es für ein Zeichen hielt, daß er sich kranker fühlte, als er eingestehn wollte. St. Aubert legte sich zu Bette, und Emilie begab sich in ihr kleines Zimmer, aber nicht zur Ruhe. Ihre Gedanken kehrten zu ihrem letzten Gespräch über den Zustand der abgeschiednen Geister zurück; ein Gegenstand, der sie jezt besonders rührte, weil sie alle Ursache hatte zu glauben, daß ihr Vater in kurzer Zeit zu ihnen gehören würde. Sie lehnte sich tiefsinnig auf das kleine offne Fenster, und richtete ihre Augen zum Himmel, dessen blaue, unumwölkte Decke dicht mit Sternen besäet war; Welten vielleicht von Geistern, aus keinem sterblichen Stoffe gebildet. Als ihre Augen längs dem gränzenlosen Aether hinwandelten, stiegen ihre Gedanken wie zuvor zur Erhabenheit Gottes und zur Betrachtung der Zukunft auf. Kein geschäftiger Laut dieser Welt unterbrach die Reihe ihrer Betrachtungen. Der fröhliche Tanz hatte aufgehört, und jeder Hüttenbewohner hatte sich nach seiner Heimath zurückgezogen. Die stille Luft schien kaum auf den Wäldern zu athmen, und der ferne Laut einer einsamen Schäferglocke, oder das Zumachen eines Fensters, war alles, was die Stille unterbrach. Endlich hörte man auch diesen Wink des menschlichen Daseyns nicht mehr. In erhabne Betrachtungen gehüllt, während ihre Augen sich oft von Thränen hoher Andacht und feyerlicher Ehrfurcht feuchteten, blieb sie am Fenster, bis die Dunkelheit der Mitternacht über der Erde hieng, und der Planet, den La Voisin ihr gezeigt hatte, hinter die Wälder sank. Sie erinnerte sich nun, was er von diesem Planeten und der geheimnißvollen Musik gesagt hatte. Sie blieb am Fenster stehn, halb hoffend und halb fürchtend, sie wieder ertönen zu hören, und indem sie sich die Gespräche des Abends wiederholte, fiel ihr die ausserordentliche Bewegung, die ihr Vater bey Erwähnung vom Tode des Marquis Villeroi und des Schicksals seiner Gemahlin gezeigt hatte, wieder ein; sie fühlte ein großes Verlangen, etwas mehr von der entfernten Ursache dieser Bewegung zu wissen. Ihre Befremdung und Neugier waren in der That um so größer, da sie sich nicht entsann, je den Nahmen Villeroi von ihm gehört zu haben.
Keine Musik schlich sich durch das Schweigen der Nacht, und Emilie besann sich endlich, daß sie den andern Morgen früh aufseyn müßte, und zog sich vom Fenster zur Ruhe zurück.
Emilie, die ihrem Verlangen gemäs, frühzeitig geweckt wurde, stand auf, ohne durch den Schlaf erquickt zu seyn, denn unruhige Träume hatten sie verfolgt, und den süßesten Segen des Unglücklichen verbittert. Als sie aber ihr Fenster öffnete, auf die Wälder hinaussah, die von der Morgensonne glänzten, und die reine Luft einhauchte, fühlte sie ihr Gemüth besänftigt. Die Gegend war mit dem labenden Dufte erfüllt, die den Geist der Gesundheit auszuhauchen scheint, und sie hörte nur süße und zitternde Töne, wenn man sich von Gegenständen des Gehörs dieses Ausdrucks bedienen darf: — die Frühglocke eines fernen Klosters, das schwache Murmeln der Meereswellen, der Gesang der Vögel und das weit entfernte Brüllen des Viehs, das sie langsam zwischen den Stämmen der Bäume hervorkommen sah. Sie stand lange da, in den süßen Genuß vertieft, den solche Gegenstände der Einbildungskraft gewähren, bis sie Personen unten in der Hütte sich rühren hörte, und gleich darauf Michels Stimme vernahm, der mit seinen Mauleseln sprach, indem er sie aus einer angrenzenden Hütte hervortrieb. Als sie aus dem Zimmer gieng, kam St. Aubert, der, wahrscheinlich eben so wenig durch den Schlaf erquickt, als sie selbst, aufgestanden war, ihr an der Thüre entgegen. Sie führte ihn die Treppe hinunter in das kleine Schlafzimmer, wo sie den Abend zuvor gegessen hatten. Sie fanden hier ein einladendes Frühstück aufgetragen, und den Wirth und seine Tochter auf sie warten, um ihnen einen guten Morgen zu sagen.
»Ich beneide Euch diese Hütte, lieben Leutchens«, sagte St. Aubert, nachdem er sie begrüsset hatte. »Sie ist so angenehm, so still, so reinlich, und diese Luft, die man einhaucht — wenn etwas die verlorne Gesundheit wieder geben könnte, so wäre es gewiß diese Luft.«
La Voisin verneigte sich und antwortete mit der Artigkeit eines Franzosen: »Unsre Hütte ist allerdings zu beneiden, da Sie und das Fräulein sie mit Ihrer Gegenwart beehrt haben.« St. Aubert dankte ihm mit einem freundlichen Lächeln für sein Compliment, und sezte sich an einen Tisch nieder, der mit Rahm, Früchten, frischem Käse und schmackhaftem Brodte besetzt war. Emilie, die ihren Vater aufmerksam beobachtet hatte, glaubte, daß er sehr schlimm aussähe, und suchte ihn zu bereden, seine Reise wenigstens bis Nachmittag zu verschieben: allein er verlangte sehr, nach Hause zu kommen, und äusserte seinen Wunsch wiederholt und mit einem Eifer, der ungewöhnlich bey ihm war. Er sagte jezt, er befände sich nicht schlimmer, als er sich seither immer befunden hätte, und könnte das Reisen besser in der kühlen Morgenstunde als zu jeder andern Zeit vertragen. Während er aber mit seinem ehrwürdigen Wirthe sprach und ihm für seine gütige Aufmerksamkeit dankte, sah Emilie sein Gesicht sich verändern und ehe sie ihn erreichen konnte, ihn in den Stuhl zurückfallen. Nach wenig Augenblicken erholte er sich von der Schwäche, die ihn plözlich übernommen hatte, fühlte sich aber so übel, daß er sich ausser Stande fand, weiter zu reisen. Nachdem er eine kleine Weile gezögert, und gegen den Druck der Krankheit gekämpft hatte, bat er, daß man ihm die Treppen herauf ins Bett helfen möchte. Diese Bitte erneuerte alle Angst, welche Emilie den Abend zuvor empfunden hatte; allein ob sie gleich bey diesem plötzlichen Stoße kaum Herr über sich selbst war, suchte sie doch ihre Besorgnisse vor St. Aubert zu verheelen und gab ihm ihren zitternden Arm, um ihn nach seinem Zimmer zu führen.
Als er wieder im Bette war, bat er, daß man Emilien, die sich weinend in ihr Zimmer begeben hatte, herein rufen möchte; sobald sie erschien, winkte er mit der Hand, daß alle andern Personen das Zimmer verlassen möchten. Sobald sie allein waren, reichte er ihr die Hand entgegen und heftete einen Blick so voll Zärtlichkeit und Schmerz auf sie, daß alle ihre Stärke sie verließ, und sie in eine Fluth von Thränen ausbrach. St. Aubert kämpfte, um einige Festigkeit zu erlangen, war aber noch immer unvermögend zu sprechen. Er konnte nur ihre Hand drücken und die Thränen zurückhalten, die in seinen Augen zitterten. Endlich bekam er die Sprache wieder.
»Mein theures Kind«, sagte er, und versuchte durch seine Thränen zu lächeln, »meine theure Emilie« — und schwieg aufs neue. Er schlug, als im Gebeth, seine Augen zum Himmel auf, und sagte dann mit festerm Tone und mit einem Blicke, in welchem die Zärtlichkeit des Vaters, durch den frommen Ernst des Heiligen Würde erhielt, »mein bestes Kind, ich möchte gern die schmerzhafte Wahrheit, die ich dir zu sagen habe, mildern, allein ich fühle mich unfähig dazu. Ach, gerne möchte ich sie in diesem Augenblick vor dir verheelen, wenn es nicht noch grausamer wäre, dich zu täuschen. Nicht mehr lange, und wir müssen uns trennen, laß uns davon reden, damit unsre Gedanken und Gebete uns darauf vorbereiten.« Seine Stimme schwankte, während Emilie, immer weinend, seine Hand an ihr krampfhaft klopfendes Herz legte, und den Blick nicht empor zu heben vermochte.
»Laß uns diese Augenblicke nicht verschwenden«, sagte St. Aubert, indem er sich zu fassen suchte. »Ich habe dir viel zu sagen. Ich muß dir eine wichtige Sache eröffnen und ein feyerliches Versprechen von dir erhalten — wenn dies geschehen ist, werde ich mich leichter fühlen. Du wirst bemerkt haben, meine Liebe, wie ängstlich ich nach Haus verlangte, allein du wußtest nicht alle meine Gründe. Höre, was ich dir sagen will — aber warte — versprich mir zuvor — versprich deinem sterbenden Vater —« St. Aubert wurde unterbrochen. Emilie, durch diese Worte, die ihr zum erstenmal die volle Ueberzeugung seiner nahen Gefahr gaben, tief erschüttert, blickte auf; ihre Thränen stockten; sie sah ihn einen Augenblick mit einem Ausdruck unaussprechlicher Angst an — fiel in Verzuckung und sank bewustlos in ihren Stuhl zurück. St. Auberts Geschrey brachte La Voisin und seine Tochter ins Zimmer; sie schaften alle mögliche Mittel herbey, um sie wieder zu sich selbst zu bringen, aber lange vergebens. Als sie sich wieder erholte, fühlte sich St. Aubert durch die Scene, die er mit angesehn hatte, so erschöpft, daß es einige Minuten dauerte, ehe er wieder zu sprechen im Stande war. Doch wurde er durch eine Herzstärkung, die Emilie ihm gab, einigermaßen wieder erquickt, und sobald er sich mit ihr allein sah, bemühte er sich, sie zu beruhigen, und ihr allen Trost zu geben, den ihre Lage zuließ. Sie warf sich in seine Arme, weinte an seinem Halse, und der Schmerz machte sie so fühllos für alles, was er sagte, daß er aufhörte, ihr den Trost darzubieten, den er selbst in diesem Augenblick nicht fühlen konnte, und seine stummen Thränen mit den ihrigen vermischte. Endlich zum Gefühl ihrer Pflicht wieder aufgerufen, suchte sie ihrem Vater den fernern Anblick ihres Leidens zu ersparen; sie wand sich aus seinen Armen, trocknete ihre Thränen, und sagte etwas, das ihrer Meinung nach, Trost seyn sollte. »Meine theure Emilie«, erwiederte St. Aubert, »mein theures Kind, wir müssen mit demüthigem Vertrauen zu dem Wesen aufblicken, das uns in jeder Gefahr und bey jeden Leiden, geschützt und getröstet hat; er, vor dessen Auge jeder Augenblick unsers Lebens da lag: er wird uns auch jezt nicht verlassen; ich fühle seinen Trost in meinem Herzen. Ich werde dich, mein Kind, immer in seinem Schutze zurücklassen, und wenn ich auch von dieser Welt scheide, noch immer in seiner Gegenwart seyn. Nein, meine Emilie, weine nicht mehr. Der Tod hat nichts neues oder überraschendes, da wir alle wissen, dass wir gebohren sind um zu sterben, und da er für diejenigen nichts schreckliches haben kann, die dem allmächtigen Gotte vertrauen. Hätte ich auch jezt noch das Leben behalten, so würde ich es doch, nach dem Laufe der Natur in wenig Jahren hingeben müssen. Das Alter, mit seinem ganzen Gefolge von Kränklichkeit, mit seinen Beraubungen und Schmerzen würde mein Loos gewesen seyn und endlich wäre dann doch der Tod gekommen und hätte die Thränen, welche du jezt vergießest, hervorgelockt. Freue dich lieber, mein Kind, daß mir ein solches Leiden erspart ist, und daß es mir vergönnt wird, mit vollen Seelenkräften und Gefühl für den Trost des Glaubens und der Ergebung zu sterben.« — Er schwieg, vom Reden ermattet. Emilie bestrebte sich aufs neue, einige Fassung zu erlangen und suchte ihn statt der Antwort, durch ihr Benehmen glauben zu machen, daß er nicht vergebens gesprochen hätte.
Nachdem er ein Weilchen geruht hatte, knüpfte er das Gespräch wieder an. »Laß mich«, sagte er, »auf einen Gegenstand zurückkommen, der mir sehr nahe am Herzen liegt. Ich sagte dir, daß ich ein feyerliches Versprechen von dir zu fodern hätte — gieb es mir jezt, ehe ich dir den Hauptumstand, den es betrift, eröffne. Es giebt noch andre, die du um deines Friedens willen nicht erfahren darfst. Versprich mir also, daß du pünktlich erfüllen willst, was ich fordre.«
Emilie, durch diesen feyerlichen Ernst bestürzt gemacht, trocknete ihre Thränen, die trotz ihrem Bemühen, sie zu unterdrücken, hervorgedrungen waren: sah St. Aubert mit einem beredten Blick an und verband sich durch einen Schwur, bey dem ein unwillkührlicher Schauer sie überlief, alles zu thun, was er forderte.
Er fuhr fort — »ich kenne dich zu gut, meine Emilie, um zu glauben, daß du irgend ein Versprechen brechen würdest, zumal eines, daß du so feyerlich gethan hast: deine Versichrung beruhigt mich, und ist für deine eigne Ruhe von äusserster Wichtigkeit. Höre also, was ich dir sagen will. Das Kabinet, welches an mein Zimmer in La Vallée stößt, hat eine falsche Diele im Fußboden. Du wirst sie an einem Knoten im Holze, und auch daran erkennen, daß sie bis auf eine, die nächste an der Wand bey der Thüre ist. Ohngefähr einen Fußbreit weiter nach dem Fenster zu wirst du einen Strich queer über der Diele, als wenn sie zusammengefügt wäre, wahrnehmen, wenn du deinen Fuß darauf setzest, wird die Diele herabsinken, und du wirst unten einen hohlen Raum sehen« — St. Aubert schnappte nach Luft und Emilie saß in tiefer Aufmerksamkeit da. — »Verstehst du mich, meine Liebe?«, fragte er. Emilie, ob sie gleich kaum im Stande war zu sprechen, versicherte es ihn.
»Wenn du also nach Hause kömmst —« setzte er mit einem tiefen Seufzer hinzu —
Bey der Erwähnung ihrer Nachhausekunft stellten sich ihr alle traurigen Umstände dar, die damit verbunden seyn mussten — sie brach in krampfhaften Schmerz aus, und St. Aubert selbst, der zu tief gerührt war, um sich verbergen zu können, weinte mit ihr. Nach einigen Augenblicken faßte er sich. »Mein liebes Kind«, sagte er, »beruhige dich. Du wirst nicht verlassen seyn, wenn ich davon scheide. Ich lasse dich nur unter der unmittelbaren Sorge der Vorsehung, die mich noch nie verlassen hat. Betrübe mich nicht durch diesen übermäßigen Schmerz, lehre mich lieber durch dein Beyspiel meinen eignen ertragen.« Er hielt wiederum inne, und Emilie fand es um so weniger möglich, ihre Bewegung zu unterdrücken, je mehr Mühe sie sich gab.
St. Aubert, dem die Sprache immer schwerer wurde, bemühte sich aufs neue zu reden. »Geh also in das Kabinet, meine Liebe, sobald du zu Hause kommst — du wirst unter der Diele, die ich dir bezeichnet habe, ein Paket geschriebner Papiere finden. Merke wohl auf, denn das Versprechen, welches du mir gegeben hast, betrift vorzüglich, was ich dir jetzt sagen will. Diese Papiere mußt du verbrennen, und zwar, befehle ich dir feyerlich, ohne sie zu untersuchen.«
Emiliens Verwunderung überwältigte für einen Augenblick ihren Schmerz und sie wagte es zu fragen, warum er dies verlangte? St. Aubert antwortete: wenn er ihr die Ursachen hätte erläutern können, so würde es unnöthig gewesen seyn, dies letzte Versprechen von ihr zu fodern. »Es ist genug, meine Liebe, wenn du weißt, wie sehr viel mir daran liegt, daß du mir hierin unbedingt gehorsamest.« Er fuhr weiter fort. — »Auch wirst du unter jenem Bret zweyhundert Louisd'or in einem seidnen Beutel finden; dieser geheime Ort war anfangs, zu einer Zeit, wo die Provinz von Truppen, die sich von Rauben und Plündern nährten, überschwemmt war, eigentlich dazu ausersehn, das Gold und Silber, was sich im Schlosse befand, zu sichern.«
»Allein ich habe noch ein Versprechen von dir zu fordern, daß du nie, in welche Umstände du auch in Zukunft gerathen mögest, das Schloß verkaufest.« Er setzte noch hinzu, daß sie, selbst wenn sie heyrathete, es zu einer Bedingung im Ehecontract machen sollte, das Schloß stets zu behalten. Er beschrieb ihr darauf seine gegenwärtige Lage noch umständlicher als er bisher gethan hatte, und setzte hinzu: »Diese zweyhundert Louisd'or, nebst dem Gelde, was du in meiner Börse finden wirst, sind alle baare Münze, die ich dir hinterlasse. Ich habe dir gesagt, wie ich mit Herrn Motteville in Paris stehe. Ach, mein Kind, ich hinterlasse dich arm, aber nicht hülflos«, setzte er nach einer langen Pause hinzu. Emilie konnte ihm auf nichts, was er jetzt sagte, antworten — sie kniete an seinem Bette nieder, das Gesicht aufs Kissen gelegt und weinte über der Hand, die sie in der ihrigen hielt.
Nach diesem Gespräch schien St. Aubert weit beruhigter in seinem Gemüthe zu seyn; allein erschöpft durch die Anstrengung des Redens, sank er in eine Art von Schlummer, und Emilie blieb weinend neben ihm knien, bis ein leises Klopfen an der Thüre sie aufschreckte. Es war La Voisin, der ihr sagte, daß ein Beichtvater aus dem benachbarten Kloster unten wäre, um St. Aubert die lezte Oelung zu geben. Emilie wollte ihren Vater nicht beunruhigen lassen, bat aber, daß der Priester die Hütte nicht verlassen möchte. Als St. Aubert aus diesem Schlummer erwachte, waren seine Sinne zerstört, und es verstrichen einige Augenblicke, ehe er sich wieder besinnen konnte, dass Emilie neben ihm saß. Er bewegte die Lippen, und streckte die Hand nach ihr aus; sie nahm sie und sank in ihren Stuhl zurück; vom Eindruck des Todes auf seinem Gesichte überwältigt. Nach wenig Minuten erhielt er die Sprache wieder, und Emilie fragte ihn, ob er den Beichtvater zu sehen wünschte. Er bejahte es, und sie zog sich zurück, als der heilige Vater erschien. Sie blieben über eine halbe Stunde mit einander allein; als Emilie wieder hereingerufen wurde, fand sie ihren Vater weit unruhiger als sie ihn verlassen hatte, und konnte sich nicht enthalten, den Mönch, als die vermeinte Ursache davon, mit einigem Unwillen anzublicken — er aber sah sie sanft und mitleidsvoll an, und wandte sich hinweg. St. Aubert sagte mit zitternder Stimme: er wünschte, daß sie sich im Gebet mit ihm vereinigen möchte, und foderte auch La Voisin dazu auf. Der alte Mann kam mit seiner Tochter: beyde weinten und knieten mit Emilien rings ums Bett, während der heilige Vater mit feyerlicher Stimme das Gebet für den Sterbenden las. St. Aubert lag mit heiterm Gesichte da, und schien sich mit heisser Andacht im Gebete mit ihnen zu vereinigen, während Thränen sich oft seine geschlossnen Augenlieder hinabschlichen, und Emiliens Schluchzen mehr als einmal das Gebeth unterbrach.
Nachdem es geendigt, und die letzte Oelung ihm gereicht war, zog sich der Mönch zurück. St. Aubert gab nun dem La Voisin ein Zeichen, näher zu kommen. Er reichte ihm die Hand und schwieg einen Augenblick. Endlich sagte er mit zitternder Stimme: »Mein lieber Freund, unsre Bekanntschaft ist zwar kurz gewesen, aber doch lang genug, um Ihnen Gelegenheit zu geben, mir viel Güte zu erzeigen. Ich zweifle nicht, daß sie diese Güte auch auf meine Tochter erstrecken werden, wenn ich nicht mehr bin: sie wird ihrer bedürfen. Ich vertraue sie für die wenigen Tage, die sie hier zubringen wird, Ihrer Aufsicht an. Mehr brauche ich nicht zu sagen. Sie kennen die Gefühle eines Vaters, denn Sie haben Kinder. Das meinige würde in der That übel daran seyn, wenn ich weniger Vertrauen in Sie setzte.« Er schwieg. La Voisin versicherte ihn, und seine Thränen bezeugten seine Aufrichtigkeit, daß er alles thun wollte, was in seinem Vermögen stünde, ihren Kummer zu mildern, und daß er sogar erböthig wäre, sie nach Gasconien zu begleiten. Dies Erbieten war den St. Aubert so angenehm, daß er kaum Worte finden konnte, seinen Dank dafür auszudrücken. Die Scene, die nun zwischen St. Aubert und Emilien folgte, rührte La Voisin so tief, daß er das Zimmer verlassen mußte, so dass sie aufs neue mit ihrem Vater allein blieb, dessen Kräfte schnell abzunehmen schienen, ohngeachtet er noch seine Sinne und die Sprache behielt. Er wandte noch diese lezten feyerlichen Augenblicke dazu an, seiner Tochter Rathschläge wegen ihres künftigen Betragens zu geben. Vielleicht hatte er nie richtiger gedacht, oder sich deutlicher ausgedrückt als jetzt.
»Vor allem, meine Emilie«, sagte er, »hänge nicht dem Stolze des feinen Gefühls, dem romanhaften Irrthum liebeswürdiger Seelen nach. Diejenigen, welche wirklich Gefühl besitzen, sollten lieber frühzeitig lernen, daß es eine gefährliche Eigenschaft ist, welche stets aus jedem Gegenstande den höchsten Grad der Freude oder des Schmerzens zieht. Und da uns nun einmal auf unserm Wege durchs Leben, mehr unangenehme als angenehme Dinge aufstoßen, und da wir für das Uebel, wie ich fürchte, einen schärfern Sinn haben, als für das Gute, so werden wir die Schlachtopfer unsrer Empfindungen, wenn wir sie nicht einigermaßen beherrschen gelernt haben. Ich weiß, du wirst sagen, (denn du bist jung meine Emilie) daß du lieber oft leiden, als diese feinere Fühlbarkeit aufgeben willst, allein wenn erst die mannigfaltigen Abwechselungen des Lebens deine Kräfte ermüdet haben, so wirst du nach Ruhe streben, und von deiner Täuschung zurückkommen. Du wirst entdecken, daß man das Schattenbild des Glücks für das Wesen selbst eintauscht, denn das Glück entsteht aus einem Stande des Friedens, nicht der Unruhe. Es ist von gemäßigter, einfacher Natur, und kann eben so wenig in einem Herzen wohnen, das stets reizbar für jede Kleinigkeit ist, als in dem für jedes Gefühl abgestorbenen. Du siehst, meine Liebe, dass ich kein Vertheidiger der Fühllosigkeit bin, wenn ich dich gleich vor den Gefahren der Empfindsamkeit zu warnen wünsche. In deinem Alter würde ich gesagt haben, daß jene ein weit gehässigeres Laster sey, als alle Verirrungen der Empfindsamkeit, und ich sage es noch. Ich nenne es ein Laster, weil es zu positivem Uebel führt. Die übelgeleitete Empfindsamkeit thut dasselbe und könnte folglich nach dieser Regel auch Laster genannt werden: allein das Uebel, das aus der erstern entsteht, zieht allgemeinere Folgen nach sich. Ich habe mich erschöpft«, sagte St. Aubert schwach, »und dich, meine Emilie, ermüdet, allein ich wünschte mich über einen Gegenstand, der für deine künftige Ruhe so wichtig ist, dir ganz verständlich zu machen.«
Emilie versicherte ihn, dass sein Rath ihr sehr schäzbar sey, und daß sie ihn nie vergessen und stets sich bemühen würde, sich ihn zu Nutze zu machen. St. Aubert lächelte sie zärtlich und kummervoll an. »Ich wiederhohle es«, sagte er, »daß ich dich nicht lehren möchte, unempfindlich zu werden, wenn ich es auch könnte. Ich wünsche nur, dich vor den Gefahren der zu großen Empfindsamkeit zu warnen und dir zu zeigen, wie du sie vermeiden könntest. Hüte dich ja, meine Liebe, vor dem Selbstbetruge, der den Frieden so vieler Menschen zu Grunde gerichtet hat, hüte dich, auf die Anmuth der Empfindsamkeit dir etwas zu Gute zu thun. Wenn du dieser Eitelkeit Raum giebst, so ist deine Glückseeligkeit auf ewig dahin. Erinnre dich stets, wie unendlich eine gewisse Seelenstärke der Anmuth der Empfindsamkeit vorzuziehen ist. Verwechsle aber nicht Seelenstärke mit Fühllosigkeit, denn diese kann keine Tugend seyn. Auch erinnre dich, dass eine Handlung der Wohlthätigkeit, eine würklich nützliche Handlung alle abstrakte Empfindsamkeit tausendfach aufwiegt. Empfindsamkeit wird zum Flecken statt zum Schmuck, wenn sie nicht zu guten Handlungen führt. Der Geitzige, der sich blos deswegen für achtungswerth hält, weil er Reichthum besizt, und der auf solche Art die Mittel, Gutes zu thun, mit dem Guten selbst verwechselt, verdient nicht mehr Tadel, als der Mann von Empfindsamkeit ohne thätige Tugend. Du wirst Personen gekannt haben, die sich in dem angenehmen Genuß dieser Empfindsamkeit, welche die Aufforderung zu aller praktischen Tugend ausschließt, so wohl gefallen, daß sie sich von dem Elenden abwenden, und weil es ihnen ein peinliches Gefühl macht, sein Leiden anzusehn, nichts thun, um ihm abzuhelfen. Wie verächtlich ist die Menschlichkeit, welche sich da, wo sie es in ihrer Macht hätte zu mildern, mit bloßem Mitleid begnügen kann.«
Ein Weilchen nachher, sprach St. Aubert von seiner Schwester, Madame Cheron. »Ich muß dir einen Umstand eröffnen, setzte er hinzu, der deine Wohlfahrt sehr nahe angeht. Wir haben, wie du weißt, seit einigen Jahren wenig Umgang mit einander gehabt; allein da sie jetzt unsre einzige noch lebende Verwandtin ist, habe ich es für schicklich gehalten, dich, wie du aus meinem Testamente sehen wirst, ihrer Aufsicht anzuvertrauen, bis du mündig bist, und nachher dich ihrem Schutze zu empfehlen. Sie ist gerade nicht die Person, der ich meine Emilie anzuvertrauen gewünscht hätte, allein ich habe keine andre Wahl, und halte sie im Ganzen — für eine gute Frau. Bey deiner Klugheit, meine Liebe, brauche ich dir nicht zu empfehlen, daß du dich ihr gefällig zu machen suchen mögest: Du wirst es gewis um dessen willen thun, der es so oft um deinetwillen zu thun gewünscht hat.«
Emilie versicherte ihn, daß sie alles, was er von ihr verlangte, nach äussersten Kräften treulich erfüllen wollte. »Ach!« setzte sie mit einer von Seufzern unterbrochnen Stimme hinzu, »bald wird dies alles seyn, was mir übrig bleibt; es wird bald mein einziger Trost seyn, Ihre Wünsche noch erfüllen zu können.«
St. Aubert sah sie stillschweigend an, als wünschte er zu sprechen, aber seine Kraft wich von ihm und seine Augen wurden schwer und trübe. Sie fühlte den Blick in ihrem Herzen. »Mein theurer Vater«, rief sie, drückte seine Hand fester und verbarg ihr Gesicht im Schnupftuch. Ihre Thränen flossen verborgen, allein St. Aubert hörte ihr krampfhaftes Schluchzen. Seine Lebensgeister kehrten wieder. »O mein Kind«, sagte er, »laß meinen Trost auch den deinigen seyn. Ich sterbe in Frieden, denn ich weiß, daß ich im Begrif stehe, in den Schooß meines Vaters zurückzukehren, der noch immer dein Vater seyn wird, wenn ich nicht mehr bin. Traue immer auf ihn, meine Liebe, und er wird dich in diesen Augenblicken aufrecht halten, wie er mich aufrecht hält.«
Emilie konnte nur hören und weinen, aber seine ausserordentliche Fassung, der Glaube und Hoffnung, welche er äusserte, milderten einigermaßen ihren Schmerz. Doch wenn sie auf sein abgezehrtes Gesicht blickte, wenn sie die Züge des Todes sich über dasselbe ausbreiten sah, wenn sie seine eingefallnen Augen starr auf sie geheftet, und die schweren Augenlieder sich immer dichter schließen sah, fühlte sie eine Quaal in ihrem Herzen, die kein Ausdruck zu schildern vermag.
Er wünschte noch einmal sie zu seegnen. »Wo bist du, meine Liebe«, sagte er, und reichte ihr die Hand entgegen. Emilie hatte sich zum Fenster gewandt, damit er ihren Schmerz nicht sähe — sie ward jetzt gewahr, daß das Gesicht von ihm gewichen war. Nachdem er ihr seinen Seegen ertheilt hatte, und es schien die letzte Anstrengung des erlöschenden Lebens zu seyn, sank er auf sein Kopfkissen zurück. Sie küßte seine Stirne: die Thautropfen des Todes hatten sie bedeckt — ihre Stärke verließ sie, und ihre Thränen flossen auf seine kalte Wange. St. Aubert schlug die Augen auf — väterliche Liebe leuchtete noch einmal aus ihnen — allein das letzte Auflodern der sterbenden Lebenskraft verschwand schnell und seine Sprache kehrte nicht wieder.
Er lag noch bis gegen drey Uhr Nachmittags — und dann, allmählig im Tod erstarrend, verschied er ohne Zuckung oder Seufzer.
La Voisin und seine Tochter führten Emilien aus dem Zimmer, und boten alles auf, sie zu trösten. Der alte Mann weinte stumm mit ihr. Agnes war auf weniger passende Art geschäftig sie zu trösten.
Der Mönch, der zuvor da gewesen war, kam gegen Abend wieder, um Emilien zu trösten, und ihr eine Einladung von der Aebtissin in ihr Kloster zu bringen. Emilie ließ sie ihrer äussersten Dankbarkeit versichern, wiewohl sie das Anerbieten nicht annahm. Das fromme Gespräch des Mönches, dessen sanftes, wohlwollendes Wesen sie an den Verstorbnen erinnerte, sänftigte die Heftigkeit ihres Schmerzes und hub ihr Herz zu dem Wesen empor, das sich durch allen Raum und durch alle Ewigkeit ausdehnend, die Begebenheiten dieser kleinen Welt als Schatten eines Augenblicks betrachtet und die Seele, welche zu den Pforten des Todes eingegangen ist, und die, welche noch im Körper schmachtet, mit einem Blicke übersieht. »Vor den Augen Gottes«, sagte Emilie, »lebt mein geliebter Vater noch eben so wahrhaftig, als er gestern vor den meinigen lebte; nur für mich ist er todt, für Gott und für sich selbst lebt er noch.«
Der gute Mönch verließ sie ruhiger als sie seit St. Auberts Tode gewesen war, und ehe sie sich in ihr kleines Schlafzimmer begab, getraute sie sich noch, den Leichnam zu besuchen. Stumm und ohne zu weinen, stand sie an seiner Seite. Die ruhigen, heitern Züge verriethen die Natur der lezten Empfindungen, welche je die nun verlaßne Gestalt belebt hatten. Einen Augenblick wandte sie sich ab; von einem Grausen über den starren Stempel des Todes auf diesem Gesichte, das sie nur immer beseelt sah, ergriffen — dann aber starrte sie es wieder mit einer Mischung von Zweifel und scheuer Ehrfurcht an. Ihre Vernunft konnte kaum die unwillkührliche und unerklärliche Erwartung besiegen, dies geliebte Gesicht sich wieder bewegen zu sehn. Sie fuhr fort es wild anzustarren, ergriff die kalte Hand, sprach, staunte wieder und brach dann in lautes Schluchzen aus. La Voisin, der sie hörte, kam herbey, um sie aus dem Zimmer zu führen: allein sie vernahm nichts und bat ihn nur, sie zu verlassen.
Sobald sie sich wieder allein sah, ließ sie ihren Thränen freyen Lauf, und hieng noch über dem Leichnam, als schon die Dunkelheit des Abends das Zimmer verfinsterte und den Gegenstand ihres Trauerns beynahe vor ihren Augen verbarg — bis endlich ihre Kräfte sich erschöpften und sie ruhig ward. La Voisin klopfte wieder an der Thüre und bat sie ins Wohnzimmer zu kommen. Ehe sie gieng, küßte sie St. Auberts Lippen, wie sie zu thun gewohnt war, wenn sie ihm gute Nacht sagte. Sie küßte sie aufs neue, ihr Herz drohte zu brechen; Thränen des Schmerzes traten ihr in die Augen — sie sah zum Himmel, warf noch einen Blick auf die Leiche und verließ das Zimmer.
In ihr einsames Kämmerchen zurückgezogen, schwebten ihre melancholischen Gedanken noch immer um den Körper ihres verblichenen Vaters; und als sie endlich in eine Art von Schlummer sank, umlagerten noch die Bilder ihres wachenden Geistes ihre Phantasie. Sie glaubte ihren Vater sich ihr mit sanftem Gesichte nähern zu sehen; er lächelte traurig, und zeigte gen Himmel; seine Lippen bewegten sich, aber statt der Worte hörte sie süße Musik auf der fernen Luft schweben und sah dann seine Züge von sanftem Entzücken eines höhern Wesens stralen. Die Melodie schien lauter zu schwellen, und sie erwachte. Die Erscheinung war verschwunden, aber noch tönte Musik in engelgleichen Melodien in ihr Ohr. Sie zweifelte, horchte, richtete sich im Bett auf und horchte wiederum. Es war Musik und nicht eine Täuschung ihrer Einbildungskraft. Nach einer feyerlichen, eintönigen Harmonie schwieg sie — stieg dann wieder in klagender Süßigkeit auf, und erstarb in einer Cadenz, welche die horchende Seele zum Himmel empor zu heben schien. Sie erinnerte sich sogleich an die Musik in vergangner Nacht; an die seltsamen Umstände, welche La Voisin erzählte, und an die rührende Unterredung über den Zustand abgeschiedner Geister, die sich daraus entspann. Alles, was St. Aubert darüber gesagt hatte, fiel ihr jezt aufs Herz, und überwältigte es. Welche Veränderung in wenigen Stunden! Er, der damals nur vermuthen konnte, war jezt mit der Wahrheit bekannt, war selbst einer der Abgeschiednen geworden! Eine bange Furcht ergriff sie, indem sie lauschte; ihre Thränen stockten und sie stand auf und trat ans Fenster. Aussen lag alles in dunkeln Schatten; allein Emilie sah, als sie ihre Augen von den Wäldern abwandte, deren schwarzer Wipfel sie nur dunkel am Horizont wahrnahm, zur Linken den glänzenden Planeten, den der alte Mann ihr gezeigt hatte, am Himmel stehen. Sie erinnerte sich, was er darüber gesagt hatte; die Musik tönte wiederum durch die Luft; sie machte das Fenster auf, um die Melodie zu hören, die sich allmählig in weitrer Entfernung verlor, und suchte zu entdecken, woher sie käme. Die Dunkelheit verhinderte sie, einen Gegenstand auf der grünen Fläche unten zu unterscheiden, und die Töne wurden schwächer und schwächer, bis sie ganz verstummten. Sie horchte; allein sie kamen nicht wieder. Bald darauf sah sie den Planeten zwischen den Spitzen der Wälder zittern und den Augenblick nachher hinter ihnen versinken. Ein kalter Schauer durchbebte sie; sie legte sich noch einmal ins Bett und vergaß endlich auf ein Weilchen ihren Kummer im Schlaf.
Am folgenden Morgen erhielt sie einen Besuch von einer Schwester aus dem Kloster, die mit höflichen Aufträgen und einer zweiten Einladung von der Aebtissin erschien. Emilie konnte nun nicht länger umhin, wiewohl es ihr unmöglich war, die Hütte ganz zu verlassen, so lange sie noch die Ueberreste ihres Vaters in sich schloß, der Aebtissin persönlich zu danken, so lästig ihr auch in ihrer gegenwärtigen Gemüthslage ein solcher Besuch seyn mußte.
Ohngefähr eine Stunde vor Sonnenuntergang zeigte ihr La Voisin den Weg durch den Wald nach dem Kloster, das in einer kleinen Bucht des mittelländischen Meeres in der Mitte eines waldigten Amphitheaters da stand. Zu einer minder traurigen Gemüthsstimmung würde Emilie die weite Aussicht von dem grünen Hügel vor dem Gebäude, und die reichen, mit Wäldern und Wiesen behangnen Ufer, die sich an der andern Seite ausdehnten, bewundert haben. Allein jezt waren ihre Gedanken nur von einer traurigen Vorstellung erfüllt, und die Züge der Natur standen farb und gestaltlos vor ihr da. Die Vesperglocke läutete, als sie vor dem antiken Thore des Klosters vorüber gieng, und schien ihr St. Auberts Leichenmusik zu seyn. Auch kleine Umstände treffen ein von Kummer ermattetes Herz. Emilie kämpfte gegen die ohnmächtige Schwäche, welche sie anwandelte, und wurde vor die Aebtissin geführt, die sie mit mütterlicher Zärtlichkeit empfieng. Ihr Wesen, aus dem zärtliche Bekümmernis und Achtung sprach, rührte Emilien zu wahrer Dankbarkeit; ihre Augen füllten sich mit Thränen und die Worte, die sie hervorbringen wollte, erstarben auf ihren Lippen. Die Aebtissin führte sie zu einem Stuhl und setzte sich neben sie, hielt sie bey der Hand, und betrachtete sie stillschweigend, während Emilie ihre Thränen trocknete und zu sprechen versuchte. »Seyn Sie ruhig, meine Tochter«, sagte die Aebtissin mit sanfter Stimme; »sprechen Sie noch nicht; ich weiß alles, was Sie sagen möchten. Sie müssen Ihre Gefühle zu besänftigen suchen. Wir gehn zum Gebeth, wollen Sie unsrer Abendandacht beywohnen? Es ist süß, mein Kind, in unserm Kummer zu einem Vater hinauf zu blicken, der uns sieht und bemitleidet und aus Barmherzigkeit uns züchtigt.«
Emiliens Thränen flossen aufs neue, aber tausend süße Empfindungen mischten sich mit ihnen. Die Aebtissin ließ sie ungestört ausweinen, und hing mit einem milden Blick, der das Gesicht eines Schutzengels zu bezeichnen schien, über ihr. Als Emilie ruhiger wurde, fühlte sie Muth, ohne Zurückhaltung zu sprechen und den Grund zu entdecken, warum sie so ungeneigt war, die Hütte zu verlassen. Die Aebtissin widersprach ihr auch durch keine Sylbe, sondern lobte die kindliche Frömmigkeit ihres Betragens und äusserte die Hoffnung, daß sie vor ihrer Rückreise nach La Vallée einige Tage in ihrem Kloster zubringen möchte. »Sie müssen sich erst ein wenig von dem ersten Stoße erholen, meine Tochter, ehe Sie sich einem neuen aussetzen, ich fühle nur zu gut, wie sehr Ihr Herz leiden muß, wenn Sie die Scene Ihres verschwundnen Glücks wieder besuchen. Hier werden Sie alles finden, was Ruhe und Mitleid und Religion darbieten können, Ihre Lebensgeister wieder zu erheitern. Aber kommen Sie«, fügte sie hinzu, als sie Thränen in Emiliens Augen treten sah, »wir wollen nach der Kapelle gehn.«
Emilie folgte ihr ins Sprachzimmer, wo die Nonnen versammlet waren; die Aebtissin stellte sie ihnen mit den Worten vor: »dies ist eine Tochter, für die ich viel Achtung habe; bemüht euch, ihr Schwestern zu seyn.«
Sie verfügten sich in einem Zuge nach der Kapelle, wo die feyerliche Andacht, mit welcher der Gottesdienst verrichtet wurde, ihre Seele erhub und sie mit dem Troste des Glaubens und der Ergebung stärkte.
Es war beynahe dunkel geworden, ehe die Aebtissin Emilien fortließ; mit merklich erleichtertem Herzen verließ sie das Kloster, und wurde von La Voisin durch die Wälder zurückgeführt, deren tiefes Dunkel mit der Stimmung ihrer Seele in Einklang war. Sie verfolgte den kleinen wilden Pfad in nachdenkendem Stillschweigen, bis ihr Führer plötzlich still stand, rings umher sah und dann von dem Pfade ab ins hohe Gras umbog, indem er vorgab, den Weg verfehlt zu haben. Er eilte schnell fort, und Emilie, der es sauer wurde, auf dem dunkeln unebnen Wege fortzukommen, blieb hinter ihm zurück, bis ihre Stimme ihn anhielt, so ungern er auch still zu stehen schien. »Wenn Sie des Weges ungewiß sind«, sagte Emilie, »so hätten wir ja wohl besser gethan, bey jenem Schlosse dort zwischen den Bäumen zu fragen?«
»Nein«, erwiederte La Voisin, »das ist nicht nöthig. Wenn wir an jenen Bach kommen, den Sie dort schimmern sehn, so sind wir gleich zu Hause. Ich weiß nicht, wie es kommt, daß ich den Weg verfehlt habe; ich komme selten nach Sonnenuntergang hieher.«
»Er ist einsam genug«, sagte Emilie, »aber es sind doch keine Banditen hier?« — »Nein, Fräulein, Banditen nicht.« —
»Was fürchten Sie denn, lieber Freund? Sie sind doch nicht abergläubisch?« — »Das wohl nicht, allein die Wahrheit zu sagen, man kommt nach Dunkelwerden nicht gerne dem Schlosse hier nahe.« — »Wer wohnt denn darin, daß es so furchtbar ist?« — »Es wohnt, so zu sagen, niemand darin, denn unser Herr, der Marquis, dem das Schloß und alle diese schöne Waldung gehörte, ist todt. Er hatte es seit vielen Jahren nicht besucht und seine Leute, welche die Aufsicht darüber haben, wohnen in einer Hütte dicht daneben.« Emilie merkte nun, dass dies das Schloß des Marquis de Villeroi war, bey dessen Erwähnung ihr Vater in solche Bewegung gerieth.
»Ach, es ist jezt ein öder Aufenthalt«, fuhr La Voisin fort, »und so ein schöner, großer Platz, wenn ich mich noch daran erinnre!« Emilie fragte, was denn an dieser traurigen Veränderung Schuld sey, allein der alte Mann schwieg, und Emilie, deren Neugier durch seine anscheinende Furcht und mehr noch durch die Erinnrung an ihres Vaters Bewegung rege gemacht war, wiederholte die Frage, und setzte hinzu: »wenn Sie weder die Einwohner fürchten, noch abergläubisch sind, wie kommt es denn, daß Sie sich scheuen, im Dunkeln dem Schlosse nahe zu kommen?«
»Vielleicht mag ich also doch wohl etwas altergläubisch seyn; und wenn Sie wüßten, was ich weiß, gnädiges Fräulein, so wären Sie es wohl auch. Seltsame Dinge sind dort vorgegangen, Ihr guter Herr Vater schien die verstorbene Marquise gekannt zu haben.« — »Ich bitte sehr, sagen Sie mir doch, was da vorgegangen ist«, sagte Emilie mit tiefer Bewegung.
»Ach, gnadiges Fräulein, dringen Sie nicht weiter in mich. Es geziemt mir nicht, die häuslichen Geheimnisse meines Herrn zu verrathen.«
Emilie, von den Worten des alten Mannes und der Art wie er sie vorbrachte, überrascht, enthielt sich weiter zu fragen; ein ihr näher am Herzen liegender Gegenstand, die Erinnrung an St. Aubert, erfüllte ihre Gedanken, und sie erwähnte gegen La Voisin der Musik, die sie die Nacht zuvor gehört hatte. »Sie haben sie nicht allein gehört«, erwiederte er; »ich hörte sie auch, allein ich habe sie schon so oft um dieselbe Stunde gehört, daß es mich nicht mehr befremdet.«
»Sie glauben ohne Zweifel, daß diese Musik einigen Zusammenhang mit dem Schlosse hat«, sagte Emilie plötzlich, »und sind also abergläubisch?« —
»Es kann seyn, Fräulein, allein es sind bey dem Schlosse noch andere Dinge, deren ich mich erinnre, und zwar mit Betrübniß.« Ein schwerer Seufzer folgte; allein Emiliens Delikatesse hielt die Neugier, die durch diese Worte rege wurde, zurück, und sie enthielt sich, weiter zu fragen.
Als sie die Hütte erreichte, kehrte ihr Schmerz in aller Heftigkeit zurück. Sie schien seinen schweren Druck nur so lange nicht gefühlt zu haben, als sie sich von dem Gegenstande desselben entfernte. Sie gieng sogleich in das Zimmer, wo die Ueberreste ihres Vaters lagen, und hieng aller Pein des hoffnungslosen Schmerzes nach. Endlich beredete sie La Voisin, das Zimmer zu verlassen; sie gieng wieder in das ihrige, wo sie von den Leiden des Todes erschöpft, bald in tiefen Schlaf sank und merklich gestärkt wieder erwachte.
Als die schreckliche Stunde heran kam, wo St. Auberts Ueberreste auf ewig von ihr genommen werden sollten, gieng sie alleine ins Zimmer, um noch einmal sein Gesicht zu sehn; und La Voisin, der unten auf der Treppe mit der dem Schmerze schuldigen Achtung gewartet hatte, bis der erste Ausbruch sich würde gelegt haben, enthielt sich, sie zu stören, bis endlich Verwunderung über ihr langes Ausbleiben und Besorgniß um sie, seine Delikatesse überwältigte. Er klopfte leise an die Thüre, ohne Antwort zu erhalten, er horchte aufmerksam, aber alles blieb still — kein Seufzer, kein Schluchzen ließ sich hören. Noch mehr beunruhigt durch dies Stillschweigen, öffnete er die Thüre, und fand Emilien ohne Bewußseyn quer über den Fuß des Bettes, neben welchem der Sarg stand, liegen. Sein Rufen brachte Hülfe herbey, und sie wurde in ihr Zimmer gebracht, wo gehörige Mittel sie endlich wieder herstellten.
Während ihrer Ohnmacht hatte La Voisin den Sarg zumachen lassen, und es gelang ihm, Emilien durch Ueberredung aus dem Zimmer zu entfernen. Sie fühlte sich auch in der That unvermögend, den Anblick auszuhalten, und sah wohl ein, wie nothwendig es war, ihre Kräfte für die Scene, die ihr noch bevorstand, zu sparen. St. Aubert hatte ausdrücklich verlangt, daß seine Ueberreste in der Kirche beym Kloster St. Clair sollten beygesezt werden, und hatte sogar die Stelle, nahe bey der alten Gruft der Villerois, wo er niedergelegt zu werden wünschte, genau beschrieben: Der Prior hatte diese Stelle zum Begräbnis verstattet, und dahin gieng also der traurige Zug, dem am Thore der ehrwürdige Priester mit einem Gefolge von Mönchen entgegen kam. Alle, die den feyerlichen Leichenchor und den Klang der Orgel hörten, die so wie der Leichnam in die Kirche kam, gerührt wurden; die Emiliens schwache Schritte und ihre angenommene Ruhe sahn, wiedmeten ihr unwillkührliche Thränen. Sie vergoß keine, sondern gieng, das Gesicht von einem dünnen schwachen Schleier zum Theil verhüllt, zwischen zwey Personen, die sie unterstützten; die Aebtissin gieng voran, und Nonnen folgten, deren klagende Stimmen in der schwellenden Harmonie der Masse schmolzen. Als die Prozession ans Grab kam, hörte die Musik auf. Emilie ließ den Schleyer ganz herunter fallen, und als einen Augenblick die Chöre schwiegen, hörte man deutlich ihr Schluchzen. Der heilige Vater hub die Andachtsfeyer an, und Emilie bekämpfte aufs neue ihre Gefühle, bis der Sarg niedergesezt wurde, und sie die Erde auf dem Deckel rauschen hörte. Dann aber brach sie, von einem unaussprechlichen Grausen überwältigt, in lautes Schluchzen aus und lehnte sich, um nicht zur Erde zu sinken, an die Person, die dicht neben ihr stand. Nach wenig Augenblicken erholte sie sich wieder, und als sie die rührenden erhabnen Worte hörte: sein Körper ist in Frieden begraben, und seine Seele zurückgekehrt zu dem, der sie gab, sänftigte sich ihr lauter Schmerz in Thränen.
Die Aebtissin führte sie aus der Kirche in ihr eignes Zimmer, und reichte ihr da allen Trost, den Religion und sanftes Mitleid geben können. Emilie kämpfte gegen den Druck des Schmerzes, allein die Aebtissin, die sie aufmerksam betrachtete, ließ ein Bett für sie zurecht machen und bat sie, sich zur Ruhe zu legen. Auch forderte sie gütig die Erfüllung des Versprechens, einige Tage im Kloster zu bleiben, und Emilie, die auf keine Weise nach der Hütte, der Scene alles ihres Leidens, wieder zurückzukehren wünschte, hatte jezt, da keine unmittelbare Sorge ihre Aufmerksamkeit forderte, Zeit, an sich selbst zu denken, und die Schwäche zu fühlen, die es ihr unmöglich machte, die Reise anzutreten, ehe sie sich ein wenig wieder erholt hatte.
Indessen thaten die mütterliche Zärtlichkeit der Aebtissin, und die sanfte Aufmerksamkeit der Nonnen alles was möglich war, um ihre Lebensgeister zu beruhigen und ihre Gesundheit wieder herzustellen. Allein die lezte hatte durch das Leiden ihrer Seele einen zu tiefen Stoß erlitten, um sich sobald wieder zu erholen. Sie krankte einige Wochen im Kloster an einem schleichenden Fieber, wünschte nach Hause zurückzukehren, und fühlte sich doch unfähig dazu; oft fühlte sie sogar ein Widerstreben, den Ort zu verlassen, wo die Gebeine ihres Vaters ruhten, und fand eine gewisse Süßigkeit in dem Gedanken, daß wenn sie hier stürbe, ihr Körper neben ihrem Vater ruhen würde. Indessen schrieb sie an Madame Cheron und an die alte Haushälterin, und benachrichtigte sie von dem traurigen Vorfall und von ihrer eignen Lage. Die Antwort ihrer Tante enthielt mehr einen Schwall von Alltagströstungen als wahre Theilnahme an ihrem Kummer; sie versprach, ihr einen Bedienten zu schicken, der sie nach La Vallée begleiten sollte, denn ihre eigne Zeit wäre durch die vielen Gesellschaften, worin sie leben müßte, so sehr beschränkt, daß sie unmöglich eine so lange Reise unternehmen könnte. So sehr auch Emilie den Aufenthalt in La Vallée dem zu Toulouse verzog, konnte sie doch nicht umhin, das unschickliche und ungütige in ihrer Tante Betragen zu fühlen, die sie dahin zurückkehren ließ, wo sie keinen Verwandten mehr hatte, der sie trösten und beschützen konnte, — ein Betragen, welches um so unverzeihlicher war, da St. Aubert Madame Cheron zur einzigen Vormünderin seiner verwaisten Tochter ernannt hatte.
Madame Cherons Bedienter machte die Begleitung des guten La Voisin unnöthig, und Emilien, die ohnehin ihre Verpflichtung gegen ihn tief fühlte, war es lieb, ihm wenigstens diese lange und für sein Alter beschwerliche Reise zu ersparen.
Während ihres Aufenthaltes im Kloster, machten der Friede und die Heiligkeit, die innerhalb herrschten, die Schönheit der Gegend von aussen und die feine Achtsamkeit der Aebtissin und der Nonnen einen so sanften Eindruck auf ihre Seele, daß sie beynahe in Versuchung gerieth, eine Welt zu verlassen, wo sie ihre liebsten Freunde verloren hatte, und sich ganz dem Klosterleben an einem Orte zu widmen, der ihr dadurch heilig war, daß er St. Auberts Leichnam in sich schloß. Die stille Schwärmerey, die ihrem Temperamente so natürlich war, hatte ihr die heilige Abgeschiedenheit einer Nonne in so schönem Lichte gemahlt, daß sie das Selbstsüchtige dieses Standes ganz übersah. Allein die Farben, welche eine melancholische Phantasie, leicht berührt vom Aberglauben, dem Klosterleben gab, verblichen allmählig, so wie ihre Lebensgeister wieder erwachten, und brachten noch einmal ein Bild in ihr Herz zurück, das nur vorübergehend daraus verbannt werden konnte. Dies Bild erweckte verstohlen Hoffnung und Trost und süße Regungen. Bilder von Glückseeligkeit schimmerten schwach in der Ferne, und wenn auch ihr Verstand ihr sagte, daß es Täuschungen wären, konnte sie sich doch nicht entschließen, sie auf immer zu verbannen. Vielleicht war die Erinnerung an Valancourt das einzige, was sie abhielt, sich der Welt auf ewig zu entziehn. Die Größe und Erhabenheit der Gegenstände, unter welchen sie ihn zuerst erblickte, hatte ihre Phantasie geblendet und einen Theil des Interesses, den sie für sie haben mußten, auf ihn übergetragen. Auch die Achtung, welche St. Aubert so oft gegen ihn gezeigt hatte, machte ihn ihr werther; allein so deutlich auch sein Gesicht und sein Betragen gegen sie, seine Empfindungen verriethen, hatte er sich doch nie mündlich erklärt, und selbst die Hoffnung, ihn wieder zu sehn, war so fern, daß sie sich ihrer kaum bewußt war, geschweige denn, daß sie auf ihr jetziges Betragen einen für sie selbst merklichen Einfluß hätte haben können.
Verschiedne Tage verstrichen nach der Ankunft von Madame Cherons Bedienten, bevor Emilie hinlänglich wieder hergestellt war, um die Reise nach La Vallée anzutreten. Am Abend vor ihrer Abreise gieng sie nach der Hütte, um Abschied von La Voisin und seiner Familie zu nehmen, und ihnen für ihre Güte zu danken. Sie fand den alten Mann auf einer Bank vor seiner Thüre zwischen seiner Tochter und seinem Schwiegersohn sitzen, der eben von der Arbeit zurückgekommen war und auf einer Flöte spielte. Eine Flasche Wein stand neben dem alten Manne und vor ihm ein kleiner Tisch mit Früchten und Brod, den seine muntern kleinen Enkel umringten. Sie verzehrten fröhlich ihr Abendbrod, so wie die Mutter es ihnen zutheilte. Am Saum des kleinen grünen Platzes vor der Hütte sah man Rindvieh und einige Schaafe unter den Bäumen grasen. Die Landschaft war vom gelben Lichte der Abendsonne gefärbt, deren Strahlen durch eine Oeffnung zwischen den Wäldern spielten, und die fernen Thürme des Schlosses beleuchteten. Sie stand einen Augenblick still, ehe sie aus dem Schatten hervorgieng, um die glückliche Gruppe vor ihr, das Wohlwollen und die Heiterkeit des gesunden Alters auf La Voisins Gesicht, die mütterliche Zärtlichkeit, womit Agnes auf ihre Kinder blickte, die Unschuld kindischer Freude, die aus ihrem Lächeln wiederstrahlte, zu betrachten. Sie sah noch einmal den ehrwürdigen alten Mann und dann die Hütte an. Das Gedächtniß ihres Vaters stieg mit voller Gewalt in ihrer Seele auf und sie eilte schnell fort, weil sie sich selbst nicht länger traute. Sie nahm zärtlichen, rührenden Abschied von La Voisin und seiner Familie; er schien sie als seine Tochter zu lieben und vergoß Thränen, als sie fortgieng. Auch Emilie konnte die ihrigen nicht unterdrücken. Sie vermied, wieder in die Hütte zu gehn, um nicht Regungen aufzuwecken, die sie jetzt zu ertragen zu schwach war.
Noch ein schmerzhafter Auftritt erwartete sie: sie hatte beschlossen, ihres Vaters Grab noch einmal zu besuchen, und damit niemand sie stören, oder im Nachhängen ihrer melancholischen Zärtlichkeit beobachten möchte, verschob sie ihren Besuch, bis alles im Kloster, die einzige Nonne, die ihr den Schlüssel zur Kirche zu bringen versprach, ausgenommen, sich zur Ruhe gelegt haben würde. Emilie blieb in ihrem Zimmer, bis sie die Klosterglocke zwölfe schlagen hörte. Die Nonne kam jetzt, wie sie verabredet hatten, mit dem Schlüssel zu einer geheimen Thüre, die in die Kirche gieng, und sie stiegen zusammen die schmale Wendeltreppe, die dahin führte, hinab. Die Nonne erboth sich, Emilien zum Grabe zu begleiten und setzte hinzu: »es ist so schauderlich, um diese Stunde allein zu gehn« — allein Emilie lehnte es ab, denn sie konnte sich nicht entschließen, einen Zeugen ihres Kummers um sich zu haben, und die Schwester gab ihr die Lampe, nachdem sie die Thüre aufgeschlossen hatte. »Sie werden sich erinnern, Schwester«, sagte sie, »dass in dem östlichen Flügel, durch den Sie gehen müssen, ein neu geöffnetes Grab ist; nehmen Sie sich ja in Acht, daß Sie nicht über die lockere Erde straucheln.«.
Emilie dankte ihr noch einmal, nahm die Lampe und gieng nach der Kirchthüre. Hier aber stand sie einen Augenblick still: eine plötzliche Furcht überwältigte sie, und sie kehrte am Fuße der Treppe wieder um, wo sie in Versuchung gerieth, die Nonne, deren schwarzer Schleyer noch über das Treppengeländer wehte, zurückzurufen. Während sie noch zögerte, verschwand der Schleyer, und sich ihrer Furcht schämend, gieng sie nach der Kirche. Die kalte Luft durchschauerte sie, und die tiefe Stille und der Umfang des Gebäudes, das nur schwach vom Monde beschienen wurde, hätte sie gewiß zu jeder andern Zeit mit bangem Schrecken erfüllt; jezt aber beschäftigte der Schmerz ihre ganze Aufmerksamkeit. Sie hörte kaum das flüsternde Echo ihrer eignen Schritte, und dachte nicht an das offne Grab, bis sie sich am Rande desselben befand. Ein Mönch aus dem Kloster war den Abend zuvor hier begraben worden, und als sie in der Dämmrung in ihrem Zimmerchen einsam saß, hörte sie in der Ferne die Mönche das Requiem für seine Seele singen. Dies rief ihr die Umstände von ihres Vaters Tode frisch ins Gedächtniß zurück, und als die Stimmen, die sich mit dem tiefen klagenden Getöne der Orgel mischten, schwach empor stiegen, traten düstre Schattenbilder vor ihre Seele. Endlich besann sie sich, und eilte mit schnellen Schritten seitwärts, um die aufgerißne Erde zu vermeiden, nach St. Auberts Grabe, wo sie in dem Mondenlichte, das quer auf einen entlegnen Theil des Flügels fiel, einen Schatten zwischen den Pfeilern hingleiten zu sehn glaube. Sie stand still, um zu horchen, und da sie keinen Fußtritt hörte, glaubte sie, daß ihre Phantasie sie getäuscht hätte, und gieng weiter. St. Aubert war unter einem einfachen Marmor, der nicht viel mehr als seinen Nahmen und den Tag seiner Geburth und seines Todes enthielt, neben dem prächtigen Monumente der Villerois begraben. Emilie verweilte an seinem Grabe, bis eine Glocke, welche die Mönche zur Frühmesse weckte, sie erinnerte, daß es Zeit sey sich zurückzuziehn.
Sie weinte noch einmal ein letztes Lebewohl auf das Grab und zwang sich, von dannen zu gehn. Nach dieser Stunde schwermüthigen Genusses, erfrischte sie ein tieferer Schlaf, als sie seit langer Zeit genossen hatte, und sie fand sich beym Erwachen merklich ruhiger und getrösteter.
Seit dem Augenblick ihrer Abreise aus dem Kloster aber erwachte ihr Schmerz aufs neue. Das Andenken des Todten und die Freundschaft der Lebenden banden sie an diesen Ort, und sie fühlte für die heilige Stätte, die ihres Vaters Gebeine einschloß, ganz die zärtliche Anhänglichkeit, die uns an eine geliebte Heimath fesselt. Die Aebtissin wiederholte beym Abschied viele gütige Versichrungen der Achtung und Liebe, und lud sie dringend ein, wieder zu kommen, wofern sie jemals ihre Lage an einem andern Orte unangenehm fände: viele unter den Nonnen ließen ebenfalls eine ungekünstelte Betrübniß über ihre Abreise blicken, und Emilie verließ das Kloster mit vielen Thränen, und von vielen aufrichtigen Wünschen für ihr Wohl begleitet.
Sie war verschiedne Meilen gereist, ehe die Gegenstände, vor welchen sie vorüberfuhr, sie nur einen Augenblick aus der tiefen Schwermuth, worin sie versenkt war, zu reissen vermochten; und als sie endlich ihre Aufmerksamkeit rege machten, war es nur, um sie zu erinnern, daß St. Aubert an ihrer Seite war, als sie diese Gegenstände zum erstenmal sah, und um ihr die Bemerkungen, die er dabey machte, wieder ins Gedächtniß zu rufen. So brachte sie, ohne daß ihr etwas merkwürdiges aufstieß, den Tag in matter Schwermuth hin; sie schlief die Nacht in einer Stadt an den Gränzen von Languedoc und kam den folgenden Morgen nach Gasconien.
Gegen Abend sah Emilie die Ebnen von La Vallée vor sich liegen; die wohl bekannten Gegenstände voriger Zeiten drängten sich ihrer Bemerkung auf und mit ihnen Erinnerungen, die alle ihre Zärtlichkeit und Schmerz neu aufregten. Oft, wenn sie durch ihre Thränen auf die wilde Größe der Pyrenäen hinsah, abwechselnd vom Licht und Schatten des Abends gedeckt, erinnerte sie sich, daß ihr Vater das letzte Mal die Freude theilte, welche dieser Anblick in ihr rege machte. Plötzlich fiel ihr eine Gegend ins Gesicht, auf welche er sie besonders aufmerksam gemacht hatte, und starre Verzweiflung drohte sich ihrer zu bemächtigen. »Dies«, rief sie aus, »dies sind dieselben Klippen, derselbe Fichtenwald, den er mit solchem Entzücken betrachtete, als wir das letzte Mal diesen Weg zusammen machten. Dort, unter der Spitze jenes Bergs zwischen den Cederbäumen hervor, blickt die Hütte, die er mich ins Gedächtnis fassen und mit meiner Bleyfeder abzeichnen hieß. O mein Vater, soll ich dich nicht mehr sehn!«
So wie sie dem Schlosse näher kam, häuften sich diese traurigen Angedenken vergangner Zeiten. Endlich erschien das Schloß selbst, umgeben von aller glühenden Schönheit der Landschaft, die St. Aubert so sehr liebte. Dies war ein Anblick, der ihre Stärke und nicht Thränen forderte. Emilie trocknete die ihrigen, und machte sich gefaßt, die schwere Stunde ihrer Rückkehr nach der Heimath zu übersehn, wo kein liebender Vater mehr sie bewillkommen sollte. Möchte ich doch nie, sagte sie, die Lehren, die er mich gelehrt hat, vergessen! wie oft hat er mir die Nothwendigkeit gezeigt, selbst einem tugendhaften Schmerze zu widerstehn! wie oft haben wir zusammen die Größe einer Seele bewundert, die fähig ist zu fühlen, sich aber auch durch Gründe beruhigen kann. O mein Vater, wenn es dir erlaubt ist, auf dein Kind herabzublicken, so wird es dich freuen, zu sehn, daß es sich deiner Vorschriften erinnert, und sie auszuüben bemüht ist.
Eine Biegung des Wegs ließ jezt einen nähern Blick auf das Schloß zu, dessen Schornsteine, vom Lichte gefärbt, hinter St. Auberts Lieblingseichen, deren Zweige den niedrigern Theil des Gebäudes zum Theil verheelten, hervorschimmerten. Emilie konnte einen schweren Seufzer nicht unterdrücken. »Auch dies war seine Lieblingsstunde«, sagte sie, indem sie auf die langen Abendschatten hinsah, die sich quer über die Landschaft ausbreiteten. »Wie tief ist diese Ruhe, wie lieblich die Gegend! Still und lieblich wie in vorigen Tagen!«
Aufs neue widerstand sie dem Druck des Kummers, bis die fröhliche Melodie des Tanzes in ihr Ohr drang, der sie so oft zugehört hatte, wenn sie mit St. Aubert am Ufer der Garonne gieng — alle Stärke verließ sie; und ihre Thränen flossen, bis der Wagen an dem kleinen Thore still hielt, das auf das Gebieth stieß, wovon sie jetzt die einzige Besitzerin war. Sie schlug die Augen auf, als der Wagen plötzlich still hielt, und sah ihres Vaters alte Haushälterin herbeykommen, um ihr das Thor zu öffnen. Auch Manchon kam gelaufen, und begrüßte sie bellend; er wedelte mit dem Schwanze, als seine junge Gebieterin ausstieg und sprang freudig um sie her.
»Liebstes Fräulein!« sagte Therese und schwieg, und sah Emilien, deren Thränen die Antwort erstickten, an, als wolle sie etwas trostähnliches ihr darbieten. Das Hündchen sprang und wedelte noch immer um sie herum und flog dann bellend an den Wagen. »Ach Fräulein, mein armer Herr!« sagte Therese, deren Gefühle mehr als ihre Delikatesse rege gemacht waren — »Manchon denkt, er säße noch im Wagen.« Emilie schluchzte laut; das Hündchen sprang in den offnen Wagen, sogleich aber wieder heraus und schnüffelte mit der Nase um die Pferde herum.
»Weinen Sie doch nicht so, Fräulein« — sagte Therese; »es bricht mir das Herz es anzusehn.« Der Hund kam nun zu Emilien, lief wieder zum Wagen, und dann wieder zu ihr, und winselte traurig. »Armer Schelm«, sagte Therese, »du hast deinen Herrn verlohren; wohl magst du winseln. Aber, kommen Sie, liebes Fräulein, geben Sie sich zufrieden. Was soll ich holen, um Sie zu erfrischen?«
Emilie gab der Alten die Hand, sie suchte ihren Schmerz zurückzuhalten, und fragte sie freundlich, wie es denn so lange gegangen wäre? Allein sie zögerte noch immer in dem Gange, der nach dem Schlosse führte: denn es war niemand darin, sie mit dem Kusse der Liebe zu begrüssen: ihr eignes Herz klopfte nicht mehr von ungeduldiger Freude, nach dem wohlbekannten Lächeln, und sie fürchtete, Gegenstände zu sehn, die ihr das volle Andenken ihres vorigen Glücks zurückriefen. Langsam gieng sie nach der Thüre, stand stille, gieng wieder und stand wiederum still. Wie still, wie verlassen, wie wüste schien ihr das Schloß. Sie zitterte, hereinzugehn, und tadelte doch sich selbst, dass sie verschob, was sie nicht vermeiden konnte; endlich gieng sie mit schnellem Schritte, als fürchtete sie, sich umzusehn, durch den Saal in das Zimmer, das sie das ihrige zu nennen gewohnt war. Die Dunkelheit des Abends machte die Stille und die Einsamkeit, die darin herrschte, noch feyerlicher. Die Stühle, die Tische, jedes Möbel, das ihr aus glücklichern Zeiten so bekannt war, sprach beredt zu ihrem Herzen. Sie setzte sich, ohne anfangs daran zu denken, in ein Fenster, das auf den Garten stieß, und wo St. Aubert oft mit ihr gesessen, und die Sonne beobachtet hatte, wenn sie sich von der reichen, herrlichen Aussicht jenseits der Wälder verlor.
Nachdem sie eine Zeitlang ihren Thränen freyen Lauf gelassen hatte, wurde sie ruhiger, und als Therese, die sich mit dem Auspacken der Sachen beschäftigte, wieder erschien, hatte sie sich so weit wieder erholt, daß sie im Stande war, mit ihr zu sprechen.
»Ich habe das grüne Bette für Sie zurechte gemacht«, sagte Therese, als sie den Kaffee auf den Tisch setzte: »ich glaubte, es würde Ihnen jetzt besser gefallen, als ihr eignes; allein nimmermehr hätte ich mir heute vor vier Wochen vorgestellt, daß Sie allein zurückkommen würden. Ach, was für ein Tag! Die Nachricht brach mir beynahe das Herz. Wer hätte auch denken sollen, als mein armer Herr von Hause weggieng, daß er nicht wieder zurückkommen würde?« — Emilie verbarg ihr Gesicht im Schnupftuch und winkte mit der Hand.
»Versuchen Sie doch den Kaffee«, sagte Therese. »Mein liebes junges Fräulein, trösten Sie sich; wir müssen alle sterben. Mein lieber Herr ist jezt ein Heiliger dort oben.« Emilie nahm das Schnupftuch vom Gesicht und schlug ihre Augen voll Thränen zum Himmel auf: bald aber trocknete sie sich ab und fragte mit ruhiger, aber bebender Stimme nach einigen Armen, die ihr Vater unterstützt hatte.
»Ach«, sagte Therese, indem sie den Kaffee einschenkte und ihn ihrer Herrschaft reichte, »das war ein Tag, als die traurige Nachricht ankam! alle, die noch gehn konnten, sind täglich hier gewesen, um nach Ihnen und dem Herrn zu fragen.« Sie fuhr dann fort zu erzählen, daß einige gestorben wären, die sie gesund verlassen hätte, und andre die krank waren, sich wieder erhohlt hätten. »Sehn Sie doch, Fräulein«, fuhr Therese fort, »da kommt die alte Marie den Garten herauf. Sie hat diese drey Tage her immer ausgesehn, als wollte sie verscheiden, und doch lebt sie noch. Sie wird den Wagen vor der Thüre gesehen haben, und weiß also, daß Sie nach Hause gekommen sind.«
Der Anblick dieser armen alten Frau würde zu viel für Emilien gewesen seyn, und sie bath Theresen, ihr zu sagen, daß sie sich zu übel befände, um heute Abend jemand zu sehn. »Morgen ist mir vielleicht besser«, sagte sie, »aber gieb ihr doch dies zum Zeichen meines Andenkens.«
Emilie saß eine Weile ganz in Kummer vertieft, da. An jedem Gegenstande, auf den ihr Auge fiel, hieng eine Erinnrung, die sie unmittelbar auf den Gegenstand ihres Schmerzes leitete. Ihre Lieblingspflanzen, welche St. Aubert sie zu warten gelehrt hatte, die kleinen Zeichnungen, die das Zimmer schmückten, und wobey sein Geschmack ihr zur Richtschnur diente; die Bücher, die er zu ihrem Gebrauch ausersehn hatte, und die sie zusammen zu lesen pflegten; ihre musikalischen Instrumente, die er so gern spielen hörte, und oft selbst berührte, jeder Gegenstand gab ihrem Kummer neue Stärke. Endlich raffte sie sich aus dieser weichlichen Schwermuth auf, rief alle Entschlossenheit zu Hülfe, und gieng in die verlaßnen Zimmer, die nur einen stärkern Eindruck auf sie machen mußten, je länger sie zögerte, sie zu betreten.
Nachdem sie durch das Gewächshauß bis an die Thüre der Bibliothek gekommen war, verließ ihr Muth sie einen Augenblick: und vielleicht erhöhte der Schatten, den der Abend und das Laub der Bäume ins Zimmer warf, die feyerliche Stimmung ihrer Gefühle, als sie in das Zimmer trat und jeder Gegenstand das Andenken ihres Vaters hervorrief. Dort stand ein Lehnstuhl, in welchem er zu sitzen pflegte — sie fuhr zusammen als sie ihn erblickte, denn sie hatte so offt ihren Vater darin sitzen sehn, und der Gedanke an ihn stieg so deutlich in ihr auf, daß sie beynahe glaubte, ihn vor sich zu haben. Sie unterdrückte die Täuschungen einer aufgeregten Einbildungskraft, ohne jedoch über eine gewisse bange Furcht, die sich in ihre Bewegungen mischte, Herr werden zu können. Sie gieng langsam nach dem Stuhle und setzte sich darauf hin; vor demselben stand ein Pult mit einem aufgeschlagenen Buche, so wie ihr Vater es zurückgelassen hatte. Es vergiengen einige Augenblicke, ehe sie Muth faßte, es zu untersuchen; als sie aber die aufgeschlagne Seite ansah, erinnerte sie sich sogleich, daß St. Aubert, am Abend vor seiner Abreise aus dem Schlosse, ihr einige Stellen daraus vorgelesen hatte. Dieser Umstand rührte sie jetzt tief. Sie sah auf das Blatt, weinte und sah wieder hin. Das Buch schien ihr heilig und unschätzbar, und nicht um Indiens Schätze würde sie es aus der Stelle gerückt, oder die aufgeschlagne Seite zugemacht haben. Sie blieb unbeweglich vor dem Pulte sitzen und konnte sich nicht entschließen es zu verlassen, ohngeachtet die zunehmende Dunkelheit und die tiefe Stille des Zimmers ein schauderliches Gefühl in ihr erweckten. Ihre Gedanken verweilten bey dem wahrscheinlichen Zustande abgeschiedner Geister, und sie erinnerte sich an das rührende Gespräch, daß St. Aubert den Abend vor seinem Tode mit La Voisin über diesen Gegenstand geführt hatte.
Indem sie so da saß, sah sie dieThüre langsam aufgehn und ein leises Rauschen in einer Ecke des Zimmers schreckte sie auf. Sie glaubte durch die Dämmrung sich etwas bewegen zu sehn. Die Materie, über welche sie eben nachgedacht hatte, und die jetzige Stimmung ihrer Seele, die ihre Einbildungskraft jedem Eindruck der Sinne öffnete, erregte eine plötzliche Furcht vor etwas Uebernatürlichen in ihr. Aber was sollte ich fürchten? sagte sie. Wenn die Geister derjenigen, die wir lieben, jemals zu uns zurückkehren können, so geschieht es gewiß in Frieden.
Alles war wieder stille, und sie schämte sich beynahe ihrer Aengstlichkeit; sie glaubte nun, daß entweder ihre Einbildungskraft sie getäuscht oder daß sie eins von den Geräuschen gehört hätte, die man oft, ohne sich die Ursache erklären zu können, in alten Häusern spürt. —
Allein bald kam es wieder, sie sah etwas auf sich zukommen und sich gleich darauf in den Stuhl neben sie drängen; sie schrie laut auf, allein ihre fliehenden Sinnen kehrten sogleich zurück, als sie gewahr wurde, dass Manchon neben ihr saß, und ihre Hand freundlich leckte.
Da sie sich durchaus unfähig fühlte, die verlaßnen Zimmer des Schlosses, wie sie sich anfangs vorgesetzt hatte, an diesem Abend zu besuchen, gieng sie aus der Bibliothek in den Garten, und die Terrasse am Flusse hinab. Die Sonne war jetzt untergegangen, allein unter den dunkeln Zweigen der Mandelbäume sah man den Saffranglanz des Westen sich sanft über die Hügel ausbreiten. Die Fledermaus flog stumm vorüber, und nur dann und wann hörte man den klagenden Ton der Nachtigall.
Sie wandelte fort, bis sie an St. Auberts Ahornbaum kam, unter dessen Schatten sie so oft um diese Stunde gesessen, und mit ihrer theuren Mutter über den Zustand nach diesem Leben gesprochen hatte. Wie oft hatte ihr Vater gesagt, dass ihm der Gedanke, sie in einer andern Welt wieder zu treffen, ein süßer Trost sey. Emilie verließ, von diesen Erinnerungen überwältigt, den Ahornbaum, und als sie sich nachdenkend an die Mauer der Terrasse lehnte, sah sie eine Gruppe von Bauern frölich an den Ufern der Garonne tanzen, die sich in breiter Fläche unten ausbreitete, und das Abendlicht zurückwarf. Welch ein Abstand zwischen ihnen und der unglücklichen, verlaßnen Emilie! Sie waren froh und leichten Muths, wie sie zu seyn pflegten, als sie — auch froh war, und St. Aubert mit einem von Vergnügen und Wohlwollen strahlendem Gesicht ihrer fröhlichen Musik zuhörte. Emilie wandte sich hinweg, unvermögend, die Erinnrungen, die durch diesen Anblick in ihr aufgeregt wurden, zu ertragen: aber ach, wohin konnte sie sich wenden, ohne auf Gegenstände zu stoßen, die ihrem Schmerze neue Schärfe gaben?
Therese kam ihr entgegen, als sie langsam auf das Haus zugieng. »Ach liebes Fräulein«, sagte sie, »ich habe Sie wohl eine halbe Stunde gesucht, und war bange; daß Ihnen etwas zugestoßen seyn möchte. Wie mögen Sie doch nur in dieser feuchten Nachtluft umhergehn! Kommen Sie doch herein! Was würde mein armer Herr sagen, wenn er Sie sehn könnte!«
»Ich bitte dich, sey still, liebe Therese«, sagte Emilie, und gieng schweigend ins Schloß. Therese leuchtete ihr durch den Saal in das ehemalige Wohnzimmer, wo sie das Tischtuch mit einem einsamen Paar Messer und Gabel aufgelegt hatte. Emilie befand sich schon im Zimmer, ehe sie merkte, daß es nicht das ihrige war; doch unterdrückte sie die Bewegung, die sie geneigt machte, es zu verlassen, und setzte sich ruhig an den kleinen Eßtisch hin. Ihres Vaters Huth hieng an der Wand gegen über, und sie wurde blaß, als er ihr in die Augen fiel. Therese sah sie und dann den Gegenstand an, auf den ihre Augen geheftet waren, und gieng, ihn wegzunehmen, allein Emilie winkte mit der Hand. — »Nein«, sagte sie, »laß ihn hängen. Ich will in mein Zimmer gehn und versuchen, ob ich schlafen kann. Morgen wird mir besser seyn.«
»Das ist ein betrübter Zustand«, sagte Therese: »Liebes Fräulein, nehmen Sie doch etwas zu sich. Ich habe einen Fasan zurechte gemacht, und noch dazu einen recht schönen. Der alte Herr Barreaux schickte ihn diesen Morgen, denn ich sah ihn gestern und sagte ihm, daß Sie kämen. Sie können nicht glauben, wie sehr er sich die traurige Nachricht zu Herzen gezogen hat.«
»Hat er das würklich?« sagte Emilie mit sanfter Stimme: denn sie fühlte ihr armes Herz auf einen Augenblick durch einen Strahl von Sympathie erwärmt.
Endlich fühlte sie ihre Lebensgeister ganz erschöpft und zog sich in ihr Zimmer zurück.
Emilie erhielt einige Tage nach ihrer Zurückkunft einen Brief von ihrer Tante, Madame Cheron, worin diese nach einigen Alltagscondolenzen und Rathschlägen, sie nach Toulouse einlud, und hinzusetzte, daß, da ihr verstorbner Bruder ihr Emiliens Erziehung anvertraut hätte, sie sich verbunden glaubte, die Aufsicht über ihr Betragen zu führen. Emilie hatte gerade damals keinen höhern Wunsch, als zu La Vallée zu bleiben, dem Schauplatze ihrer frühen Glückseeligkeit, ihr jetzt unendlich theuer, weil es der letzte Aufenthalt derjenigen war, die sie auf immer verlohren hatte. Hier konnte sie unbemerkt weinen, ihren Tritten nachspüren, und sich jedes kleinen Umstandes von ihnen erinnern. Allein sie wünschte doch auf keine Weise sich den Unwillen der Madame Cheron zuzuziehn.
Obgleich ihre Zärtlichkeit ihr nicht zuließ, nur einen Augenblick darüber zu murren, daß St. Aubert Madame Cheron zu ihrer Vormünderin ernannt hatte, so fühlte sie doch, dass ihre Glückseeligkeit dadurch großentheils von der Laune ihrer Tante abhängig gemacht war. Sie bat in ihrer Antwort um Erlaubnis, noch einige Zeit zu La Vallée zu bleiben, weil ihre Lebensgeister so niedergeschlagen wären, daß sie Ruhe und Einsamkeit bedürfte, um sie wieder herzustellen. — Beydes konnte sie bey Madame Cheron nicht finden, die ein großes Vermögen in Stand setzte, ihrer Neigung zu einem sehr zerstreuten Leben nachzuhängen. Nachdem sie diese Antwort fortgeschickt hatte, fühlte sie sich um vieles leichter.
In den ersten Tagen ihres Kummers erhielt sie einen Besuch von Herrn Barreaux, der aufrichtig um St. Aubert trauerte. »Ich habe wohl Ursache, meinen Freund zu beklagen«, sagte er, »denn nie werde ich seines Gleichen wieder finden. Hätte ich einen solchen Mann in der sogenannten Gesellschaft gefunden, so würde ich sie nie verlassen haben.«
Herrn Barreaux Achtung für ihren Vater machte ihn Emilien sehr werth; es war ihrem Herzen Wonne, von ihren Verstorbenen mit einem Manne sprechen zu können, den sie so sehr verehrte, und der bey einer zwar rauhen Aussenseite so viel Herzensgüte und Delikatesse besaß.
Verschiedne Wochen verstrichen in ruhiger Einsamkeit, und Emiliens Schmerz begann sich in stille Melancholie zu sänftigen. Sie konnte es ertragen, die Bücher zu lesen, die sie ehemals mit ihrem Vater gelesen hatte, in der Bibliothek in seinem Lehnstuhl zu sitzen, die Blumen zu warten, die seine Hand gepflanzt hatten, die Töne aus dem Instrument hervorzulocken, das seine Finger berührt hatten und oft sogar seine Lieblingsarie zu spielen.
Als ihre Seele sich von dem ersten Stoße des Kummers wieder erholt hatte, fühlte sie, daß es gefährlich sey, sich einem stillen Hinbrüten hinzugeben, und daß Thätigkeit allein ihr die verlorne Schnellkraft wieder geben konnte: sie suchte daher geflissentlich alle ihre Stunden mit Beschäftigung auszufüllen. Jetzt erst fühlte sie den Werth der Erziehung, die St. Aubert ihr gegeben hatte. Indem er ihren Verstand anbaute, sicherte er ihr eine Zuflucht vor der Unthätigkeit, ohne daß sie dazu Zerstreuungen und kostbare, abwechselnde Vergnügungen der Gesellschaft, wovon ihre Lage sie ausschloß, bedurfte. Auch beschränkten sich die Würkungen dieser Erziehung nicht auf selbstische Vortheile allein; da St. Aubert jede liebenswürdige Eigenschaft ihres Herzens gewöhnt hatte, floß es jetzt in Wohlwollen gegen alles um sie her über, und lehrte sie, wenn sie das Unglück andrer nicht ganz aus dem Wege räumen konnte, es wenigstens durch zärtliches Mitleid zu mildern. —
Madame Cheron ließ Emiliens Briefe unbeantwortet; sie schmeichelte sich nun mit der Hoffnung, dass man ihr erlauben würde noch einige Zeit in ihrer Einsamkeit zu bleiben, und ihre Seele hatte nun so viel Stärke wieder erhalten, daß sie es wagte, die Scenen zu besuchen, welche das Andenken vergangner Zeiten am mächtigsten in ihr aufriefen. Unter diese gehörte die Fischerhütte, um die zärtliche Schwermuth dieses Orts zu erhöhn, und die Töne noch einmal hervorzurufen, denen ihre Mutter und St. Aubert so gerne zuhorchten, nahm sie ihre Laute mit dahin. Sie gieng allein und um die stille Abendstunde, die der Phantasie und dem Schmerze so süß ist. Sie war zum letztenmal in Gesellschaft ihrer Eltern, wenige Tage zuvor, ehe ihre Mutter sich aufs Krankenbette legte, hier gewesen; und als sie jezt die Wälder, die das Gebäude umringten, betrat, erwachte das Andenken voriger Zeiten mit solcher Stärke in ihr, daß ihre Entschlossenheit auf einen Augenblick dem Uebermaaße des Schmerzes wich. Sie stand still, lehnte sich, um nicht zur Erde zu sinken, an einen Baum und weinte einige Minuten, ehe sie sich genug erholen konnte, um weiter zu gehn. Der kleine Fußpfad, der nach dem Gebäude führte, war mit Gras überwachsen, und die Blumen, welche St. Aubert nachlässig am Rande ausgestreut hatte, waren von Unkraut beynahe erstickt. Sie stand oft still, um den öden, jezt so einsamen, verlaßnen Ort zu betrachten, und als sie mit zitternder Hand die Thüre der Fischerhütte öffnete, sagte sie: ach alles, alles ist noch eben so, wie ich es zuletzt verließ, und mit denen verließ, die nie wiederkehren sollen! Sie gieng an ein Fenster, das auf den Fluß stieß, und die Augen starr darauf geheftet, verlor sie sich bald in schwermüthigen Träumen. Die Laute lag vergessen neben ihr; das klagende Seufzen des Lüftchens, wenn es in den hohen Fichten wehte, und sein leises Flüstern zwischen den Obstbäumen, die das Ufer unten überhiengen, war eine Musik, die mehr in Einklang mit ihren Gefühlen stand. Sie bebte nicht auf den Seiten der unglücklichen Erinnrung, sondern war dem Herzen süß, wie die Stimme des Mitleids. Sie blieb sinnend stehn, ohne die Dunkelheit des Abends zu fühlen, ohne gewahr zu werden, daß der Sonne letztes Licht auf den Höhen oben zitterte, und würde wahrscheinlich noch länger so geblieben seyn, hätte nicht ein schneller Fußtritt von aussen sie aufmerksam gemacht und erinnert, daß sie ganz unbeschützt sey. Gleich darauf öffnete sich die Thüre und es trat ein Fremder herein, der bey Emiliens Anblick still stand und eine Entschuldigung stammelte. Bey dem Ton seiner Stimme verlor sich Emiliens Furcht in mächtigern Regungen; diese Töne waren ihrem Ohre bekannt, und ob sie gleich in der Dämmrung die Züge des Sprechenden nicht unterscheiden konnte, erweckte doch seine Stimme eine zu starke Erinnrung in ihr, um sie zweifelhaft zu lassen.
Er wiederholte seine Entschuldigung und Emilie brachte eine Art von Antwort hervor, als der Fremde schnell näher drang und ausrief: »Gütiger Gott! ist es möglich — nein ich kann mich nicht irren — Fräulein Emilie selbst!«
»Sie ist es in der That«, sagte Emilie, die in ihrer ersten Vermuthung bestärkt wurde, denn sie sah nun deutlich Valancourts Gesicht, von mehr als gewöhnlichem Feuer beseelt. Tausend schmerzvolle Erinnrungen drängten sich an ihre Seele, und die Gewalt, womit sie sich zu bekämpfen suchte, diente nur, ihre Bewegung zu erhöhn. Valancourt, der sich indessen angelegentlich nach ihrem Befinden erkundigte, und die Hoffnung äusserte, daß die Reise für St. Aubert von guten Folgen gewesen wäre, errieth nun aus dem Thränenstrome, den sie nicht länger zu unterdrücken vermochte, die unglückliche Wahrheit. Er führte sie zu einem Stuhl und setzte sich neben sie; ihre Thränen flossen unaufhaltsam, und sie merkte nicht eher, dass er ihre Hand in der seinigen geschlossen hielt, bis sie sie von den Tropfen der Sympathie befeuchtet fühlte, welche Betrübnis um St. Aubert und zärtliches Mitleid mit ihr aus seinen Augen hervorlockte.
»Ich fühle«, sagte er endlich, »ich fühle, wie fruchtlos jeder Versuch, Sie zu trösten, seyn muß. Ich kann nur mit Ihnen klagen, denn ich kann über die Quelle Ihrer Thränen nicht ungewiß seyn. Wollte Gott, daß ich mich irrte!«
Emilie konnte nur durch Thränen antworten, bis sie endlich aufstand und ihn bat, den traurigen Ort mit ihr zu verlassen. Valancourt wagte nicht, sie zurückzuhalten, ohngeachtet er ihre Schwäche sah; er legte ihren Arm in den seinigen und führte sie aus der Fischerhütte: Sie giengen schweigend durch die Wälder. So sehr auch Valancourt die nähern Umstände von ihres Vaters Tode zu erfahren wünschte, wagte er es doch nicht, sie darum zu befragen, und sie selbst war zu betrübt, um sprechen zu können. Endlich schöpfte sie Muth genug, von ihrem Vater zu reden und mit wenig Worten die Geschichte seines Todes zu erzählen. Valancourt gerieth bey dieser Erzählung in die stärkste Bewegung, und als er hörte, daß St. Aubert unterwegs gestorben, und Emilie unter Fremden zurückgeblieben sey, drückte er ihre Hand zwischen den seinigen und rief, von einem unwillkührlichen Gefühl überrascht: »Gott ! — warum war ich nicht bey Ihnen!« Gleich darauf aber faßte er sich wieder, und sprach von ihrem Vater, bis er die gänzliche Erschöpfung ihrer Lebensgeister merkte, und unvermerkt das Gespräch auf sich selbst lenkte. Emilie erfuhr nun, daß er nach ihrer Trennung noch eine Zeitlang am Ufer des mittelländischen Meeres fortgewandelt, und dann durch Languedoc nach Gasconien, seinem Geburtsorte, wo er sich gewöhnlich aufhielt, zurückgekehrt war.
Nachdem er seine kleine Erzählung geendigt hatte, fiel er in ein Stillschweigen, welches Emilie sich nicht geneigt fühlte, zu unterbrechen, es dauerte fort, bis sie das Schloß erreichten, wo er still stand, als fühlte er, daß dies die Gränze seines Spatzierganges sey. Hier sagte er, daß er die Absicht hätte, den folgenden Tag nach Esturnere zurückzugehn, und bat sie um Erlaubniß, noch vorher am andern Morgen Abschied von ihr zu nehmen. Emilie glaubte, eine gewöhnliche Höflichkeit nicht wohl abschlagen zu können, ohne zu verrathen, daß sie sich etwas mehr darunter dächte, und antwortete ihm, daß er sie zu Hause finden würde.
Sie brachte einen traurigen Abend hin — der Rückblick auf alles, was sich, seit sie Valancourt nicht gesehn, mit ihr zugetragen hatte, stellte sich, verbunden mit der Todesscene ihres Vaters, ihrer Einbildungskraft so lebhaft dar, als sey es gestern geschehn. Vorzüglich erinnerte sie sich, wie ernst und dringend ihr Vater sie gebeten hatte, die bewußten Papiere zu vernichten — sie erwachte aus der Betäubung, worin der Schmerz sie erhalten hatte; erschrak bey dem Gedanken, ihm noch nicht gehorcht zu haben und beschloß, daß kein Tag mehr den Vorwurf dieser Vernachlässigung mit sich führen sollte.
Am folgenden Morgen befahl Emilie St. Auberts ehemaliges Schlafzimmer zu heitzen, und gieng gleich nach dem Frühstück dahin, um die Papiere zu verbrennen. Nachdem sie, um nicht gestört zu werden, die Thüre verriegelt hatte, öffnete sie das Kabinet, worin sie verborgen lagen. Sie fühlte einen fremden Schauer und stand einige Augenblicke zitternd da; eine bange Furcht hielt sie ab, das Brett wegzuschieben. In einem Winkel des Kabinets stand der Tisch, an welchem sie ihren Vater den Abend vor seiner Abreise sitzen und mit so vieler Bewegung, wahrscheinlich in diesen Papieren lesen sah.
Das einsame Leben, welches Emilie zeither geführt hatte, und die traurigen Gegenstände, wobey sie ihre Gedanken verweilen ließ, hatten ihre Phantasie oft mit den trüben Schatten erfüllt, wofür sonst nur schwache Seelen empfänglich sind. Es war traurig, daß ein so schöner Verstand nur einen Augenblick den Träumen des Aberglaubens oder vielmehr dem Blendwerk der Einbildungskraft Raum geben konnte, wodurch die Sinne in einen Zustand versetzt werden, den wir beynahe momentanen Wahnsinn nennen können. Mehr als einmal seit ihrer Rückkehr nach Hause hatte sie solche Anfälle gehabt; oft hatten in der Abenddämmrung bey ihren Wanderungen durch das einsame Gebäude Erscheinungen sie geschreckt, die sie in heitern Tagen nicht würde bemerkt haben. Dieser Nervenschwäche mag es zugeschrieben werden, daß sie, als ihre Augen zum zweytenmale auf den Lehnstuhl fielen, der in einer dunkeln Ecke des Kabinets stand, das Gesicht ihres verstorbenen Vaters daselbst zu sehn glaubte. Sie stand einen Augenblick, die Augen auf den Fußboden geheftet, da, und verließ voll Angst das Kabinet. Bald aber kehrte ihr Muth wieder zurück; sie machte sich selbst einen Vorwurf, daß sie sich durch eine solche Schwachheit in einer so wichtigen Handlung stören ließe, und öffnete aufs neue die Thüre. St. Aubert hatte ihr die Diele so deutlich bezeichnet, daß es nicht möglich war, sie zu verfehlen; sie erkannte auch den Strich, den er ihr beschrieben hatte, und als sie darauf drückte, glitt die Diele herunter, und ließ sie das Bündel Papiere, nebst einigen einzeln zerstreuten, und die Börse mit Golde sehn. Mit zitternder Hand nahm sie alles heraus, ließ die Diele wieder fallen, stand einen Augenblick still und wollte sich eben aufrichten, als ihre aufgeregte Phantasie sie dasselbe Gesicht im Stuhle sehen ließ. Dieses Bild — ein neuer Beweis, welche unglückliche Wirkung Einsamkeit und Schmerz nach und nach bey ihr hervorgebracht hatten, warf ihre Stärke nieder; sie eilte schnell in das Zimmer und sank beynahe ohne Bewußtseyn in einen Stuhl. Die rückkehrende Vernunft besiegte bald diese furchtbare, aber beklagenswerthe Verirrung der Einbildungskraft, und sie gieng wieder zu den Papieren, aber noch so sehr ausser sich, daß ihre Augen sich unwillkührlich auf die Züge einiger Blätter, die offen da lagen, heftete: sie war sich in diesem Augenblick nicht bewußt, daß sie ihres Vaters strenges Verboth verletzte, bis eine Stelle von schrecklichem Inhalt ihr Aufmerksamkeit und Gedächtnis zugleich wieder gab. Sie legte eilends die Papiere weg, allein die Worte, welche in gleichem Maaße Schrecken und Neugier bey ihr rege gemacht hatten, konnte sie nicht wieder aus ihren Gedanken verbannen. Der Eindruck, den sie auf sie gemacht hatten, war so groß, daß sie sich sogar nicht einmal entschließen konnte, diese Schriften zu verbrennen: je länger sie dabey verweilte, je mehr wurde ihre Einbildungskraft entflammt. Von der stärkesten Begierde getrieben, dies schreckliche Geheimnis weiter zu erforschen, fieng sie an, ihr Versprechen, die Papiere zu vernichten, zu bereuen. Einen Augenblick zweifelte sie sogar, ob es recht seyn könnte, hier zu gehorchen, da so wichtige Gründe dafür sprachen, weitere Aufklärung zu suchen. Doch dauerte diese Unschlüssigkeit nur einen Augenblick.
»Ich habe ein feyerliches Versprechen gegeben, ein feyerliches Gebot zu beobachten«, sagte sie zu sich selbst, »und es liegt mir ob, zu gehorchen, nicht aber zu vernünfteln. Ich will eilen, die Versuchung aus dem Wege zu räumen, die meinen Frieden zerstören und mein Leben durch das Bewußtseyn eines unauslöschlichen Fehlers verbittern würde, so lange ich noch Kraft habe, ihr zu widerstehn.«
Neu gestärkt durch das Gefühl ihrer Pflicht vollendete sie den Sieg der Rechtschaffenheit über die stärkste Versuchung, die sie noch je gekannt hatte, und überantwortete die Papiere den Flammen. Ihre Augen folgten der langsam verzehrenden Flamme; sie schauderte bey der Erinnrung an die eben gelesenen Worte, und bey der Ueberzeugung, daß die einzige Gelegenheit, sich jemals Licht darüber zu verschaffen, nunmehr auf immer dahin war.
Lange nachher erst fiel ihr die Geldbörse ein; und als sie im Begriff war, sie ungeöffnet in einen Schrank zu legen, merkte sie erst, daß etwas größeres als Münze darin war, und untersuchte es. »Seine Hand hat also hier geruht« — sagte sie, indem sie einige Goldstücke küßte, und mit ihren Thränen benetzte — »seine Hand, die nun Staub ist!« Unten im Beutel lag ein kleines Paket; nachdem sie es herausgenommen und ein Papier nach dem andern losgemacht hatte, fand sie ein elfenbeinernes Gehäuse mit dem Miniatürgemälde eines Frauenzimmers. Sie fuhr zusammen. — Dasselbe, rief sie, dasselbe, über welchem mein Vater weinte! So genau sie auch die Züge untersuchte, konnte sie sich auf niemand besinnen, dem es glich. Es war von seltner Schönheit, und Sanftmuth, von Gram beschattet, und von Ergebung gemildert, leuchtete daraus hervor.
St. Aubert hatte ihr keinen Auftrag wegen dieses Gemäldes gegeben, ja, er hatte seiner nicht einmal gedacht, und sie glaubte sich also berechtigt, es zu behalten. Mehr als einmal fiel ihr ein, mit welcher Wärme er von der Marquise von Villeroi gesprochen hatte, und sie war fast geneigt, es für ihr Bildniß zu halten: doch fand sie keinen Grund, warum er ein Gemälde von dieser Dame aufbewahrt und noch mehr, warum er es mit solcher Rührung an jenem Abend sollte betrachtet haben.
Emilie staunte noch immer das Gesicht an; untersuchte die Züge, und wußte nicht, wo der Zauber saß, der ihre Aufmerksamkeit fesselte und ihr solche Empfindungen von Liebe und Mitleid einflößte. Dunkelbraunes Haar spielte nachlässig um die offne Stirne; die Nase war sanft gebogen, die Lippen sprachen ein Lächeln, allein es war ein schwermüthiges; die Augen waren blau und mit einem unaussprechlich milden Ausdruck gen Himmel gerichtet, während die sanft bewölkte Stirne die feine Fühlbarkeit des Characters verrieth.
Emilie wurde durch das Geräusch der Gartenthüre aus dem Nachdenken erweckt, worin die Betrachtung dieses Gemäldes sie versetzt hatte; sie sah ans Fenster und wurde Valancourt gewahr, der auf das Schloß zukam. Ihre Seele war durch die Ideen, welche sie beschäftigt hatten, so sehr in Aufruhr gebracht, daß sie sich ausser Stande fühlte, ihn zu sehn, und erst einige Minuten in ihrem Zimmer zubringen musste, um sich wieder zu fassen.
Als sie zu ihm herunter kam, fiel ihr die merkliche Veränderung in seinem Gesicht und Wesen auf, die sie den Abend zuvor bey der Dämmrung und bey der Beschäftigung mit ihrem eignen Schmerz nicht bemerkt hatte. Allein Niedergeschlagenheit und Ermattung verschwanden auf einen Augenblick in dem Lächeln, welches sein Gesicht verklärte, als er sie wahrnahm. »Sie sehn«, sagte er, »daß ich mich der Erlaubniß, Ihnen Lebewohl zu sagen, bediene, die Sie mir gestern mit so viel Güte ertheilten.«
Emilie lächelte schwach und fragte ihn, um etwas zu reden, ob er sich lange in Gasconien aufgehalten hätte? »Nur wenige Tage«, erwiederte Valancourt und erröthete sanft; »meine Wanderschaft schien mir sehr langweilig, nachdem ich das Unglück gehabt hatte, mich von den Freunden zu trennen, die mir meine Reise zwischen den Pyrenäen so süß gemacht hatten.«
Bey diesen Worten trat Emilien eine Thräne ins Auge; er bemerkte es, und um ihre Aufmerksamkeit von der Erinnrung abzuleiten, die sie hervorgelockt hatte, und seine Kopflosigkeit wieder gut zu machen, lenkte er das Gespräch auf andre Gegenstände — bewunderte die angenehme Lage des Schlosses und die schöne Aussicht. Emilie, der es sauer wurde, ein Gespräch zu führen, war froh, daß sich eine Gelegenheit fand, von gleichgültigen Dingen zu reden. Sie giengen die Terasse hinab, wo Valancourt über die Gegend am Flusse und die Aussicht auf die gegen über liegenden Ufer der Garonne in Entzücken gerieth.
Als er sich an die Mauer der Terasse lehnte und dem schnellen Strome der Garonne zusah, sagte er: »vor einigen Wochen war ich auch an der Quelle dieses edeln Flusses. Ich war damals noch nicht so glücklich Sie zu kennen, sonst würde ich mir Ihre Gegenwart gewünscht haben: denn die Scene schien ganz für Ihren Geschmack geschaffen. Der Fluß entspringt in der wildesten und erhabensten Gegend der Pyrenäen, die ich noch je gesehn habe.«
Er beschrieb darauf diesen Wasserfall zwischen den Gebürgen, wo er anschwellend von den Gewässern, welche die Schneeberge herabrinnen, in das Thal Arran stürzte, zwischen dessen romantischen Anhöhen er hinschäumt und seinen Lauf nach Nordwesten verfolgt, bis er in den Plainen von Languedoc hervorgeht.
Dann spült er die Mauern von Toulouse und gewinnt, nach Nordwesten sich hinwindend, ein milderes Ansehen, indem er in seinem Laufe nach dem biscayischen Meerbusen die grünen Fluren von Gasconien und Guyenne befruchtet.
Emilie und Valancourt sprachen von den Scenen durch welche sie zwischen den Pyrenäischen Alpen gekommen waren. Eine sanfte Zärtlichkeit bebte in seiner Stimme; oft sprach er mit allem Feuer des Genies, dann wieder schien er sich kaum bewußt, was er sagte, ohngeachtet er fortfuhr zu sprechen. Dieses Gespräch rief Emilien den Gedanken an ihren Vater lebhaft zurück, dessen Bild sie in jeder Landschaft sah, welche Valancourt beschrieb, dessen Bemerkungen in ihrem Gedächtnis wohnten, dessen Feuer noch immer in ihrem Herzen glühte. Ihr Schweigen erinnerte endlich Valancourt, wie nahe sein Gespräch den Anlaß ihres Schmerzes berührte, und er vertauschte es mit einem andern, das aber nicht viel weniger rührend für sie war. Wenn er die Größe des Ahornbaumes bewunderte, der seine breiten Zweige über die Terasse ausbreitete, und sie jetzt mit seinem Schatten deckte, so erinnerte sie sich, wie oft sie hier mit St. Aubert saß, und auch ihn diesen schönen Baum bewundern hörte.
»Dies war ein Lieblingsbaum meines Vaters«, sagte sie; »er pflegte hier in den schönen Sommerabenden mit seiner Familie zu sitzen.«
Valancourt verstand ihre Gefühle und schwieg. Hätte sie ihre Augen von der Erde aufgehoben, so würde sie Thränen in den seinigen gesehn haben. Er stand auf und lehnte sich an die Mauer, von wo er nach wenig Augenblicken in sichtlicher Bewegung wieder auf seinen Platz zurückkehrte. Emilie selbst fand ihre Kräfte so sehr erschöpft, daß sie vergebens versuchte, das Gespräch wieder anzuknüpfen. Valancourt setzte sich wieder zu ihr, allein er war still und zitterte. Endlich sagte er mit stammelnder Stimme: »ich bin im Begriff diese schöne Gegend — und Sie — vielleicht auf immer zu verlassen! Diese Augenblicke werden nie wiederkehren; ich kann sie nicht ungenuzt lassen, so sehr ich auch zittre zu reden. Ich fürchte, Ihr zartes Gefühl zu beleidigen, wenn ich es wage Ihnen die Bewundrung zu erklären, die ich ewig fühlen muß — o daß es mir dereinst vergönnt seyn möchte, es Liebe zu nennen!«
Emilie war zu bewegt, um antworten zu können und Valancourt, der jetzt zu ihr aufzublicken wagte, sah ihr Gesicht sich verändern und glaubte sie einer Ohnmacht so nahe, dass er einen unwillkührlichen Versuch machte, sie zu unterstützen, welches Emilien zum Gefühl ihrer Lage und zur Anstrengung ihrer Kräfte wieder erweckte. Valancourt that nicht, als wenn er ihre Schwäche bemerkte, allein der Ton seiner Stimme verrieth die zärtlichste Liebe. »Ich will mich nicht erkühnen«, sagte er, »dies Gespräch jetzt weiter fortzusetzen, allein vielleicht erlauben Sie mir doch zu sagen, daß diese Augenblicke des Scheidens vieles von ihrer Bitterkeit verlieren würden, wenn ich mir mit der Hoffnung schmeicheln dürfte, daß diese Erklärung mich nicht für immer aus ihrer Gegenwart verbannt hat.« —
Emilie machte einen neuen Versuch, die Verwirrung ihrer Sinne zu überwinden. Sie fürchtete, der entschiedne Vorzug, den ihr Herz Valancourt gab, möchte sie verleiten, ihm Hoffnungen zu geben, für die ihre Bekanntschaft noch zu jung war. Denn, so liebenswürdige Eigenschaften sie auch in dieser kurzen Zeit bey ihm bemerkt, und so sehr auch die Meinung ihres Vaters diese bey ihr geheiligt hatte, glaubte sie doch im Ganzen noch nicht genug von seinem Werthe überzeugt zu seyn, um sich über einen Punkt zu entschließen, der so unendlich wichtig für das Glück ihres ganzen Lebens war. Doch war der Gedanke, Valancourt ganz zu entfernen, ihr so sehr schmerzhaft, daß sie es kaum ertragen konnte, dabey zu verweilen; und dies Bewußtseyn ihrer Partheilichkeit machte sie noch unschlüssiger und furchtsamer, eine Bewerbung anzunehmen, für die ihr eignes Herz zu lebhaft sprach. Ihr Vater hatte Valancourts Familie, wenn auch nicht seine Umstände gekannt und ohne Tadel gefunden. Von den letztern hatte Valancourt selbst, so weit es die Delikatesse zuließ, ihr einen Wink gegeben, indem er sagte, daß er ihr wenig mehr anzubieten hätte, als ein Herz, das sie anbethete. Er hatte nur um entfernte Hoffnung gefleht, und sie konnte sich nicht entschließen, sie ihm zu verbieten, ohngeachtet sie sich eben so wenig ihn aufzumuntern getraute. Endlich faßte sie Muth zu sagen, daß sie sich durch die gute Meinung eines Mannes, den ihr Vater geschätzt hätte, sehr geehrt finden müsse.
»So hielt er mich würklich seiner Achtung werth?« sagte Valancourt mit einer von gewaltsamer Bewegung bebenden Stimme. »Aber«, fuhr er fort, »verzeihn Sie die Frage; ich weiß kaum was ich rede. Wenn ich hoffen dürfte, daß Sie mich dieser guten Meinung nicht unwerth hielten, wenn Sie mir nur erlauben wollten, Sie zuweilen zu sehn, so würde ich Sie mit etwas verminderter Unruhe verlassen.«
Emilie sagte nach einem kleinen Stillschweigen: »ich will aufrichtig gegen Sie seyn: denn ich weiß, dass Sie meine Lage fühlen und ihr etwas zu Gute halten werden. Sehn Sie diese Offenherzigkeit als einen Beweiß meiner Achtung an. Ob ich gleich hier in dem Hause lebe, das ehemals ach! meines Vaters war, lebe ich doch allein. Ich habe keinen Vater mehr — dessen Gegenwart Ihre Besuche gut heissen könnte; und Sie fühlen gewiß selbst, ohne dass ich weiter etwas sage, wie wenig schicklich es für mich seyn würde, sie jetzt anzunehmen.«
»Ich darf es nicht läugnen«, erwiederte Valancourt — »aber«, setzte er traurig hinzu, »was soll mich für meine Aufrichtigkeit trösten? Ich quäle Sie, und würde gern das Gespräch abbrechen, wenn ich nur die Hoffnung mit mir nehmen dürfte, daß es mir einst erlaubt seyn wird, es zu erneuern, mich Ihrer Familie bekannt zu machen.«
Emilie war aufs neue verlegen, und aufs neue unschlüssig, was sie antworten sollte. Sie fühlte tief das Schwierige, das Traurige ihrer Lage, die keinen Verwandten, keinen Freund ließ, der sie in dieser bedenklichen Lage mit Rath unterstützen könnte. Madame Cheron, die ihre einzige Verwandtin war, und billig diese Freundin hätte seyn sollen, war entweder so sehr mit ihrem eignen Vergnügen beschäftigt, oder so empfindlich über die Abneigung, die ihre Nichte gezeigt hatte, La Vallée zu verlassen, daß sie ihre Hand ganz von ihr abgezogen zu haben schien.
»Ach, ich sehe wohl«, sagte Valancourt nach einer langen Pause, während welcher Emilie einigemal zu sprechen angefangen und immer wieder abgebrochen hatte, »daß ich nichts zu hoffen habe. Meine Besorgniß war nur zu gegründet; Sie halten mich Ihrer Achtung unwerth. Diese unglückliche Reise! die ich als die seeligste Zeit meines Lebens betrachtete! diese entzückenden Tage sollten also mein ganzes übriges Leben verbittern! Wie oft habe ich zwischen Hoffnung und Furcht auf sie zurückgesehn, doch konnte ich bis diesen Augenblick es nie über mich erhalten, ihren süßen Eindruck zu bereuen.«
Seine Stimme stockte, und er verließ schnell seinen Platz um auf die Terasse zu gehn. Ein Ausdruck von Verzweiflung lag auf seinem Gesicht, der Emilien tief rührte. Das Vorwort ihres Herzens überwältigte einigermaßen ihre Furchtsamkeit, und als er sich wieder niedersetzte, sagte sie mit einer Stimme, welche die zärtlichen Regungen ihres Herzens verrieth. »Sie thun sich selbst und mir unrecht, wenn Sie mich unfähig glauben, Ihren Werth zu fühlen; ich will Ihnen gestehn, daß Sie längst meine Achtung besessen haben, und daß ich — «
Valancourt wartete ungeduldig auf den Schluß ihrer Rede, allein die Worte starben auf ihren Lippen — aus ihren Augen aber strahlten alle Regungen ihres Herzens wieder. Valancourt gieng in einem Augenblick von dem Unmuth der Verzweiflung zu allem Entzücken der Freude und Zärtlichkeit über. »O Emilie, meine Emilie!« rief er aus — »lehren Sie mich diesen Augenblick tragen — lassen Sie ihn mich als den heiligsten meines Lebens versiegeln!« —
Er drückte ihre Hand an seine Lippen — sie war kalt und zitternd — und als er zu ihr aufsah, fand er ihr Gesicht von einer Todenblässe überzogen. Thränen kamen ihr zu Hülfe, und Valancourt hieng voll ängstlicher Besorgniß über ihr. Nach wenig Augenblicken erholte sie sich wieder, und sagte mit einem matten Lächeln: »Können Sie mir diese Schwachheit verzeihen? Meine Lebensgeister haben sich noch immer nicht von dem letzten Stoße erholt.«
»Entschuldigen kann ich mich nicht«, sagte Valancourt, »allein ich will mich jetzt, da ich Sie mit der süßen Gewißheit, Ihre Achtung zu besitzen, verlassen darf, ein Gespräch zu erneuern enthalten, welches vielleicht beygetragen hat, Sie noch unruhiger zu machen.«
Dann aber, seinen Vorsatz vergessend, sprach er aufs neue von sich selbst. »Sie wissen nicht«, sagte er, »wie viele ängstliche Stunden ich in Ihrer Nähe zubrachte, wenn Sie vielleicht — wofern ein Gedanke von Ihnen mich aufzusuchen gewürdigt hat — mich weit entfernt glaubten. In den stillen Stunden der Nacht, wo kein Auge mich bemerken konnte, wandelte ich um Ihr Schloß. Es war mir süß, mich Ihnen so nahe zu wissen, und es lag ein eigner Zauber für mich in dem Gedanken, daß ich um Ihre Wohnung wachte: indeß sie schliefen. Diese Gegenden sind mir nicht ganz neu. Einmal wagte ich mich in die Verzäunung und brachte eine der glücklichsten und zugleich schwermüthigsten Stunden unter Ihrem Fenster zu.«
Emilie fragte ihn, seit wie lange er schon in dieser Gegend gewesen wäre? »Seit einigen Tagen«, antwortete er. »Es war meine Absicht, mich der Erlaubniß, die Herr von St. Aubert mir ertheilt hatte, zu bedienen, allein ich weiß nicht, wie es kam; so sehnlich ich es auch wünschte, verließ mich doch immer der Muth, wenn der Augenblick selbst erschien und ich verschob immer meinen Besuch von einer Zeit zur andern. Endlich quartierte ich mich in ein Dorf nicht weit von hier und streifte mit meinen Hunden in dieser reizenden Gegend umher, stets mit dem Wunsche, Sie unterwegens anzutreffen und doch nie kühn genug, Sie zu besuchen.«
Er sprach noch lange fort, ohne den Flug der Zeit zu bemerken, bis er sich endlich zu besinnen schien. »Ich muß gehen«, sagte er traurig, »allein ich gehe mit der Hoffnung, Sie wieder zu sehn — mich Ihrer Familie vorstellen zu dürfen — lassen Sie mich diese Hoffnung aus Ihrem Munde bestätigt hören!«
»Meine Familie wird sich freuen, einen Freund meines verstorbenen Vaters zu sehen«, sagte Emilie. — Valancourt zögerte noch immer, unvermögend, sich von ihr zu reissen. Emilie saß schweigend, den Blick zur Erde gesenkt, da, und Valancourt, der sie mit unverwandten Augen ansah, konnte den Gedanken nicht los werden, daß es ihm bald nicht mehr möglich seyn würde, auch nur in sein Gedächtniß den getreuen Abdruck dieses schönen Gesichts zurückzurufen. In diesem Augenblick hörte Emilie schnelle Fußtritte hinter dem Ahornbaum heran rauschen; sie sah sich um, und erblickte Madame Cheron. Eine plötzliche Röthe schlich sich auf ihre Wangen und sie zitterte krampfhaft. — Doch stand sie sogleich auf, um ihren Besuch zu bewillkommnen. »So Nichte«, sagte Madam Cheron, indem sie einen Blick voll Befremdung und forschender Neugier auf Valancourt warf — »So Nichte, wie geht es Ihnen? Allein ich darf wohl nicht fragen; denn ich lese in Ihrem Gesicht, dass Sie Ihren Verlust bereits wieder zu ersetzen gewußt haben.«
»So lügt mein Gesicht, Madame, mein Verlust kann nie wieder ersetzt werden!«
»Schon gut, schon gut; ich will nicht mit Ihnen streiten; ich sehe wohl, daß Sie ganz Ihres Vaters Character geerbt haben — allein wissen Sie, daß es weit besser für den armen Mann gewesen wäre, wenn er einen andern Character gehabt hätte.«
Ein Blick voll Würde und Unwillen, den Emilie auf Madame Cheron warf, würde jedes andre Herz gerührt haben. Sie gab ihrer Tante keine andre Antwort, sondern stellte ihr Valancourt vor; er konnte seinen Unmuth kaum unterdrücken, und Madame Cheron erwiederte seinen Gruß mit einer leichten Verbeugung und einem verächtlich forschenden Blick. Nach wenig Augenblicken empfahl er sich Emilien auf eine Art, die sowohl seinen Schmerz, selbst von ihr zu gehn, als sie in der Gesellschaft der Madame Cheron zurückzulassen ausdrückte.
»Wer ist der junge Mann«, sagte ihre Tante mit einem Tone, der zugleich Neugier und Tadel verrieth. »Vermuthlich ein unnützer Anbeter von Ihnen; ich hätte Ihnen doch in der That mehr Gefühl von Schicklichkeit zugetraut, als in Ihrer jetzigen unbefreundeten Lage die Besuche eines jungen Mannes anzunehmen. Ich muß Ihnen sagen, daß die Welt diese Dinge bemerken und gewiß sehr frey darüber reden wird.«
Ueber diese Unart höchst aufgebracht, versuchte Emilie sie zu unterbrechen; allein Madame Cheron wollte durchaus mit aller Selbstwichtigkeit einer Person, der die Ausübung der Gewalt etwas neues ist, fortfahren.
»Es ist durchaus nothwendig, daß Sie unter die Aufsicht einer Person kommen, die besser im Stande ist, Sie zu führen, als Sie selbst. Ich habe in der That zu einem solchen Geschäfte nicht viel Zeit; allein da es einmal die letzte Bitte Ihres armen Vaters gewesen ist, auf Ihre Aufführung zu achten, so muß ich Sie wohl unter meine Aufsicht nehmen. Allein das muß ich Ihnen sagen, Nichte, wenn Sie sich nicht ganz meinem Willen gemäs betragen, so werde ich mich nicht länger um Sie bekümmern.«
Emilie machte keinen Versuch, Madame Cheron zum zweitenmale zu unterbrechen; Schmerz und Selbstgefühl ihrer Unschuld erhielten sie still bis ihre Tante sagte: »ich bin jetzt gekommen, um Sie nach Toulouse abzuholen; es thut mir leid, daß Ihr armer Vater nach alledem, in so schlechten Umständen gestorben ist: doch will ich Sie mit mir nach Hause nehmen. Der arme Mann! er war immer mehr freygebig als klug; sonst würde er seine Tochter nicht so abhängig von seinen Verwandten zurückgelassen haben.«
»Auch ist dies, hoffe ich, nicht ganz der Fall«, sagte Emilie kalt, »und eben so wenig war die edle Grosmuth, wodurch er sich immer auszeichnete, an der Zerrüttung seiner Finanzen Schuld. Ich hoffe, daß die Angelegenheiten des Herrn von Motteville noch immer ohne zu großen Schaden für seine Gläubiger in Ordnung gebracht werden können, und während dieser Zeit werde ich recht gerne zu La Vallée bleiben.«
»Ich zweifle nicht daran«, versetzte Madame Cheron mit spöttischem Lächeln, »und gewiß werde ich es zugeben, da ich sehe, wie nothwendig Sie Ruhe und Einsamkeit zur Wiederherstellung Ihrer Gemüthsruhe bedürfen. Ich hätte Sie nicht so vieler Verstellung fähig gehalten, Nichte. Als Sie diese Entschuldigung vorschützten, war ich treuherzig genug, sie für wahr zu halten, und hätte mir nicht träumen lassen, einen so angenehmen Gesellschafter, als dieser Herr La Val — ich vergesse den Namen — bey Ihnen zu finden?«
Emilie konnte diese Unwürdigkeiten nicht länger ertragen. »Es war eine sehr gegründete Entschuldigung, Madame«, sagte sie, »und ich fühle jetzt in der That mehr als je, den Werth der Einsamkeit, nach der ich mich damals sehnte. Wenn die Absicht Ihres Besuchs wie es scheint, blos dahin gieng, das Leiden Ihrer armen, verwaisten Nichte durch Beleidigungen noch mehr zu schärfen, so erlauben Sie mir Ihnen zu sagen, dass Sie vielleicht besser gethan hätten, sich ihn zu ersparen.«
»Ich sehe, daß ich ein sehr lästiges Geschäfte übernommen habe«, sagte Madame Cheron, hoch erröthend. — »Ich bin überzeugt, Madame«, sagte Emilie sanft, indem sie ihre Thränen zurückzuhalten suchte, »daß mein Vater es nicht dafür hielt. Es ist mein Trost, zu denken, daß mein Betragen unter seinen Augen stets so war, als er es gut hieß und äusserst kränkend müßte es für mich seyn, der Schwester eines solchen Vaters nicht zu gehorchen — ja wenn Sie glauben, daß dies Geschäft Ihnen würklich so lästig seyn wird, so muß ich beklagen, daß es Ihnen anvertraut wurde.«
»Schon gut, Nichte. Schöne Worte machen es nicht aus. Indessen bin ich in Rücksicht meines armen Bruders bereit, das Unschickliche Ihres Betragens diesmal zu übersehn, und zu versuchen, wie Sie sich künftig aufführen werden.«
Emilie unterbrach sie mit der Bitte, ihr zu sagen, was sie unter dieser Unschicklichkeit verstände.
»Was ich darunter verstehe! Ist es nicht die höchste Unschicklichkeit, Besuche von einem Liebhaber anzunehmen, den Ihre Familie nicht kennt!« erwiederte Madame Cheron, ohne an die Unschicklichkeit zu denken, deren sie sich selbst schuldig machte, da sie ihre Nichte der Möglichkeit eines solchen Fehlers aussetzte.
Eine schwache Röthe überzog Emiliens Gesicht; Stolz und Betrübniß kämpften an ihrer Brust, und ehe sie sich besann, daß der Anschein ihrer Tante Argwohn einigermaßen rechtfertigte, konnte sie es nicht über sich erhalten, sich in die Vertheidigung eines Betragens einzulassen, das von ihrer Seite so unschuldig und absichtslos gewesen war. Sie erzählte nun, auf welche Art Valancourt mit ihrem Vater bekannt geworden wäre; den Umstand mit dem Flintenschuß und ihr Zusammenreisen nachher — so wie den bloßen Zufall, der ihn den Abend vorher zu ihr führte. Sie gestand, daß er seine Neigung für sie erklärt und um Erlaubniß gebeten hätte, sich an ihre Familie zu wenden.
»Und sagen Sie mir doch, wer ist denn eigentlich dieser junge irrende Ritter, und was hat er für Anspruch?« — »Er muß sich hierüber selbst erklären«, sagte Emilie; »mein Vater kannte seine Familie und ich glaube, daß sie ohne Tadel ist.« Sie fuhr nun fort, alles zu sagen, was sie von ihm wußte.
»So so, es ist also ein jüngerer Bruder, wie es scheint«, rief ihre Tante, »und folglich ein Bettler. In der That eine schöne Geschichte! So hat also mein Bruder nach einer Bekanntschaft von wenig Tagen ein so wunderbares Gefallen an diesem jungen Menschen gefunden? — allein das sieht ihm ähnlich. In seiner Jugend fand er immer ein solches Gefallen und Misfallen, wo kein andrer Mensch einen Grund dazu sah; ja ich muß würklich sagen, daß die Leute, die ihm nicht gefielen, mir oft gerade die angenehmsten waren: allein über den Geschmack läßt sich nicht streiten. Er ließ sich immer so sehr von den Gesichtern der Leute einnehmen. Ich für meinen Theil habe keinen Begriff davon, und halte dies alles für lächerliche Grillen. Was hat doch wohl das Gesicht eines Mannes mit seinem Character zu schaffen? Kann ein Mann von gutem Character etwas dafür, wenn er ein unangenehmes Gesicht hat?« Madame Cheron sprach diese lezte Sentenz mit der entscheidenden Miene einer Person aus, die sich selbst Glück wünscht, eine wichtige Entdeckung gemacht zu haben, und einen unwiderleglichen Machtspruch gethan zu haben glaubt.
Emilie, die dem Gespräch ein Ende zu machen wünschte, fragte ihre Tante, ob sie nicht einige Erfrischungen zu sich nehmen wollte, und Madame Cheron begleitete sie ins Schloß ohne aber von einem Gegenstande abzubrechen, den sie mit so viel Wohlgefälligkeit gegen sich selbst, und mit so viel Strenge gegen ihre Nichte verhandelte.
»Er thut mir leid zu sehn, Nichte«, sagte sie auf eine Aeusserung Emiliens über Physiognomik, »daß Sie viele von Ihres Vaters Vorurtheilen angenommen haben, worunter auch diese plötzlichen Neigungen für Leute um ihres Gesichts willen gehören. Ich merke wohl, daß Sie sich einbilden, nach einer Bekanntschaft von wenig Tagen heftig verliebt in diesen jungen Ritter zu seyn. Es war auch etwas so allerliebst romanhaftes in der Art Ihrer Zusammenkunft.«
Emilie preßte die Thränen zurück, die in ihren Augen zitterten. »Wenn mein Betragen würklich diese Strenge verdienen wird, Madame, so werden Sie wohl thun, sie mich empfinden zu lassen; bis dahin aber sollte doch wenigstens Gerechtigkeit, wenn nicht Zärtlichkeit, Sie zurückhalten. Ich habe Sie nie vorsätzlich beleidigt, und jetzt, da ich meine Eltern verlohren habe, sind Sie die einzige Person, von der ich Freundlichkeit und Güte erwarten kann. Lassen Sie mich nicht mehr als je den Verlust solcher Eltern beklagen.« Die letzten Worte wurden beynahe durch die Heftigkeit ihrer Bewegungen erstickt, und sie brach in Thränen aus. Die Erinnrung an die Delikatesse und Zärtlichkeit, welche St. Aubert ihr immer bewieß; an die glücklichen Tage, welche sie hier zubrachte, drängte sich ihr auf, und wenn sie das raue, fühllose Betragen der Madame Cheron, die Demüthigungen, welche in Zukunft in dieser Gesellschaft auf sie warten mußten, damit verglich, so bemächtigte sich ihrer ein Grad von Schmerz, der beynahe an Verzweiflung gränzte. Madame Cheron, die sich mehr durch den Vorwurf, der in Emiliens Worten lag beleidigt, als durch ihren Schmerz gerührt fühlte, sagte nichts um sie zu beruhigen; allein ohngeachtet sie sich stellte, als wäre es ihr nicht angenehm, ihre Nichte bey sich aufzunehmen, wünschte sie doch im Grunde nichts sehnlicher. Die Liebe zu herrschen war ihre Hauptleidenschaft, und sie wußte, wie sehr diese dadurch gekitzelt werden mußte, wenn sie eine junge Waise in ihr Haus nahm, die gegen ihre Machtsprüche nichts einwenden durfte, und an der sie ohne Zwang jede üble Laune des Augenblicks auslassen konnte.
Sobald sie das Schloß betraten, äusserte Madame Cheron den Wunsch, daß sie alles, was sie nach Toulouse mitzunehmen dächte, einpacken möchte, weil sie auf der Stelle abreisen wollte. Emilie suchte sie nun zu bereden, ihre Abreise wenigstens bis zum andern Tage zu verschieben, und es gelang ihr endlich mit vieler Mühe.
Der Tag verstrich in Ausübung kleiner Tyranneien von Madame Cherons, und in trauriger Rückerinnrung und schwermüthigem Vorgefühl von Emiliens Seite. Sobald ihre Tante sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen hatte, gieng sie, um noch einmal von allen andern Zimmern in dieser geliebten Heimath, die sie nun bald, auf wer weiß wie lange verlassen, und mit einer Welt, in der sie ganz fremd war, vertauschen sollte, Abschied zu nehmen. Sie konnte eine bange Ahndung, die sich ihr wiederholt aufdrängte, als würde sie La Vallée nie wieder sehn, nicht los werden. Nachdem sie lange Zeit in ihres Vaters Bibliothek verweilt, einige von seinen Lieblingsbüchern, um sie mit ihren Kleidern einzupacken, ausgesucht, und manche Thräne beym Abwischen des Staubes vergossen hatte, setzte sie sich in seinen Lehnstuhl vor den Schreibtisch, und blieb da, in traurigen Betrachtungen verlohren, bis Therese die Thüre aufmachte, um ihrer Gewohnheit nach, ehe sie zu Bette gieng, zu sehn, ob alles ruhig wäre. Sie fuhr zusammen, als sie ihre junge Herrschaft sah; Emilie aber ließ sie hereinkommen, und trug ihr auf, das Schloß zu ihrer Aufnahme stets bereit zu halten.
»Ach, warum müssen Sie es doch je verlassen! Nach meinem dummen Verstand zu urtheilen, würden Sie es hier besser haben, als wo Sie hingehn.« Emilie antwortete nichts auf diese Bemerkung: die Betrübniß, welche Therese über ihre Abreise äusserte, rührte sie; allein sie fand einigen Trost in der einfachen Anhänglichkeit dieser treuen Alten, und trug ihr auf, sich während ihrer Abwesenheit nichts zu versagen, was ihr zur Bequemlichkeit oder Erleichterung gereichen könnte.
Nachdem sie Theresen zu Bette geschickt hatte, durchwanderte Emilie noch jedes einsame Zimmer des Schlosses. Am längsten verweilte sie in ihres Vaters ehemaligem Schlafzimmer von schwermüthigen, wiewohl nicht unangenehmen, Empfindungen durchdrungen. Zu wiederholtenmalen kehrte sie an der Thüre wieder zurück, um noch einen Blick auf das Zimmer zu werfen, bis sie sich endlich in das ihrige begab. Sie sah aus ihrem Fenster in den Garten herunter, auf welchen der hinter den Spitzen der Palmbäume hervorgehende Mond ein schwaches Licht warf. Die ruhige Schönheit der Nacht erhöhte das Verlangen in ihr, sich noch einmal die wehmüthig süße Befriedigung zu verschaffen, den geliebten Schatten ihrer Kindheit Lebewohl zu sagen. Sie warf einen leichten Schleyer über, und gieng stillschweigend in den Garten hinab, wo sie, froh noch einmal die Luft der Freyheit zu athmen, und unbemerkt seufzen zu können, nach dem fernen Lustwäldchen eilte. Die tiefe Ruhe der Gegend, der süße Wohlgeruch, der auf dem Lüftchen schwebte, die Größe des weiten Horizonts und des klaren blauen Himmels sänftigte den Sturm ihrer Seele und erhub sie allmählig zu der erhabnen Beschauung, welche die Uebel dieser Welt unsern Augen so klein und unbedeutend macht, daß wir uns wundern, wie sie uns nur einen Augenblick beunruhigen konnten. Emilie vergaß Madame Cheron und alle ihre Mishandlungen, während ihre Gedanken zu der Betrachtung dieser zahllosen Welten aufstiegen, die in den Tiefen des Aethers zerstreut, zu tausenden vielleicht dem menschlichen Auge verborgen und beynahe über den Flug der menschlichen Phantasie hinaus liegen. So wie ihre Einbildungskraft durch die Regionen des Raums schwebte, und hinaufstrebte zu der ersten großen Urkraft, welche alle Wesen durchdringt und regiert, war die Idee ihres Vaters ihr unablässig gegenwärtig — allein es war eine süße Idee, denn in aller Zuversicht eines reinen heiligen Glaubens gab sie ihn Gott hin. Sie verfolgte ihren Weg durch das Wäldchen nach der Terasse — oft aber stand sie tiefsinnig still, wenn das Gedächtniß die Qualen der leidenden Liebe erweckte und sie im Geiste die Abgeschiedenheit sah, der sie entgegen zu gehn im Begriff stand.
Jetzt stand der Mond hoch über den Wäldern, färbte ihre Spitzen mit bleichem Lichte und schoß zwischen dem Laube lange Strahlen hin, während unten auf der rauschenden Garonne der zitternde Glanz vom zartesten Nebel schwach verhüllt ward. Emilie betrachtete lange den spielenden Schimmer, hörte dem sanftem Gemurmel des Stroms und dem noch leisern Wehen des Lüftchens zu, das von Zeit zu Zeit zwischen den hohen Palmbäumen säuselte. »Wie entzückend ist der süße Duft dieser Wälder«, rief sie, »wie lieblich die Gegend! Ach! wie oft werde ich mich ihrer erinnern und sie beseufzen, wenn ich weit entfernt bin! Was wird sich nicht vielleicht alles mit mir zutragen, bis ich sie wieder sehe! O friedliche, beglückende Schatten! Scenen meiner kindischen Freuden, der väterlichen Zärtlichkeit, die nun auf ewig dahin ist! warum muß ich euch verlassen! In eurer Einsamkeit würde ich noch immer Sicherheit und Ruhe finden. Süße Stunden meiner Kindheit — ich stehe jetzt im Begriff selbst von euren letzten Denkmälern zu scheiden. Keine Gegenstände, die euer Bild wieder auffrischen könnten, werden mir übrig bleiben!«
Sie trocknete ihre Thränen und blickte aufwärts; ihre Gedanken stiegen wiederum zu dem erhabnen Gegenstande, den sie zuvor betrachtet hatte, empor; göttliche Ruhe schlich sich wieder in ihr Herz, stillte sein Klopfen und begeisterte sie aufs neue mit Hoffnung, mit Zuversicht und Ergebung in den Willen der Gottheit, deren Werke ihre Seele mit Anbetung erfüllten.
Emilie sah lange den Ahornbaum an, und setzte sich dann zum letztenmal auf die Bank unter seinen Schatten, wo sie so oft mit ihren Eltern und noch vor wenig Stunden mit Valancourt gesessen hatte. Bey der Erinnrung an ihn stieg ein gemischtes Gefühl von Achtung, Zärtlichkeit und banger Furcht in ihrer Seele auf. Sie erinnerte sich an sein letztes Geständniß, daß er oft in der Nacht in der Nähe ihrer Wohnung umher gewandert und sogar sich in die Gränze des Gartens gewagt hatte, und plötzlich fiel ihr der Gedanke ein, daß er vielleicht gerade in diesem Augenblick hier umherirrte. Scheue Besorgnis, ihn zu treffen, und sich vielleicht dem gegründeten Tadel ihrer Tante auszusetzen, wenn sie erführe, daß sie in einer so nächtlichen Stunde ihren Liebhaber hier gesprochen hätte, trieb sie sogleich von ihrem geliebten Ahornbaume weg, nach dem Schlosse. Sie warf einen ängstlichen Blick umher, und stand oft einen Augenblick still um die schattigte Gegend zu untersuchen, ehe sie weiter zu gehen wagte — allein sie bemerkte kein lebendiges Wesen, bis sie bey einigen Mandelbäumen, die nicht weit vom Hause in dichten Haufen standen, verweilte, um noch einen Scheideblick auf den Garten zu werfen, und noch einmal ein Lebewohl zu seufzen. Als ihre Augen über die Landschaft hinirrten, glaubte sie jemand aus dem Wäldchen hervorkommen, und langsam eine vom Monde beleuchtete Allee hinauf gehn zu sehn — allein die Entfernung und das unvollkommne Licht ließ sie nicht mit Gewißheit unterscheiden, ob diese Erscheinung Phantasie oder Würklichkeit war. Sie blieb noch ein Weilchen stehen, bis sie in der Todenstille der Luft ein plötzliches Geräusch hörte, und gleich darauf Fußtritte nicht weit von sich zu unterscheiden glaubte. Sie hielt sich keinen Augenblick länger mit Vermuthungen auf, sondern eilte ins Schloß, wo sie aus ihrem Kammerfenster noch einmal in den Garten sah; als sie das Fenster zumachte, glaubte sie deutlich eine Gestalt zu sehn, die zwischen den Mandelbäumen hinschlich, die sie eben verlassen hatte. Sie zog sich sogleich vom Fenster zurück, und suchte, so aufgeregt auch ihre Lebensgeister waren, im Schlummer die Erquickung einer kurzen Vergessenheit.
Der Wagen, der Madame Cheron und Emilien nach Toulouse bringen sollte, erschien in aller Frühe vor der Thüre des Schlosses, und Emilie fand ihre Tante bereits im Frühstückszimmer. Sie war still und traurig, und Madame Cheron, deren Eitelkeit durch das niedergeschlagene Wesen ihrer Nichte beleidigt wurde, machte ihr mit einer Art, welche nicht dienen konnte, sie zu erheitern, Vorwürfe darüber. Mit vieler Schwierigkeit wurde Emiliens Bitte, den kleinen Hund, ihres Vaters ehemaligen Liebling, mitnehmen zu dürfen, zugestanden. Ihre Tante, voll Ungeduld fortzukommen, ließ den Wagen vorfahren, und Emilie konnte im Vorbeigehn nur noch einen letzten Scheideblick in die Bibliothek und auf den Garten werfen. Die alte Therese stand an der Thüre, um von ihrem jungen Fräulein Abschied zu nehmen. »Gott erhalte Sie«, rief sie ihr zu, während Emilie ihr die Hand drückte und nur mit einem erzwungenen Lächeln antworten konnte.
Vor dem Thore, das aufs Feld gieng, hatten sich verschiedne von ihres Vaters Armen versammlet, um ihr Lebewohl zu sagen. Sie würde gern noch mit ihnen gesprochen haben, wenn ihre Tante dem Kutscher erlaubt hätte, still zu halten; so aber begnügte sie sich, beynahe alles Geld, was sie bey sich hatte, unter sie auszutheilen, und sank dann, sich ganz ihrer stummen Schwermuth hingebend, in den Wagen zurück. Nicht lange darauf fiel ihr zwischen den steilen Ufern des Wegs, das Schloß noch einmal ins Gesicht, zwischen den hohen Bäumen hervorragend, von Rasenhügeln und dichtbelaubten Wäldchen umgeben; unter deren Schatten die Garonne sich hinwand, oft zwischen den Weinbergen verloren und dann wieder in größerer Pracht zwischen den fernen Wiesen hervorgehend. Die sich thürmenden Spitzen der Pyrenäen, die südwärts emporstiegen, erweckten in Emilien tausend interessante Erinnrungen von ihrer letzten Reise, allein die Gegenstände, welche vormals ihre enthusiastische Bewunderung erregten, brachten jetzt nur Traurigkeit und Wehmuth in ihr hervor. Sie staunte das Schloß und die liebliche Gegend an, bis die Ufer ihr aufs neue die Aussicht verschlossen, und ihre Seele wurde von traurigen Vorstellungen zu sehr eingenommen, als daß sie auf die Unterhaltung der Madame Cheron von unwichtigen Gegenständen hätte achten können, so daß sie bald in tiefem Stillschweigen dahin fuhren.
Valancourt war indessen, das Herz mit Emiliens Bilde erfüllt, nach Estuviere zurückgekehrt. Oft gab er sich Träumen künftiger Glückseeligkeit hin, öfter aber peinigte ihn die Besorgniß, bey Emiliens Familie Widerspruch zu finden. Er war der jüngere Sohn aus einer alten Familie in Gasconien; und da er früh seine Eltern verloren hatte, war die Sorge seiner Erziehung und die Verwaltung seines kleinen Erbtheils, seinem Bruder, dem Grafen Düvarney, der beynahe um zwanzig Jahre älter war, anheim gefallen. Valancourt war in allen Kenntnissen seines Zeitalters unterrichtet worden, und sein feuriger Geist, mit angeborner Seelengröße verbunden, zeichnete ihn vorzüglich in den körperlichen Uebungen, die man damals für ritterlich hielt, aus. Sein kleines Vermögen hatte durch die nothwendigen Ausgaben zu seiner Erziehung sehr gelitten, allein La Valancourt der ältere schien zu glauben, daß Genie und Talente den Mangel zeitlicher Güter bey ihm ersetzen würden. Sie schmeichelten sich mit der Hoffnung, ihn beym Militair, beynahe der einzige Stand, den damals ein Edelmann, ohne sich zu beschimpfen, wählen konnte, vortheilhaft unterzubringen und er wurde bey der Armee enrollirt. Allein sein Bruder verstand sich wenig auf seinen eigentlichen Character. Dies Feuer für alles was gut und groß in der moralischen Welt sowohl, als in der physischen ist, verrieth sich schon in seinen Kinderjahren, und der starke Unwillen, den er bey schlechten oder niedrigen Handlungen empfand und äusserte, zog ihm oft Vorwürfe seines Lehrers zu, der ihm diese wilden Ausbrüche eines heftigen Temperaments, wie er es hieß, verwies; der aber selbst, wenn er über die Tugenden der Sanftmuth und Mäßigung sprach, die Sanftmuth und das Mitleidsgefühl zu vergessen schien, die sein Mündel stets gegen Unglückliche zeigte.
Er hatte eben Urlaub von seinem Regiment erhalten, als er die Reise in die Pyrenäen machte, der er seine Bekanntschaft mit St. Aubert verdankte; und da dieser Urlaub beinahe verlaufen war, lag es ihm um so mehr am Herzen, sich Emiliens Familie zu erklären; er hatte alle Ursache Widerspruch zu befürchten; denn wenn auch sein Vermögen mit einem mäßigen Zuschuß von dem ihrigen hinreichte, sie zu unterhalten, so war es doch bei weitem nicht groß genug, um Pläne der Eitelkeit oder des Ehrgeizes auszuführen. Valancourt war vom lezten nicht ganz frey, allein er sah goldne Berge bei der Armee vor sich, und glaubte, daß er indessen mit Emilien sehr glücklich mit seinem kleinen Einkommen leben könnte. Er dachte jetzt einzig darauf, sich ihrer Familie bekannt zu machen, und hoffte von Emilien, deren schnelle Abreise von La Vallée er nicht wußte, eine Adresse zu diesem Zweck zu erhalten.
Indessen setzten die Reisenden ihre Reise fort; Emilie versuchte oft, frölich zu scheinen, und fiel nur zu oft in Schweigen und Niedergeschlagenheit zurück.
Madame Cheron, die ihre Schwermuth einzig auf Rechnung der Trennung von ihrem Liebhaber sezte, und die Betrübniß, welche Emilie noch immer über St. Auberts Verlust blicken ließ, mehr für Affektation als für wahres Gefühl hielt, suchte es lächerlich zu machen, daß man einen so tiefen Schmerz noch so lange nach der ihm gewöhnlich zugestandnen Zeit fühlen könnte.
Diese unangenehmen Vorlesungen wurden endlich durch die Ankunft der Reisenden zu Toulouse unterbrochen. Emilie, die seit vielen Jahren nicht dort gewesen war, und sich des Ortes nur dunckel erinnerte, erstaunte über die Pracht, welche in ihrer Tante Hause herrschte; und vielleicht um so mehr, da sie so ganz gegen die bescheidne Eleganz abstach, an die sie gewöhnt war. Sie folgte Madame Cheron durch einen großen Saal, wo verschiedne Bedienten in reichen Livreen prangten, in ein Prunkzimmer, das mit mehr Pracht als Geschmack ausstaffirt war. Ihre Tante, die sehr über Ermüdung klagte, befahl das Abendessen sogleich anzurichten. »Ich bin herzlich froh«, sagte sie und warf sich auf einen Sopha hin, »wieder in meinem eignen Hause zu seyn und meine eignen Leute um mich zu haben. Ich verabscheue das Reisen, ob ich es gleich eigentlich lieben sollte, denn was ich auswärts sehe, macht mir mein eignes Schloß nur doppelt angenehm. Warum sind Sie so still, Kind? Was fehlt Ihnen denn jetzt?«
Emilie unterdrückte eine Thräne, die ihr ins Auge stieg, und suchte den Ausdruck eines gepreßten Herzens hinweg zu lächeln: sie dachte an ihre Heimat, und fühlte den Hochmuth und die pralerische Eitelkeit der Madame Cheron zu sehr. Kann dies würklich meines Vaters Schwester seyn? sagte sie zu sich selbst, und die Ueberzeugung, daß sie es würklich war, erwärmte ihr Herz mit etwas freundlichern Gefühlen, — sie wünschte nun, den harten Eindruck, den ihrer Tante Charakter auf ihr Gemüth gemacht hatte zu mildern, und sich gefällig und bereitwillig gegen sie zu zeigen. Es mislang ihr nicht ganz, sie hörte mit anscheinendem Wohlgefallen zu, wie Madame Cheron sich über die Pracht ihres Hauses ausließ, von den vielen Gesellschaften, die sie hielte und von dem, was sie aus Emilien zu machen dächte, sprach. Emiliens Furchtsamkeit hatte das Ansehn einer Zurückhaltung, die ihre Tante für Stolz und Unwissenheit zugleich hielt, und ihr Vorwürfe darüber machte. Sie hatte keinen Begriff von den Gefühlen einer Seele, die ihren eignen Kräften zu trauen fürchtet, die nach ihrer eignen scharfen Urtheilungskraft auf eine noch schärfere bey andern schließt, und um sich nicht ihrem Tadel auszusetzen in der Verborgenheit des Stillschweigens Zuflucht sucht. Emilie war oft über das dreiste Betragen, das sie an andern hatte bewundern sehn und über das glänzende Nichts, dem sie Beyfall zollen hörte, erröthet; allein dieser Beyfall, weit entfernt, sie zur Nachahmung des Betragens, dem er ertheilt wurde, zu reizen, machte vielmehr, daß sie sich in die Zurückhaltung einhüllte, die sie vor solchen Thorheiten schützen konnte.
Madame Cheron betrachtete die Furchtsamkeit ihrer Nichte beynahe mit Verachtung und suchte mehr, sie durch Vorwürfe niederzudrücken, als ihr durch sanftes Entgegenkommen Muth zu machen.
Das Auftragen des Abendessens unterbrach einigermaßen das wohlgefällige Gespräch der Madame Cheron und die peinlichen Betrachtungen, welche sich Emilien dabey aufdrangen. Nachdem die Mahlzeit, die durch die Aufwartung einer großen Menge von Bedienten, und durch einen Ueberfluß von Gerichten, ein prunkhaftes Ansehn gewann, vorüber war; begab Madame Cheron sich in ihr Schlafzimmer und ein Mädchen erschien, um Emilien in das ihrige zu führen. Nachdem sie eine große Treppe hinaufgestiegen und verschiedene Gänge passirt waren, kamen sie an eine Hintertreppe, die nach einem entlegenen Theile des Schlosses führte, und hier öffnete der Bediente die Thüre eines kleinen Zimmers, das wie er sagte, für Fräulein Emilien bestimmt wäre, die nun endlich, da sie sich wieder allein sah, den Thränen, die sie so lange zu unterdrücken sich bemüht hatte, freyen Lauf ließ.
Wer aus Erfahrung weiß, wie sehr sich das Herz selbst an leblose Gegenstände hängen kann, an die es lange gewöhnt war; wie ungern es sie von sich läßt, wie es mit den Gefühlen eines alten Freundes sie nach kurzer Abwesenheit wieder findet, wird Emiliens Gefühle verstehn, als sie sich, aus der einzigen Heimath, die sie von Kindheit auf gekannt hatte, verbannt, und in eine Welt und unter Menschen geworfen fühlte, die ihr nicht nur der Neuheit wegen, sondern aus mehrern Gründen zuwider waren. Ihres Vaters Schooshündchen, der jezt bey ihr im Zimmer war, däuchte sie ein Freund zu seyn, und als das Thier um sie herum schwänzelte als sie weinte, und ihr die Hände leckte, sagte sie: armer Manchon, ich habe jetzt niemand mehr, der mich lieb hat, als dich. Ihre Thränen flossen reichlicher. Bald aber fielen ihres Vaters Ermahnungen ihr ein; sie erinnerte sich, wie oft er sie getadelt hatte, daß sie einem fruchtlosen Grame nachhienge, wie oft er sie auf die Nothwendigkeit der Stärke und Geduld aufmerksam gemacht, und ihr gesagt hatte, daß Uebung die Kräfte der Seele stärkt, bis sie endlich den Kummer entnerven und gänzlich besiegen. Diese Erinnerungen trockneten ihre Thränen, sänftigten allmählig ihre Lebensgeister und befeuerten sie mit einem süßen Eifer, Vorschriften auszuüben, die ihr Vater ihr so oft eingeprägt hatte.
Madame Cherons Haus lag nicht weit von der Stadt Toulouse entfernt, und war von großen Gärten umgeben, in welchen Emilie, die früh aufgestanden war, vor dem Frühstück spatzieren gieng. Von einer Terasse, die auf der höchsten Gegend des Gartens hinlief, hatte man eine weite Aussicht auf Languedoc. Im fernen Horizont nach Süden hin entdeckte sie die wilden Spitzen der Pyrenäen und ihre Phantasie mahlte ihr sogleich die grünen Fluren Gasconiens zu ihren Füßen. Ihr Herz bezeichnete ihr ihre friedliche Heimath — die Nachbarschaft, wo Valancourt war — wo St. Aubert gewesen war, und ihre Einbildungskraft, die den Schleier der Entfernung durchdrang, zauberte diese Heimath in all ihrer interessanten, romantischen Schönheit vor ihre Augen. Sie empfand ein unaussprechliches Vergnügen zu glauben, daß sie diese Gegend würklich sähe, wiewohl sie in der That, ausser der zurückweichenden Kette der Pyrenäen, keine Spur davon wahrnehmen konnte. Unachtsam auf die Scene, die unmittelbar vor ihr lag, und auf den Flug der Zeit blieb sie gelehnt an das Fenster eines Pavillons, der die Terasse schloß, stehen, die Augen starr auf Gasconien geheftet, und die Seele voll von den interessanten Vorstellungen, welche der Anblick in ihr erweckte, bis ein Bedienter kam, um sie zum Frühstück zu rufen. Sie sah sich nun plötzlich wieder aus den Träumen der Phantasie in die Würklichkeit der Gegenwart versetzt, und die schnurgeraden Gänge, die viereckigten Blumenbeete, und Springbrunnen des Gartens mussten nothwendig einen doppelt widrigen Eindruck auf sie machen, da sie den ungekünstelten Reizen und natürlichen Schönheiten der Gegend um La Vallée entgegen standen, womit ihre Erinnrung sich so innigst beschäftigt hatte.
»Wo sind Sie denn so frühe herumgelaufen?« sagte Madame Cheron, als ihre Nichte ins Zimmer trat. »Ich liebe diese einsamen Spatziergänge nicht.« Es befremdete Emilien sehr, daß die Gärten — denn sie sagte ihrer Tante, daß sie nicht weiter gewesen wäre — mit in dem Verboth begriffen schienen. »Ich wünschte, daß Sie nicht wieder so früh ohne Begleitung ausgehen möchten«, sagte Madame Cheron. »Meine Gärten sind sehr groß, und man darf einem jungen Mädgen, das zu La Vallée Bestellungen im Mondenschein machen konnte, auch an andern Orten nicht allzu viel trauen.«
Emilie, äusserst befremdet und beleidigt, vermochte kaum, sich eine Erklärung dieser Worte auszubitten, und als sie es endlich that, weigerte sich ihre Tante durchaus, sie zu geben, ob sie gleich durch strenge Blicke und halbabgebrochne Worte Emilien zu verstehn zu geben suchte, daß sie recht gut um gewisse, von ihr begangne Fehltritte wisse. Das Selbstbewußtseyn der Unschuld konnte nicht verhindern, daß eine Röthe sich auf Emiliens Wange schlich; sie zitterte und blickte verwirrt zu dem kühnen Auge der Madame Cheron auf, die ebenfalls erröthete: allein es war das Erröthen des Triumphs, das zuweilen das Gesicht einer Person befleckt, die sich zu dem Scharfsinn Glück wünscht, welcher sie einen andern beargwohnen lehrt, und die in der Befriedigung ihrer eignen Eitelkeit sowohl das Mitleid mit dem vermeinten Verbrecher, als den Unwillen über seine Schuld vergißt.
Emilie, die nicht zweifeln konnte, daß ihrer Tante Irrthum davon herrühre, daß sie an dem Abend vor ihrer Abreise von La Vallée ihren nächtlichen Spatziergang bemerkt hätte, erzählte mit aller Unbefangenheit der Unschuld die Veranlassung dazu. Madame Cheron lächelte verächtlich, weil es ihr entweder nicht beliebte, diese Erklärung für gültig auszunehmen, oder weil sie ihre Einwendungen dagegen nicht sagen mochte — und nicht lange darauf schloß sie das Kapitel mit den Worten: »ich baue niemals auf die Worte der Leute, sondern beurtheile sie nach ihren Handlungen, doch bin ich nicht abgeneigt zu versuchen, wie Ihre Aufführung in Zukunft seyn wird.«
Emilie, die weniger über ihrer Tante Mäßigung und geheimnißvolles Schweigen, als über die Anklage, die sie vernehmen mußte, erstaunte, dachte tief darüber nach, und zweifelte nunmehr kaum, daß die Person, welche sie des Nachts in den Gärten zu La Vallée gesehn hatte, Valancourt gewesen seyn müsse, und daß Madame Cheron ihn dort bemerkt hätte. Diese schien ein peinliches Gespräch nur zu verlassen, um zu einem andern überzugehn; sie kam auf die Angelegenheiten ihrer Nichte, und auf ihr Vermögen, das sich in des Herrn Motteville Händen befand. Indem sie so mit prahlerischem Mitleid von Emiliens Unglück sprach, ermangelte sie nicht, sich über die Pflichten der Demuth und Dankbarkeit auszubreiten, und es Emilien recht deutlich fühlbar zu machen, daß sie nicht blos von ihrer Tante, sondern auch von ihrer Tante Gesinde als eine Abhängige betrachtet wurde.
Sie hörte nun, daß eine große Gesellschaft zu Tisch erwartet würde; Madame Cheron wiederholte bey dieser Gelegenheit den Unterricht vom vorigen Abend wegen ihres Betragens in Gesellschaft, und Emilie wünschte, daß sie Muth genug haben möchte, ihn zu befolgen. Ihre Tante schritt darauf zu einer Musterung ihres einfachen Anzugs und setzte hinzu, daß sie erwartete, sie lebhaft und geschmackvoll gekleidet zu sehn.
Dann ließ sie sich herab, ihr die Herrlichkeiten ihres Schlosses zu zeigen; und sie auf die besondre Schönheit und Eleganz aufmerksam zu machen, welche ihrer Meinung nach, jede ihrer zahlreichen Reihen von Zimmern auszeichnete. Endlich zog sie sich zu ihrer Toilette, dem Throne ihrer Huldigung zurück, und Emilie gieng in ihr Zimmer, um ihre Bücher auszupacken, und zu versuchen, ob sie sich bis zur Stunde des Ankleidens durch Lesen erheitern könnte.
Mit einer Furchtsamkeit, die sie trotz alles Bemühens nicht überwinden konnte, und die durch das Bewußtseyn, von Madame Cheron scharf beobachtet zu werden, vermehrt wurde, trat Emilie in den Saal. Ihre Trauerkleidung, die sanfte Niedergeschlagenheit ihres Gesichts und die zurückhaltende Bescheidenheit ihres Betragens machten sie für viele in der Gesellschaft zu einem sehr interessanten Gegenstand. Sie erkannte unter ihnen den Signor Montoni und seinen Freund Cavigni — die sie das letztemal bey Quesnels gesehen hatte; sie schienen mit der Vertraulichkeit alter Bekannten mit Madame Cheron zu sprechen, die ihnen mit besonderm Wohlgefallen zuhörte.
Dieser Signor Montoni hatte in seinem Wesen eine gewisse Superiorität, etwas Beseeltes und Geistvolles, das jedem, der sich ihm nahte, eine gewisse Achtung abzuzwingen schien. Seine Züge verriethen unverkennbar einen schnellen Scharfblick, allein er hatte sie, so wie die Gelegenheit es forderte, unbedingt in seiner Gewalt, und man hätte an diesem Tage mehr als einmal den Triumph der Kunst über die Natur darauf entdecken können. Sein Gesicht war lang und etwas schmal, doch wurde er für schön gehalten und vielleicht verdankte er dies dem Geiste und der Seelenstärke, die aus seinen Zügen hervorleuchtete. Emilie fühlte Bewundrung, aber nicht die Bewundrung, die zur Achtung führt: die ihrige war mit einer gewissen Furcht vermischt, die sie sich selbst nicht zu erklären wußte.
Cavigni war munter und einschmeichelnd wie ehemals, und ohngeachtet er seine Aufmerksamkeit beynahe einzig der Madame Cheron widmete, fand er doch zuweilen Gelegenheit, mit Emilien zu sprechen. Anfangs ließ er nur seinen Witz bey ihr spielen, bald aber mischte er eine gewisse Zärtlichkeit ein, die sie bemerkte und davor erschrak. So wenig sie auch antwortete, machte doch ihr sanftes Wesen ihm Muth zu reden, und sie fühlte sich erleichtert, als ein junges Mädchen in der Gesellschaft, das unaufhörlich sprach, seine Aufmerksamkeit an sich riß. Diese Dame, die alle Lebhaftigkeit einer Französin mit aller französischen Coquetterie vereinigte, gab sich das Ansehn, jeden Gegenstand des Gesprächs zu verstehn, oder glaubte vielmehr wirklich, da sie nie über die Gränzen ihrer eignen Unwissenheit hinaus geblickt hatte, daß ihr nichts zu lernen mehr übrig sey. Sie zog die Aufmerksamkeit aller auf sich, amüsirte einige, erregte Ekel bey andern, und wurde dann vergessen.
Der Tag verstrich, ohne daß irgend etwas wichtiges vorfiel, und wiewohl es Emilien unterhalten hatte, die verschiednen Charactere, die sie vor sich sah, zu beobachten, war sie doch froh, sich zu den Betrachtungen zurückziehn zu können, die sie als Pflichten anzusehn gelernt hatte.
Vierzehn Tage verstrichen in einem Kreis von Zerstreuung und Gesellschafft, und Emilie, die Madame Cheron auf allen Besuchen begleitete, fand oft Unterhaltung, öfter aber Langeweile. Anfangs fiel es ihr auf, bey den Gesprächen, die sie mit anhörte, soviel Kenntnisse und Talente zu bemerken, und es dauerte lange, ehe sie einsah, daß diese Talente meistens nur Blendwerk und die Kenntnisse nur gerade so viel waren, als erfordert wurde, die Täuschung zu unterhalten. Am meisten aber hintergieng sie die Miene steter Fröhlichkeit und guter Laune, welche jeder Gast verrieth und deren Quelle sie in eben so beständiger Heiterkeit und eben so bereitwilligem Wohlwollen suchte. Endlich aber sah sie aus der Uebertreibung einiger, die weniger geschickt waren, daß zwar Heiterkeit und Wohlwollen die einzigen wahren Quellen der Freude sind, daß aber die übermäßige und fieberhafte Munterkeit, die gewöhnlich in großen Gesellschaften zur Schau getragen wird, theils aus einer Unempfindlichkeit gegen die Sorgen, welche das wohlwollende Herz oft bey den Leiden andrer empfindet, und theils aus dem Verlangen entsteht, sich den Schein der Zufriedenheit mit seiner Lage und des Wohlstands zu geben, der dem Besitzer Aufmerksamkeit und Unterwürfigkeit von andern zu verschaffen pflegt.
Emilie verlebte die angenehmsten Stunden in dem Pavillon auf der Terasse, wohin sie sich, so oft sie unbemerkt fortschleichen konnte, mit einem Buche oder ihrer Laute begab, um ihre Melancholie zu besiegen, oder ihr nachzuhängen. Wenn sie so da saß, die Augen starr auf die fernen Pyrenäen und ihre Gedanken auf Valancourt und auf die geliebten Gegenden von Gasconien gerichtet, spielte sie oft die süßen, schwermüthigen Gesänge ihrer Provinz, die Volkslieder, die sie seit ihrer frühesten Kindheit gehört hatte.
Eines Abends, nachdem sie sich davon losgemacht hatte, ihre Tante in Gesellschaft zu begleiten, begab sie sich auch mit ihren Büchern und ihrer Laute nach dem Pavillon. Es war der milde, schöne Abend eines schwülen Tags, und die Fenster, die nach Westen giengen, öffneten dem Auge alle Pracht der untergehenden Sonne. Ihre Strahlen beleuchteten mit starkem Glanz die Klippen der Pyrenäen und färbten ihre beschneiten Spitzen mit einem Rosenhauch, der noch darauf haftete, als schon längst die Sonne unter den Horizont gesunken war und die Schatten der Dämmrung sich über die Landschaft verbreitet hatten. Emilie spielte ihre Laute mit dem feinen schwärmerischen Ausdruck, der aus ihrem Herzen kam. Die stille Stunde und Gegend, das Abendlicht auf der Garonne, die nicht fern von ihnen sich ergoß, und deren Wellen sie oft mit einem Seufzer nach La Vallée hinfließen sah; diese vereinten Umstände stimmten ihr Herz zur Zärtlichkeit, und ihre Gedanken flogen zu Valancourt. Sie hatte seit ihrer Ankunft zu Toulouse nichts von ihm gehört, und erst jetzt, da sie von ihm entfernt und in Ungewißheit war, merkte sie, welchen Antheil ihr Herz an ihm nahm. Ehe sie Valancourt sah, hatte sie noch nie eine Seele, einen Geschmack gefunden, der so ganz mit dem ihrigen übereinstimmte, und ohngeachtet Madame Cheron ihr viel von den Künsten der Verstellung vorsprach, und ihr sagte, daß die Eleganz und Richtigkeit im Denken, die sie so sehr an ihrem Liebhaber bewunderte, nur angenommen wären um ihr zu gefallen, konnte sie doch kaum an ihrer Aechtheit zweifeln. Doch war schon der Gedanke an diese Möglichkeit genug, ihre Seele mit Angst zu erfüllen, und sie fand, daß es nicht leicht etwas peinlicheres geben kann, als die Ungewißheit über den Werth eines geliebten Gegenstandes; eine Ungewißheit, die sie nicht würde gequält haben, wenn sie ihrem eignen Urtheil mehr getraut hätte.
Das Stampfen eines Pferdes auf einem Wege, der sich unter den Fenstern des Pavillons hinwand, weckte sie aus ihrer Träumerey, und sie sah einen Mann vorüber reiten, dessen Aehnlichkeit in Figur und Anstand mit Valancourt — denn die Dämmrung ließ ihr nicht zu, seine Gesichtszüge zu unterscheiden — ihr sogleich auffiel. Sie zog sich eilends vom Geländer zurück, um nicht gesehn zu werden, doch wünschte sie, den Fremden genauer zu beobachten, der ohne hinaufzusehn vorüber ritte. Als sie wieder an das Geländer trat, sah sie ihn durch die Dämmrung unter den hohen Bäumen, die nach Toulouse führen, hinreiten. Dieser kleine Vorfall brachte ihre Lebensgeister in solche Unruhe, daß der Pavillon und die Gegend nichts anziehendes mehr für sie hatten, und nachdem sie noch ein kleines Weilchen auf der Terasse umhergegangen war, kehrte sie ins Schloß zurück.
Madame Cheron, die entweder eine Nebenbuhlerin bewundern sahe, am Spieltisch verloren, oder einem Feste beygewohnt hatte, das glänzender war, als die ihrigen, war mit mehr als gewöhnlich verdrieslicher Laune von ihrem Besuch zurückgekommen, und Emilie war froh, als die Stunde erschien, wo sie sich in die Einsamkeit ihres eignen Zimmers zurückziehn konnte.
Den folgenden Morgen wurde sie zu ihrer Tante gerufen, die ihr mit einem von Zorn flammenden Gesicht entgegen kam, und ihr einen Brief hinhielt.
»Kennen Sie die Hand?« sagte sie mit rauher Stimme und mit einem Blick, der Emilien das Herz durchbohren sollte — indeß diese den Brief aufmerksam ansah und versicherte, daß sie die Hand nicht kenne.
»Reizen Sie mich nicht«, rief ihre Tante; »sie kennen sie gewiß, gestehn Sie die Wahrheit; ich verlange durchaus, daß Sie die Wahrheit auf der Stelle gestehn.«
Emilie schwieg und drehte sich nach der Thüre um, allein Madame rief sie zurück. »O Sie sind also schuldig«, sagte sie, »Sie kennen die Hand!«
»Wenn Sie vorhin ungewiß darüber waren«, versetzte Emilie ruhig, »Madame, warum beschuldigen Sie mich denn jetzt einer Falschheit?«
Madame Cheron erröthete nicht, aber ihre Nichte, als sie gleich darauf den Namen Valancourt hörte. Allein sie erröthete nicht aus dem Bewußtseyn, einen Vorwurf zu verdienen, denn wenn sie ja die Hand gesehn hatte, so riefen doch diese Züge sie ihr nicht ins Gedächtnis zurück.
»Es ist ganz vergebens, sich hier aufs Läugnen zu legen«, sagte Madame Cheron. »Ich lese in Ihrem Gesicht, daß Sie um diesen Brief wissen, und möchte wohl behaupten, daß Sie viele dergleichen von diesem unverschämten Menschen in meinem Hause müssen erhalten haben.«
Durch die Indelikatesse dieser Anschuldigung noch mehr beleidigt, als durch die Plumpheit der ersten, vergaß Emilie sogleich den Stolz, der ihr Stillschweigen aufgelegt hatte, und suchte sich von der Anklage zu reinigen, allein Madame Cheron wollte sich nicht überzeugen lassen.
»Ich kann mir unmöglich einbilden«, fuhr sie fort, »daß dieser junge Mensch die Dreistigkeit gehabt haben könnte, mir zu schreiben, wenn Sie ihn nicht dazu aufgemuntert hätten — und ich muß jetzt —«
»Erlauben Sie mir, Madame«, unterbrach Emilie sie furchtsam, »Sie an einige nähere Umstände eines Gespräches, das wir zu La Vallée hatten, zu erinnern. Ich sagte Ihnen damals aufrichtig, daß ich Herrn Valancourt nicht verboten hätte, sich an meine Familie zu wenden.«
»Ich will mich nicht unterbrechen lassen«, sagte Madame Cheron, indem sie selbst ihre Nichte unterbrach; »ich wollte sagen — ja, ich habe vergessen, was ich eigentlich sagen wollte. Aber wie kam es denn, daß Sie es ihm nicht verboten?« — Emilie schwieg. »Wie kam es, daß Sie ihn aufmunterten, mich mit diesem Briefe zu belästigen? Ein junger Mensch, den niemand kennt; — ein Wildfremder an diesem Orte — ein junger Abentheurer, der sich ohne Zweifel nach einer guten Heirath umthut. Zwar hierin hat er wohl seinen Zweck verfehlt!«
»Mein Vater kannte seine Familie«, sagte Emilie bescheiden, ohne ihre Empfindlichkeit über die letzten Worte merken zu lassen.
» O das kann ganz und gar für keine Empfehlung gelten«, erwiederte ihre Tante mit ihrer gewöhnlichen Geläufigkeit über diesen Gegenstand, »er fand so ein lächerliches Gefallen an manchen Leuten! Er beurtheilte immer die Leute nach ihren Physiognomien und wurde immer hintergangen.«
»Und doch haben Sie selbst mich nur eben jetzt nach meiner Miene für schuldig erklärt«, sagte Emilie in der Absicht ihrer Tante einen Verweiß zu geben, den diese achtungslose Erwähnung ihres Vaters ihr abdrang.
»Ich ließ Sie hieher rufen«, erwiederte ihre Tante hoch erröthend, »um Ihnen zu sagen, daß ich mich in meinem eignen Hause durch keine Besuche oder Briefe von jungen Leuten, die sichs in den Kopf gesetzt haben mögen, Ihnen die Cour zu machen, will beunruhigen lassen. Dieser Herr von Valentin — mich däucht, so heißt er, ist so unverschämt mich zu bitten, daß ich ihm erlauben möchte, mir seine Aufwartung zu machen. Ich werde ihm eine gehörige Antwort schicken. Ihnen aber, Fräulein Emilie, wiederhole ich ein für allemal, daß wenn Sie nicht geneigt sind, sich nach meinen Vorschriften und nach meiner Lebensweise zu fügen, ich die Mühe aufgeben werde, mich um Ihre Aufführung zu bekümmern. — Ich werde mich nicht länger mit Ihrer Erziehung abgeben sondern Sie in ein Kloster schicken.«
»Liebe Tante«, sagte Emilie in Thränen ausbrechend und durch den groben Argwohn, den ihre Tante geäussert hatte, ausser sich gesetzt; »liebe Tante, womit habe ich diese Vorwürfe verdient!«
Sie konnte nichts weiter sagen, und fürchtete so ängstlich, sich in dieser Sache irgend eine Unschicklichkeit zu Schulden kommen zu lassen, daß vielleicht Madame Cheron in diesem Augenblick ohne viele Mühe ihr das Versprechen, Valancourt auf immer zu entsagen, abgepreßt haben würde. Ihre durch Furcht geschwächte Seele ließ sie Valancourt nicht mehr mit denselben Augen wie ehemals betrachten; sie fürchtete nicht das Urtheil der Madame Cheron, sondern daß sie selbst geirrt haben könnte, und daß sie sich bey ihrer ersten Zusammenkunft zu La Vallée vielleicht nicht zurückhaltend genug gegen ihn betragen hätte. Sie wußte, daß er den groben Verdacht, den ihre Tante gegen ihn geäussert hatte, nicht verdiente, aber tausend Bedenklichkeiten, die freylich Madame Cherons Ruhe nicht würden gestört haben, stiegen in ihr auf, um sie zu quälen. Aengstlich, jede Möglichkeit eines Fehlers zu vermeiden, und geneigt, sich allen Einschränkungen, die ihre Tante schicklich finden würde, unbedingt zu unterwerfen, ließ sie einen Gehorsam sehn, worauf Madame Cheron wenig baute, da sie ihn als die Würkung von Furcht oder List zu betrachten schien.
»Gut, gut, versprechen Sie mir also, daß Sie diesen jungen Menschen ohne meine Erlaubniß niemals weder sehn; noch an ihn schreiben wollen.«
»Beste Tante«, erwiederte Emilie, »können Sie wohl glauben, daß ich eins oder das andere ohne Ihr Vorwissen zu thun im Stande wäre!«
»Ich kann darüber nichts glauben, denn man kann niemals wissen, wie junge Mädchens handeln werden. Es ist schwer, einiges Vertrauen in sie zu setzen, da sie selten so viel Verstand haben, daß ihnen an der Achtung der Welt etwas liegt.«
»Ach Madam«, sagte Emilie, »mir liegt sehr viel daran, mich selbst zu achten, mein Vater lehrte mich den Werth davon schätzen; wenn ich meine eigne Achtung verdiente, sagte er, so würde mir die Achtung der Welt niemals fehlen können.«
»Mein Bruder war ein recht guter Mann«, erwiederte Madame Cheron, »allein er kannte die Welt nicht. Ich weiß, daß ich immer gehörigen Respect für mich selbst gehabt habe, doch«— Sie hielt inne; allein sie hätte hinzusetzen können, daß die Welt ihr nicht immer Respect bewiesen hätte, und zwar ohne dadurch ein schlechtes Urtheil zu verrathen.
»Allein«, fuhr sie fort, »Sie haben mir noch nicht das verlangte Versprechen gegeben.« Emilie gab es sehr bereitwillig, und bediente sich der Erlaubniß, sich zu entfernen, um in den Garten zu gehn. Sie suchte ihre Lebensgeister wieder zu beruhigen, und langte endlich in ihrem geliebten Pavillon am Ende der Terasse, wieder an. Hier setzte sie sich an eins der von Laube beschatteten Fenster, das auf einen Balcon stieß, und hier kam die Stille und Abgeschiedenheit des Ortes ihr zu Hülfe, ihre Gedanken wieder zu sammlen, und so zu ordnen, daß sie ein klares Urtheil von ihrem bisherigen Betragen zu fällen im Stande war. Sie rief sich aufs genauste jedes Wort ihres letzten Gesprächs mit Valancourt zu La Vallée zurück, und genoß die Befriedigung, nichts zu finden, was nur die zarteste Delikatesse hätte kränken können. In der Achtung gegen sich selbst, die zu ihrer Ruhe so nothwendig war, fester als je bestärkt, wurde ihr Gemüth wieder ruhig, und sie sah Valancourt voll Liebenswürdigkeit und Geist wie ehemals, und Madame Cheron von beiden entblößt. Nur führte die Erinnrung an diesen Geliebten manche sehr peinliche Empfindung mit sich, denn sie konnte keineswegs sich mit dem Gedanken ihm auf immer zu entsagen, aussöhnen: und da Madame Cheron bereits eine so sehr hohe Misbilligung dieser Liebe hatte blicken lassen, so sah sie viel Widerspruch voraus: Doch mischte sich in dies alles ein Grad von Entzücken, der trotz ihrer Vernunft die Gestalt der Hoffnung annahm; nur beschloß sie selbst, daß nichts auf der Welt sie bewegen sollte, sich auf einen geheimen Briefwechsel einzulassen, und nahm sich vor, wenn sie je wieder mit Valancourt zusammenkäme, dieselbe sorgfältige Zurückhaltung gegen ihn zu beobachten, die stets ihr Betragen bezeichnet hatte. Als sie die Worte: »sollten wir je wieder zusammenkommen« bey sich selbst wiederholte, fuhr sie zusammen, als wäre dies ein Gedanke, den sie sich noch nie gedacht hätte, und Thränen traten ihr in die Augen. Sie trocknete sie schnell, weil sie Fußtritte herannahen hörte — die Thüre des Pavillons wurde geöffnet, und als sie sich umdrehte, sah sie — Valancourt. Eine gemischte Regung von Vergnügen, Ueberraschung und Furcht drängte sich so plötzlich an ihr Herz, daß es beynahe ihre Lebensgeister überwältigte — die Farbe verließ ihre Wangen und kehrte dann höher als je zurück; sie war für einen Augenblick weder im Stande zu sprechen, noch vom Stuhle aufzustehn. Sein Gesicht war der Spiegel, in welchem sie den Abdruck ihrer eignen Bewegungen erblickte, und es brachte sie zur Herrschaft über sich selbst zurück. Die Freude, die aus seinen Zügen hervorleuchtete, als er in den Pavillon trat, wurde sogleich gedämpft, als er ihre Bewegung sah, und mit zitternder Stimme fragte er, ob sie sich nicht wohl befände. Von ihrer ersten Ueberraschung wieder zu sich selbst gekommen, antwortete sie ihm mit sanftem Lächeln; aber ein Gemisch von kämpfenden Bewegungen belagerte ihr Herz, und strebte die sanfte Würde ihres Betragens zu überwältigen. Es würde schwer gewesen seyn zu bestimmen, ob die Freude, Valancourt zu sehn, oder die Furcht vor ihrer Tante Unwillen, wenn sie diese Zusammenkunft erführe, das Uebergewicht hatte. Nach einem kurzen ängstlichen Gespräch führte sie ihn in den Garten, und fragte ihn, ob er Madame Cheron gesehn hätte? »Nein«, sagte er, »ich habe sie nicht gesehn, denn man sagte mir, daß sie beschäftigt wäre, und sobald ich hörte, daß Sie im Garten wären, eilte ich hieher.« — Er schwieg einen Augenblick in sichtlicher Bewegung und fuhr dann fort: »Darf sich es wagen, Ihnen die Absicht meines Besuchs zu sagen, ohne mir Ihren Unwillen zuzuziehn, und darf ich hoffen, daß Sie mich nicht der Zudringlichkeit beschuldigen werden, wenn ich mich sobald der Erlaubniß, die Sie mir einst gaben, mich an Ihre Familie zu wenden, bediene?«
Emilien, die nicht wußte, was sie ihm antworten sollte, wurde alle weitere Verlegenheit erspart, und es blieb ihr nur das Gefühl der Furcht, als sie die Augen aufschlug und Madame Cheron in die Allee einbiegen sah. Das zurückkehrende Bewußtseyn der Unschuld aber, überwältigte bald diese Furcht, und statt ihre Tante zu vermeiden, gieng sie ihr mit Valancourt entgegen. Der stolze und misbilligende Blick, den Madame Cheron auf sie warf, machte Emilien zittern, denn sie las deutlich in ihrer Tante Gesicht, daß sie diese Zusammenkunft für mehr als zufällig hielt. Nachdem sie ihr Valancourt vorgestellt hatte, ließ ihre Unruhe ihr nicht zu, länger bey ihnen zu verweilen, und sie gieng ins Schloß zurück, wo sie mit zitternder Angst den Ausgang des Gesprächs erwartete. Sie wußte sich Valancourts Besuch bey ihrer Tante, ehe er die erbetene Erlaubniß erhalten hatte, nicht zu erklären, da ihr ein Umstand unbekannt war, der die Bitte würde fruchtlos gemacht haben, selbst wenn Madame Cheron geneigt gewesen wäre, sie zu gewähren. Valancourt hatte in der Unruhe seines Geistes den Brief zu datiren vergessen, so daß es Madame Cheron unmöglich war, ihn zu beantworten; und als er sich auf diesen Umstand besann, tröstete er sich vielleicht um so leichter, da er dadurch einen Vorwand erhielt, zu ihr zu gehn, ehe sie ihm eine abschlägige Antwort schicken konnte.
Madame Cheron hielt eine lange Conferenz mit Valancourt, und als sie wieder ins Schloß zurückkam, lag zwar üble Laune, aber nicht der Grad von Strenge, den Emilie befürchtet hatte, auf ihrem Gesicht. »Ich habe diesen jungen Menschen verabschiedet«, sagte sie, »und hoffe, daß mein Haus nie wieder von ähnlichen Besuchen belästigt werden wird. Er versichert mich, daß Ihre Zusammenkunft nicht vorher verabredet war.«
»Beste Tante«, sagte Emilie in äußerster Bewegung, »Sie haben ihm doch unmöglich diese Frage vorlegen können?«
»Allerdings habe ich das gethan, Sie werden doch nicht glauben, daß ich so unklug hätte seyn können, es zu vergessen.«
»Gütiger Himmel«, rief Emilie, »was für eine Meinung muß er von mir bekommen haben, wenn Sie einen solchen Verdacht gegen mich äussern konnten.«
»Das thut sehr wenig zur Sache, welche Meynung er von Ihnen haben mag: denn ich habe dem Dinge ein Ende gemacht; allein ich glaube, er wird wegen meines klugen Betragens keine schlimmere Meynung von mir bekommen haben. Ich gab ihm zu erkennen, daß ich nicht mit mir spaßen lasse, und daß ich zu viel Delikatesse besäße, um eine geheime Correspondez in meinem eignen Hause zu dulden.«
Emilie hatte von Madame Cheron mehr als einmal das Wort Delikatesse gehört, allein sie war jetzt mehr als je in Verlegenheit zu errathen, wie sie es bey einem Falle, wo ihr ganzes Betragen mehr als je die entgegengesetzte Benennung zu verdienen schien, anwenden könnte.
»Es war sehr unüberlegt von meinem Bruder«, erwiederte Madame Cheron, »daß er mir die Mühe überließ, Aufsicht über Ihr Betragen zu führen. Ich wünschte Sie gut versorgt zu wissen, allein wenn ich sehe, daß ich noch ferner mit solchen Besuchen als dieser Herr Valancourt belästigt werden soll, so werde ich Sie ohne weitere Umstände ins Kloster schicken. Vergessen Sie diese Wahl zwischen beiden nicht. Der junge Mensch ist so unverschämt gewesen, mir zu gestehn — denken Sie nur, er gesteht es selbst! — daß sein Vermögen sehr klein ist, und daß er hauptsächlich von einem ältern Bruder und von dem Stande, den er sich erwählt hat, abhängt. Er hätte diese Dinge doch wenigstens vor mir verschweigen sollen, wenn es ihm darum zu thun war, seinen Zweck zu erreichen. Kann er sich in der That einbilden, daß ich meine Nichte an einen Menschen, wie er selbst sich beschreibt, verheirathen würde.«
Emilie trocknete ihre Thränen, als sie das aufrichtige Geständniß Valancourts hörte, und so niederschlagend auch diese Umstände für seine Hoffnungen waren, erregte ihr doch sein kunstloses Betragen einen Grad von Vergnügen, der alle andern Eindrücke überwog. Nur wurde ihr schon so früh im Leben die Bemerkung aufgezwungen, daß gesunder Verstand und edle Rechtschaffenheit nicht immer der Thorheit und kleinlichen List die Wage halten können, und ihr Herz war rein genug, sie selbst in diesem kritischen Augenblick mehr Stolz über die Niederlage der erstern, als Demüthigung über die Siege der letztern fühlen zu lassen.
Madame Cheron verfolgte ihren Triumph — »Auch hat er beliebt mir zu sagen, daß er seinen Abschied von niemand anders als von Ihnen annehmen wollte; allein diese Gunst habe ich ihm durchaus verweigert. Er muß wissen, daß es vollkommen genug ist, wenn er mir nicht gefällt, und ich wiederhole Ihnen bey dieser Gelegenheit noch einmal, daß, wenn Sie sich erdreisten, hinter meinem Rücken eine Zusammenkunft mit ihm zu verabreden, Sie mein Haus auf der Stelle verlassen sollen.«
»Wie wenig kennen Sie mich, Madame, daß Sie ein solches Verboth für nothwendig halten!« sagte Emilie, indem sie ihre Bewegung zu unterdrücken suchte »wie wenig kennen Sie die theuren Eltern, die mich erzogen!«
Madame Cheron gieng nun, um sich zu einer Gesellschafft, die sie zu besuchen versprochen hatte, anzukleiden; und Emilie, die sich gern davon losgemacht hätte, wagte es nicht, darum zu bitten, damit man ihr Zuhausebleiben nicht einem unlautern Bewegungsgrunde zuschreiben möchte. Sobald sie sich in ihrem kleinen Zimmer allein sah, verließ sie die Stärke, die in Gegenwart ihrer Tante sie aufrecht gehalten hatte: sie erinnerte sich nur, daß Valancourt, dessen Character sich ihr aus jedem neuen Umstande liebenswürdiger entfaltete, vielleicht auf immer aus ihrer Gegenwart verbannt war, und sie brachte die Zeit, die sie nach ihrer Tante Meynung auf ihren Anzug hätte wenden sollen, mit Weinen hin. Indessen brachte sie dies wichtige Geschäfte noch geschwind genug zu Stande, obgleich, als sie bey Tische erschien, ihre Augen der Madame Cheron verriethen, daß sie geweint hatte, und ihr einen strengen Verweiß zuzogen.
Ihr Bemühn heiter zu scheinen, mislang ihr nicht gänzlich, als sie in dem Hause der Madame Clairval zu der Gesellschaft kam. Dies war eine ältliche Witwe, die erst kürzlich auf ein Guth ihres verstorbenen Mannes bey Toulouse gezogen war. Sie hatte viele Jahre zu Paris auf prächtigen Fuß gelebt, besaß von Natur ein frohes Temperament, und hatte seit ihrem Aufenthalte zu Toulouse verschiedne Feten gegeben, die man noch nie so prächtig in der Gegend gesehn hatte.
Diese erregten nicht nur den Neid, sondern den kleinlichen Ehrgeiz der Madame Cheron, die wenigstens, da sie es ihr an Aufwand nicht gleich thun konnte, unter ihre vertrautesten Freundinnen gezählt zu werden wünschte. In dieser Absicht bewieß sie ihr die kriechendste Aufmerksamkeit und machte sichs zum Gesetz, nie versagt zu seyn, so oft sie eine Einladung von Madame Clairval erhielt. Sie sprach aller Orten, wohin sie kam, davon, und that sich viel darauf zu Gute, ihre Bekannten glauben zu machen, daß sie auf dem allervertrautesten Fuß zusammen umgiengen.
Die Unterhaltung an diesem Abend bestand in einem Ball und Soupee. Es war ein Ball für die Phantasie; die Gesellschaft tanzte in Gruppen zerstreut in dem weit ausgedehnten Garten. Die hohen, dickbelaubten Bäume, unter welchen sie sich versammleten, waren mit einer Menge, mit Geschmack und Phantasie vertheilten, Lampen erhellt. Die bunte, mannigfaltige Kleidung der Gesellschaft, die auf dem Rasen saß, nach Herzenslust schwazte, den Tänzen zusah, Erfrischungen zu sich nahm oder zur Belustigung auf der Zitter spielte: das galante Betragen der Herren, die kleinen, eigensinnigen Manieren der Damen, der leichte muntre Schritt ihrer Tänze; die Musikanten, die mit der Laute, Hoboe und Trommel am Fuße eines Ulmbaums saßen, und die arcadische Scene der Wälder ringsum, bildeten ein characteristisches, auffallendes Gemälde eines französischen Festes. Emilie betrachtete die Scene mit schwermüthigem Wohlbehagen und man denke sich ihre Bewegung; als sie plötzlich, da sie bey ihrer Tante stand und nach einer von den Gruppen sah, Valancourt erblickte. Sie sah ihn mit einem jungen, schönen Mädchen tanzen, das er mit einer Vertraulichkeit und Aufmerksamkeit, die sie selten an ihm bemerkt hatte, unterhielte. Sie wandte sich schnell ab, und bemühte sich, auch Madame Cheron, die mit Signor Cavigni sprach, und weder Valancourt bemerkte, noch geneigt schien, sich unterbrechen zu lassen, hinweg zu ziehn. Eine plötzliche Schwäche übernahm Emilien, und unvermögend, sich aufrecht zu halten, setzte sie sich auf eine Rasenbank unter den Bäumen zu verschiednen andern Personen. Ein junger Mann, der ihre auffallende Blässe bemerkte, fragte, ob sie krank wäre und erbot sich, ihr ein Glas Wasser zu holen; sie dankte ihm für seine Höflichkeit, ohne sie aber anzunehmen. Ihre Besorgniß, daß Valancourt ihre Bewegung wahrnehmen möchte, machte, daß sie sich Gewalt anthat, sie zu überwinden, und es gelang ihr, wenigstens ihr Gesicht wieder in einige Ordnung zu bringen. Madame Cheron sprach noch mit Cavigni, und der Graf Bauvillers, der Emilien angeredet hatte, machte einige Bemerkungen über die Gegend, worauf sie antwortete, ohne beynahe zu wissen was? denn ihre Seele war unablässig mit dem Gedanken an Valancourt beschäftigt, in dessen Nähe sie sich äusserst unbehaglich fühlte. Doch setzten sie einige Bemerkungen, die der Graf machte, in die Nothwendigkeit, die Augen auf ihn zu richten, und in demselben Augenblick begegnete Valancourt den ihrigen. Sie erblaßte aufs neue; sie fühlte, daß sie im Begriff war, wieder in Ohnmacht zu fallen und wandte sogleich ihre Augen ab, doch bemerkte sie erst, daß Valancourt die Farbe veränderte, als er sie gewahr ward. Sie würde sogleich ihren Platz verlassen haben, wenn sie nicht gefühlt hätte, daß sie ihm dadurch nur noch deutlicher den Antheil verrathen würde, den ihr Herz an ihm nahm. Sie that sich Gewalt an, um auf des Grafen Gespräch zu achten und kam endlich wieder zu sich selbst. Als er aber einige Bemerkungen über Valancourts Tänzerin machte, würde die Furcht ihm merken zu lassen, daß sie dabey interessirt war, sie ihm unfehlbar verrathen haben, wenn nicht der Graf seine Blicke auf das junge Frauenzimmer, von dem er sprach, gerichtet hätte. Die junge Dame, sagte er, die mit jenem Herrn dort tanzt, der in allen Dingen, nur nicht im Tanze vollkommen zu seyn scheint, wird unter die Schönheiten von Toulouse gezählt. Sie ist hübsch, und wird einst ein sehr großes Vermögen bekommen; allein ich hoffe, daß sie sich einen bessern Gefährten fürs Leben wählen wird, als sie für den Tanz gewählt hat. Ich wundre mich, daß er bey einer so guten Figur und einem so guten Anstand nicht mehr Sorgfalt darauf gewendet hat, sich im Tanze zu vervollkommnen.
Emilie, der bey jedem Worte das Herz schlug, bemühte sich, das Gespräch von ihm abzulenken, und fragte nach dem Namen des Frauenzimmers mit dem er tanzte; allein der Tanz war zu Ende, ehe noch der Graf antworten konnte, und Emilie, die Valancourt auf sich zukommen sah, stand auf und gieng zu Madame Cheron.
»Der Chevalier Valancourt ist hier, Madame«, sagte sie leise zu ihrer Tante, »lassen Sie uns fortgehn!« Ihre Tante stand sogleich auf, allein Valancourt erreichte sie, ehe sie sich noch entfernen konnten. Er verneigte sich tief gegen Madame Cheron, und mit einem ernsthaften, niedergeschlagenen Wesen gegen Emilien, auf deren Gesicht, aller ihrer Bemühung ohngeachtet, eine mehr als gewöhnliche Zurückhaltung lag. Madame Cherons Gegenwart verhinderte Valancourt zu bleiben, und er gieng mit einem solchen Ausdruck von Traurigkeit fort, daß Emilie sich Vorwürfe machte, ihn noch mehr betrübt zu haben. Der Graf Bauvillers, der ihrer Tante bekannt war, riß sie aus ihrem Tiefsinn.
»Ich habe Sie wegen einer Unart um Verzeihung zu bitten«, sagte er, »die ich gewiß ganz ohne mein Verschulden begieng. Ich wußte nicht, daß der Chevalier die Ehre hat, Ihnen bekannt zu seyn, als ich so freymüthig sein Tanzen bekritisirte.« Emilie wurde roth und lächelte, und Madame Cheron ersparte ihr die Mühe zu antworten. »Wenn Sie den Menschen meynen, der eben vor uns vorübergegangen ist«, sagte Sie, »so irren Sie sehr. Ich kann Sie versichern, daß er weder ein Bekannter von mir, noch von Fräulein Aubert ist; ich weiß nichts von ihm.«
»O das ist der Chevalier Valancourt«, sagte Cavigni nachlässig und sah sich um. — »Sie kennen ihn also?« fragte Madame Cheron. »Ich bin nicht bekannt mit ihm«, erwiederte Cavigni. — »Sie wissen also nicht, was ich für Ursache habe, ihn unverschämt zu finden. Er hat die Dreistigkeit gehabt, den Bewunderer bey meiner Nichte zu machen.«
»Wenn alle diejenigen unverschämt genannt zu werden verdienen, die Fräulein St. Aubert bewundern, so fürchte ich, daß es sehr viele Unverschämte giebt; und ich bin sehr bereit, mich selbst für einen davon zu erklären.«
»O Signor«, sagte Madame Cheron mit einem affektirten Lächeln, »ich sehe, daß Sie in Frankreich die Kunst zu complimentiren gelernt haben. Allein es ist grausam, gegen Kinder Complimente zu machen, da sie leicht Schmeicheley mit Wahrheit verwechseln.«
Cavigni drehte sich um, und sagte gleich nachher mit affektirter Miene; »gegen wen sollen wir sie denn machen, Madame, denn es würde doch ungereimt seyn, einer Frau von feinem Verstande Complimente zu sagen: eine solche ist über alles Lob erhaben.« Er warf bey diesen Worten einen schlauen Blick auf Emilien, und das Lächeln, das in seinem Auge gelauscht hatte, schlich sich hervor. Sie verstand ihn vollkommen, und erröthete für Madame Cheron, die ihm zur Antwort gab: »Sie haben ganz recht Signor, kein Frauenzimmer von Verstande kann Complimente vertragen.«
»Ich habe den Signor Montoni sagen hören«, erwiederte Cavigni, »daß er in seinem ganzen Leben nur ein Frauenzimmer gekannt hatte, das sie verdiente.«
»So«, rief Madame Cheron, mit einem unaussprechlich wohlgefälligen Lächeln, »und wer könnte das seyn.«
»O« erwiederte Cavigni, »es ist unmöglich, sie zu miskennen, denn gewiß, es giebt nur dies einzige Frauenzimmer in der Welt, die Werth genug besitzt, Lobsprüche zu verdienen, und Verstand genug, sie abzulehnen. Bey den meisten Frauenzimmern ist der Fall gerade umgekehrt.« Er sah aufs neue Emilien an, die noch höher für ihre Tante erröthete, und sich mit Unwillen von ihm abwandte.
»Ich wette mein Leben«, sagte Madame Cheron, »daß Sie ein Franzose sind. Ich habe noch nie etwas halb so artiges von einem Ausländer gehört.«
»Gewiß, Madame«, sagte der Graf, der bisher schweigend zugehört hatte, mit einer tiefen Verbeugung, »nur würde die Artigkeit des Compliments, ohne den Scharfsinn, der die Anwendung entdeckte, gänzlich verloren gegangen seyn.«
Madame Cheron merkte den Sinn dieser Spötterey nicht, und entgieng also dem peinlichen Gefühl, das Emilie für sie empfand. »O, hier kommt der Signor Montoni selbst«, rief ihre Tante; »wahrhaftig, ich werde ihm alle die schönen Dinge wieder erzählen, die Sie mir gesagt haben.« — Allein der Signor bog einen andern Weg ein. — »Sagen Sie mir nur, wer Ihren Freund heute so fest hält, fragte Madame Cheron mit bekümmerter Miene; »ich habe ihn den ganzen Abend auch noch nicht einen Augenblick gesehn!«
»Er hatte sich auf heute bey dem Marquis La Riviere versagt«, erwiederte Cavigni, »und dies hat ihn bis jetzt aufgehalten, sonst würde er sicher nicht so lange das Glück entbehrt haben, Ihnen aufzuwarten. Ich weiß selbst nicht, wie ich es so lange habe unterlassen können, Ihnen meines Freundes Entschuldigung auszurichten, allein Ihre Unterhaltung, Madame, hat etwas so bezauberndes, daß sie selbst das Gedächtniß fesselt.«
»Diese Entschuldigung, Signor, würde aus seinem eignen Munde befriedigender gewesen seyn«, erwiederte Madame Cheron, deren Eitelkeit sich durch Montonis Vernachlässigung mehr gekränkt, als durch Cavignis Compliment geschmeichelt fühlte. Ihr Betragen bey dieser Gelegenheit, und Cavignis Reden erweckten einen Verdacht bey Emilien, den, so ungereimt er sie auch däuchte, verschiedne Umstände zu bestätigen schienen. Sie glaubte wahrzunehmen, daß Montoni ihrer Tante sehr ernstlich die Aufwartung mache, und daß sie es nicht nur annähme, sondern mit eifersüchtiger Empfindlichkeit auf jeden Anschein von Vernachlässigung von seiner Seite achtete. Es war lächerlich, daß Madame Cheron in ihren Jahren einen zweyten Mann wählen sollte, doch machte ihre Eitelkeit es nicht unmöglich; daß aber Montoni, mit seinem Scharfsinn, mit seiner Figur und seinen Ansprüchen Madame Cheron wählen konnte, schien höchst wunderbar. Ihre Gedanken verweilten indessen nicht lange bey diesem Gegenstand; ein näheres Interesse beschäftigte sie. Valancourt, von ihrer Tante verworfen, und Valancourt, mit einem muntern, schönen Mädchen tanzend, quälte abwechselnd ihre Seele. Bey jedem Schritte, den sie that, sah sie sich furchtsam nach ihm um, und der Mismuth, den sie empfand, als sie ihn in dem Gedränge nicht fand, sagte ihr, daß sie seinen Anblick mehr gehofft als gefürchtet hatte.
Montoni kam bald darauf zu der Gesellschaft. Er murmelte einige kurze Worte von Bedauern, so lange an einem andern Orte haben verweilen zu müssen, da er doch gewußt hätte, daß er das Glück genießen würde, Madame Cheron hier zu sehn. Sie nahm seine Entschuldigung mit der Miene eines kleinen maulenden Mädchens an, und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf Cavigni, der seinen Freund schalkhaft ansah; als wollte er sagen: ich will nicht zu sehr über dich triumphiren, sondern will so gut seyn, meinen Sieg mit Bescheidenheit zu ertragen; allein nimm dich ja in Acht, mein Freund, daß ich dir nicht mit der Beute davonlaufe.
Das Abendessen wurde in verschiedenen Pavillons und in einem großen Saale im Schlosse aufgetragen; und zwar mit mehr Geschmack, als mit Pracht oder Ueberfluß. Madame Cheron und ihre Gesellschaft speisten mit Madame Clairval im Saal, und Emilie konnte kaum ihre Bewegung verbergen, als sie Valancourt an demselben Tische sitzen sah. Madame Cheron, die ihn mit höchstem Misfallen erblickte, fragte eine Dame, die zunächst bey ihr saß: »Sagen Sie mir doch, wer ist denn eigentlich der junge Mensch dort?« — »Es ist der Chevalier Valancourt«, war die Antwort. — »Seinen Namen weiß ich wohl, aber wer ist denn dieser Chevalier Valancourt, daß er sich an diesen Tisch eindrängt.« Die Aufmerksamkeit der Dame, mit der sie sprach, wurde, ehe sie antworten konnte, zum zweytenmal auf eine andre Seite gelenkt. Der Tisch, an welchem sie saßen, war sehr lang, und da Valancourt mit seiner Tänzerin am untern Ende, und Emilie beynahe oben saß, so konnte ihn die Entfernung leicht verhindern, sie gewahr zu werden. Sie vermied, nach dem Ende des Tisches hinzusehn, allein so oft ihre Augen in die Gegend fielen, sah sie ihn mit seiner schönen Gesellschafterin sprechen, und diese Bemerkung trug eben so wenig als die Nachrichten, die sie von dem Vermögen und den Vorzügen des jungen Frauenzimmers hörte, zu ihrer Ruhe bey.
Madame Cheron, an die diese Bemerkungen, um Stoff zur Unterhaltung zu haben, oft gerichtet wurden, schien unermüdet in ihrem Bemühn, Valancourt herabzusetzen, gegen den sie alle kleinliche Empfindlichkeit eines armseligen Stolzes fühlte. »Ich finde das Frauenzimmer artig«, sagte sie, »nur muß ich mich über ihre Wahl beym Tanzen wundern.«
»O der Chevalier Valancourt ist einer unsrer vorzüglichsten jungen Leute«, erwiederte die Dame, an welche diese Bemerkung gerichtet wurde; »man sagt, daß er Fräulein d'Emeri mit ihrem sehr großen Vermögen bekommen wird.«
»Unmöglich«, rief Madame Cheron, die vor Verdruß erröthete, »es ist unmöglich, daß sie so wenig Geschmack haben kann; er hat so wenig das Ansehn eines Mannes von Stande, daß ich ihn nie dafür halten würde, wenn ich ihn nicht an Madame Clairvals Tisch sähe. Ausserdem habe ich auch noch besondre Ursachen, das Gerücht für ungegründet zu halten.«
»Es läßt sich nicht wohl daran zweifeln«, erwiederte die Dame, die sich durch diesen Widerspruch ihres Urtheil über Valancourts Werth beleidigt fand, sehr ernsthaft. — »Doch«, erwiederte Madame Cheron, »wenn ich Ihnen sage, daß ich erst diesen Morgen seinen Antrag abgewiesen habe.«
Sie wollte durch diese Worte nicht eigentlich sagen, was sie zu sagen schien, sondern bediente sich dieses Ausdrucks nur, weil sie die üble Gewohnheit hatte, bey allem, was ihre Nichte betraf, sich für die wichtigste Person zu halten, und weil es auch buchstäblich wahr war, daß sie Valancourt abgewiesen hatte. »Man kann in der That an Ihren guten Gründen nicht zweifeln«, erwiederte die Dame mit spöttischem Lächeln.« — »Eben so wenig als an der guten Urtheilskraft des Chevalier Valancourt«, setzte Cavigni hinzu, der hinter Madame Cherons Stuhl stand, und glaubte, daß sie einen Vorzug, der ihrer Nichte gegolten hatte, sich selbst zueignete. »Ich dächte doch, daß man an seinem richtigen Urtheil zweifeln könnte«, sagte Madame Cheron, die sich durch einen Lobspruch, der wie sie glaubte, Emilien galt, nicht sehr geschmeichelt fühlte.
»Ach!« rief Cavigni aus, indem er Madame Cheron mit verstelltem Entzücken ansah, »wie vergebens sind diese Worte, da dies Gesicht — diese Gestalt — dieser Anstand sie widerlegen! Armer Valancourt! sein nur zu feines Urtheil ist sein Unglück gewesen!«
Emilie sah verwundert und verlegen vor sich hin; die Dame, die bisher das Wort geführt hatte, erstaunte, und Madame Cheron verstand zwar diese Rede nicht ganz, war aber doch sehr geneigt, sie als ein Compliment für sich selbst aufzunehmen und sagte lächelnd: »O Signor, Sie sind sehr galant, aber wer Sie des Chevaliers Wahl so vertheidigen hört, sollte glauben, daß ich der Gegenstand derselben bin!«
»Man kann nicht daran zweifeln«, versezte Cavigni mit einer tiefen Verbeugung.
»Und würde das nicht eine große Demüthigung für mich seyn, Signor?«
»Unstreitig Madame!«
»Ich kann den Gedanken nicht ertragen«, sagte Madame Cheron.
»Es ist auch nicht zu ertragen«, erwiederte Cavigni.
»Aber was kann man thun, um einem so demüthigenden Misverständniß vorzubeugen?« fragte Madame Cheron wieder.
»Ja, da kann ich Ihnen wahrhaftig nicht helfen«, erwiederte Cavigni mit nachdenkender Miene. »Die einzige Möglichkeit, die Verläumdung zu widerlegen, und die Leute glauben zu machen, was Sie wünschen, wäre wohl, daß Sie auf Ihrer ersten Behauptung beharrten: denn wenn man hört, daß es dem Chevalier an Urtheilskraft fehlt, so ist es möglich, daß man glaubt, er hätte sich nie erdreistet, Ihnen seine Bewundrung zu erklären. Wenn man dann aber wieder diese Bescheidenheit bedenkt, die Sie gegen Ihre eignen Vorzüge so unempfindlich macht, so wird man aufs neue nicht an Valancourts Geschmack zweifeln können, so sehr Sie ihn auch herabsetzen. Mit einem Worte, die Leute werden trotz all Ihres Bemühens fortfahren zu glauben, was jeder, ohne mein Zuthun von selbst würde geglaubt haben, — daß der Chevalier Geschmack genug besitzt, ein schönes Frauenzimmer zu bewundern.«
»Das ist doch in der That sehr traurig?« — sagte Madame Cheron mit einem tiefen Seufzer.
»Darf ich wohl fragen, was so sehr traurig ist?«— sagte Madame Clairval, der das traurige Gesicht und der schmerzhafte Ton, womit dies gesagt wurde, auffiel.
»Es ist eine delikate Sache«, erwiederte Madame Cheron; »eine sehr kränkende für mich.«
»Das thut mir sehr leid zu hören«, sagte Madame Clairval, »ich hoffe doch nicht, daß diesen Abend etwas besonders unangenehmes für Sie vorgefallen ist?«
»Ach ja, nur eben jezt, und Gott weiß, woher das Gerücht entstanden sehn mag: mein Stolz hat sich noch nie so sehr gekränkt gefühlt; allein ich versichre Sie, es ist durchaus ohne Grund.«
»Ums Himmelswillen«, rief Madame Clairval, »was ist denn geschehn? Können Sie mir gar kein Mittel angeben, wie ich Ihnen helfen, oder Sie trösten kann?«
»Die einzige Art, wie Sie beydes können, ist, wenn Sie allenthalben, wohin Sie gehn, dem Gerücht widersprechen.«
»Recht gern, aber sagen Sie mir nur, was ich widersprechen soll!«
»Es ist sehr demüthigend, daß ich beynahe nicht weiß, wie ich davon reden soll«, fuhr Madame Cheron fort; »aber Sie sollen selbst urtheilen. Bemerken Sie wohl den jungen Mann dort, der unten am Tische sitzt, und mit Fräulein d'Ejmeri spricht?« — »Ja, ja, ich errathe wohl, wen Sie meinen.« — »Sie sehn selbst wie wenig er das Ansehn eines Mannes von Stande hat. Ich sagte eben, daß ich ihn nicht dafür würde gehalten haben, wenn er nicht hier am Tisch säße.« — »Aber das Gerücht«, unterbrach sie Madame Clairval, »lassen Sie mich nur erst die Ursache Ihres Verdrusses hören!« »Ach die Ursache meines Verdrusses«, erwiederte Madame Cheron; »dieser Mensch, den niemand kennt — (aber verzeihn Sie, Madame, ich überlegte nicht, was ich sagte —) dieser unverschämte junge Mensch hat die Dreistigkeit gehabt, sich um meine Nichte zu bewerben, und hat dadurch, wie ich fürchte, zu dem Misverständniß Anlaß gegeben, daß seine Bewerbung mir gegolten hätte. Und nun bedenken Sie nur, wie demüthigend ein solches Gerücht seyn muß. Ich weiß gewiß, daß Sie meine Lage fühlen werden. Ein Frauenzimmer von meinem Stande. Denken Sie nur, wie sehr mich schon der bloße Verdacht einer solchen Verbindung herabsetzen muß!«
»In der That herabsetzen, meine arme Freundin! — verlassen Sie sich darauf, daß ich es allenthalben, wohin ich komme, widerlegen werde.«
Mit diesen Worten richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf andre Personen in der Gesellschaft, und Cavigni, der bisher den ernsthaften Zuschauer bey der ganzen Scene gemacht hatte, gieng schnelI davon, weil er ein Lachen, das ihn krampfhaft drückte, nicht länger zurückhalten konnte.
»Sie scheinen nicht zu wissen«, sagte die Dame, die neben Madame Cheron saß, »daß der Herr, von dem Sie sprachen, ein Neffe von Madame Clairval ist.« — »Unmöglich«, rief Madame Cheron, die nun anfieng zu merken, daß sie sich in ihrem Urtheil von Valancourt gänzlich geirrt hatte, und die ihn jetzt mit lauter Stimme eben so knechtisch pries, als sie ihn vorher mit leichtsinniger Bosheit getadelt hatte.
Emilie hatte die ganze Zeit über so tief in Gedanken gesessen, daß sie beynahe nichts von dem Gespräch gehört hatte, und sie konnte nicht genug erstaunen über die Lobsprüche, die sie ihre Tante an Valancourt verschwenden hörte, da sie von seiner Verwandschaft mit Madame Clairval nichts wußte: doch war es ihr ganz recht, daß Madame Cheron, die trotz allem Bemühn, unbefangen zu scheinen, sich in der That sehr verlegen fühlte, sich gleich nach dem Abendessen zum Fortgehn anschickte. Montoni kam herbey, um Madame Cheron an den Wagen zu führen, und Cavigni bot mit einer feyerlich schlauen Miene Emilien die Hand. Als sie eben den Herren gute Nacht wünschte, und das Fenster aufzog, erblickte sie Valancourt in dem Gedränge am Thore. Er verschwand, ehe der Wagen fortfuhr; Madame Cheron enthielt sich, seiner gegen Emilien zu erwähnen, und sobald sie das Schloß erreicht hatten, trennten sie sich für die Nacht.
Den andern Morgen, als Emilie mit ihrer Tante beym Frühstück saß, wurde ihr ein Brief gebracht, dessen Handschrift sie auf dem Couvert erkannte; sie erbrach ihn mit zitternder Hand, und Madame Cheron fragte sie hastig, von wem er käme. Emilie erbrach das Siegel, und da sie den Namen Valancourt unterzeichnet sah, gab sie ihn stillschweigend ihrer Tante, die ihn begierig hinnahm. Indem sie ihn durchlief, bemühte sich Emilie, den Inhalt auf ihrem Gesichte zu lesen. Sie gab ihn an ihre Nichte zurück, deren Augen zu fragen schienen, ob sie ihn lesen dürfte. »Ja Kind, lesen Sie ihn nur«, sagte Madame Cheron mit minder strengem Tone als sie erwartet hatte, und vielleicht hatte Emilie ihrer Tante noch nie so gerne gehorcht. Valancourt erwähnte in diesem Briefe der Zusammenkunft vom vorigen Tage nur ganz kurz, schloß aber mit der Erklärung, daß er seinen Abschied nur von Emilien annehmen könnte, und mit der Bitte, daß sie ihm erlauben möchte, ihr den Nachmittag aufzuwarten. Sie erstaunte über die Mäßigung, womit Madame Cheron ihr einen solchen Brief eingehändigt hatte, und fragte sie mit bebender, trauriger Stimme: »was soll ich antworten, Madame?«
»Nun, wir müssen doch wohl den jungen Mann sehn«, erwiederte ihre Tante, »und hören, was er weiter vorzubringen hat. Schreiben Sie ihm nur, daß er kommen möchte.« — Emilie wagte kaum ihren Ohren zu trauen. »Doch, warten Sie nur«, setzte sie hinzu, »ich werde es ihm selbst ankündigen.« — Sie rief nach Feder und Dinte. Emilie wußte noch immer nicht, ob sie ihren Sinnen trauen durfte, und unterlag beynahe ihren Gefühlen. Ihr Erstaunen würde minder groß gewesen seyn, wenn sie den Abend vorher gehört hätte, was Madame Cheron nicht vergessen hatte, daß Valancourt ein Neffe von Madame Clairval war.
Emilie erfuhr den nähern Inhalt von ihrer Tante Briefe nicht, allein der Erfolg war ein Besuch von Valancourt, den Madame Cheron allein empfieng, und eine lange Unterredung mit ihm pflog, ehe Emilie herunter gerufen wurde. Sie fand ihre Tante in einem wohlgefälligen Gespräch begriffen, und Valancourts Augen funkelten von Hoffnung, als er ihr mit ungeduldigem Verlangen entgegenkam.
»Wir haben eben von der bewußten Sache gesprochen«, sagte Madame Cheron. »Der Chevalier sagt mir, daß der verstorbene Herr Clairval ein Bruder von seiner Mutter, der Gräfin Düvarney gewesen ist. Es ist nur Schade, daß er seiner Verwandschaft mit Madame Clairval nicht früher erwähnt hat: ich würde diesen Umstand als eine hinlängliche Einführung in mein Haus betrachtet haben.« — Valancourt verneigte sich, und wollte Emilien anreden, allein ihre Tante hielt ihn zurück. — »Ich erlaube Ihnen also«, fuhr sie fort, »die Besuche des Chevaliers anzunehmen, und ohngeachtet ich mich durch kein Versprechen binden, oder geradeswegs gesagt haben will, daß ich ihn als meinen Neffen betrachten werde, habe ich doch nichts gegen ihren Umgang einzuwenden, und werde eine nähere Verbindung für die Zukunft als einen Umstand ansehn, der vielleicht nach einer Reihe von Jahren Statt finden kann, wenn es dem Chevalier gelingt, sich in seinem Stande empor zu schwingen, oder wenn sich andre Dinge ereignen, die es rathsam für ihn machen, eine Frau zu nehmen. Nur werden so wenig Sie, Emilie, als Herr Valancourt vergessen, daß bis dahin durchaus von keinem Gedanken an Heirath die Rede seyn darf.«
Emilie wechselte während dieser unfeinen Rede mehr als einmal die Farbe, und bey den letzten Worten stieg ihre Verlegenheit so hoch, daß sie auf dem Punkt stand, das Zimmer zu verlassen. Valancourt, der sich nicht viel weniger verlegen fühlte, wagte es kaum, die anzusehn, für die er so peinlich litt. Sobald aber Madame Cheron schwieg, sagte er: »Madame, so schmeichelhaft mir auch Ihr Beifall ist — so sehr ich mich auch dadurch geehrt fühle — bleibt mir doch so viel zu fürchten, daß ich kaum zu hoffen wage.« —
»Erklären Sie sich näher«, sagte Madame Cheron. Diese unerwartete Forderung setzte Valancourt in neue Verlegenheit; er fühlte sich aufs äusserste betroffen über Dinge, die ihn, wenn er ein bloßer Zuschauer der Scene gewesen wäre, vielleicht zum Lachen würden gereizt haben.
»Ehe ich nicht des Fräuleins Erlaubniß erhalten habe, Ihre Güte anzunehmen«, sagte er stammelnd »— ehe nicht sie mir zu hoffen erlaubt —«
»O wenn das alles ist«, unterbrach ihn Madame Cheron — »gut, ich werde die Antwort für sie übernehmen. Erlauben Sie mir aber zugleich, Ihnen zu sagen, daß ich ihre Vormünderin bin, und daß ich erwarte, daß mein Wille in allen Fällen der ihrige seyn wird.«
Mit diesen Worten gieng sie aus dem Zimmer und ließ Valancourt und Emilien in gegenseitiger Verlegenheit zurück. Valancourt empfand zu feurig, als daß nicht Hoffnung den Sieg über die Furcht hätte davon tragen, und ihm Muth machen sollen, sie mit seiner natürlichen Offenheit und Wärme anzureden; allein es dauerte lange, ehe sie sich genug wieder erholen konnte, um seine Bitten und Folgen deutlich zu hören.
Madame Cherons Betragen bey dieser Gelegenheit wurde gänzlich durch selbstsüchtige Eitelkeit regiert. Valancourt hatte ihr bey seiner ersten Unterredung ganz aufrichtig die Beschaffenheit seiner gegenwärtigen Glücksumstände und seiner zukünftigen Erwartungen eröffnet, und sie hatte mit mehr Klugheit als Gefühl seine Bewerbung durchaus abgewiesen. Sie wollte ihre Nichte nach ehrgeitzigen Rüksichten verheirathen, nicht weil sie wünschte, sie im Besitz des Glücks zu sehen, welches der gewöhnlichen Meynung nach Rang und Reichthum gewähren, sondern weil sie etwas von der Wichtigkeit, die eine vornehme Verbindung ihr geben würde, auf sich zu ziehen hoffte. Sobald sie also erfuhr, daß Valancourt der Neffe einer Person von so viel Wichtigkeit als Madame Clairval war, wünschte sie sehnlich eine Verbindung, die Emilien für die Zukunft Rang und Vermögen hoffen ließ, und ihr selbst die Wichtigkeit mitzutheilen versprach, nach der sie so sehnlich trachtete. Ihre Berechnungen auf Vermögen bey dieser Heirath gründeten sich mehr auf ihre Wünsche, als auf einen Wink von Valancourt, oder auf besondre Wahrscheinlichkeit; denn wenn sie auf den Reichthum der Madame Clairval rechnete, mußte sie ganz vergessen haben, daß diese eine Tochter besaß. Valancourt hingegen hatte diesen Umstand nicht vergessen, und die Rüksicht, die er darauf nahm, machte ihn so bescheiden in seinen Erwartungen auf Madame Clairval, daß er bey seinem ersten Gespräch mit Madame Cheron, seiner Verwandschaft mit ihr gar nicht einmal erwähnte. Indessen mochte es auch mit Emiliens künftigen Vermögen noch so unsicher stehn, so war es doch gewiß, das jetzt ein gewisses Ansehn dadurch auf sie zurükfallen musste, da Madame Clairval durch den Glanz und die Pracht ihres Hauses den Neid der ganzen Nachbarschaft und die Nachahmung eines Theils derselben erregte. Sie hatte also eben so wenig Rücksicht auf ihrer Nichte Glück genommen, als sie eine Verbindung, von der das Ende noch fern und ungewiß war, bewilligte, als sie damals darauf nahm, da sie diese Verbindung durchaus verwarf: demohngeachtet sie die Mittel in Händen hatte, sie sowohl gewiß als der Klugheit gemäß zu machen, so war doch dies auf keine Weise ihre gegenwärtige Absicht.
Von dieser Zeit an machte Valancourt fleissig Besuche bey Madame Cheron, und Emilie brachte in seiner Gesellschaft die glücklichsten Stunden hin, die sie seit ihres Vaters Tode verlebt hatte. Beyde waren zu sehr mit dem gegenwärtigen Augenblick beschäftigt, um ernsthaften Gedanken für die Zukunft Raum zu geben. Sie liebten und wurden geliebt, und fühlten nicht, daß diese Zärtlichkeit, welche das Glück ihrer jetzigen Tage machte, vielleicht das Leiden ganzer Jahre nach sich ziehen würde. Madame Cheron trat indessen in nähern Umgang mit Madame Clairval, und ihre Eitelkeit fühlte sich nicht wenig dadurch geschmeichelt, bey jeder Gelegenheit der Neigung zwischen dem Neffen dieser Dame und ihrer Nichte Erwähnung zu thun.
Auch Montoni war jetzt ein täglicher Gast im Schlosse und Emilie sah nur zu deutlich, daß er würklich den Anbeter, und zwar den begünstigten Anbeter bey ihrer Tante machte.
Auf solche Art verstrichen die Wintermonate für Valancourt und Emilien nicht nur in Frieden, sondern in allem Genusse beglückter Zärtlichkeit; sein Regiment stand so nahe bey Toulouse, daß er leicht zu ihnen herüber kommen konnte. Der Pavillon auf der Terasse war ihr Lieblingsaufenthalt; Emilie pflegte hier mit Madame Cheron bey der Arbeit zu sitzen, während Valancourt ihnen Werke des Genies und Geschmackes vorlas, mit Vergnügen die Ausbrüche ihrer Begeisterung anhörte, seine eigne äusserte, und neue Gelegenheit fand zu bemerken, daß ihre Seelen geschaffen wären, eines des andern Glück zu machen, da ein Geschmack, einerley edle und wohlwollende Gesinnungen sie zu beseelen schienen.
Madame Cherons Geitz gab endlich ihrer Eitelkeit nach. Einige glänzende Feste, die Madame Clairval gegeben hatte, und die allgemeine Huldigung, die man ihr bewieß, machte sie begieriger als jetzt, eine Verbindung fest zu knüpfen, die ihr in ihrer eignen und in der Meinung der Welt ein so hohes Gewicht geben mußte. Sie schlug Heirathspunkte vor, und erbot sich, Emilien eine Ausstattung zu geben, wofern Madame Clairval sich zu ähnlichen Bedingungen für ihren Neffen verstehn wollte. Madame Clairval gab diesem Vorschlag Gehör, und nahm ihn an, weil sie Emilien mit allem Recht als die künftige Erbin des Reichthums ihrer Tante betrachtete. Emilie wußte indessen von der ganzen Verhandlung nichts, bis Madame Cheron ihr sagte, daß sie sich zur Hochzeit, die ohne weitern Aufschub gefeyert werden würde, bereit halten sollte. Voll Erstaunen und durchaus unfähig, sich diese plötzliche Beschleunigung zu erklären, die Valancourt nicht gesucht hatte — denn er wußte nicht, was zwischen den ältern Damen vorgegangen war, und ließ sich ein solches Glück gar nicht träumen — machte sie gegründete Einwendungen dagegen; allein Madame Cheron, die jetzt eben so wenig Widerspruch ertragen konnte, als ehemals, stritt nun eben so eifrig für eine schleunige Heirath, als sie sich vorher auch dem entferntesten Anschein einer Möglichkeit dazu widersetzt hatte, und Emiliens Bedenklichkeiten verschwanden, als sie Valancourt wieder sah, der nun sein Glück erfahren hatte, und zu ihr eilte, um ihr Versprechen zu fodern.
Während man sich mit den Zurüstungen zu dieser Hochzeit beschäftigte, wurde Montoni der erklärte Liebhaber der Madame Cheron, und so unzufrieden auch Madame Clairval war, als sie von dieser Verbindung hörte, und sogern sie auch nunmehr die bevorstehende zwischen Valancourt und Emilien hintertrieben hätte, sagte ihr doch ihr Gewissen, daß es nicht recht sey, so mit dem Frieden zweyer Menschen zu spielen, denn Madame Clairval war zwar auch eine Frau nach der Mode, war aber doch lange nicht so weit als ihre Freundin in der Kunst gekommen, mehr Zufriedenheit aus Rang und Bewundrung als aus der innern Befriedigung ihres Gewissens zu schöpfen.
Emilie sah sowohl das Uebergewicht, welches Montoni über Madame Cheron erlangt hatte, als seine immer häufiger werdenden Besuche mit innerm Misvergnügen; sie wurde in ihrer eignen Meinung von diesem Italiener durch das Urtheil Valancourts, der von jeher ein Misfallen an ihm geäussert hatte, bestärkt. Eines Morgens, als sie bey ihrer Arbeit in dem Pavillon saß, und die erquickende Kühle des Frühlings genoß, der jetzt seine Farben über die Landschaft ausbreitete, während Valancourt ihr aus einem Buche vorlas, das er oft bey Seite legte, um zu sprechen, erhielt sie eine Auffoderung, unverzüglich zu Madame Cheron zu kommen. Sobald sie ins Zimmer trat, bemerkte sie mit Verwundrung die Niedergeschlagenheit auf ihrer Tante Gesicht, die mit der Munterkeit ihres bunten Anzugs in Widerspruch stand. —
»Sind Sie da, Nichte«, sagte Madame Cheron und schwieg wieder mit sichtlicher Verlegenheit — »ich ließ Sie rufen — denn ich wünschte — ich wünschte, Sie zu sehn, weil ich Ihnen — weil ich Ihnen etwas neues zu sagen habe. Sie müssen von dieser Stunde an den Signor Montoni als Ihren Onkel betrachten — denn diesen Morgen wurden wir verheirathet.«
Nicht sowohl über die Heirath, als über die Heimlichkeit, womit sie war vollzogen worden, und über die Verlegenheit, womit sie angekündigt wurde, erstaunt, schrieb sie endlich diese Heimlichkeit mehr Montonis Wunsche, als ihrer Tante zu. Seine Frau aber wollte, daß man gerade das Gegentheil glauben sollte, und setzte deswegen hinzu: Sie sehn, daß ich alles Aufsehn zu vermeiden gewünscht habe, allein nunmehr, da die Ceremonie vorbey ist, liegt mir nicht länger daran, und ich wünsche meinen Leuten anzukündigen, daß sie den Signor Montoni als ihren Herrn betrachten sollen. Emilie machte einen schwachen Versuch, ihr zu dieser so sichtlich thörigten Heirath Glück zu wünschen. »Ich werde nun meine Hochzeit mit einigem Glanze feyern«, fuhr Madame Montoni fort, »und um Zeit zu gewinnen, werde ich die Anstalten benutzen, die bereits zu der Ihrigen gemacht worden sind. Diese muß nun freylich noch ein wenig verschoben werden! Was von Ihren Hochzeitskleidern bereits fertig ist, hoffe ich, werden Sie mir zu Ehren bey dieser Gelegenheit tragen. Auch wünschte ich, daß Sie Herrn Valancourt die Veränderung meines Namens kund thun, und ihn bitten möchten, es auch der Madame Clairval anzukündigen. In wenig Tagen werde ich ein großes Fest geben, wobey ich um Ihrer aller Gesellschaft bitte.«
Emilie war so sehr in Erstaunen und Nachdenken versetzt, daß sie der Madame Montoni kaum antworten konnte, doch gieng sie nach dem Pavillon zurück, um wie sie verlangt hatte, Valancourt von dem, was vorgefallen war, zu unterrichten. Sein herrschendes Gefühl, als er von dieser plötzlichen Heirath hörte, war nicht Erstaunen, und als er nun gar erfuhr, daß seine eigne deswegen verschoben werden mußte, und daß dieselben Anstalten im Schlosse, die gemacht worden waren, um seiner Emilie Hochzeitstag zu feyern, jezt für Madame Montoni entweiht werden sollten, erschütterten ihn abwechselnd Schmerz und Unwillen. Er konnte keine dieser Empfindungen vor Emiliens scharfsinnigen Blicken verbergen, deren Bemühung, seinen Ernst zu zerstreuen und über seine bangen Besorgnisse zu lachen, fruchtlos blieben. Er nahm endlich mit einer ernsten Zärtlichkeit, die sie tief erschütterte, Abschied; sie vergoß sogar Thränen als er am Ende der Terasse verschwand, ohne selbst genau zu wissen warum.
Montoni nahm nunmehr vom Schlosse und von der Herrschaft über die Bewohner desselben mit der Gleichgültigkeit eines Mannes Besitz, der schon lange beydes als sein Eigenthum betrachtet hatte. Sein Freund Cavigni, der sich ihm sehr nützlich dadurch gemacht hatte, daß er der Madame Cheron die Aufmerksamkeit und Schmeicheley bewieß, die sie forderte, die aber Montoni nur zu oft empörten, erhielt ebenfalls Zimmer im Schlosse, und wurde von den Bedienten mit eben dem Gehorsam als der Herr des Hauses behandelt.
Nach wenig Tagen gab Madame Montoni, wie sie versprochen hatte, einer sehr zahlreichen Gesellschaft ein großes Fest. Valancourt erschien unter den Gästen, Madame Clairval aber lehnte es ab zu kommen. Es wurde Concert, Ball und Soupee gegeben. Valancourt war natürlich Emiliens Gefährter, und wenn ihm gleich, so oft er die Dekorationen der Zimmer ansah, der Gedancke einfallen mußte, daß sie zu einer andern Feyer bestimmt gewesen waren, so suchte er doch seinen Schmerz durch den Gedanken zu unterdrücken, daß nur noch kurze Zeit verstreichen würde, bis sie ihre ursprüngliche Bestimmung erhielten. Madame Montoni tanzte, lachte und scherzte den ganzen Abend hindurch unaufhörlich, während Montoni, still, zurückhaltend und stolz, der ganzen Parade und der frivolen Gesellschaft, die sie herbey gezogen hatte, herzlich überdrüsig schien.
Dies war das erste und letzte Fest, das zu dieser Hochzeitsfeyer gegeben wurde. So sehr auch Montonis ernsthaftes Temperament und sein finstrer Stoltz ihn abhielten, solche Feste zu geniessen, war er doch sehr geneigt, sie zu befördern. Er konnte nicht leicht in irgend einer Gesellschaft einen Mann von mehr Gewandheit und noch seltner von mehr Verstande, als er selbst besaß, antreffen, folglich mußte bey solchen Gesellschaften oder bey den Bekanntschaften, die daraus entstanden, der Vortheil immer auf seiner Seite seyn; und da er die eigennützigen Absichten kannte, weswegen sie gewöhnlich besucht werden, so war es ihm nicht zuwider, seine Talente in der Verstellungskunst mit andern, die sich um Talent und Auszeichnung bewarben, zu messen. Seine Frau aber, die so oft ihr eignes Selbst unmittelbar ins Spiel kam, mehr Scharfsinn als Eitelkeit besaß, war sich bewußt, daß sie an persönlichen Reizen andern Weibern nachstand, und dies Bewußtseyn, mit der dabei natürlichen Eifersucht verbunden, machte sie weniger geneigt, als er es war, sich in alle Gesellschaften, die Toulouse nur aufbringen konnte, zu mischen. Ehe sie noch, ihrer Meynung nach, die Zärtlichkeit eines Ehegatten aufs Spiel zu setzen hatte, konnte sie keinen Bewegungsgrund haben, diese unwillkommne Wahrheit zu entdecken, und würklich hatte sie sich ihr bisher noch nie aufgedrungen; jetzt aber, da ihre Klugheit durch diese Betrachtung aufgeboten wurde, widersetzte sie sich ihres Mannes Hange zur Gesellschaft um so eifriger, da sie glaubte, daß er wirklich bey den Frauenzimmern des Orts so gut angeschrieben wäre, als er in der Zeit seiner Bewerbung um ihre Hand sie hatte glauben lassen.
Es war erst wenig Wochen seit ihrer Heirath verstrichen, als Madame Montoni Emilien ankündigte, daß der Signor nach Italien zurückzugehn dächte, so bald die nöthigen Zurüstungen zu einer so langen Reise getroffen seyn würden. Wir werden, sagte sie, nach Venedig, wo der Signor ein schönes Haus hat, und von da nach seinem Gute in Toscanien gehn. »Warum machen Sie ein so ernsthaftes Gesicht, Kind? — Da Sie so sehr ein romantisches Land und schöne Aussichten lieben, werden Sie gewiß viel Vergnügen von dieser Reise haben. «
»Soll ich denn von der Gesellschaft seyn, Madame?« fragte Emilie mit äusserstem Erstaunen.
»Unfehlbar, wie können Sie sich nur einbilden, daß wir Sie zurücklassen würden! Aber Sie denken vermuthlich an den Chevalier; ich glaube, er weiß noch nichts von der Reise, allein er wird es bald erfahren. Signor Montoni ist zu Madame Clairval gegangen, um sie von unsrer Reise zu benachrichtigen und ihr zu sagen, daß für jetzt an die bewußte Verbindung zwischen den Familien nicht mehr zu denken ist.«
Die Fühllosigkeit, womit Madame Montoni ihrer Nichte ankündigte, daß sie sich vielleicht auf immer von dem Manne trennen müßte, mit dem sie fürs ganze Leben vereinigt zu werden gehofft hatte, erhöhte die Kränkung, die sie auf jeden Fall bey einer solchen Nachricht empfinden mußte. Sobald sie sprechen konnte, fragte sie ihre Tante um die Ursache der plötzlichen Veränderung ihrer Gesinnung gegen Valancourt, allein sie konnte nichts weiter zur Antwort erhalten, als daß der Signor diese Verbindung nicht zugeben wollte, weil er sie für weit unter dem hielte, was Emilie zu erwarten berechtigt sey.
»Ich überlasse jetzt diese Sache dem Signor ganz allein«, setzte Madame Montoni hinzu, »doch muß ich sagen, daß Herr Valancourt niemals ein Liebling von mir gewesen ist, und daß ich mich nur habe übertäuben lassen, sonst hätte ich nimmermehr meine Einwilligung geben können. Ich war schwach genug — ich bin denn zuweilen so eine gute Närrin, mich von andrer Leute Traurigkeit rühren zu lassen, und opferte so mein bestes Urtheil Ihrem Grame auf. Allein der Signor hat mir diese Thorheit sehr nachdrücklich verwiesen, und soll mir gewiß nicht zum zweitenmal einen Vorwurf machen dürfen. Ich will also, daß Sie sich denjenigen unterwerfen, die Sie besser zu lenken wissen, als Sie sich selbst — ich will, daß Sie sich nach uns richten sollen.«
Emilie würde über den Inhalt dieser Rede in Erstaunen gerathen seyn, wäre nicht ihre Seele durch den plötzlich erlittenen Stoß so sehr überwältigt worden, dass sie kaum eine Sylbe von dem, was zuletzt zu ihr gesagt wurde, verstand. Welche Schwächen auch Madame Montoni besitzen mochte, so hätte sie doch sicher nicht nötig gehabt, Mitleid und zärtliche Schonung gegen die Gefühle andrer, und besonders gegen Emilien, darunter zu zählen. Derselbe Ehrgeiz, der sie noch vor kurzem dahin gebracht hatte, eine Verbindung mit Madame Clairvals Familie zu suchen, bewegte sie jetzt, da ihre Wichtigkeit und zugleich ihre Ansprüche für ihre Nichte durch ihre Heirath mit Montoni in ihren eignen Augen gestiegen waren, sie von sich zu weisen.
Emilie war zu tief erschüttert, um Gründe oder Bitten anzuwenden, und als sie endlich das lezte versuchte, erstickte ihre Bewegung die Sprache, und sie zog sich in ihr Zimmer zurück, um über diesen plötzlichen, sie ganz überwältigenden Streich des Unglücks nachzudenken, wenn anders denken in ihrem Gemüthszustande möglich war. Es dauerte lange, ehe sie ihre Lebensgeister hinlänglich sammeln konnte, um das Nachdenken zuzulassen, das endlich dunkel und schrecklich sie befiel. Sie sah, daß Montoni seine eigne Vergrösserung durch sie suchte, und es fiel ihr ein, dass sein Freund Cavigni vielleicht die Person seyn könnte, für die er sich interessirte. Die Aussicht nach Italien zu gehn, verfinsterte sich immer mehr vor ihr, wenn sie die tumultuarische Lage dieses Lands bedachte, das damals durch bürgerlichen Aufstand zerrissen wurde, wo jeder kleine Staat mit seinem Nachbar im Kriege stand, und jedes Schloß sogar den Angriff eines Eroberers ausgesezt war. Sie dachte an die Person, deren unmittelbarer Führung sie anvertraut werden sollte, an die weite Kluft, die bald zwischen ihr und Valancourt befestigt seyn würde; bey der Erinnerung an ihn verschwand jedes andre Bild aus ihrer Seele, und jeder Gedanke wurde aufs neue durch den Schmerz verdrängt.
Sie brachte einige Stunden in diesem unruhigen Zustande hin, und als sie zu Tisch gerufen wurde, bat sie um Erlaubniß, in ihrem Zimmer zu bleiben; Madame Montoni aber war allein, und die Bitte wurde abgeschlagen. Emilie sowohl als ihre Tante sprachen wenig während der Mahlzeit: die eine war mit ihrem Schmerz beschäftigt, die andre fühlte sich durch Montonis unerwartete Abwesenheit gekränkt: denn seine Entfernung beleidigte nicht nur ihre Eitelkeit, sondern machte auch ihre Eifersucht rege, weil sie glaubte, daß eine geheime Verabredung Ursache daran sey. Sobald die Bedienten hinausgegangen waren, und sie sich allein sahe, brachte Emilie das Gespräch auf Valancourt; allein ihre Tante, die sich weder zum Mitleid sänftigen, noch zu Gewissensbissen erwecken ließ, gerieth in Wuth, daß man sich ihrem Willen widersetzen, oder Montonis Autorität in Zweifel ziehn könnte, wiewohl Emilie dies letzte mit ihrer gewöhnlichen Sanftmuth that. Nach einem langen, qualvollen Gespräch zog sie sich endlich in Thränen zurück.
Indem sie durch den Saal gieng, trat jemand durch die große Thüre herein. Sie glaubte, es sey Montoni, und wollte mit schnelleren Schritten weiter gehn, als sie Valancourts wohlbekannte Stimme hörte.
»Emilie, o meine Emilie!« rief er mit stammelnder Zunge. Sie drehte sich um, und als er ihr näher kam, erschrak sie über den Ausdruck seines Gesichts, und über die wilde Verzweiflung in seiner Miene. »In Thränen Emilie! ich wünschte mit Ihnen zu sprechen«, rief er; »ich habe Ihnen viel zu sagen. Führen Sie mich an einen Ort, wo wir ungehindert reden können. Allein Sie zittern, Sie befinden sich nicht wohl — Lassen Sie mich Sie zu einem Stuhl führen!«
Er sah die Thüre eines Zimmers offen, und nahm sie eilends bey der Hand, um sie dahin zu führen; allein sie versuchte sie zurückzuziehn, und sagte mit mattem Lächeln: »mir ist schon besser, wenn Sie meine Tante zu sehn wünschen, sie ist im Eßzimmer.« »Ich muß mit Ihnen sprechen, meine Emilie«, erwiederte Valancourt »— großer Gott! ist es schon dahin gekommen! Sind Sie in der That so bereit, mich aufzugeben? Allein dies ist ein unschicklicher Ort; man kann mich hören. Lassen Sie sich erbitten, mir Ihre Aufmerksamkeit zu schenken, wenn es auch nur auf wenig Minuten seyn kann.« — »Wenn Sie meine Tante werden gesehn haben«, sagte Emilie! — »Ich war elend genug, als ich hieher kam«, rief Valancourt, »vermehren Sie mein Elend nicht durch diese Kälte, durch diese grausame Verweigerung!«
Die Traurigkeit, womit er dies sagte, rührte sie beynahe bis zu Thränen, allein sie beharrte auf ihrer Weigerung ihn zu hören, bevor er mit Madame Montoni würde gesprochen haben. »Wo ist ihr Mann, wo ist denn Montoni? mit ihm, mit ihm muß ich sprechen«, sagte er mit veränderter Stimme.
Emilie, die die Folgen des Unwillens fürchtete, der in seinen Augen flammte, sagte ihm zitternd, daß Montoni zu Hause wäre, und bat ihn flehentlich, seinen Unwillen zu mässigen. Bey dem bebenden Ton ihrer Stimme schmolz der wilde Blick seiner Augen sogleich in Zärtlichkeit. »Ihnen ist nicht wohl, Emilie«, sagte er, »sie werden uns beyde tödten! Vergeben Sie mir daß ich an Ihrer Liebe zweifeln konnte.«
Emilie widerstand ihm nicht länger, als er sie in ein anstoßendes Zimmer führte. Die Art wie er Montoni nannte, hatte sie für seine eigne Sicherheit so besorgt gemacht, daß sie jetzt nur darauf dachte, den Wirkungen seiner gerechten Rache vorzubeugen. Er hörte ihre Bitten aufmerksam an, beantworte sie aber nur mit Blicken der Zärtlichkeit und des Schmerzes, und bemühte sich, um die ängstlichen Besorgnisse, welche sie quälten, zu stillen, seine Gesinnungen gegen Montoni so viel als möglich zu verheelen. Allein sie durchschaute den Schleyer, worin er seinen Unwillen gehüllt hatte, und da seine angenommene Ruhe sie nur noch mehr besorgt machte, legte sie ihm endlich ans Herz, wie unweise es sey, Montoni zu einer Unterredung zu zwingen, und irgend einen Schritt zu thun, wodurch ihre Trennung unabänderlich gemacht werden könnte. Solchen Gründen mußte Valancourt Gehör geben, und ihre rührenden Bitten entlockten ihm das Versprechen, daß er, wenn auch Montoni auf seinem Vorsatz, sie zu trennen, beharrte, doch nicht suchen würde, sein Unrecht durch Gewalt zu rächen. »Um meinetwillen!« sagte Emilie. »Lassen Sie sich den Gedanken an das, was ich leiden würde, von solcher Rache abhalten!« — »Um Ihrentwillen!« erwiederte Valancourt, und seine Augen füllten sich mit Thränen der Zärtlichkeit und des Schmerzes, während er sie anstaunte. — »Ja, ja, ich werde mich selbst überwinden! Allein wenn ich gleich Ihnen mein feyerliches Versprechen, dies zu thun, gegeben habe, so erwarten Sie doch nicht, daß ich mich Montonis Gewalt geduldig unterwerfe: könnte ich es, so würde ich Ihrer unwerth seyn. Und doch, Emilie! wie lange wird er mich vielleicht verdammen, ohne Sie zu leben! Wie lange wird es währen, ehe Sie nach Frankreich zurückkommen!« —
Emilie suchte ihn durch die Versicherung ihrer unwandelbaren Liebe und durch die Vorstellung, daß sie in nicht viel länger als einem Jahre mündig und folglich von der Vormundschaft ihrer Tante befreyt seyn würde, zu trösten. Diese Versicherungen konnten Valancourt wenig Beruhigung geben, wenn er bedachte, daß sie alsdann in Italien und in der Gewalt von Menschen wäre, deren Herrschaft über sie nicht mit ihren Rechten aufhören würde — allein er stellte sich, als fühle er sich dadurch beruhigt. Emilie, durch das Versprechen, welches sie von ihm erhalten hatte, und durch seine anscheinende Fassung getröstet, war im Begrif ihn zu verlassen, als ihre Tante ins Zimmer trat. Sie warf auf ihre Nichte, die sich sogleich entfernte, einen strengen, verweisenden Blik und auf Valancourt einen Blick voll stolzen Unwillens.
»Dies Betragen hätte ich nicht von Ihnen erwartet«, sagte sie, »ich erwartete sicher nicht, Sie in meinem Hause zu sehn, seit Ihnen gesagt war, daß Sie nicht länger willkommen wären, und noch weniger hätte ich geglaubt, daß Sie eine geheime Unterredung mit meiner Nichte suchen, oder daß Emilie sie zugestehn würde.«
Valancourt, der es nothwendig fand, Emilien von dieser Beschuldigung zu rechtfertigen, erklärte ihr, daß die Absicht seines Besuchs gewesen sey, mit Montoni zu sprechen, und äußerte sich über die Veranlassung dazu mit der Mäßigung, welche mehr Madame Montonis Geschlecht als ihre persönlichen Eigenschaften ihm auflegte.
Sie beantwortete seine Vorstellungen durch Grobheiten; beklagte aufs neue, daß ihre Klugheit immer dem, was sie Mitleid nannte, nachgegeben hätte, und sezte hinzu, sie fühlte die Thorheit in diese Verbindung eingewilligt zu haben, so sehr, daß sie, um nicht wieder in eine ähnliche Schwäche zu fallen, die Sache gänzlich dem Signor Montoni übergeben hätte.
Valancourts beredte Gründe bewürkten zwar endlich, daß sie das Unwürdige ihres Betragens einigermaßen fühlte, und wenigstens Schaam, wenn auch keine Gewissensbisse empfand. Sie haßte Valancourt als den Urheber dieses peinlichen Gefühls, und mit der Unzufriedenheit über sich selbst, stieg in gleichem Maße ihre Abneigung gegen ihn. Ja, sie wurde um so bittrer, da die Mäßigung, womit er vermied, sie anzuklagen, sie sich selbst anzuklagen zwang, und sie weder hoffen ließ, daß dies verhaßte Gemälde, was sie von sich selbst erblickte, eine Uebertreibung seines gegen sie gefaßten Vorurtheils sey, noch ihr eine Entschuldigung gab, den heftigen Unwillen, womit sie es betrachtete, zu äussern. Endlich stieg ihr Zorn zu einer solchen Höhe, daß Valancourt sich genöthigt sah, schnell das Haus zu verlassen, um nicht durch eine unbesonnene Antwort seine eigne Achtung zu verscherzen. Er überzeugte sich nunmehr vollkommen, daß er von Madame Montoni nichts zu hoffen hatte, denn welches Mitleid oder Gerechtigkeit ließ sich wohl von einer Person erwarten, die ihr Unrecht fühlte, ohne es zu bereuen.
Von Montoni konnte er sich eben so wenig versprechen, denn es war augenscheinlich, daß der Plan sie zu trennen, von ihm herrührte, und es ließ sich nicht erwarten, daß er seine eignen Entwürfe Bitten oder Vorstellungen aufopfern würde, die er voraus gesehn und ihnen Widerstand zu leisten, sich vorbereitet haben mußte. Da er sich indessen seines Versprechens gegen Emilien erinnerte, und da ihm mehr der Gedanke an seine Liebe, als die Furcht, seinem Ansehn etwas zu vergeben, am Herzen lag, so hütete er sich sehr, etwas zu thun, wodurch er Montoni unnöthiger Weise aufbringen könnte. Er schrieb ihm, nicht um eine Zusammenkunft zu fodern, sondern um darum zu bitten, und nachdem er dies gethan hatte, bemühte er sich, seine Antwort ruhig zu erwarten.
Madame Clairval verhielt sich leidend bey der Sache. Als sie ihre Einwilligung zu Valancourts Heirath gab, stand sie in dem Glauben, daß Emilie Madame Montonis Vermögen erben würde, und wenn gleich, da sie bey der Verheirathung der leztern einsah, wie trüglich diese Erwartung gewesen war, ihr Gewissen sie abhielt, einen Schritt zu thun, um diese Verbindung zu hintertreiben, so war doch auch ihr Wohlwollen nicht lebhaft und thätig genug, um sie dahin zu bringen, jezt etwas zur Beförderung derselben zu thun. Es war ihr im Gegentheil heimlich lieb, Valancourt von einer Verbindung losgemacht zu sehn, die sie in Betref des Vermögens eben so sehr unter den Ansprüchen hielt, wozu seine Vorzüge ihn berechtigten, als Montoni sie herabsetzend für Emiliens Schönheit glaubte. Wenn auch ihr Stolz sich gekränkt fühlte, daß man einen so nahen Verwandten von ihr verwarf, so verachtete sie es doch, ihre Empfindlichkeit anders, als durch Stillschweigen zu zeigen.
Montoni gab Valancourt zur Antwort, da eine Zusammenkunft zwischen ihnen, weder die Einwendungen des Einen aus dem Wege räumen, noch die Wünsche des Andern vernichten könnte, so würde sie nur dazu dienen, einen unnützen Streit zwischen ihnen anzuspinnen und er hielte es also für klüger, sie abzulehnen.
Nur Rüksicht auf die Gründe der Klugheit, worauf Emilie ihn aufmerksam gemacht hatte, und auf sein ihr gethanes Versprechen, konnte die Aufwallung unterdrücken, die ihn nach Montonis Hause trieb, um zu fodern, was man seinen Bitten verweigert hatte. Er wiederholte nur sein Gesuch, ihn zu sehn, verstärkt durch alle Gründe, die seine Lage ihm eingeben konnte. So verstrichen einige Tage in unablässigen Vorstellungen von der einen, und unerbittlicher Verweigerung von der andern Seite: denn es mochte nun Furcht, oder Schaam, oder der Haß seyn, der aus beyden entsteht, was Montoni den Mann scheuen ließ, den er beleidigt hatte; genug er beharrte durchaus auf seiner Weigerung, und ließ sich weder durch den Schmerz, den Valancourts Briefe verrieten, zum Mitleid bewegen, noch durch die Stärke seiner Gründe, zur Reue über seine Ungerechtigkeit erwecken. Endlich aber, als Valancourt seine Briefe uneröffnet zurück bekam, vergaß er in den ersten Augenblicken leidenschaftlicher Verzweiflung jedes Emilien gethane Versprechen, das feyerliche ausgenommen, wodurch er sich verbunden hatte, alle Gewaltthätigkeiten zu vermeiden, und eilte nach Montonis Schlosse, mit dem festen Vorsatz ihn zu sehn, auf welche Art es auch sey. Montoni ließ sich verläugnen, und als Valoncourt darauf nach Madame und nach Fräulein St. Aubert fragte, verweigerten ihm die Bedienten durchaus den Eingang. Um sich in keinen Streit mit ihnen einzulassen, gieng er endlich fort, und kam in einem Zustand der Seele, der nahe an Wahnsinn gränzte, zu Haus. Hier schrieb er Emilien ohne allen Rükhalt den Schmerz seines Herzens, und flehte sie an, da er auf keine andre Weise hoffen könnte, sie zu sehn, ihm ohne Montonis Vorwissen eine Zusammenkunft zu erlauben. Bald nachher aber legte sich die Leidenschaft; er fühlte, daß er Unrecht gethan hatte, durch die zu starke Schilderung seines Leidens Emiliens Schmerz noch zu erhöhn, und hätte die halbe Welt geben mögen, um seinen Brief zurück nehmen zu können. Die argwöhnische Vorsicht der Madame Montoni ersparte indessen Emilien diese Pein. Sie hatte Befehl gegeben, daß alle Briefe, die an ihre Nichte einliefen, ihr eingehändigt werden sollten, und nachdem sie diesen gelesen, und den Zorn ausgeschüttet hatte, den Valancourt durch die Art, wie er Montonis erwähnte, bey ihr erregte, übergab sie ihn den Flammen.
Montoni sehnte sich indessen mit jedem Tage mehr, Frankreich zu verlassen, und trieb sowohl die Bedienten, die sich mit den Zurüstungen zur Reise beschäftigten, als die Personen, mit denen er noch besondere Geschäfte abzumachen hatte, zur Beschleunigung an. Die Briefe, worin Valancourt, da er wohl sah, daß er alles andere aufgeben mußte, wenigstens um die Erlaubniß, Emilien Lebewohl sagen zu dürfen, gebethen hatte, übergieng er mit hartnäckigem Stillschweigen. Als aber Valancourt erfuhr, daß sie würklich in wenig Tagen abreisen, und daß er sie nicht mehr sehn sollte, vergaß er alle Rüksichten der Klugheit und wagte es in einem zweyten Briefe an Emilien auf eine heimliche Heirath anzutragen. Auch dieser Brief fiel Madame Montoni in die Hände, und der lezte Tag von Emiliens Aufenthalt zu Toulouse erschien, ohne Valancourt nur eine Zeile, seine Leiden zu mildern, nur ein Fünkchen von Hoffnung mitzubringen, daß ihm vergönnt werden sollte, sie noch einmal zu sehen.
Emilie war in dieser Zeit der quälenden Ungewißheit für Valancourt in die Art von Betäubung versunken, worin plötzliches und unhelfbares Unglück die Seele oftmals stürzen kann. Sie liebte ihn mit der wärmsten Zärtlichkeit; sie war lange gewohnt gewesen, ihn als den Freund und Gefährten aller ihrer künftigen Tage zu betrachten, und kannte keinen Gedanken an Glück, der nicht mit dem Gedanken an ihn verbunden war. Was mußte sie also empfinden, da sie so plötzlich, vielleicht auf immer von ihm getrennt werden sollte; da sie die Gewißheit vor sich sah, in ferne Theile der Welt geworfen zu werden, wo keiner nur von des andern Daseyn hören konnte, und das alles, um dem Willen eines Fremden — denn das war doch Montoni — und einer Person zu gehorsamen, die noch vor kurzem ihre Verbindung eifrig betrieb! Vergebens suchte sie ihren Schmerz zu bekämpfen, und sich dem, was sie nicht ändern konnte, zu unterwerfen. Valancourts Stillschweigen betrübte sie mehr, als es sie befremdete, weil sie die Ursache richtig errieth; als aber der Tag vor ihrer Abreise aus Toulouse erschien und sie nun zu deutlich sah, daß ihm nicht vergönnt werden sollte, Abschied von ihr zu nehmen, überwältigte der Schmerz jede andre Rücksicht, die sie abgehalten hatte, von ihm zu sprechen, und sie fragte Madame Montoni, ob man ihm diesen kleinen Trost verweigert hätte? Ihre Tante bejahte es, und setzte hinzu, daß nach dem Betragen, wodurch Valancourt sie bey ihrer letzten Zusammenkunft aufgebracht, und nach der Unverschämtheit, womit er den Signor durch seine Briefe verfolgt hätte, würden keine Bitten weiter helfen.
»Wenn der Chevalier diese Gefälligkeit von uns erwartet«, sagte sie, »so hätte er sich ganz anders benehmen, er hätte geduldig warten sollen, bis er gemerkt hätte, ob wir dazu geneigt wären; allein er mußte nicht kommen, und mir Grobheiten sagen, weil ich nicht für gut fand, ihm meine Nichte zu geben, und eben so wenig mußte er den Signor hartnäckig verfolgen, weil er nicht für gut fand, sich über eine so kindische Sache in Streit einzulassen. Sein ganzes Betragen überhaupt ist äusserst dreist und unverschämt gewesen, ich verlange durchaus, daß sein Name nie wieder genannt wird, und daß Sie mit diesem kindischen Jammern und Winseln aufhören, und wieder wie andre Leute, nicht aber mit einem so kläglichen Gesicht erscheinen, als wollten Sie alle Augenblicke anfangen zu heulen. Wenn Sie auch nichts sagen, so können Sie doch Ihren Schmerz nicht vor meinem Scharfblick verbergen. Ich sehe, daß Ihnen die Thränen schon wieder nahe sitzen, ohngeachtet ichs Ihnen verwiesen habe, ja selbst jetzt, trotz meines Verbots.« —
Emilie, die sich abgewandt hatte, um ihre Thränen zu verbergen, verließ das Zimmer, um ihnen freyen Lauf zu lassen, und der Tag verstrich in einer innern Angst, die sie noch nie in solchem Grade empfunden hatte. Sie blieb in ihrem Schlafzimmer in dem Stuhl, worin sie sich geworfen hatte, unbeweglich sitzen, als schon längst alle andere Bewohner des Hauses sich zur Ruhe gelegt hatten. Sie konnte sich von dem Gedanken nicht losmachen, daß sie Valancourt nie wieder sehn würde. Wie schrecklich stellte die Entfernung, welche bald sie trennen sollte, sich ihrer Einbildungskraft dar! Die Alpen, diese furchtbaren Mauern, drohten empor zu steigen, ganze Länder sich zwischen den Regionen, wo jedes leben mußte, auszustrecken. In angränzenden Provinzen zu leben, in demselben Lande zu leben, wenn auch ohne ihn zu sehn, war Glükseeligkeit in Vergleich der Ueberzeugung, so schrecklich weit getrennt zu seyn.
Ihre Seele wurde durch alle diese Betrachtungen so sehr erschüttert, daß sie sich plözlich einer Ohnmacht nahe fühlte; sie sah sich im Zimmer nach etwas um, womit sie sich wieder stärken könnte, und da ihr das Fenster ins Auge fiel, sammelte sie noch so viel Kräfte, es zu öffnen, und sich daneben zu setzen. Die frische Luft stärkte ihre Lebensgeister wieder, und das stille Mondlicht, das auf eine lange Ulmenallee vor dem Fenster fiel, wiegte sie in sanfte Ruhe und machte sie geneigt zu versuchen, ob Bewegung und frische Luft den innern Schmerz, der ihre Schläfen zusammen preßte, lindern würde. Im Schlosse war alles still, und sie schlich, wie sie glaubte unbemerkt, die große Treppe, die in den Saal führte, aus welchem eine Thüre unmittelbar in den Garten gieng, herunter, öffnete die Thüre, und betrat die Allee. Sie gieng bald mit schnellen, bald mit schwankenden Schritten, getäuscht durch die Schatten zwischen den Bäumen; sie glaubte jemand in der Ferne zu entdecken, und fürchtete es möchte ein Spion von Madame Montoni seyn. Doch überwand ihr Verlangen, den Pavillon wieder zu sehn, wo sie so manche glückliche Stunde mit Valancourt zugebracht, mit ihm die weite Aussicht auf Languedoc und auf ihr Geburtsland Gasconien bewundert hatte, ihre Furcht, und sie gieng auf die Terasse zu, die längs dem obern Garten hinlief, und mit dem untern durch eine Marmortreppe, die an die Allee stieß, zusammenhieng.
Nachdem sie diese Stuffen erreicht hatte, stand sie einen Augenblick still, um sich umzusehn, denn ihre Entfernung vom Schlosse vermehrte jezt die Furcht, welche die Stille und Dunkelheit der Stunde erregt hatte. Da sie aber nichts wahrnahm, was sie rechtfertigen konnte, stieg sie die Terasse hinauf, wo das Mondlicht den langen breiten Gang mit dem Pavillon am äussersten Ende beleuchte, während die Strahlen das Laub der hohen Bäume und Gesträuche, die ihn zur Rechten begränzten, und das kleine Wäldchen das sich zur Linken sanft erhob, versilberten. Ihre Entfernung vom Schlosse machte sie aufs neue unruhig; sie stand still um zu lauschen; die Nacht war so still, daß kein Laut ihr entwischen konnte, allein sie hörte nur die süßklagende Stimme der Nachtigall, und das leichte Rauschen des Laubes. Als sie den Pavillon erreicht hatte, schwächte die Dunkelheit den Eindruck nicht, den ein voller Anblick der wohlbekannten Gegend in ihr würde erregt haben. Sie öffnete die Fenster, und sah unter der belaubten Wölbung die vom Monde beleuchtete Landschaft schattigt und sanft da liegen. Wald und Thal streckten sich allmählig und in einander verschmelzend, vor dem Auge hin, die fernen Berge fiengen einen stärkern Schimmer auf, und der näher liegende Fluß spiegelte den Mond zurück und zitterte in seinen Strahlen.
Emilie fühlte die Eindrücke dieser Scene nur in so fern sie Valancourts Bild näher vor ihre Phantasie brachten. »Ach!« sagte sie mit einem tiefen Seufzer, als sie sich in einen Stuhl am Fenster warf, »wie oft haben wir auf dieser Stelle zusammen gesessen! Wie oft haben wir auf die Landschaft hingeblickt! Nimmer, nimmer werden wir sie zusammen wieder sehn — nimmer, ach! Nimmer vielleicht werden wir einander wieder erblicken!«
Schrecken erstickte plözlich ihre Stimme; sie hörte jemand im Pavillon reden, und schrie laut auf — es sprach weiter, und sie erkannte Valancourts wohlbekannte Töne. Es war in der That Valancourt, der sie in seinen Armen hielt. Einige Augenblicke lang erstikte ihre Bewegung alle Worte. »Emilie«, sagte Valancourt endlich, indem er ihre Hand in der seinigen drückte, »Emilie!« — und die Worte erstarben aufs neue; allein der Ton, womit er ihren Namen ausgesprochen hatte, drückte alle seine Zärtlichkeit und Schmerzen aus.
»O meine Emilie«, fieng er nach langem Schweigen wieder an, »so sehe ich Sie noch einmal wieder! so höre ich noch einmal den Ton dieser Stimme! Viele, viele Nächte lang habe ich mich in der schwachen Hoffnung Sie zu sehn, in diesen Gärten, in dieser Gegend umhergeschlichen. Es war die einzige Möglichkeit, die mir übrig blieb, und dem Himmel sey Dank, daß es endlich gelungen ist — ich bin nicht ganz zur Verzweiflung verdammt!«
Emilie sagte etwas, sie wußte kaum was, um ihre unerschütterliche Zärtlichkeit auszudrücken, und bemühte sich, den Aufruhr seiner Seele zu stillen, allein er vermochte lange Zeit hindurch seine Empfindungen nur durch unzusammenhängende Worte zu äussern. Sobald er sich einigermaßen wieder gefaßt hatte, sagte er: »ich kam bald nach Sonnenuntergang hieher, und habe die ganze Zeit in den Gärten und in dem Pavillon hier verweilt: denn wiewohl ich jetzt alle Hoffnung, sie zu sehn, aufgegeben hatte, konnte ich mich doch nicht entschließen, einen Ort zu verlassen, wo ich Ihnen so nahe war: wahrscheinlich würde ich bis zum Anbruch des Morgens hier geblieben seyn. O wie schwer sind mir die Augenblicke verstrichen, und doch so voll sich durchkreutzender Empfindungen. Oft glaubte ich Fußtritte zu hören und bildete mir ein, daß Sie herbeykämen, dann wieder hörte ich nichts als todtes, trauriges Schweigen. Als Sie aber die Thüre des Pavillons öffneten und die Dunkelheit mich verhinderte, mit Gewißheit zu unterscheiden, ob es meine Geliebte sey, o da schlug mein Herz so stark von Hoffnung und Furcht, daß mir die Sprache vergieng. Sobald ich den klagenden Ton Ihrer Stimme hörte, verschwanden meine Zweifel, aber nicht meine Furcht, bis Sie von mir sprachen: dann aber verlohr sich die Besorgniß, Sie zu erschrecken in dem Uebermaß meiner Empfindung, und es war mir nicht möglich, länger zu schweigen. O Emilie, dies sind Augenblicke, wo Freude und Schmerz so mächtig um den Vorrang kämpfen, daß das Herz kaum den Streit zu ertragen vermag.«
Emiliens Herz gestand die Wahrheit dieser Worte ein, allein die Freude, die sie empfand, Valancourt gerade in dem Augenblick zu finden, wo sie beklagt hatte, daß sie ihn wahrscheinlich nie wieder sehn würde, zerfloß bald in Schmerz, sobald Nachdenken sich ihrer bemeisterte, und die Einbildungskraft Gesichter der Zukunft hervorrief. Sie kämpfte, die ruhige Fassung der Seele wieder zu erlangen, deren sie bedurfte, um diese lezte Unterredung auszuhalten. Für Valancourt war es durchaus unmöglich; die Regungen seiner Freude verwandelten sich plötzlich in Schmerz, und er äusserte in den leidenschaftlichsten Ausdrücken sein Grauen vor dieser Trennung, und seine Verweiflung, sie je wieder zu sehn. Emilie hörte ihm stumm weinend zu, und führte dann, um ihren eignen Schmerz zu besiegen, und den seinigen zu besänftigen alle Umstände an, die zur Hoffnung führen konnten. Allein die Stärke seiner Furcht ließ ihn sogleich den freundschaftlichen Betrug entdecken, womit sie sich selbst und ihn zu täuschen suchte, und rief Bilder hervor, die seiner Vernunft zu mächtig waren.
»Sie sind im Begriff«, sagte er, »von mir in ein fernes Land, o wie weit entfernt! zu gehen — Sie eilen neuer Gesellschaft, neuen Freunden, neuen Bewunderern entgegen, und zwar mit Menschen, die alles versuchen werden, mich aus Ihrem Gedächtniß zu bannen. Wie kann ich dies wissen und doch vergessen, daß Sie nie wieder für mich zurückkehren, nie, nie mein seyn werden.« Seufzer erstickten seine Stimme.
»Sie glauben also«, sagte Emilie, »daß ich die Qual, die mich zerreißt, blos aus unbedeutenden Gründen, blos um mein selbst willen leide? Sie glauben —«
»Leiden!« unterbrach Valancourt »— für mich leiden! O Emilie, wie süß, wie bitter sind diese Worte! welchen Trost, welche Pein enthalten sie. Ich sollte nicht an der Dauer Ihrer Liebe zweifeln, und doch ist die Inkonsequenz der Liebe so groß, daß sie stets dem Argwohn offen steht, so ungerecht er auch seyn mag: daß sie stets neue Versichrungen von dem Gegenstande ihrer Neigung fodert, und sich stets gleichsam durch neue Ueberzeugung belebt fühlt, wenn die Worte des geliebten Gegenstandes ihr sagen, daß sie ihm noch theuer ist — muß sie aber diese entbehren, so sinkt sie in Zweifel, oft in Kleinmuth zurück.«
Er schien sich wieder zu sammeln und rief dann: »aber wie armseelig bin ich, Sie in diesen Augenblicken zu quälen, wo ich mich bemühn sollte, Sie zu trösten und aufrecht zu halten!«
Dieser Gedanke erweckte seine ganze Zärtlichkeit: bald aber fiel er wieder in Niedergeschlagenheit zurück, fühlte nur für sich selbst, und beklagte diese grausame Trennung, mit so leidenschaftlicher Stimme, in so leidenschaftlichen Ausdrücken, daß Emilie nicht mehr ihren eignen Schmerz zu unterdrücken, oder den seinigen zu sänftigen vermochte. Valancourt, von Mitleid und Liebe zerrissen, verlor die Kraft und beynahe auch den Wunsch, seine Bewegung zu unterdrücken. In den Zwischenräumen seines krampfhaften Schluchzens küßte er den einen Augenblick ihre Thränen hinweg, war dann grausam genug, ihr zu sagen, daß sie vielleicht nie wieder um ihn weinen würde, und versuchte dann wieder, ruhiger zu sprechen, konnte aber nur ausrufen: »O Emilie, mein Herz will brechen; ich kann, ich kann Sie nicht verlassen — Noch staune ich dieses Gesicht an, noch halte ich Sie in meinen Armen — eine kleine Weile noch, und dies alles wird mir ein Traum seyn! Ich werde sehen, und Sie nicht mehr sehen können — ich werde suchen, mir Ihre Züge ins Gedächtniß zu rufen, und der Eindruck wird aus meiner Einbildungskraft entflohn seyn; ich werde den Ton Ihrer Stimme hören wollen, und selbst das Gedächtniß wird stumm seyn. Ich kann, ich kann Sie nicht verlassen! Warum sollten wir das ganze Glück unsers Leben dem Willen von Menschen anvertrauen, die kein Recht haben, es zu unterbrechen, und keine Macht es zu befördern, es sey denn, daß sie meine Emilie mir schenken wollten. O Emilie, wagen Sie nur, Ihrem eignen Herzen zu trauen, wagen Sie es, auf immer mein zu seyn!« Seine Stimme bebte und er schwieg — Emilie fuhr fort zu weinen, und schwieg auch, als Valancourt eine geheime Heirath vorschlug, und sie bat, den andern Morgen in aller Frühe Madame Montonis Haus zu verlassen und mit ihm nach der Kirche der Augustiner zu gehn, wo ein Mönch bereit seyn sollte, sie zusammen zu geben.
Das Stillschweigen, womit sie einen Vorschlag anhörte, den Liebe und Verzweiflung eingegeben hatten und der ihr in einem Augenblick vorgetragen wurde, wo es kaum möglich schien, sich ihm zu widersetzen — wo ihr Herz durch den Schmerz einer, vielleicht ewigen Trennung, weich gemacht, und ihre Vernunft durch Bilder der Liebe und des Schreckens getrübt war, machte ihm Mut zu hoffen, daß Sie ihn nicht zurückweisen würde. »Sprechen Sie doch, meine Emilie«, sagte Valancourt feurig, »und lassen Sie mich Ihre Stimme hören, lassen Sie mich Sie mein Schicksal entscheiden hören!« Sie war unvermögend zu sprechen; ihre Wange war kalt, und die Sinne schienen ihr zu vergehn, doch wurde sie nicht ohnmächtig. Valancourts aufgeschreckte Einbildungskraft stellte sie ihm sterbend vor — er rief sie beym Namen, stand auf, um Hülfe aus dem Schlosse zu holen, und fürchtete dann wieder, wenn er an ihre Lage dachte, von ihr zu gehn, oder sie nur einen Augenblick zu verlassen.
Nach wenig Minuten stieß sie einen tiefen Seufzer aus, und fieng wieder an aufzuleben; der Kampf zwischen ihrer Liebe und der Pflicht, die sie jetzt ihres Vaters Schwester schuldig war; ihre Abneigung gegen eine geheime Heirath, ihre Furcht, unter Umständen, die den Gegenstand ihrer Liebe in Elend und Reue stürzen mußten, die Welt zu verlassen, alle diese mancherley Rücksichten waren zu viel für ein Herz, das bereits vom Kummer entnervt war, und ihre Vernunft unterlag auf einige Augenblicke. Doch siegten endlich, so hart der Kampf auch war, Pflicht und Ueberlegung über Zärtlichkeit und traurige Vorahndungen. Vor allem aber fürchtete sie, Valancourt in Unglück und leere Reue zu stürzen — die nur zu gewisse Folge einer Heirath in ihrer gegenwärtigen Lage — und vielleicht handelte sie mit mehr als weiblicher Stärke, als sie den Entschluß faßte, lieber ein gegenwärtiges Uebel zu ertragen, als sich ein fernes herbeyzuziehn.
Mit einer Offenheit, welche bewieß, wie sehr sie ihn wirklich schätzte und liebte, und die sie, wo möglich, ihm noch theurer machte, sagte sie ihm alle Gründe, weswegen sie seine Vorschläge verwarf. Diejenigen, welche die Sorge für sein eignes Glück in der Zukunft ihr eingab, widerlegte er auf der Stelle, oder widersprach ihnen vielmehr, allein es wurden dadurch zärtliche Rücksichten für sie in ihm rege, die er im Taumel der Leidenschaft und Verzweiflung vergessen hatte, und die Liebe, die ihn vor wenig Augenblicken dahin brachte, ihr eine heimliche Heirath anzutragen, vermochte ihn jetzt, ihr zu entsagen. Der Sieg war beynahe zu viel für sein Herz; um Emiliens willen bemühte er sich, seinen Schmerz zu ersticken, aber die immer höher steigende Empfindung wollte sich nicht unterdrücken lassen. »O Emilie!« rief er, »ich muß Sie verlassen — ich muß Sie verlassen, und weiß, daß es auf immer ist!«
Krampfhaftes Schluchzen unterbrach aufs neue seine Worte, und sie weinten still mit einander, bis Emilie sich besann, daß sie Gefahr liefen entdeckt zu werden; und, da sie es unschicklich fand, eine Unterredung zu verlängern, die ihr den Tadel ihrer Tante zuziehn konnte, rief sie alle ihre Stärke zusammen, um ihm ein letztes Lebewohl zu sagen.
»Bleiben Sie«, rief Valancourt, »ich beschwöre Sie zu bleiben, denn ich habe Ihnen noch viel zu sagen. Die Erschütterung im meinem Innern, hat mich bisher nur von dem einzigen Gegenstand, der mich beschäftigte, sprechen lassen: ich habe mich enthalten, eines sehr wichtigen Zweifels zu erwähnen, und zwar zum Theil, um mir nicht das Ansehn zu geben, als sagte ich es in der unedlen Absicht, Sie unruhig zu machen, und Sie zur Einwilligung in meinen Vorschlag zu bewegen.«
Emilie erschrak; sie führte Valancourt aus dem Pavillon auf die Terasse und er fuhr in folgenden Worten fort.
»Dieser Montoni, ich habe verschiedne seltsame Dinge von ihm gehört. Wissen Sie gewiß, daß er zu Madame Quesnels Familie gehört, und daß sein Vermögen würklich ist, was es scheint?«
»Ich habe keinen Grund daran zu zweifeln«, antwortete Emilie erschrocken. »Am ersten kann ich in der That nicht zweifeln, vom leztern aber bin ich nicht zu urtheilen im Stande, und ersuche Sie daher, mir alles zu eröffnen, was Sie davon wissen.«
»Das werde ich gewiß, nur sind es sehr unvollständige und unbefriedigende Nachrichten. Ich erfuhr sie zufällig von einem Italiener, der mit einem andern von diesem Montoni sprach. Sie unterhielten sich von seiner Heirath: der Italiener sagte, wenn es der wäre, den er meinte, so würde Madame Cheron nicht sehr glücklich durch ihn werden. Er äusserte hierauf in allgemeinen Ausdrücken sein Misfallen an ihm, und ließ einige Winke von seinem Character fallen, die meine Neugierde erregten, so daß ich es wagte, einige Fragen an ihn zu thun. Er war anfangs sehr zurückhaItend, endlich aber gestand er doch, auswärts gehört zu haben, daß Montoni in verzweifelten Umständen und ein Mensch von verzweifeltem Character sey. Er erwähnte eines Schlosses zwischen den Appeninen, das Montoni gehörte, und einiger sehr sonderbaren Umstände aus seinem vorigen Leben. Ich drang in ihn, mir mehr zu entdecken, allein ich glaube, mein zu lebhafter Antheil machte ihn mistrauisch, denn er war durchaus nicht zu bewegen, mir mehr zu entdecken. Ich sagte ihm, wenn Montoni ein Schloß in den appeninischen Gebürgen besäße, so müßte er doch wohl aus einer guten Familie und nicht ein blosser Glüksritter seyn. Er schüttelte den Kopf und sah aus, als könnte er noch weit mehr sagen, schwieg aber stille.
Die Hoffnung, etwas mehr befriedigendes, oder bestimmtes zu erfahren, machte, daß ich lange in seiner Gesellschaft blieb, allein der Italiener hüllte sich in seine Zurückhaltung, und sagte so oft ich das Gespräch erneuerte, er hätte diese Dinge nur durch flüchtige Gerüchte erfahren, worauf wenig zu bauen wäre, da dergleichen oft nur aus persönlichem Groll gesagt würde. Ich enthielt mich, weiter in ihn zu dringen, weil ich deutlich merkte, daß er wegen den Folgen von dem, was er bereits gesagt hatte, besorgt war, und mußte also über eine Sache in Ungewißheit bleiben, wo Ungewißheit beynahe unerträglich ist. Denken Sie selbst, Emilie, was ich dabey leiden muß, Sie in ein fremdes Land reisen zu lassen, und Sie den Händen eines Mannes von so zweideutigem Character anvertraut zu wissen! Allein ich will Sie nicht unnöthiger Weise beunruhigen — es ist möglich, wie der Italiener auch anfangs sagte, daß dieser Montoni nicht die Person ist, die er meinte. Indessen überlegen Sie alles wohl, Emilie, ehe Sie sich entschliessen, sich ihm anzuvertrauen. O ich darf mir selbst nicht trauen, sonst würde ich in Sie dringen, alle die Gründe bey Seite zu setzen, die mich noch vor wenig Minuten vermochten, der Hoffnung auf Ihren unmittelbaren Besitz zu entsagen.«
Valancourt gieng mit schnellen Schritten die Terasse auf und ab, während Emilie in tiefen Gedanken ans Geländer gelehnt, stehn blieb. Die Nachricht, die sie eben erfahren hatte, erregte mehr Besorgnisse in ihr, als sie eigentlich bedurft hätte, und erhöhte den Kampf zwischen ihren widersprechenden Empfindungen. Montoni hatte ihr nie gefallen; sie hatte oft mit Empfindlichkeit seinen anmaßenden Stolz, seine Herrschsucht und seine finstre, mistrauische Wachsamkeit, selbst bey Kleinigkeiten, bemerkt; und der Ausdruck seines Gesichts hatte immer etwas abschreckendes für sie gehabt. Diese Bemerkungen machten sie geneigt zu glauben, daß dies würklich der Montoni sey, den der Italiener gemeint hatte. Der Gedanke seiner unumschränkten Willkühr in einem fremden Lande unterworfen zu seyn, war ihr schrecklich, allein nicht blos Schrecken machte sie geneigt, sich unverzüglich mit Valancourt zu verbinden. Die zärtlichste Liebe hatte bereits seine Sache geführt, war aber unvermögend gewesen, ihre Begriffe von Pflicht, ihre uneigennützigen Rücksichten für Valancourt und die Delikatesse, welche sie bey dem Gedanken an eine heimliche Verbindung empörte, zu überwinden. Es ließ sich wohl nicht erwarten, daß eine unbestimmte Furcht mächtiger würken könnte, als der vereinte Einfluß von Liebe und Schmerz; doch wurde alle ihre Kraft dadurch aufs neue hervorgerufen, und ein zweyter Kampf nothwendig gemacht.
Bey Valancourt, dessen Einbildungskraft dem Eindruck jeder Leidenschaft offen stand, dessen Besorgnisse für Emilien schon durch die blose Erwähnung derselben, Stärke erlangt hatten, und mit jedem Augenblicke, da seine Seele darüber brütete, mächtiger wurden; bey Valancourt fand kein zweiter Kampf statt. Er glaubte im hellsten Lichte zu sehn — und Liebe bot seiner Besorgniß die Hand — daß diese Reise Emilien ins Unglük bringen würde; er beschloß also, sich ihr hartnäckig zu widersetzen, und sie zu beschwören, daß sie ihm den Titel ihres rechtmäßigen Beschützers geben möchte.
»Emilie«, sagte er mit feyerlichem Ernst; »jetzt ist nicht die Zeit, sophistischen Bedenklichkeiten nachzuhängen, und die ungewissen, verhältnismäßig unbedeutenden Umstände abzuwiegen, die auf unser künftiges Wohl Einfluß haben können. Ich sehe jetzt deutlicher als vorhin, die Reihe ernstlicher Gefahren, die Sie bey einem Manne von Montonis Character laufen. Die dunkeln Winke des Italieners sagten viel und mehr noch sagt die Meinung, die ich von Montonis Character habe, sowie er sich in seinem Gesichte abmahlt. Mich dünkt, ich sehe in diesem Augenblick alles, worauf gedeutet werden konnte, daselbst geschrieben. Er ist der Italiener, den ich fürchte, und ich beschwöre Sie, sowohl um Ihrent als um meinetwillen, den Gefahren vorzubeugen, die ich mit Schauder voraus sehe. O Emilie, lassen Sie meine Zärtlichkeit, meine Arme Sie davon zurükhalten, geben Sie mir das Recht, Sie zu beschützen.«
Emilie seufzte nur, während Valancourt fortfuhr, mit allen Gründen, und mit allem Nachdruck, den Liebe und Verzweiflung nur eingeben können, in sie zu dringen. Allein in eben dem Maße, wie seine Einbildungskraft ihr die möglichen Uebel, denen sie ausgesetzt seyn könnte, vergrößerte, zerstreute sich der Nebel, der die ihrige umwölkt hatte, und ließ sie die übertriebnen Bilder erkennen, wodurch seine Vernunft getäuscht ward. Sie erwog, daß es würklich noch nicht erwiesen war, daß Montoni der sey, von dem der Italiener gesprochen hatte, daß, selbst wenn er es wäre, der Fremde nur nach bloßen Gerüchten von seinem Character und schlechten Glücksumständen urtheilte, und daß man, ohngeachtet Montonis Gesicht diesen Verdacht zu rechtfertigen schien, doch auf solche Umstände keine volle Gewißheit bauen könnte. Diese Betrachtungen würden wahrscheinlich in diesem Augenblick nicht so deutlich in ihrer Seele aufgestiegen seyn, wenn nicht Valancourts Aengstlichkeit ihre Gefahr so sehr übertrieben hätte, daß sie auf das verblendete Urtheil der Leidenschaft aufmerksam gemacht werden mußte. Während sie aber auf die sanfteste Art sich bemühte, ihn von seinem Irrthum zu überzeugen, stürzte sie ihn in einen neuen. Düstre Verzweiflung sprach plötzlich aus seiner Stimme und aus seinem Gesichte. »Emilie«, rief er, »dies, dies ist der bitterste Augenblick, den ich noch gekannt habe! Sie lieben mich nicht; Sie können mich nicht lieben. Wenn Sie mich liebten, so könnten Sie unmöglich so kalt, so vernünftig überlegen. Mein Innres ist von Schmerz über den Gedanken an unsre Trennung, und an die Uebel, die für Sie daraus entstehn müssen, zerrissen; ich würde alles wagen, um sie zu verhindern — um Sie zu retten — Nein Emilie, nein, Sie können mich nicht lieben!«
»Wir haben jezt keine Zeit mit Ausrufungen oder Betheurungen zu verlieren«, sagte Emilie, indem sie sich bemühte, ihre Bewegung zu verbergen. »Wenn Sie erst jetzt noch erfahren müßten, wie theuer Sie meinem Herzen sind und immer seyn werden, so würde ich mich vergebens bemühn, Sie durch Worte zu überzeugen.«
Die letzten Worte erstarben auf ihren Lippen und ihre Thränen flossen schnell. Diese Worte und Thränen brachten mit unwiderstehlicher Gewalt die Ueberzeugung ihrer Liebe in Valancourts Seele zurück. Er konnte nur ausrufen: »Emilie, Emilie!« und über der Hand weinen, die er an seine Lippen drückte; sie aber raffte sich nach einigen Augenblicken von ihrem Schmerz wieder auf und sagte: »Ich muß Sie verlassen; es ist spät und man würde im Schlosse meine Abwesenheit merken. Denken Sie an mich; lieben Sie mich, wenn ich weit entfernt bin; dieser Glaube wird mein Trost seyn.«
»An Sie denken! Sie lieben!«, rief Valancourt.
»Suchen Sie diese Heftigkeit zu mäßigen! Thun Sie es um meinetwillen!«
»Um Ihrentwillen!«
»Ja, um meinetwillen«, versetzte Emilie mit bebender Stimme; »ich kann Sie nicht so verlassen!«
»So verlassen Sie mich nicht«, sagte Valancourt schnell; »warum sollen wir uns trennen, länger als bis Morgen uns trennen!«
»Ich bin zu schwach, ich bin wahrlich zu schwach, um dies zu ertragen«, erwiederte Emilie; »Sie zerreissen mein Herz, allein ich kann nie in diesen übereilten, unbesonnenen Vorschlag willigen.«
»Wenn wir über unsre Zeit gebieten könnten, meine Emilie, so würde es nicht so übereilt seyn; so aber müssen wir uns nach den Umständen richten.«
»Das müssen wir freylich; ich habe Ihnen bereits mein ganzes Herz aufgeschlossen — mein Muth ist dahin. Sie gestanden die Stärke meiner Gründe ein, bis Ihre Zärtlichkeit ungewisse Schrecken hervorrief, die uns beyden unnöthige Angst gemacht haben. Schonen Sie mich! Nöthigen Sie mich nicht, die Gründe, die ich bereits angeführt habe, nochmals zu wiederholen!«
»Sie schonen!« rief Valancourt; »o ich Elender, daß ich bisher nur für mich selbst fühlen konnte! Ich, der Ihnen die Stärke des Mannes zeigen, der Sie hätte aufrecht halten sollen, ich habe mich wie ein Knabe betragen, und Ihr Leiden vermehrt! Vergeben Sie mir, Emilie, denken Sie an die Verwirrung meiner Gedanken, da ich jetzt auf dem Punkt bin, von allem zu scheiden, was mir theuer war, und vergeben Sie mir! Wenn Sie fort sind, so werde ich mich mit bittern Vorwürfen an die Leiden erinnern, die ich Ihnen verursachte, werde vergebens wünschen, daß ich Sie nur einen Augenblick sehn könnte, um Ihren Schmerz zu mildern!«
Thränen erstickten aufs neue seine Stimme, und Emilie weinte mit ihm. »Ich will mich Ihrer Liebe würdig zeigen«, sagte Valancourt endlich; »ich will diese Augenblicke nicht verlängern. Meine Emilie, o meine Emilie, vergessen Sie mich nie! Gott weiß, wenn wir uns wiedersehn werden! ich übergebe Sie seiner Obhut. O Gott! Gott! schütze und segne Sie!«
Er drückte ihre Hand an sein Herz. Emilie sank beinahe leblos an seine Brust und vermochte weder zu weinen noch zu sprechen. Valancourt besiegte nun seinen eignen Schmerz und war nur bemüht, sie zu trösten und aufzurichten; allein alles was er sagte, schien ohne Eindruk an ihr vorüber zu gehn, und unterbrochene Seufzer waren die einzigen Lebenszeichen, die sie von sich gab.
Er führte sie langsam und schweigend nach dem Schlosse zu, und erst an dem Thore, das die Allee schloß, schien sie wieder zur Besinnung zu kommen, und, indem sie sich umsah, gewahr zu werden, wie nahe sie dem Schlosse war. »Wir müssen uns hier trennen« — sagte sie und stand still — »warum diese Augenblicke verlängern? Lehren Sie mich die Stärke, die ich vergessen habe.«
Valancourt kämpfte, sich zu fassen. »Leben Sie wohl, meine Liebe«, sagte er mit feyerlicher Zärtlichkeit; »glauben Sie mir, wir werden uns wiedersehn; uns wiedersehn, um nur für einander zu leben, um uns nie mehr zu trennen!« Seine Stimme bebte, allein er raffte sich zusammen und fuhr in festerem Tone fort: »Sie wissen nicht, was ich leiden werde, bis ich von Ihnen höre; ich werde keine Gelegenheit versäumen, Ihnen meine Briefe zu schicken, doch zittre ich bey dem Gedancken, wie wenig solcher Gelegenheiten sich finden werden. Trauen Sie mir aber zu, meine Liebe, daß ich um Ihrentwillen diese Abwesenheit mit Stärke zu ertragen suchen werde. O wie wenig habe ich sie an diesem Abend gezeigt.«
»Leben Sie wohl«, sagte Emilie schwach. »Wenn Sie fort sind, werden mir manche Dinge einfallen, die ich Ihnen hätte sagen wollen.«
»Auch mir, gewiß auch mir!« sagte Valancourt. »Ich verließ Sie noch nie, ohne mich sogleich einer Frage, einer Bitte, oder eines Umstandes, der meine Liebe betraf, zu erinnern, den ich Ihnen so gerne gesagt hätte, und der mich nun unglücklich machte, da ich es nicht mehr konnte. O Emilie, dies Gesicht, das ich jezt noch mit Entzücken betrachte, wird in einem Augenblick vor meinen Augen verschwunden seyn, und keine Anstrengung der Phantasie wird es mir deutlich zurückrufen können. O! welch ein unendlicher Unterschied zwischen diesem Augenblick und dem nächsten! Jezt bin ich bey Ihnen, kann Sie sehen — denn wird alles eine traurige Larve und ich ein Wandrer seyn, der sich aus seiner einzigen Heimath vertrieben fühlt.«
Valancourt drückte sie aufs neue an sein Herz und hielt sie weinend in seinen Armen. Thränen besänftigten aufs neue ihre bedrückte Seele. Sie sagten einander aufs neue Lebewohl, zögerten noch einen Augenblick und schieden. Valancourt schien sich gewaltsam loszureissen; er gieng schnell die Allee hinauf, und Emilie hörte noch, wie sie langsam nach dem Schlosse zugieng, seine fernen Tritte. Sie horchte, bis das Geräusch immer schwächer und schwächer ward, bis nur noch das melancholische Schweigen der Nacht zurückblieb, und eilte dann in ihr Zimmer, um Ruhe zu suchen, die ach! von der Unglücklichen geflohen war.
Die Pferde wurden mit Anbruch des Tages angespannt. Das Geräusch der Bedienten, die auf· dem Gange hin und her liefen, weckte Emilien aus ihrem unruhigen Schlafe. Schreckliche dunkle Bilder von ihrer Liebe und von ihrem künftigen Leben hatten die Nacht über vor ihrer geängsteten Seele geschwebt. Sie bemühte sich jetzt, die Eindrücke, die sie in ihrer Phantasie zurückgelassen hatten, zu verscheuchen, allein sie erwachte nur von eingebildeten Uebeln zu dem Bewußtseyn wirklicher. Ihr Herz erstarb, so wie ihr Gedächtniß zurückkehrte und ihr sagte, daß sie vielleicht auf immer von Valancourt getrennt sey. Sie suchte die traurigen Ahndungen, die sich an ihre Seele drängten, zu verscheuchen, und den Kummer, den sie nicht überwinden konnte, wenigstens zurückzuhalten; die Schwermuth, die auf ihrem Gesichte lag, erhielt dadurch einen Ausdruck milder Ergebung, der gleich einem dünnen Schleier über die Züge der Schönheit geworfen, sie noch anziehender machte. Allein Madame Montoni bemerkte in diesem Gesichte nichts als eine ungewöhnliche Blässe, die ihren Tadel auf sich zog. Sie machte ihrer Nichte einen Vorwurf, daß sie phantastischen Sorgen nachhienge, und ermahnte sie, mehr Rücksicht auf den Anstand zu nehmen, und nicht die Welt sehn zu lassen, daß es ihr so schwer werde, einer unschicklichen Verbindung zu entsagen. Ein hohes Carmin färbte Emiliens Wange, allein es war das Erröthen des Stolzes und sie würdigte keine Antwort zu geben. Montoni kam bald darauf herein; er sprach wenig und schien den Augenblick der Abreise ungeduldig zu wünschen.
Die Fenster dieses Zimmers stießen auf den Garten. Emilie sah im Vorübergehn den Ort, wo sie sich die Nacht zuvor von Valancourt getrennt hatte, die Erinnerung drang schwer an ihr Herz und sie wandte sich schnell ab.
Endlich war das Gepäcke in Ordnung gebracht; die Reisenden setzten sich in den Wagen, und Emilie würde das Schloß ohne Seufzer verlassen haben, wenn es nicht so nahe bei Valancourts Aufenthalt gelegen hätte.
Sie blickte von einem kleinen Hügel zurück auf Thoulouse und auf die fernen Ebnen von Gasconien, hinter denen die zackigten Spitzen der Pyrenäen, von der Morgensonne beleuchtet, hervortraten. »Süße, anmuthige Berge« sagte sie zu sich selbst, »wie lange wird es dauern, bis ich euch wiedersehe, und was kann sich nicht alles in der Zwischenzeit zutragen! O wüßte ich in diesem Augenblicke gewiß, daß ich wieder zu euch zurückkehren, daß ich Valancourt noch als den meinigen finden würde, so wollte ich in Frieden ziehn. — Er wird euch noch sehen, euch noch sehen, wenn ich weit entfernt bin!«
Die Bäume, die den Rand des Weges überhiengen, und eine perspektivische Linie nach dem fernen Lande bildeten, drohten jezt die Aussicht zu verschließen; doch sah man noch die bläulichten Berge hinter dem dunkeln Laube hervorschimmern. Emilie lehnte sich aus dem Kutschenschlage, bis endlich die dichten Zweige sie vor ihrem Gesicht verschlossen.
Bald aber zog ein andrer Gegenstand ihre Aufmerksamkeit auf sich: Sie sah jemand mit tief in die Augen gezogenem Hut am Wege hinschleichen und sich bey dem Geräusch des Wagens plötzlich umdrehen: es war Valancourt! Er winkte mit der Hand, sprang schnell in den Weg, und reichte ihr einen Brief durchs Fenster. Er suchte, indem er vor ihr vorübergieng, die Verzweiflung, die auf seinem Gesichte lag, durch ein Lächeln zu mildern, dessen Eindruck sie ewig nicht vergessen zu können glaubte. Sie lehnte sich aus dem Fenster und sah ihn auf einer kleinen Anhöhe an einem Baume stehn und den Wagen mit den Augen verfolgen. Er winkte mit der Hand, und sie sah wehmüthig nach ihm hin, bis die Entfernung seine Gestalt verdunkelte, und endlich eine neue Biegung des Wegs ihn ihrem Gesichte gänzlich entzog.
Nachdem sie still gehalten hatten, um den Signor Cavigni, der sie unterwegs erwartete, mitzunehmen, setzten sie ihre Reise durch Languedoc fort. Man hatte Emilien so wenig Achtung bezeigt, sie in einen zweiten Wagen mit Madame Montonis Cammerjungfer zu setzen, deren Gegenwart sie abhielt, Valancourts Brief zu öffnen, weil sie keinen Zeugen bei den Regungen ihres Herzens haben mochte; doch war ihr Verlangen, diese letzten Ergießungen seines Gefühls zu lesen, so groß, daß ihre zitternde Hand alle Augenblick im Begriff stand, das Siegel zu erbrechen.
Endlich erreichten sie das Dorf, wo sie nur still hielten, um Pferde zu wechseln, ohne auszusteigen; erst als sie Mittag machten, fand Emilie Gelegenheit den Brief zu lesen. So wenig sie auch jemals an Valancourts aufrichtiger Liebe gezweifelt hatte, belebte doch die neue Versichrung derselben ihren Muth; sie benetzte seinen Brief mit zärtlichen Thränen, und steckte ihn zu sich, um in traurigen Stunden ihre Zuflucht dazu zu nehmen, und dachte nun mit weniger bittern Schmerz an ihn. Unter andern Bitten, die sie besonders rührten, weil sie seine Zärtlichkeit ausdrückten, und das Gefühl der Trennung für den Augenblick aufzuheben schienen, war auch die, stets bei Sonnenuntergang an ihn zu denken.
»Unsre Gedanken werden sich dann begegnen«, schrieb er, »ich werde immer den Untergang der Sonne beobachten und mich des Gedankens freuen, daß ihre Augen auf einem Gegenstande mit mir verweilen, und unsre Seelen sich unterreden. Sie wissen nicht Emilie, welchen Trost ich mir von diesen Augenblicken verspreche!«
Es wäre wohl überflüssig zu beschreiben, mit welcher Bewegung Emilie an diesem Abend den Untergang der Sonne beobachtete, die sie über eine lange Fläche hin ununterbrochen sinken und sich nach der Provinz, die Valancourt bewohnte, neigen sah. Nach dieser Stunde fühlte sie sich weit gefaßter und ruhiger, als sie seit ihrer Tante Heirath mit Montoni gewesen war.
Sie fuhren einige Tagereisen durch die Provinz Languedoc fort, und kamen dann in Dauphine an, wo sie, während der Weg sich zwischen den Gebürgen dieser romantischen Provinz hinwand, ihren Wagen verließen und zu Fuße die Alpen hinan klimmten. Hier thaten sich Scenen vor ihnen auf, deren Erhabenheit die Sprache mit keinen Farben zu schildern vermag.
Diese neuen wunderbaren Bilder fesselten Emiliens Aufmerksamkeit so sehr, daß sie oft Valancourts Bild sogar verdrängten. Sie erinnerte sich, wie sie einst die Aussichten zwischen den Pyrenäen mit ihm bewundert hatte, und sich nichts größeres auf Erden denken konnte. Wie oft wünschte sie, die neuen Empfindungen, welche dieser Anblick in ihr erweckte, ihm mittheilen zu können. Oft bemühte sie sich, seine Gedanken zu errathen, und dachte sich ihn als gegenwärtig. Sie schien gleichsam in eine andre Welt empor gestiegen zu seyn, und jeden kleinlichen Gedanken, jede kleinliche Empfindung in der untern zurückgelassen zu haben; nur Eindrücke von Größe und Erhabenheit ergözten jezt ihre Seele, und hoben die Regungen ihres Herzens empor.
Mit welchen erhabnen, durch Zärtlichkeit gesänftigten Empfindungen begegnete sie jezt Valancourt in Gedanken, als sie zwischen den Alpen hinwandelnd, die glänzende Scheibe zwischen ihren Gipfeln sinken, die lezten Farben auf ihren beschneiten Spitzen ersterben und eine feierliche Dunkelheit sich über die Scene schleichen sah. Als nun endlich der letzte Schimmer erstorben war, wandte sie mit einer Wehmuth, wie man nach der Abreise eines geliebten Freundes empfindet, ihre Augen von Westen ab, das Gefühl der Einsamkeit wurde durch die immer zunehmende Finsterniß, und die leisen Töne, die man nur hört, wenn die Dunkelheit die Aufmerksamkeit schärft und die allgemeine Stille fühlbarer macht; durch das in den Lüftchen zitternde Laub, durch den lezten Seufzer des Zephyrs, der nach Sonnenuntergang noch verweilt, oder durch das Murmeln des feinen Stroms unterbrochen.
In den ersten Tagen dieser Reise zwischen den Alpen zeigte die Gegend nur eine wunderbare Mischung von Einsamkeit und Bewohnung, von Anbau und Oede. Am Saume schrecklicher Abgründe, und in den Spalten der Klippen, unter welchen oft die Wolken schwammen, sah man Dörfer, Thürme und Closterspitzen, während grüne Weiden und Weinberge ihre Farben am Fuße senkrechter Marmor- oder Granitfelsen ausbreiteten, deren Spitzen mit Alpenkräutern bewachsen, oder in dicke Mauern gespalten, über einander aufstiegen, bis sie sich in dem mit Schnee bedektem Berge verloren, aus welchem der Strom stürzte, der sich brausend durch das Thal ergoß.
Der Schnee war noch nicht von der Spitze des Berges Cenis geschmolzen; allein Emilie sah schon, wenn sie auf den klaren See und das von zerrissenen Klippen umgebne Thal hinblickte, die Zeit voraus, wo es in grüner Pracht bestehen, und mit den Schäfern, die ihre Heerden von Piemont zur Weide auf diese blumigten Hügeln herbei trieben, eine arkadische Landschaft bilden würde.
So wie sie nach Italien herunter kamen, wurden die Abgründe immer furchtbarer, und die Aussichten, über welche die abwechselnde Beleuchtung alle Pracht des reichsten Colorits warf, immer wilder und majestätischer.
Emilie betrachtete mit Entzücken die beschneyten Spitzen der Gebürge, die mit dem fortrückenden Tage ein immer verändertes Ansehn gewannen, wie sie erst vom Morgen geröthet, dann im Mittagsglanze glühend und endlich in den Abendpurpur getaucht, da standen. Daß Menschen hier wohnten, konnte man nur aus der einfachen Hütte des Schäfers und Jägers, oder aus der rauhen Fichtenbrücke schließen, die über den Strom geworfen war, um dem leztern in seiner Jagd nach der wilden Gemse über Klippen behülflich zu seyn, auf die nur der Wolf oder jene sich wagen zu können schienen.
Emilie sah oft, indem sie zwischen den Wolken hinfuhr, mit stiller Ehrfurcht ihre wogenden Nebel herabrollen; oft schlossen sie die Gegend ganz und ließen nur eine Welt von Chaos sehn; dann wieder öffneten sie sich, und ließen stellenweis einen Blick auf die Landschaft, auf den Strom, der in furchtbarem Gebrauße die Felsenklüfte unaufhaltsam hinab donnerte, auf die weisen Schneeklippen, oder auf die dunkeln Spitzen der Fichtenwälder, die sich quer über die Berge hinzogen, zu. Aber wer beschreibt ihr Entzücken, als sie durch eine See von Dünsten hin, den ersten Blick auf Italien warf! als sie vom Saume einer der schrecklichen Klippen, die am Berge Cenis hängen, und den Eingang in dieses bezaubernde Land verschließen, auf die tiefer liegenden Wolken herab schaute, und so wie sie zerflossen, die grünen Thäler von Piemont zu ihren Füßen sahe, über welche hinaus man in weiter Entfernung jenseits des Lombardischen Gebiets die Thürme von Turin dunkel erblickte!
Die einsame Größe der Gegenstände, die sie zunächst umgaben; die sich über ihr thürmende Bergkette, die tiefen Abgründe unter ihr, das schwarze Wehen der Fichten und Eichenwäldchen, die den Fuß der Klüfte einfaßten, oder in ihren Spalten hiengen; die schnurgeraden Ströme, welche die Klippen herabstürzten, und oft Dunstwolken, oft langen Eisschollen glichen, alle diese großen Gegenstände wurden durch die stille Schönheit der unten liegenden italiänischen Landschaft, die sich bis zum weitesten Gesichtskreis erstreckte, wo ein schmelzendes Blau Himmel und Erde zu vereinigen schien, in ein noch höheres Licht gesetzt.
Madame Montoni schauderte nur, als sie Abgründe herab sah, an deren Rande die Sänftenträger leicht und schnellfüßig, wie die Gemse hinliefen. Emilie schauderte auch zurück, aber in ihre Furcht mischten sich Regungen des Entzückens, der Bewundrung, des Staunens und der Ehrfurcht, die sie noch nie zuvor gefühlt hatte.
Die Träger erreichten indeß einen Ort, wo sie Halt machen mußten; die Reisenden setzten sich auf eine Felsenklippe nieder, und Montoni erneuerte mit Cavigni einen Streit über Hannibals Durchgang durch die Alpen. Montoni behauptete, daß er über den Berg Cenis, und Cavigni, daß er über den Berg St. Bernard passirt sey. Dieses Gespräch brachte Emilien alles Ungemach, das er auf diesem kühnen, gefahrvollen Abentheuer litt, ins Gedächtnis zurück. Sie sah seine zahlreichen Armeen sich zwischen den engen Pässen und über die furchtbaren Klippen der Berge hinziehn, die des Nachts von seinem Feuer, oder von den Fackeln, die er vor sich her tragen ließ, wenn er seinen unermüdeten Marsch verfolgte, erleuchtet wurden. Mit dem Auge der Phantasie sah sie die Waffen durch die Dunkelheit der Nacht schimmern; sah Helme und Speere glänzen, und Fahnen dunkel durch die Dämmrung wehn, während ein Trompetenstoß durch die engen Pässe schallte, und durch ein Geklirr von Waffen beantwortet ward. Sie sah mit Grausen die Bewohner der Berge von den hohen Klippen herab mit zerbrochnen Felsstücken nach den Truppen unten werfen, sah Soldaten und Elephanten die tiefen Abgründe herabstürzen, und indem sie die hinter ihnen brechenden Felsen krachen hörte, machten die Schrecken der Phantasie denen der Wirklichkeit Platz, und sie schauderte, sich selbst auf der schwindelnden Höhe zu finden, von welcher sie andre in der Einbildungskraft herabstürzen sah.
Madame Montoni dachte sich indessen im Geiste die glänzenden Palläste und festen Schlösser, die sie zu Venedig und zwischen den Appeninischen Gebürgen in Besitz zu nehmen glaubte, und fühlte sich in der That nicht viel weniger als eine Fürstin zu seyn. Sie mahlte sich die glänzende Rolle, die sie zu spielen dachte, völlig aus, beschloß Concerte zu geben, so wenig Ohr, oder Geschmack für Musik sie auch hatte; Conversationen, so wenig Talente sie auch zur Unterhaltung besaß — mit einem Worte, sie wollte durch die Lebhaftigkeit und Pracht ihres Hauses den ganzen Adel von Venedig auszustechen suchen. Nur wurden diese süßen Träumereien ein wenig verdunkelt, wenn sie sich erinnerte, daß ihr Gemahl, der Signor, wenn er gleich den Vortheil, der sich zuweilen aus solchen Gesellschaften ziehen läßt, nicht verschmähte, doch stets eine Abneigung für alles leere Gepränge gezeigt hatte. Doch hoffte sie, daß es vielleicht seinem Stolze schmeicheln würde, vor seinen Freunden in seiner Vaterstadt den Reichthum zur Schau zu legen, den er in Frankreich nicht zu achten schien.
So wie die Reisenden weiter herab kamen, veränderte sich allmälig das Reich des Winters in das schönere und erquickendere des Frühlings: der Himmel nahm die heitere Farbe an, die dem italiänischen Klima eigen ist, junges Gras, wohlriechende Kräuter und Blumen sahen fröhlich zwischen den Felsen hervor, faßten oft ihren rauhen Rand ein, oder hiengen in kleinen Gebüschen aus ihren gespaltnen Seiten. Noch tiefer sahen sie hie und da die Orange mit ihren gelben Blüten zwischen dem dunkeln Grün der Blätter hervorschimmern, und sich mit den Purpurblüthen des Granatapfels vermischen, die sich zu den Felsen hinanschlangen, während tiefer noch die Fluren von Piemont sich ausbreiteten, wo frühe Heerden in den reichen Kräutern des Frühlings weideten.
Der Fluß Doria, der auf der Mitte des Berges Cenis entspringend, viele Meilen weit von den Bergen, die den Rand einfassen, herabstürzt, gewann jetzt ein minder wildes, wenn gleich nicht minder romantisches Ansehn, wie er sich den grünen Thälern von Piemont näherte, in welche die Reisenden mit der Abendsonne herabstiegen. Emilie sah sich hier noch einmal wieder in der ruhigen Schönheit einer ländlichen Gegend, unter Schaafen und Viehheerden, und Hügeln, die mit Wäldern vom lebhaftesten Grün und mit schönen Gesträuchen bewachsen waren. Die grünen Wiesen prangten jezt im bunten Schmucke früher Blumen, und Emilie wünschte beinahe eine Piemontesische Bäuerin zu seyn, um eine von den anmuthigen, mit Laub bedeckten Hütten zu bewohnen, die sie unter den Klippen hervorschimmern sah, und ihre sorgenfreien Stunden in diesen romantischen Gegenden zu verleben. Mit ängstlicher Besorgniß sah sie auf die Stunden, auf die Monate hin, die sie unter Montonis Herrschaft hinbringen sollte, während sie sich der abgeschiednen Stunden mit Schmerz und Kummer erinnerte.
Oft wähnte sie in der Gegend vor ihr Valancourts Gestalt zu erblicken; sie sah ihn auf einer Bergspitze, wie er mit Bewunderung und Ehrfurcht die umliegende Scene anstaunte; oder wie er tiefsinnig unten im Thale hinwandelte; oft still stand, um auf die Gegend zurückzusehn und dann wieder in glühender Begeisterung seinen Weg nach einer überhangenden Klippe verfolgte. Wenn sie dann wieder dachte, daß Zeit und Entfernung sie immer weiter trennen, daß jeder Schritt sie weiter von ihm hinwegführen sollte, so sank ihr der Muth, und die umliegende Landschaft freute sie nicht mehr.
Nachdem die Reisenden Novalesa passirt hatten, erreichten sie mit Abendwerden die kleine alte Stadt Susa, welche vormals diesen Paß von den Alpen in das Piemontesische Gebiet beschützte. Die Anhöhen, welche ihn bestrichen, machten alle andern Befestigungen überflüssig, die Stadt selbst aber war mit Mauern und Wachtthürmen umgeben, und gewährte, mit den von Mondschein beleuchteten romantischen Anhöhen rings umher, einen sehr reizenden Anblick.
Sie blieben hier des Nachts in einem Gasthofe, wo sie freilich wenig Bequemlichkeit fanden; allein sie brachten den Hunger mit, der die gröbste Kost mit Wohlschmack würzt, und die Müdigkeit, die auch auf dem härtesten Lager uns Ruhe sichert. Emilie hörte hier zuerst italienische Musik, auf italiänischem Gebiet. Als sie nach Tische in einem kleinen Fenster saß, das aufs Feld gieng, die Wirkung des Mondlichts auf der zackigten Oberfläche der Berge beobachtete, und sich erinnerte, daß sie auch einst in einer solchen Nacht mit ihrem Vater und Valancourt hier gesessen und auf der Spitze der Pyrenäen geruht hatte, hörte sie unten eine Violine, deren sanfter Ausdruck so ganz mit den zärtlichen Regungen ihres Herzens harmonirte, daß sie sich überrascht und entzückt fühlte. Cavigni, der ans Fenster kam, lächelte über ihre Verwunderung. »Dies ist hier nichts seltenes«, sagte er, »Sie können eine solche Musik in jedem Wirthshause hören. Wahrscheinlich ists einer von unsers Wirths Söhnen.« Emilie konnte sich kaum denken, daß ein andrer als ein gelernter Musikus so spielen könne, und die süße klagende Melodie wiegte sie in eine Träumerei, aus der sie sich ungern durch Cavignis Scherz und durch Montonis Stimme aufschrecken ließ. Dieser befahl dem Bedienten, die Pferde morgen bei guter Zeit fertig zu halten, weil er in Turin Mittag zu halten dächte.
Madame Montoni freute sich herzlich, einmal wieder auf ebner Erde zu seyn; sie beschrieb umständlich, wie viel Schrecken sie unterwegs ausgestanden hätte, indem sie gänzlich vergaß, daß sie mit Leuten sprach, die ihre Gefahr getheilt hatten, und endigte mit der Hoffnung, daß sie bald diese abscheulichen Berge, die sie um keinen Preis mehr passiren möchte, aus dem Gesicht verlieren würde. Sie klagte über Müdigkeit und legte sich frühzeitig zur Ruhe. Emilie zog sich in ihr Zimmer zurück, wo sie von Annetten hörte, daß Cavigni sich in seiner Vermuthung wegen des Violinspielers nicht geirrt hätte; es war der Sohn eines Bauern, der nicht weit von ihnen im Thale wohnte. »Er geht zum Carnival nach Venedig«, sezte das geschwätzige Kammermädgen hinzu, »denn man hat ihm gesagt, daß er eine glückliche Hand zum Spielen hätte, und sich, da eben das Carnival angeht, viel Geld verdienen würde: allein ich muß sagen, daß ich für meine Person lieber zwischen diesen anmuthigen Hügeln und Wäldern, als in einer großen Stadt leben möchte. Zu Venedig werden wir leider auch weder Wälder, noch Berge, noch Thäler gewahr werden, denn es soll ja mitten in einem Sumpfe stehn.«
Emilie gab der geschwätzigen Annette Recht, daß dieser junge Mann keinen guten Tausch träfe, und konnte sich nicht enthalten, im Stillen zu beklagen, daß er von diesen schönen Scenen der Unschuld weg in die verführerischen jener wollüstigen Stadt gelockt werden sollte.
Des folgenden Morgens in aller Frühe machten sich die Reisenden auf den Weg nach Turin. Die reiche Ebne, die sich von dem Fuße der Alpen hin nach dieser prächtigen Stadt erstreckt, war damals nicht wie jetzt, von einer viele Meilen langen Allee beschattet; allein Pflanzungen von Oliven, Maulbeeren und Palmen, mit Weinbergen bekränzt, mischten sich in die ländliche Gegend, durch welche der schnelle Po, nachdem er von den Bergen herabgestiegen war, hinfloß um sich mit dem demüthigen Doria zu Turin zu vereinigen. So wie sie sich dieser Stadt nahten, erschienen ihnen die Alpen, die sie in einiger Entfernung sahen, in all ihrer schauerlichen Erhabenheit — in langer Reihe stieg Kette über Kette auf; die höhern Spitzen von den über ihnen schwebenden Wolken verdunkelt; bald verborgen und dann wieder hoch über sie empor ragend, während die untern Stuffen, in phantastische Formen gebrochen in blaue und purpurne Farben getaucht waren, die, so wie sie Licht und Schatten wechselten, dem Auge neue Scenen zu öffnen schienen. Nach Osten streckten sich die Lombardischen Plainen mit den Thürmen von Turin, die in einiger Entfernung aufstiegen, und jenseits die Appeninen, die den Horizont begränzten.
Die ganze Pracht dieser Stadt, ihre Vistas von Kirchen und Pallästen, die vom Markusplatz ausliefen und jede auf eine ferne Landschaft der Alpen oder Appeninen stießen, übertrafen nicht nur alles, was Emilie je in Frankreich gesehen, sondern was sie sich je geträumt hatte.
Montoni, der oft zu Turin gewesen war, und sich wenig um Aussichten, welcher Art sie auch seyn mochten, bekümmerte, fand nicht für gut, seiner Frauen Bitte einige Palläste mit ihr zu besehn, zu erfüllen; er ließ nur so lange halten, bis sie die nothwendigen Erfrischungen bekommen konnten, und machte sich dann mit möglichster Eile nach Venedig auf den Weg. Sein Betragen auf dieser Reise war ernsthaft, ja beinahe stolz; vorzüglich war er gegen Madame Montoni zurückhaltend; allein es war nicht sowohl die Zurückhaltung der Hochachtung, als des Stolzes und Misvergnügens. Emilien schien er wenig zu bemerken; mit Cavigni sprach er gewöhnlich über politische und militärische Gegenstände, denen die Zerrüttung ihres Landes damals besonderes Interesse gab. Emilie bemerkte, daß, so oft er irgend einer kühnen That erwähnte, seine Augen ihren gewohnten düstern Blick verloren und für einen Augenblick von Feuer glänzten; doch behielten sie immer eine gewisse schleichende List und es schien ihr oft, daß sie mehr Bosheit als Tapferkeit verriethen, die übrigens mit seiner hohen, rittermäßigen Gestalt, woran er Cavigni, bei all seinem lebhaften, galanten Wesen weit übertraf, recht gut harmonirt haben würde.
Als sie in das Mailändische Gebieth kamen, vertauschten die Herren ihre französischen Hüte mit der roth gestickten italiänischen Mütze und Emilie bemerkte mit einiger Verwunderung, daß Montoni eine Offiziersfeder aufsteckte, da Cavigni nur seine gewöhnliche beibehielt, doch vermuthete sie, daß Montoni dieses soldatische Zeichen nur aus Klugheit wählte, um desto sicherer durch ein mit Truppen überschwemmtes Land zu passiren.
Auf den schönen Fluren dieses Landes sah man häufig Spuren der Verwüstung des Kriegs. Oft bedeckten das angebaute Land Spuren der Fußtritte eines muthwilligen Verderbers, die Weintrauben waren von den Zweigen, die sie trugen, heruntergerissen; die Oliven auf der Erde zertrampelt, und selbst die Maulbeerwäldchen umgehauen, um das feindliche Feuer anzuzünden, das die Dörfchen und Hütten der Einwohner zerstörte. Emilie wandte mit einem Seufzer ihre Augen ab von diesen traurigen Zeichen der Zwietracht nach den nördlichen Alpen, deren schauerliche Einsamkeit dem verfolgten Menschen einen sichern Zufluchtsort anzuweisen schien.
Die Reisenden sahen oft Haufen von Soldaten sich in einiger Entfernung bewegen und empfanden in den kleinen Wirthshäusern unterwegs die Kärglichkeit der Lebensmittel und andre Unannehmlichkeiten, die ein innerer Krieg zur Folge zu haben pflegt; doch hatten sie nie Ursache, für ihre persönliche Sicherheit unmittelbar zu fürchten, und erreichten so ziemlich ungestört Mailand, wo sie nicht einmal verweilten, um die Größe der Stadt, oder den prächtigen Dom, der eben damals gebaut wurde, zu besehen.
Jenseits Mailand zeigte die Gegend Spuren gröberer Verwüstungen, und wenn gleich jetzt alles ruhig schien, so glich doch diese Ruhe der Ruhe des Todes über Züge ausgebreitet, auf denen man noch den Eindruck krampfhafter Verzuckungen erblickt.
Erst nachdem sie die östlichen Gränzen des Mailändischen Gebiets zurückgelegt hatten, sahen sie Truppen und glaubten in der Abenddämmerung eine Armee zu unterscheiden, die sich längst den fernen Ebenen hinzog, und deren Speere und andre Waffen die letzten Strahlen der Sonne auffiengen. So wie die Colonnen durch einen Theil des Weges, den zwei Hügel verengten, heran rückten, unterschied man zwei von den Anführern zu Pferde auf einer kleinen Anhöhe, wo sie das Signal zum Marsch zu geben schienen, während verschiedene Offiziere an der Linie hinritten, um sie in Ordnung zu halten; indeß andre, die sich von dem Vortrupp absonderten, nachlässig in einiger Entfernung neben dem rechten Flügel der Armee hinritten.
Als sie so nahe kamen, daß Montoni ihre Federn, ihre Fahnen und die Uniform der ihnen folgenden Haufen unterscheiden konnte, glaubte er die kleine Armee des berühmten Kapitains Utaldo zu erkennen, der ihm so wie einige der andern Anführer persönlich bekannt war. Er ließ den Wagen an der Seite des Weges halten, um ihre Ankunft zu erwarten und sie zu begrüßen. Eine schwache Melodie kriegerischer Musik schlich jezt heran, und so wie sie sich mit dem Vorrücken der Truppen verstärkte, glaubte Emilie Pauken und Trompeten nebst dem Geräusch der Zimbeln und Waffen, die eine kleine Parthey in den Marsch schlug, zu unterscheiden.
Da Montoni jezt gewiß war, daß es die Truppen des siegreichen Utaldo seyn müßten, lehnte er sich aus dem Kutschenschlage und begrüßte den General, indem er seine Mütze in die Luft schwenkte, der General erwiederte dies Compliment dadurch, daß er seinen Speer aufhob und wieder senkte, und einige von seinen Offizieren, die in einiger Entfernung von den Truppen ritten, kamen an den Wagen und grüßten Montoni als einen alten Bekannten. Da der Capitain selbst bald nachher erschien, machten die Soldaten Halt, indeß er mit Montoni sprach, den er zu sehn sehr erfreut schien.
Emilie verstand aus dem was er sagte, daß dies eine siegende Armee war, die in ihr Fürstenthum wieder zurückkehrte. Die zahlreichen Wagen, die sie begleiteten, enthielten die reiche Beute des Feindes, ihre eignen verwundeten Soldaten und die Gefangnen, die sie in der Schlacht gemacht hatten; diese sollten ausgelöst werden, sobald der Frieden, der damals zwischen den benachbarten Staaten im Werke war, bestätigt seyn würde. Den folgenden Tag sollten sich die Anführer trennen und jeder mit seinem Antheil an der Beute nach seinem Schlosse wieder zurückkehren. Dieser Abend wurde daher durch ein ausserordentliches allgemeines Fest zum Andenken des Siegs, den sie mit einander erfochten hatten, und zum Abschied für die Befehlshaber, die sich von einander zu trennen im Begriff standen, gefeiert.
Emilie betrachtete, als diese Offiziere mit Montoni sprachen, mit einer gewissen Bewunderung ihr hohes kriegerisches Ansehn, gemischt mit dem Stolze, wodurch der Adel jener Tage sich auszeichnete, und erhöht durch die Zierlichkeit ihrer Kleidung, durch die Federn, die auf ihren Mützen wehten, durch den Harnisch, persischen Säbel und alten spanischen Mantel. Utaldo sagte Montoni, daß seine Armee im Begriff sey, ihr Lager für die Nacht nahe bey einem Dorfe, das nur wenige Meilen entfernt war, zu beziehn, und lud ihn ein, umzukehren um an ihrer Festlichkeit Theil zu nehmen, indem er versicherte, daß auch die Damen alle mögliche Bequemlichkeit finden sollten. Allein Montoni entschuldigte sich, weil es sein Vorsatz sey, noch heute bis Verona zu gehn. Nach einem kleinen Gespräch über das Verhältniß dieser Stadt und den Zustand des Landes trennten sie sich für die Nacht.
Die Reisenden setzten ihren Weg ohne Störung fort, allein die Sonne war schon einige Stunden untergegangen, ehe sie Verona erreichten, dessen schöne Lage Emilie erst am folgenden Morgen sah, als sie diese anmuthige Stadt frühzeitig verließen und sich nach Padua auf den Weg machten, wo sie sich auf dem Brenta nach Venedig einschifften. Hier war die Scene durchaus verändert. Man erblickte keine Spur mehr vom Kriege, die das Mailändische Gebiet entstellt hatten, im Gegentheil war alles hier Schönheit und Friede. Die grünen Ufer des Brenta zeigten nur eine ununterbrochen schöne, lebhafte und prächtige Landschaft. Emilie sah mit staunender Bewunderung auf die Villas des venetianischen Adels mit ihren kühlen Porticos und Säulengängen, über welche Pappeln und Cypressen von ungewöhnlicher Höhe und lebhaftem Grün hiengen; auf die reichen Orangerien, deren Blüthe die Luft mit Wohlgeruch erfüllte; auf die grünen Weiden, die ihre leichten Zweige in den Fluß tauchten und die fröhlichen Gesellschaften, deren Musik von Zeit zu Zeit auf dem Lüftchen herbei getragen ward, vor der Sonne schützten. Das Carnival schien sich in der That von Venedig aus längst der ganzen Linie dieser bezaubernden Ufer zu erstrecken — der Fluß schimmerte von Kähnen, die nach dieser Stadt hinfuhren und die darin sitzenden Personen stellten durch die buntschäckige Verschiedenheit ihrer Kleidungen eine vollständige Masquerade dar. Später gegen Abend sah man oft Gruppen von Tänzern zwischen den Bäumen.
Cavigni benachrichtigte indeß Emilien von den Namen der Besitzer der Villas, vor welchen sie vorüber fuhren und setzte leichte Skitzen von ihrem Charakter hinzu, die mehr dazu dienten, sie zu amüsiren, als zu unterrichten, da es ihm nur darum zu thun war, seinen eignen Witz leuchten zu lassen, nicht aber der Wahrheit treu zu bleiben. Emilie fand oft Vergnügen an seinen lebhaften Einfällen; Madame Montoni aber schien nicht wie vormals, Unterhaltung daran zu finden; sie war oft ernsthaft und Montoni behielt seine gewöhnliche Zurückhaltung bei.
Nichts übertraf Emiliens Verwunderung, als sie zuerst Venedig erblickte, dessen Inseln, Palläste und Thürme sich aus der See erhoben, deren klare Oberfläche das zitternde Gemählde in all seinen Farben zurück warf. Die im Westen sinkende Sonne färbte die Wellen und hohen Berge von Frioli, welche die nördlichen Ufer des adriatischen Meeres einfaßten, mit einem Saffranglanz während das reiche Licht und der Schatten des Abends auf die marmornen Porticos und Säulenreihen des Markusplatzes fielen. So wie sie weiter glitten, trat die Pracht dieser Stadt deutlicher hervor; — ihre mit luftigen und zugleich majestätischen Gebäuden gekrönten Terrassen, in Abendglanz der untergehenden Sonne getaucht, schienen vielmehr durch den Stab eines Zauberers aus dem Ocean hervorgerufen als von menschlichen Händen erbauet zu seyn.
Bald sank die Sonne in die Unterwelt — die Schatten der Erde schlichen allmählig über die Wellen und dann auf die sich thürmenden Seiten der Berge von Frioli, bis sie endlich auch die letzten Schatten, die noch auf ihren Spitzen zögerten, verschlangen und den melancholischen Purpur des Abends gleich einem dünnen Schleier über sie warfen. Wie tief, wie schön war die Ruhe, welche die Scene einwiegte, die ganze Natur schien zu schlummern — nur die feinsten Gefühle der Seele waren noch wach! Emiliens Augen füllten sich mit Thränen der Bewunderung und erhabnen Ehrfurcht, als sie über die schlafende Welt hin auf den weiten Himmel blickte, und die feierliche Musik anhörte, die sich von fern her über das Wasser schlich. Sie horchte mit stummem Entzücken, und keine Frage, kein Laut ihrer Gefährten störte den Zauber. Die Töne schienen in der Luft zu wachsen: denn die Barke glitt so sanft hin, daß man kaum eine Bewegung merkte, und die Feenstadt schien zur Begrüßung der Fremden heran zu nahen. Sie unterschied nun eine weibliche, von einigen Instrumenten begleitete Stimme, die eine sanfte und klagende Arie sang; der feine Ausdruck, der oft mit der leidenschaftlichen Zärtlichkeit der Liebe zu flehen und dann wieder im hoffnungslosen Schmerz zu ersterben schien, verrieth ein mehr als erdichtetes Gefühl. Ach! dachte Emilie, indem sie mit einem Seufzer sich Valancourts Andenken zurückrief — diese Melodie kommt vom Herzen.
Sie sah sich mit ängstlichem Forschen um — die tiefe Dämmrung, die auf die Gegend gesunken war, ließ dem Auge nur unvollkommne Bilder zu, doch glaubte sie in einiger Entfernung auf der See eine Gondel wahrzunehmen. Ein Chor von Stimmen und Instrumenten scholl jetzt durch die Luft — so süß, so feierlich! es glich einer Hymne von Engeln, die durch das Schweigen der Nacht herabstieg! jetzt verstummte sie, und die aufgeregte Phantasie glaubte beinahe das heilige Chor wieder zum Himmel empor steigen zu sehn; dann schwoll sie aufs neue mit dem Lüftchen, zitterte ein Weilchen und erstarb wieder.
Die tiefe Stille, die nun folgte, war ebenso ausdrucksvoll als die Melodie, die eben geendigt hatte; sie dauerte einige Minuten lang ununterbrochen fort, bis ein allgemeiner Seufzer die Gesellschaft aus ihrer Bezaubrung zu erwecken schien. Emilie hieng noch lange der süßen Schwermuth, die sich ihrer Lebensgeister bemächtigt hatte, nach, endlich aber zog das lebhafte Gewühl, das sie wahrnahm, als die Barke sich dem St. Markusplatze nahte, ihre Aufmerksamkeit auf sich. Der aufsteigende Mond, der ein schattigtes Licht auf die Terrassen warf und die Porticos und prächtigen Arkaden, die sie krönten, beleuchtete, ließ sie die vermischten Gruppen von Menschen sehn, deren leichte Schritte, sanftes Zittern und noch sanftere Stimmen durch die Säulenreihen wieder hallten.
Die Musik, die sie vorhin gehört hatten, kam jetzt in einer Gondel an ihrer Barke vorbei. Beinahe alle Gondeln, die man auf der vom Monde beleuchteten See erblickte, führten Musik, die durch die Wellen, auf welchen sie schwebte, und durch das abgemeßne Schlagen der Ruder in den funkelnden Strom, doppelten Zauber erhielt. Emilie staunte und horchte, und glaubte sich in einer Feenwelt, auch Madame Montoni schien Gefallen daran zu finden. Montoni wünschte sich Glück zu seiner Rükkehr nach Venedig, das er die erste Stadt in der Welt nannte, und Cavigni war muntrer und beseelter als je.
Die Barke ruderte nach dem großen Kanale hin, an welchem Montonis Haus lag. Und hier entfalteten sich vor Emilien neue Formen von Schönheit und Größe, wie noch nie ihre Phantasie sich gemahlt hatte, in den Pallästen Sansovina und Palladio. Die Luft trug nur süße Töne, die von jedem Ufer des Kanals und von den Gondeln auf seiner Fläche wiederhallten, während man Gruppen von Masken auf den vom Monde beleuchteten Terrassen tanzen, und die romantische Erzählung von einem Feenlande beinahe verwirklichen sah.
Die Barke hielt vor dem gewölbten Eingange eines großen Hauses still, wo die Gesellschaft sogleich ans Land stieg. Sie kamen aus dem Portico durch einen schönen Vorsaal auf eine Marmortreppe, die in einen Saal führte, der mit einer Pracht, über welche Emilie erstaunte, ausgeschmückt war. Die Wände und Decke waren mit historischen und allegorischen Gemählden in Fresco geziert; silberne Kronleuchter die an Ketten von demselben Metall herabhiengen, erleuchteten das Zimmer, dessen Fußboden mit indischen, mit mannigfaltigen Farben und Sinnbildern bemahlten Teppichen belegt war. Die Vorhänge und Überzüge waren von blaßgrüner Seide mit goldnen Franzen besetzt und mit Gold und grüner Seide gestickt. Die Fenster des Balcons stießen auf den großen Canal, von wo ein Gewühl von Stimmen und musikalischen Instrumenten mit dem Lüftchen aufstieg, das dem Zimmer Kühlung gab. Bei einem Manne von Montonis finsterem Temperament befremdete Emilien die prachtvolle Einrichtung seines Hauses, und sie wunderte sich, wie das Gerücht hätte entstehen können, daß er in schlechten Umständen sey. Ach! sagte sie zu sich selbst, wie sehr würde es Valancourt beruhigen, wenn er nur dies Haus sehn könnte! Er würde sich dann überzeugen, wie grundlos jene Nachricht war.
Madame Montoni schien die Miene einer Prinzessin anzunehmen; Montoni aber war unruhig und misvergnügt, und beobachtete nicht einmal die Höflichkeit, sie in ihrem Hause zu bewillkommen.
Bald nach seiner Ankunft bestellte er seine Gondel, und gieng mit Cavigni aus, um das Gewühl des Abends anzusehn. Madame wurde nun ernsthaft und nachdenkend. Emilie, von allem, was sie sah, bezaubert, suchte sie aufzuheitern, allein keine Betrachtung konnte bei Madame Montoni Eigensinn und üble Laune besiegen, und ihre Antworten verriethen soviel von beiden, daß Emilie den Versuch, sie zu erheitern, aufgab und sich in ein Fenster stellte, um sich an der für sie so neuen und bezaubernden Scene aussen zu ergötzen.
Der erste Gegenstand, der ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, war eine Gruppe von Tänzern auf der Terrasse unten, die von einer Zitter und einigen andern Instrumenten angeführt wurden. Das Mädchen, das die Zitter spielte, und ein andres, das eine kleine Trommel schlug, hüpften mit tanzendem Schritt und mit einer leichten Anmuth und Fröhlichkeit, welche die Gottheit des Verdrusses selbst in ihrer übelsten Laune hätte bezwingen müssen. Nach diesen trat eine Gruppe phantastischer Figuren auf, zum Theil als Gondelfahrer, zum Theil als Minnesänger gekleidet, indeß andre aller Beschreibung Hohn zu sprechen schienen. Sie sangen in abwechselnden Chören, ihre Stimmen von einigen wenigen sanften Instrumenten begleitet. In einer kleinen Entfernung vom Portico standen sie still und Emilie unterschied Verse aus dem Ariost. Sie sangen von dem Kriege der Mauren gegen Carl den großen und dann von Orlandos Weh — bald aber wechselte das Zeitmaas und Petrarchs melancholische Süßigkeit durchdrang die Seele der Zuhörer. Die Zauberkraft seines Schmerzes wurde durch alles unterstützt, was italiänische Musik und italiänischer Ausdruck, durch die Schönheit eines venetianischen Mondlichts unterstützt, vermögen.
Emilie fühlte sich von der schwermüthigen Schwärmerei fortgerissen; ihre Thränen flossen still, während ihre Phantasie sie weit hinweg nach Frankreich und zu Valancourt trug. Jedes neue Sonnet, mehr noch als das vorhergehende voll süßer Schwermuth, schien den Zauber der Melancholie zu fesseln; mit äusserstem Leidwesen sah sie den Musikus fortgehen und ihre Aufmerksamkeit folgte seiner Melodie, bis das letzte schwache Wirbeln in der Luft erstarb. Sie blieb dann in die nachdenkende Ruhe versunken, welche eine sanfte Musik in der Seele zurückläßt, ein ähnlicher Zustand, als worin uns der Anblick einer schönen Landschaft bei Mondschein, oder die Erinnerung an Scenen versetzt, die durch die Zärtlichkeit von auf immer verlornen Freunden oder durch einen Schmerz, den die Zeit zu sanfter Wehmuth herabgestimmt hat, uns merkwürdig geworden sind.
Bald erregten andre Töne ihre Aufmerksamkeit: es war die feierliche Harmonie von Hörnern, die aus der Ferne herdrangen; und da sie die Gondeln sich längst den Terrassen reihen sah, warf sie ihren Schleier über, und unterschied in der fernen Perspektive des Kanals etwas gleich einer Prozession, das auf der leichten Oberfläche des Wassers schwebte. So wie es heran nahte, mischten sich süß die Hörner und andern Instrumente, und bald darauf schienen die fabelhaften Gottheiten der Stadt aus dem Ocean hervor zu steigen. Neptun, mit Venedig, als seiner Königin zur Seite, kam von Tritonen und Seenymphen umgeben, auf den Wellen einher geschwebt. Die phantastische Pracht dieses Schauspiels mit der Größe der umliegenden Palläste zusammengenommen, glich dem Traumgesicht eines plötzlich verkörperten Dichters, und die Bilder der Phantasie, die es in Emiliens Seele weckte, verweilten noch lange, nachdem schon der Zug vorüber war, daselbst. Sie hieng dem Gedanken, worin wohl die Beschäftigungen und Vergnügungen einer Seennymphe bestehn möchten, so lange nach, bis sie beinahe wünschte, ihre sterbliche Hülle abwerfen und sich in die grünen Wellen stürzen zu können.
Wie süß müßte es seyn, sagte sie zu sich selbst, zwischen den korallnen Lauben und den krystallnen Hölen des Oceans mit meinen Schwesternymphen zu leben und dem Gebrauße des Wassers über mir, dem sanften Plätschern der Tritonen zuzuhören! und dann nach Sonnenuntergang auf der Oberfläche der Wellen rings um wilde Felsen und längst entlegnen Ufern zu schweben, wohin vielleicht ein einsamer Wandrer, um sich satt zu weinen, eilte! Wie wollte ich durch meine süßen Töne seinen Kummer besänftigen und ihm aus einer Muschelschaale die saftigen Früchte darbieten, die um Neptuns Pallast hängen.
Sie wurde von ihrer Träumerei zu einem blos irrdischen Abendessen abgerufen und konnte sich nicht enthalten über die Phantasien, denen sie nachgehangen hatte, zu lächeln; sie war überzeugt, daß Madame Montoni, wenn sie etwas davon geahndet hätte, gewiß ihr äußerstes Mißfallen darüber würde bezeugt haben.
Ihre Tante blieb noch lange nach Tisch auf, aber Montoni kam nicht wieder und sie mußte sich endlich zur Ruhe begeben. Wenn Emilie die Pracht des Saals bewundert hatte, so bemerkte sie mit nicht minderer Befremdung das wüste Ansehn der nur halb möblirten Zimmer, durch die sie auf dem Wege nach dem ihrigen kam — diese langen Reihen prächtiger Gemächer schienen nach ihrem öden Ansehn zu urtheilen, seit vielen Jahren nicht bewohnt worden zu seyn; an den Wänden von einigen hiengen verblichene Ueberreste von Tapeten; an andern die in Fresco gemahlt waren, hatte die Feuchtigkeit sowohl Farbe als Zeichnung verwischt. Endlich erreichte sie ihr Schlafzimmer, das hoch, geräumig und wüste wie die übrigen mit hohen Fenstern versehn war, die eine Aussicht auf das Adriatische Meer gewährten. Es rief finstre Bilder in ihr hervor, allein die Aussicht auf das Meer rief die luftigen Träume, womit sich ihre Phantasie vorhin beschäftigt hatte, wieder zurück, bis sie in leichten Schlummer sank.
Schon seit mehrern Stunden hatte die Morgendämmerung das Adriatische Meer geröthet, ehe Montoni und sein Gefährte zurückkamen. Die bunten Gruppen, welche die ganze Nacht durch unter den Säulen des Markusplatzes getanzt hatten verschwanden, gleich so manchen Luftgestalten vor dem Anbruch des Morgens. Montoni war an einem andern Orte versezt gewesen; seine Seele war für leichte Freuden nicht sehr empfänglich, er fand nur Gefallen an den kräftigen Erschütterungen der Leidenschaften; die Mühseeligkeiten und Stürme des Lebens, an welchen die Glückseeligkeit andrer scheitert, erweckten und verstärkten alle Kräfte seiner Seele und gewährten ihm den höchsten Genuß, dessen seine Natur fähig war. Ohne einen Gegenstand, der ihn sehr beschäftigte, war ihm das Leben nicht vielmehr als ein Schlaf, und wenn er keine wirklichen Zwecke vor sich hatte, so sezte er künstliche an die Stelle bis die Gewohnheit ihre Natur veränderte, und sie aufhörten unwirklich zu seyn. Dahin gehörte die Gewohnheit des Spiels, die er anfangs nur, um sich von der Qual der Unthätigkeit zu befreien, angenommen, bald aber mit allem Feuer der Leidenschaft fortgesezt hatte. Seit dieser Beschäftigung hatten er und Cavigni die Nacht unter einer Gesellschaft junger Leute hingebracht, die mehr Geld als Rang, und mehr Laster als beides besaßen. Montoni verachtete den größten Theil von ihnen mehr wegen ihrer geringern Talente, als wegen ihrer lasterhaften Neigungen, und gesellte sich nur zu ihnen, um sie zum Werkzeuge seiner Absichten zu machen. Verschiedene junge Leute von vorzüglichem Geist befanden sich unter ihnen, die Montoni seiner engern Vertraulichkeit würdigte; doch behielt er auch gegen sie immer ein gewisses stolzes, zurückhaltendes Wesen, welches schwache Seelen in Unterwürfigkeit hält, stärkere aber zu Haß und Empfindlichkeit reizt. Er hatte folglich viele bittere Feinde; allein die Heftigkeit ihres Hasses bewies den Grad seiner Macht, und da Macht sein Hauptstreben war, so fühlte er sich durch einen solchen Haß mehr als durch die wärmste Achtung geschmeichelt. Er verachtete ein so gemäßigtes Gefühl als das der Achtung, und würde sich selbst verachtet haben, wenn er sich dadurch hätte geschmeichelt finden können.
Unter den wenigen, die er auszeichnete, befanden sich die Signors Bertolini, Orsino und Verezzi. Der erste war ein Mann von lebhaftem Temperament, starken Leidenschaften, zerstreut und gränzenlos ausschweifend, aber edel, brav und arglos. Orsino war zurückhaltend und stolz, liebte Macht mehr als Pracht, war grausam und argwöhnisch von Temperament, schnell empfänglich für erlittenes Unrecht, und unversöhnlich in seiner Rache; listig und unergründlich in seinen Anschlägen, geduldig und unermüdet in der Ausführung seiner Pläne. Er hatte sein Gesicht und seine Leidenschaften, die blos in Stolz, Rache und Geitz bestanden, vollkommen in seiner Gewalt, und um diese zu befriedigen, ließ er sich durch keine Rücksichten, durch keine Hindernisse von der Ausführung seiner tief angelegten List zurückhalten. Dieser Mensch war Montonis vorzüglicher Liebling. Verezzi besaß einige Talente, eine feurige Einbildungskraft und war der Sklave abwechselnder Leidenschaften. Er war lebhaft, wollüstig und kühn; besaß aber weder Beharrlichkeit noch wahren Muth und war bei allem was er unternahm erbärmlich selbstsüchtig. Feurig in seinen Hofnungen des Erfolgs, war er stets bereit, sowohl für sich als für andre Pläne zu entwerfen, und sie wieder aufzugeben, wenn er sie kaum zur Hälfte ausgeführt hatte. Stolz und ungestümm lehnte er sich gegen alle Subordination auf, doch konnten diejenigen, die mit seinem Character bekannt waren, und die jedesmalige Richtung seiner Leidenschaften beobachteten, ihn lenken wie ein Kind.
Dies waren die Freunde, die Montoni den Tag nach seiner Ankunft in Venedig in seiner Familie und an seinem Tische einführte. Noch ein venetianischer Edelmann, Graf Morana, und eine gewisse Signora Livona, waren von der Gesellschaft. Montoni machte die leztere seiner Frau als eine Dame von auszeichnenden Vorzügen bekannt, und behielt sie zu Mittag, als sie des Morgens zu einem Besuche kam, um Madame Montoni in Venedig zu bewillkommen.
Madame Montoni nahm die Höflichkeit der Herren mit sehr übler Laune auf. Sie mißfielen ihr, weil sie Freunde ihres Mannes waren; sie haßte sie, weil sie glaubte, daß sie an seinem langen Ausbleiben den Tag zuvor Schuld gewesen wären, und beneidete sie, weil sie, ihres eignen geringen Einflusses auf ihn sich bewußt, glaubte, daß er diese Gesellschaft der ihrigen vorzöge. Der Rang des Grafen Morano verschaffte ihm die Auszeichnung, die sie der übrigen Gesellschaft verweigerte. Die stolze Verachtung in ihrem Gesicht und Betragen und das Ueberladene ihres Anzugs, denn sie hatte die venetianische Kleidung noch nicht angenommen, stachen auffallend gegen die Schönheit, Bescheidenheit und Simplicität Emiliens ab, die mit mehr Aufmerksamkeit als Vergnügen die Gesellschaft um sich her bemerkte. Die Schönheit und das einnehmende Betragen der Signora Livona zwang ihr eine unwillkührliche Achtung ab, während ihre süße Stimme und ihre holde Freundlichkeit die angenehmen Empfindungen, die so lange geschlummert hatten, wieder bei ihr erweckten.
In der Abendkühle schiffte sich die Gesellschaft in Montonis Gondel ein und ruderte auf die See aus. Der rothe Schimmer der untergehenden Sonne färbte noch die Wellen und zögerte im Westen, wo der melancholische Strahl langsam zu erlöschen schien, während das dunkle Blau des obern Himmels von Sternen funkelte. Emilie saß in nachdenkende süße Gefühle gewiegt da. Die Glätte des Wassers, auf welchem sie hinglitt, die Bilder, die es zurückwarf, ein neuer Himmel und unter den Wellen, zitternde Sterne, mit schattigten Umrissen von Thürmen und Porticos, vereinten sich mit der nur durch die vorüberrauschende Fluthen oder die Töne ferner Musik unterbrochnen Stille der Stunde, diese Gefühle zur Begeisterung zu erheben. So wie sie auf den abgemeßnen Schall der Ruder, und auf das ferne Wirbeln, das mit dem Lüftchen herbei kam, hörte, kehrte in ihr besänftigtes Herz St. Auberts und Valancourts Andenken zurück, und Thränen schlichen sich in ihre Augen. Die Strahlen des Mondes, die sich mit den tiefern Schatten verstärkten, warfen bald einen Silberglanz auf ihr Gesicht, das zum Theil von einem dünnen schwarzen Schleier beschattet wurde, und theilten ihm eine unnachahmliche Sanftheit mit. Es war der Umriß einer Madonna mit der Fühlbarkeit einer Magdalene vereint, und das nachdenkende, aufgeschlagne Auge, mit der Thräne die auf ihrer Wange schimmerte, machte den Ausdruck desselben noch rührender.
Der letzte Laut der fernen Musik erstarb jetzt in der Luft: denn die Gondel war tief in See gegangen und die Gesellschaft beschloß, selbst Musik zu machen. Der Graf Morano, der zunächst bei Emilien saß, und sie eine Weile stillschweigend betrachtet hatte, ergriff eine Laute und berührte die Saiten mit dem Finger der Harmonie selbst, während seine schöne Tenorstimme sie mit einem Rondeau voll klagender Zärtlichkeit begleitete. Nachdem er ausgesungen hatte, gab er Emilien die Laute, die um sich kein geziertes Ansehn zu geben sogleich zu spielen anfieng. Sie sang eine melancholische kleine Arie; eins von den Volksliedern ihrer Provinz mit einer Simplicität und Rührung, die es bezaubernd machten. Allein die wohlbekannte Melodie rief ihrer Phantasie die Auftritte und die Personen, unter welchen sie es so oft gehört hatte, so lebhaft zurück, daß ihre Lebensgeister unterlagen — ihre Stimme bebte und verschwand und mit zitternder Hand berührte sie die Saiten der Laute, bis sie beschämt, eine solche Bewegung verrathen zu haben, plötzlich zu einem so frölichen, leichten Gesang übergieng, daß man beinahe die hüpfenden Schritte des Tanzes vor sich sah. Bravissimo erscholl sogleich von den Lippen ihrer entzückten Zuhörer und sie mußte die Arie wiederholen. Bei den Lobsprüchen, die sie erhielt, blieb der Graf gewiß nicht zurück, und sie dauerten noch fort, als Emilie der Signora Livona das Instrument hingab.
Der Graf, Emilie, Cavigni und die Signora sangen nachher Arien, von ein paar Lauten und einigen andern Instrumenten begleitet. Zuweilen verstummten die Instrumente gänzlich, und die Stimmen fielen aus der vollen Höhe in einen tiefen Ton, dann, nach einer langen Pause, stiegen sie allmählig wieder, die Instrumente huben eins nach dem andern wieder an, bis endlich die Laute und der volle Chor aufs neue gen Himmel stieg.
Indeß überlegte Montoni, der dieser Harmonie müde war, wie er sich auf die beste Art von seiner Gesellschaft losmachen, oder sich mit einigen, die zum Spiel geneigt waren, zu einem Casino verfügen könnte. Bei einer Pause der Musik schlug er vor, ans Land zu gehn; ein Vorschlag, den Orsino bereitwillig unterstützte, dem aber der Graf und die andern Herren ebenso warm widersprachen.
Montoni aber dachte noch immer auf eine Entschuldigung gegen den Grafen, der einzige, bei dem er es der Mühe werth hielt, bis die Gondelfahrer eines ledigen Bootes, das nach Venedig zurückfuhr, seinen Leuten zuriefen. Ohne sich nun länger den Kopf wegen einer Entschuldigung zu zerbrechen, ergriff er diese Gelegenheit, empfahl die Damen dem Schutz seiner Freunde und gieng mit Orsino davon. Zum erstenmal sah Emilie ihn ungern fortgehn; sie betrachtete seine Gegenwart als einen Schutz, ob sie gleich nicht wußte, was sie fürchten sollte. Er stieg bei dem St. Markusplatze ans Land, und eilte in ein Casino, wo er sich bald unter einem Haufen Spieler verlor.
Der Graf hatte während dessen heimlich einen Bedienten in Montonis Boote fortgeschickt, um seine eigne Gondel und Musik zu holen. Ohne seine Absicht zu wissen, hörte Emilie den Gesang der Gondelfahrer, die auf dem Verdeck saßen, heran nahen und sah den zitternden Glanz des Mondlichts von ihren Rudern unterbrochen. Gleich darauf vernahm sie Instrumente und dann eine volle Symphonie, die Boote begegneten einander und die Gondelfahrer riefen sich ihren Grus zu. Der Graf erklärte ihnen jezt die Ursache, und sie stiegen in seine Gondel die mit allem, was nur der Geschmack erfinden kann, verschönert war.
Während sie ein Mahl von Früchten und Eis verzehrten, spielte die ganze Bande, die in einiger Entfernung in dem andern Boote folgte, die süßeste und bezauberndste Melodie; der Graf, der sich wieder neben Emilien gesetzt hatte, widmete ihr die feinste Aufmerksamkeit und sagte ihr zuweilen mit leiser, aber leidenschaftlicher Stimme Complimente, die sie nicht mißdeuten konnte. Um sie zu vermeiden, unterhielt sie sich mit Signora Livona und nahm gegen den Grafen eine bescheidene Zurückhaltung an, die aber, bei aller Würde, doch zu sanft war, um ihn zurückzuweisen. Er sah, er hörte, er sprach nur mit Emilien, während Cavigni ihn von Zeit zu Zeit mit Unwillen und Emilien mit Unruhe betrachtete. Sie wünschte nichts sehnlicher als wieder nach Venedig zu kommen, allein es war beinahe Mitternacht, ehe die Gondeln den St. Markusplatz erreichten, wo die Stimme der Frölichkeit und des Gesangs laut ertönte. Man hörte schon in der Ferne ein Gewühl vermischter Töne, und hätte nicht ein helles Mondlicht die Stadt mit ihren Terrassen und Thürmen gezeigt, so würde ein Fremder beinahe die fabelhaften Mährchen von Neptuns Hofe für wahr gehalten und geglaubt haben, daß dieses Geräusch unter den Wellen hervorgienge.
Sie stiegen am St. Markusplatze ans Land, wo die Lebhaftigkeit unter den Colonnaden, und die Schönheit der Nacht Madame Montoni bewegten, des Grafen Bitte, noch eine Promenade zu machen und sich dann nebst der übrigen Gesellschaft ein Abendessen auf seinem Casino gefallen zu lassen, zu gewähren. Hätte irgend etwas Emiliens Unmuth zerstreuen können, so wäre es gewiß die Größe, Lebhaftigkeit und Neuheit der umliegenden, mit Palladios Pallästen geschmückten und durch Gesellschaften in Masken belebten Scene gewesen.
Endlich verfügten sie sich nach seinem äusserst geschmackvoll eingerichteten Casino, wo sie eine prächtige Mahlzeit bereit fanden. Hier aber machte Emiliens Zurückhaltung den Grafen aufmerksam, wie nothwendig es für seinen Vortheil sey, Madame Montonis Gunst zu gewinnen, welches bei der Herablassung, womit sie ihn bereits beglückt hatte, ihm kein schweres Unternehmen schien: Er trug also einen Theil seiner Aufmerksamkeit von Emilien auf ihre Tante über, die sich durch diese Auszeichnung zu sehr geschmeichelt fühlte, um ihr Entzücken verbergen zu können. Ehe noch die Gesellschaft aus einander gieng, hatte er Madame Montoni ganz für sich gewonnen. So oft er sie anredete, erheiterte sich ihr unholdes Gesicht in Lächeln, und sie fand alles was er sagte, vortrefflich. Er lud sie nebst der übrigen Gesellschaft ein, den folgenden Abend in seiner Loge in der Oper Caffee zu trinken, und Emilie dachte, wie sie ihre Tante den Vorschlag annehmen hörte, ängstlich auf einen Vorwand, sich davon loszumachen.
Es war sehr spät, ehe die Gondel bestellt wurde, und Emilie erstaunte, als sie beim Fortgehn aus dem Casino die helle Sonne aus dem Adriatischen Meere hervorgehn, und den Markusplatz noch voll Menschen sah. Der Schlaf hatte schon lange schwer auf ihren Augen gelegen, jetzt aber erfrischte sie das kühle Seelüftchen und sie würde ungern den Ort verlassen haben, wenn nicht der Graf, der sich das Recht, sie nach Hause zu begleiten, nicht nehmen ließ, gegenwärtig gewesen wäre. Sie erfuhren hier, daß Montoni noch nicht zurückgekommen war, und seine Frau, die sich äusserst mißvergnügt in ihr Zimmer begab, erlöste endlich Emilien von der Beschwerde, länger um sie zu seyn.
Montoni kam spät des Morgens in sehr übler Laune nach Hause, weil er starken Verlust im Spiel gehabt hatte, und hielt, ehe er sich zur Ruhe legte, eine geheime Unterredung mit Cavigni, dessen Miene den folgenden Tag zu sagen schien, daß der Inhalt nicht angenehm gewesen war.
Madame Montoni, die den Tag über ein mürrisches Stillschweigen gegen ihren Mann beobachtet hatte, erhielt gegen Abend Besuche von einigen venetianischen Damen, deren angenehmes Wesen Emilien besonders gefiel. Sie betrugen sich gegen die Fremden mit einer ungezwungnen und zuvorkommenden Artigkeit, als wären sie schon viele Jahre vertraute Freunde gewesen, und ihre Unterhaltung war abwechselnd zärtlich, empfindsam und lebhaft. So wenig Geschmack auch Madame für solche Unterhaltung hatte, und so sehr auch ihr grobes, selbstsüchtiges Betragen gegen die ausnehmende Feinheit dieser Damen abstach, konnte sie doch nicht ganz unempfindlich gegen den Zauber ihres Umgangs bleiben.
Während einer Pause des Gesprächs ergriff eine gewisse Signora Herminia die Laute, und sang und spielte so ungezwungen als wäre sie allein gewesen. Ihre Stimme hatte eine seltne Fülle und Ausdruck, doch schien sie sich ihrer Vorzüge wenig bewußt zu seyn, und war weit entfernt, sie zur Schau zu legen. Sie sang aus Frölichkeit ihres Herzens, indem sie mit halb zurückgeworfnem Schleier, voll Grazie die Laute hielt und unter Zweigen und Blüten von Pflanzen, die in Töpfen auf dem Fenster standen, da saß. Emilie zog sich ein wenig von der Gesellschaft zurück, um ihre Figur nebst der Scene im kleinen um sie her, zu zeichnen und brachte ein interessantes Gemälde aufs Papier, das vielleicht wohl die Kritik nicht ausgehalten haben würde, aber doch Geist und Geschmack genug enthielt, um Phantasie und Herz zu beschäftigen. Nachdem sie es vollendet hatte, überreichte sie es dem schönen Original. Die Signora fand sich sehr angenehm überrascht und versicherte Emilien mit einem süßen Lächeln, daß sie es als ein Pfand ihrer Freundschaft aufbewahren würde.
Cavigni gesellte sich gegen Abend zu den Damen; Montoni aber war anderwärts versezt. Sie schifften sich in der Gondel nach dem St. Markusplatze ein, wo sie die nämliche frohe Gesellschaft als Abends zuvor fanden. Das kühle Lüftchen, die spiegelglatte See, das sanfte Rauschen der Wellen und das süßere Murmeln der fernen Musik — die hohen Porticos und Arkaden, und die glücklichen Gruppen, die unter ihnen hin schlenderten, bezauberten Emilien doppelt, da sie durch keine lästige Aufmerksamkeit des Grafen Morano mehr gequält wurde. Als sie aber die vom Monde beleuchtete See, die Mauern des St. Markusplatzes bespülen und einen Augenblick darauf verweilen sah, als sie den süßen, melancholischen Gesang eines Gondelfahrers hörte, der unten in seinem Boot saß, und auf seinen Herrn wartete, kehrte ihr weich gewordnes Herz zu dem Andenken an ihre Heimat, an ihre Freunde und an alles, was ihr in ihrem Vaterlande theuer war, zurück.
Nachdem sie eine Weile auf und ab gegangen waren, setzten sie sich vor der Thür eines Casinos nieder, wo, während Cavigni sie mit Erfrischungen bediente, der Graf Morano sich zu ihnen gesellte. Er suchte Emilien mit einem Blick voll ungeduldigen Verlangens, allein sie erinnerte sich an sein Betragen vom gestrigen Abend und nahm wieder eine furchtsame Zurückhaltung an, ausser wenn sie mit der Signora Herminia und andern Damen von ihrer Gesellschaft sprach.
Es war beinahe Mitternacht, ehe sie sich nach der Oper begaben, wo Emilie nicht so gefesselt wurde, daß sie nicht, wenn sie an die eben verlaßne Scene zurückdachte, hätte fühlen sollen, wie unendlich weit aller Schimmer der Kunst der Erhabenheit der Natur nachsteht. Ihr Herz fühlte sich jetzt nicht gerührt; Thränen der Bewundrung traten ihr jetzt nicht in die Augen, als zuvor, da sie die weite Fläche des Oceans — die Größe des Himmels sah und dem Braußen des Wassers, der schwachen Musik zuhörte, die sich in sein Getöse mischten. Sobald sie an diese Gegenstände dachte, schien ihr die Scene, die sie vor sich sah, höchst unbedeutend.
Verschiedne Wochen verstrichen unter gewöhnlichen Besuchen, ohne daß etwas merkwürdiges vorfiel. Emilie fand Unterhaltung an den Sitten und Gegenständen um sie her, die so ganz von dem, was sie in Frankreich gesehn hatte, abwichen; nur störte es ihr Vergnügen, daß der Graf Morano sich allenthalben, wo sie war, mit einzuschleichen wußte. Sein Betragen, seine Figur und Eigenschaften, die man allgemein bewunderte, würden vielleicht auch bei Emilien ihren Eindruck nicht verfehlt haben, wäre nicht ihr Herz schon vorher von Valancourt eingenommen gewesen, und hätte der Graf sie nicht durch eine unablässige Aufmerksamkeit gequält, wobei sie von Zeit zu Zeit Züge in seinem Character bemerkte, die seine andern guten Seiten verdunkelten.
Nicht lange nach seiner Ankunft zu Venedig erhielt Montoni ein Packet von Herrn Quesnel, worin dieser ihm den Tod des Onkels seiner Frau meldete, der auf seiner Villa am Brento gestorben war, und ihm zugleich schrieb, daß er eilen würde, von diesem Gute und andern ihm zugefallnen Vermächtnissen Besitz zu nehmen. Dieser Onkel war ein Bruder von Madame Quesnels verstorbner Mutter; Montoni war von väterlicher Seite mit ihr verwandt, und so wenig Ansprüche oder Hofnung er sich auch auf diese Besitzungen zu machen hatte, konnte er doch kaum den Neid verbergen, den Herrn Quesnels Brief bei ihm erregte.
Emilie hatte mit Betrübnis bemerkt, daß Montoni, seit sie Frankreich verließen, sich nicht einmal die Mühe gegeben hatte, nur den Schein einer gewissen Freundlichkeit gegen sie anzunehmen, und daß er jetzt, statt daß er sie bisher nur vernachlässigt hatte, wirklich unartig und mürrisch gegen sie geworden war. Sie hatte sich nie eingebildet, daß ihrer Tante Schwächen, Montonis scharfem Blick entgehn, oder daß ihr Geist und Körper seine Aufmerksamkeit auf sich ziehn könnten. Sie wunderte sich deswegen mit Recht über seine Wahl, allein nachdem sie einmal getroffen war, traute sie ihm doch nicht zu, daß er seine Verachtung gegen seine Frau so öffentlich an den Tag legen würde. Montoni aber, den der vermeinte Reichthum der Madame Cheron angelockt hatte, sah sich jetzt, da er sie in der That weit ärmer fand, in seinen Erwartungen schmerzlich getäuscht, und war höchst aufgebracht über den Betrug, den sie ihm gespielt hatte. Er sah sich in einer Sache betrogen, wo er zu betrügen geglaubt hatte, und was noch das ärgste war, von einer Frau überlistet, deren Verstand er verachtete, und der er seinen Stolz und seine Freiheit aufgeopfert hatte, ohne sich dadurch von dem Verderben, das über seinem Haupt schwebte, zu retten. Madame Montoni war so klug gewesen den größten Theil ihres wirklichen Vermögens für sich selbst zu sichern, den Ueberrest, der weder ihres Mannes Erwartungen, noch seinen Bedürfnssen angemessen war, hatte er zu Gelde gemacht und mit nach Venedig gebracht, um die Welt noch ein wenig länger zu täuschen und einen letzten Versuch zu machen, sein verlornes Vermögen wieder zu gewinnen.
Die Winke, die man Valancourt wegen Montonis Character und Vermögensumständen gegeben hatte, waren nur zu wahr; allein es mußte jetzt von Zeit und Gelegenheit abhängen, sowohl das Gesagte, als das Verschwiegene zu enthüllen, und auch wir wollen es der Zeit und Gelegenheit überlassen.
Es lag nicht in Madame Montonis Natur, ein Unrecht mit Sanftmuth zu verschmerzen, oder es mit Würde zu ahnden; ihr übertriebner Stolz zeigte sich in aller Heftigkeit und Erbittrung eines kleinen, oder wenigstens ungeordneten Geistes. Sie mochte sich selbst nicht gestehn, daß sie die Verachtung gewissermaßen durch ihre Falschheit gereizt hatte, sondern blieb hartnäckig auf dem Glauben, daß sie allein zu beklagen, und Montoni allein zu tadeln sey. Da ihre Seele von Natur wenig Gefühl für moralische Pflichten hatte, so fühlte sie selten die Kraft derselben, ausser wenn sie zufällig gegen sie selbst verletzt wurden: ihre Eitelkeit hatte bereits durch die Entdeckung, daß Montoni sie verachte, einen großen Stoß erlitten, und es fehlte nur noch die Entdeckung seiner wahren Umstände, um ihr den letzten Stoß zu geben. Die mangelhafte Einrichtung seines Hauses zu Venedig hätte ihr wohl einen Theil der Wahrheit verrathen können, wenn sie nicht so geneigt gewesen wäre, zu glauben, was sie wünschte. Madame Montoni hielt sich noch immer für nicht viel weniger als eine Prinzessin die einen Pallast zu Venedig, und ein Schloß in den Appeninischen Gebürgen besaß. Allerdings sprach Montoni zuweilen davon, daß er auf einige Wochen nach dem Schlosse Udolpho gehn wollte, um seine Beschaffenheit zu untersuchen, und einige Zinsen zu heben. Nach seinen Reden war er seit zwei Jahren nicht da gewesen und hatte es in dieser Zeit nur durch einen alten Bedienten, den er seinen Verwalter nannte, bewohnen lassen.
Emilie hörte mit Vergnügen von dieser Reise reden, von der sie nicht nur neue Bereicherung ihrer Ideen, sondern vorzüglich Befreiung von des Grafen Morano unablässiger Verfolgung erwartete. Auch glaubte sie auf dem Lande Musse genug zu haben, um ungestört an Valancourt zu denken und der Schwermuth nachzuhängen, welche sein Bild und die Erinnerung an die Scenen zu La Vallée, mit denen sich stets das gesegnete Andenken ihrer Eltern verband, in ihr erweckte. Diese idealischen Bilder waren ihr theurer und ihrem Herzen süßer, als aller Glanz frölicher Gesellschaften; sie waren eine Art von Talisman, der das Gift gegenwärtiger Uebel verscheuchte und ihre Hofnung auf glücklichere Tage aufrecht hielt; sie erschienen ihr gleich einer schönen Landschaft, die von einem Sonnenstrahle erhellt, zwischen einer langen Reihe dunkler und rauher Felsen hervorsieht.
Graf Morano begnügte sich indessen nicht länger mit stummer Aufmerksamkeit; er erklärte seine Leidenschaft für Emilien und machte seinen Antrag bei Montoni, der ihn aufmunterte, ohngeachtet Emilie ihn verwarf. Mit Montoni zum Freunde, und einem reichen Maas von Eitelkeit um sich zu täuschen, versehn, ließ er den Muth nicht sinken. Emilie fühlte sich durch seine Beharrlichkeit befremdet und beleidigt, da sie ihm ihre Gesinnungen mit einer Freimütigkeit, die kein Misverständniß zuließ, entdeckt hatte.
Er brachte nun den größten Theil seiner Zeit bei Montoni zu, aß beinahe täglich dort, und begleitete Madame und Emilien, wohin sie auch giengen — und alles dies trotz Emiliens sich stets gleicher Zurückhaltung. Ihre Tante schien diese Heirath eben so sehnlich als Montoni zu wünschen und wollte ihr nie gestatten, aus einer Gesellschaft, wo sie den Grafen zu finden erwartete, wegzubleiben.
Montoni sprach jetzt nichts mehr von seiner Reise, wovon Emilie mit Ungeduld zu hören verlangte; auch war er selten zu Hause, ausser wenn der Graf, oder Signor Orsino dort waren, denn zwischen ihm und Cavigni schien eine gewisse Kälte obzuwalten, ohngeachtet er ihn noch immer im Hause behielt. Mit Orsino schloß er sich oft stundenlang ein, und der Gegenstand ihrer Unterhaltung schien sehr wichtig zu seyn, weil Montoni ihr oft seine Lieblingsleidenschaft fürs Spiel aufopferte, und den ganzen Abend zu Hause blieb. Ueberhaupt beobachtete jetzt Orsino bei seinen Besuchen eine gewisse Heimlichkeit, die er vorher nicht gehabt hatte, und die Emilien nicht nur befremdete sondern auch beunruhigte, denn sie hatte zu ihrem großen Misvergnügen viele Züge seines Characters entdeckt, die er am meisten beflissen schien zu verbergen. Montoni war nach diesen Besuchen oft noch nachdenkender als gewöhnlich — oft zog ihn das tiefe Arbeiten seiner Seele gänzlich von dem ab, was ihn umgab, und warf einen Schatten auf sein Gesicht, der es beinahe fürchterlich machte — zu andern Zeiten schienen seine Augen beinahe zu flammen und alle Kräfte seiner Seele zu einem großen Unternehmen in Thätigkeit gerufen zu seyn. Emilie beobachtete diese geschriebnen Zeichen seiner Gedanken mit tiefer Theilname und nicht ohne einen gewissen Grad von Furcht, wenn sie bedachte, daß sie gänzlich in seiner Macht war. Doch enthielt sie sich, ihrer Furcht oder ihrer Bemerkungen gegen Madame Montoni zu erwähnen, die damals an ihrem Manne nichts als seine gewöhnliche üble Laune wahrnahm.
Ein zweiter Brief von Herrn Quesnel verkündigte ihnen, daß er und seine Frau auf der Villa Miarenti angelangt wären: er pries sein gutes Glück bei der Angelegenheit, die ihn nach Italien geführt hatte, und lud Montoni mit seiner Frau und Nichte sehr dringend auf sein neues Gut ein.
Emilie erhielt um dieselbe Zeit einen für sie weit interessanteren Brief, der auf eine Weile jeden Schmerz ihres Herzens besänftigte. Valancourt hatte in der Hofnung, daß sie noch zu Venedig seyn würde, der Post einen Brief anzuvertrauen gewagt, worin er ihr von seinem Leben und von seiner unablässigen zärtlichen Liebe schrieb. Er hatte sich einige Zeit nach ihrer Abreise in Thoulouse aufgehalten, um das schwermüthige Vergnügen zu genießen, die Gegend zu durchwandeln, wo er sie zu sehn gewohnt war, und gieng von da nach seines Bruders Schlosse in der Nachbarschaft von La Vallée. »Wenn mein Dienst mich nicht zu meinem Regiment riefe«, setzte er hinzu, »so weiß ich nicht, ob ich Entschlossenheit genug haben würde, die Nähe eines Ortes zu verlassen, der mir durch die Erinnerung an Sie so theuer geworden ist. Blos die Nachbarschaft von La Vallée konnte mich so lange zu Estuviere halten: ich ritt oft früh Morgens dahin, um mit Musse den Tag über in Gegenden zu wandeln, die einst Ihre Heimath waren, wo ich Sie zu sehn, mit Ihnen zu sprechen gewohnt war. Ich habe meine Bekanntschaft mit der guten alten Therese erneuert, die sich freute mich zu sehn, um mir von Ihnen zu erzählen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie sehr dieser Umstand mich zu ihr hingezogen hat, mit welcher Begierde ich sie von ihrem Lieblingsgegenstand reden hörte. Mein einziger Bewegungsgrund, der alten Therese Bekanntschaft zu suchen, war allerdings, Zutritt in dem Hause und Garten zu erhalten, den meine Emilie so kürzlich bewohnt hatte. Hier gehe ich dann und sehe Ihr Bild unter jedem Schatten — vor allem aber sitze ich gerne unter den breiten Zweigen Ihres Lieblingsbaumes, wo wir einst — ach Emilie! — zusammen saßen — wo ich zuerst Ihnen zu sagen wagte, daß ich sie liebte. O Emilie, die Erinnerung an diese Augenblicke überwältigt mich — ich sitze verloren in Träumen — ich bemühe mich, sie durch den Nebel meiner Thränen in dem ganzen Himmel des Friedens und der Unschuld zu sehn, worin Sie mir damals erschienen — wieder die Töne der Stimme zu hören, die damals mein Herz mit Zärtlichkeit und Hofnung durchbebten — ich lehne mich an die Mauer der Terasse, wo wir zusammen dem Strome der Garonne unter uns zusahn, während ich Ihnen die wilde Gegend beschrieb, wo sie entspringt, und immer nur an Sie dabei dachte. O Emilie, sind diese Augenblicke auf immer dahin! werden sie nie wieder kehren!«
An einer andern Stelle schrieb er: »ich habe so eben einen Umstand gehört, der meinen ganzen geträumten Himmel auf einmal zerstört und es mir gleichgültig macht zu meinem Regiment zurückzukehren, da ich doch nicht länger unter den geliebten Schatten wandeln kann, wo ich Sie in Gedanken zu treffen gewohnt war. — La Vallée ist verpachtet. Nachdem was mir Therese diesen Morgen gesagt hat, habe ich Ursache zu glauben, daß es ohne Ihr Wissen geschehn ist, und eile deswegen, Ihnen Nachricht davon zu geben. Die gute Alte vergoß Thränen, als sie erzählte, daß sie ihres lieben Fräuleins Dienst und das Schloß verlassen sollte, wo sie so viel glückliche Jahre verlebt hatte — und das alles, setzte sie hinzu, ohne nur einen Brief von meinem Fräulein erhalten zu haben, der die Nachricht mildern könnte: allein das ist alles Herrn Quesnels Werk und ich möchte wohl behaupten, daß sie nicht einmal weiß, was vorgeht.«
Am Ende seines Briefs, an dem er mehrere Tage geschrieben hatte, sagt er: »ich habe eine Auffoderung zu meinem Regiment erhalten, und gehe ohne Leidwesen dahin, da ich doch von den Gegenden verbannt bin, die meinem Herzen so lieb waren. Diesen Morgen ritt ich nach La Vallée und erfuhr, daß der neue Besitzer angekommen und Therese fort wäre. Er soll ein Mann von Stande seyn, das ist aber auch alles, was ich habe erfahren können. Der Ort schien mir, als ich in den Gränzen umherstrich, weit trauriger als zuvor. Ich hätte wohl gewünscht, zugelassen zu werden, um noch einmal von Ihrem lieben Ahornbaum Abschied zu nehmen, nur noch einmal zu träumen, daß ich Sie unter seinem Schatten sitzen sähe — allein ich enthielt mich, die Neugierde fremder Menschen rege zu machen — die Fischerhütte im Walde stand mir indeß noch offen — ich gieng dahin und brachte eine Stunde, an die ich nicht ohne Bewegung zurückdenken kann, daselbst zu. O Emilie, gewiß sind wir nicht auf immer getrennt! gewiß werden wir noch für einander leben!«
Dieser Brief preßte Emilien manche Thräne aus — Thränen der Zärtlichkeit und des befriedigten Gefühls, da sie erfuhr, daß Valancourt noch lebe, und daß keine Zeit und Abwesenheit ihr Bild in seinem Herzen verlöscht hatten. Die Stellen in seinem Briefe, worin er die Zärtlichkeit der Gefühle beschrieb, die in ihm aufstiegen als er La Vallée besuchte, rührten sie vorzüglich, und es dauerte lange ehe sie ihre Gedanken so weit von Valancourt abziehn konnte, um seine Nachricht wegen La Vallée in ihrem ganzen Umfange zu fühlen. Es mußte sie befremden und verdrießen, daß Herr Quesnel dieses Gut verkaufte, ohne sie einmal zu Rathe zu ziehn; da dies bewies, daß er sich eine unumschränkte Gewalt über ihre Angelegenheiten anmaßte. Zwar hatte er ihr, ehe sie Frankreich verließ, den Vorschlag gethan, es in ihrer Abwesenheit zu verpachten, und sie konnte in ökonomischer Hinsicht nichts dagegen einwenden, allein der Gedanke, ihres Vaters ehmaligen Aufenthalt der Laune und Willkühr von Fremden Preis zu geben, und sich selbst einer sichern Heimath zu berauben, im Fall unglückliche Umstände sie nach diesem Zufluchtsorte zurücktreiben sollten, machte, daß sie sich diesem Vorschlage durchaus widersetzte. Auch hatte ihr Vater in seiner letzten Stunde das Versprechen von ihr gefodert, La Vallée nicht zu veräußern, und sie fürchtete dieses Versprechen schon dadurch, wenn sie es an Fremde verpachtete, zu verletzen. Es war nur zu sichtlich, wie wenig Herr Quesnel auf diese Einwendungen geachtet, und wie sehr er alle andern Rücksichten Geldvortheilen aufgeopfert hatte. Es schien, daß er Montoni nicht einmal von seinem Schritt zu unterrichten gewürdigt hatte, denn sie sah keinen Grund, warum Montoni diesen Umstand vor ihr sollte verheelt haben. Auch ihres Vaters alte und treue Haushälterin gieng ihr nahe. »Arme Therese«, sagte sie, »du hast in deinem Dienste wenig erspart: denn du warst immer gut und mitleidig gegen die Armen und dachtest in der Familie zu sterben, wo du deine besten Jahre zubrachtest. Arme Therese, nun bist du in deinen alten Tagen aus dem Hause gestoßen, um dein Brod vor den Thüren zu suchen!«
Emilie weinte bitterlich bei diesem Gedanken und nahm sich vor mit Herrn Quesnel zu überlegen, was wohl für Theresen gethan werden könnte, und sich sehr deutlich gegen ihn zu äußern — allein sie fürchtete, daß sein kaltes Herz nur für sich selbst fühlen konnte. Auch beschloß sie, Montoni zu fragen, ob er in seinem Briefe etwas von ihren Angelegenheiten erwähnt hätte, wozu er ihr bald Gelegenheit gab, indem er sie bitten ließ zu ihm in sein Zimmer zu kommen. Sie zweifelte nicht, daß er sie zu sprechen wünschte, um ihr den Inhalt von Herrn Quesnels Briefe mitzutheilen und erschien sogleich. Sie fand ihn allein.
»Ich habe eben an Herrn Quesnel geschrieben«, sagte er, als Emilie hereintrat, »um ihm auf einen Brief, den ich vor wenig Tagen von ihm erhielt, zu antworten, und wünschte mit Ihnen über einen Punkt desselben zu sprechen.«
»Auch ich hatte mit Ihnen hierüber zu sprechen gewünscht«, sagte Emilie.
»Allerdings muß die Sache für Sie wichtig seyn«, sagte Montoni, »und ich denke, Sie müssen sie in eben dem Lichte betrachten als ich, da sie sich auch in der That wohl nicht anders betrachten läßt. Ich traue Ihnen zu, daß Sie mit mir darin übereinkommen werden, daß jede, auf sogenannte Empfindung gegründete Einwendung gründlicheren Vortheilen nachstehn muß.«
»Dieses zugegeben«, erwiederte Emilie bescheiden, »sollte man doch nie die Pflichten der Menschlichkeit aus den Augen setzen. Allein ich fürchte, es ist jetzt zu spät, über die Sache zu Rathe zu gehn, und ich muß beklagen, daß es nicht länger in meiner Macht steht, mich dagegen zu setzen.«
»Es ist zu spät«, sagte Montoni, »aber da es einmal so ist, so freut es mich wenigstens zu sehn, daß Sie sich ohne leeren Klagen nachzuhängen, der Vernunft und Nothwendigkeit ergeben. Ich schätze dieses Betragen um so mehr, da es eine Stärke der Seele verräth, die man selten bei Ihrem Geschlechte findet. Wenn sie zu reifern Jahren kommen, werden Sie sich mit Dankbarkeit an die Freunde erinnern, die Sie von den romanhaften Chimären der Empfindsamkeit heilen halfen und werden einsehn, daß dies nur die Spielzeuge der Kindheit sind, die man wegwerfen sollte, sobald man der Kinderstube entwächst. Ich habe meinen Brief noch nicht geendigt und Sie können selbst noch einige Zeilen hinzusetzen, um Ihrem Onkel Ihre Einwilligung zu melden. Sie werden ihn bald sehn, denn ich bin willens, nächster Tags mit Ihnen und Madame Montoni nach Miarenti zu reisen, wo Sie dann ausführlicher über die Sache reden können.«
Emilie schrieb auf die leere Seite des Briefs folgende Worte:
Es würde jetzt fruchtlos seyn, mit Ihnen über die Sache, wovon Herr Montoni wie er sagt, Ihnen geschrieben hat, zu streiten. Ich hätte wenigstens gewünscht, daß man mit weniger Uebereilung zu Werke gegangen seyn möchte, damit ich gelernt hätte, einige Vorurtheile, wie der Signor es nennt, die noch immer in meinem Herzen regieren, zu besiegen. Indessen ergebe ich mich, da es nun einmal nicht anders ist, und erspare was ich noch darüber zu sagen hätte, bis ich die Ehre haben werde, Sie selbst zu sehn. Nur wünschte ich, daß Sie je eher je lieber für die arme Therese sorgen möchten. Thun Sie es wenigstens aus Liebe zu Ihrer
gehorsamen Nichte
Emilie St. Aubert.
Montoni lächelte spöttisch über das, was Emilie geschrieben hatte, machte aber keine Einwendung dagegen. Sie begab sich in ihr Zimmer, wo sie sich niedersetzte, um einen Brief an Valancourt anzufangen, worin sie ihm die nähern Umstände ihrer Reise und ihrer Ankunft zu Venedig erzählte, und ihm die Gegenden jenseits der Alpen, die den tiefsten Eindruck auf sie gemacht hatten, ihre Empfindungen bei dem ersten Anblick von Italien; die Sitten und Charactere der Menschen, mit denen sie lebte, und einige Umstände von Montonis Betragen beschrieb. Nur vermied sie, des Grafen Morano und noch mehr seiner Erklärung zu erwähnen, denn sie wußte, wie sehr wahre Liebe zu Besorgnissen geneigt, wie ängstlich sie über alle Dinge ist, die nur den mindesten Bezug auf sie haben können — und vermied deswegen sorgfältig bei Valancourt nur den Gedanken an einen Nebenbuhler aufkommen zu lassen.
Am folgenden Tage aß der Graf Morano wieder bei Montoni: Er war ungewöhnlich belebt, und Emilie glaubte in seiner Anrede an sie eine gewisse triumphirende Freude zu bemerken, die sie noch nie an ihm wahr genommen hatte. Sie suchte ihn durch eine mehr als gewöhnliche Kälte zurückzuweisen, allein ihre kalte Höflichkeit schien ihn mehr aufzumuntern, als niederzuschlagen. Er schien ängstlich auf eine Gelegenheit zu warten, mit ihr allein zu sprechen und bath sie auch mehrmals darum; allein Emilie antwortete immer, daß sie nichts von ihm zu hören hätte, was er nicht vor der ganzen Gesellschaft sagen könnte.
Gegen Abend giengen Madame Montoni und ihre Gesellschaft nach der See, und als der Graf Emilien in seine Gondel führte, drückte er ihre Hand an seine Lippen und dankte ihr für die Güte, die sie ihm bewiesen hätte. Emilie, äusserst befremdet und aufgebracht, zog ihre Hand schnell zurück und glaubte, daß er spotten wollte. Als sie aber die Terrasse herunter kam und des Grafen Kahn unten warten sah, während die andre Gesellschaft sich schon in die Gondeln gesetzt hatte und fortruderte, beschloß sie, keine abgesonderte Unterhaltung zu bewilligen, wünschte ihm einen guten Abend und gieng nach dem Portico zurück. Der Graf folgte ihr, um ihr Vorstellungen zu machen, und sie um Gehör zu bitten; Montoni, der eben heraus kam, machte die Bitte überflüssig; ohne daß er zu sprechen würdigte, nahm er sie bei der Hand und führte sie in die Gondel. Emilie konnte nicht schweigen; sie bat Montoni mit leiser Stimme das Unschickliche ihrer Lage zu bedenken, und ihr diese Demüthigung zu ersparen; allein er blieb unbeweglich.
»Diese Launen sind unerträglich«, sagte er, »und sollen nicht befriedigt werden. Ich sehe hier nichts unschickliches.«
In diesem Augenblick stieg Emiliens Misfallen an dem Grafen bis zum Abscheu. Daß er mit so beharrlicher Zudringlichkeit trotz allem was sie geäussert hatte, sie verfolgen und ihre Meinung von ihm für ganz unbedeutend zu halten schien, so lange Montoni seine Bewerbung unterstützte, verwandelte ihre Abneigung gegen ihn in Abscheu. Es gereichte ihr noch zu einem kleinen Trost, daß Montoni mit von der Gesellschaft war, der sich an eine Seite von ihr setzte, während Morano an der andern Platz nahm. Es entstand eine kleine Pause, indeß die Gondelfahrer ihre Ruder zurechte machten und Emilie zitterte, wenn sie an das Gespräch dachte, das auf diese Stille folgen würde. Endlich faßte sie Muth, es selbst zu unterbrechen, um Moranos süßen Reden und Montonis Vorwürfen auszuweichen. Der letzte gab auf eine allgemeine Bemerkung, die sie machte, eine kurze unhöfliche Antwort; Morano aber ließ sogleich eine allgemeine Bemerkung darauf folgen, die er am Ende zu einem besondern Complimente zu drehen wußte, ohne sich dadurch niederschlagen zu lassen, daß Emilie es nicht einmal durch ein Lächeln zu bemerken würdigte.
»Mich hat sehnlich verlangt«, sagte er, »Ihnen meine Dankbarkeit für Ihre Güte zu sagen, allein ich muss auch dem Signor Montoni danken, daß er mir die Gelegenheit dazu verschafft hat.«
Emilie sah den Grafen mit einem Blick des Erstaunens und Misvergnügens an.
»Warum«, fuhr er fort, »suchen Sie das Entzücken dieses Augenblicks durch diese grausame Kälte zu verbittern? Warum suchen sie mich aufs neue in Zweifel zu stürzen, indem sie ihr Gesicht zwingen, der Güte ihrer letzten Erklärung zu widersprechen. Sie können an der Aufrichtigkeit, an der Wärme meiner Leidenschaft nicht zweifeln; warum wollen Sie also noch länger, süße Emilie, Ihre Empfindungen vor mir verheelen?«
»Wenn ich sie je verheelt hätte, mein Herr«, sagte Emilie, die ihren Muth zusammenfaßte, »so wäre es gewiß unnöthig, es noch länger zu thun. Ich hatte gehofft, daß sie mich fernerhin nicht mehr in die Nothwendigkeit setzen würden, ihrer zu erwähnen; da sie aber nicht dazu geneigt scheinen, so erlauben Sie mir, Ihnen zum letztenmal zu sagen, daß Ihre Zudringlichkeit Ihnen sogar die Achtung geraubt hat, deren ich Sie bisher würdig geglaubt habe.«
»Erstaunlich!« rief Montoni! »das ist in der That beinahe mehr, als ich erwartet hätte, so hohe Begriffe ich auch immer von dem Eigensinn Ihres Geschlechts hatte. Nur bitte ich Sie, nicht zu vergessen, Fräulein Emilie, daß ich kein Liebhaber bin, wie Graf Morano, und daß ich mich nicht zum Spielzeug Ihrer müssigen Stunden mag brauchen lassen. Es ist hier von einer Verbindung die Rede die jeder Familie Ehre machen würde; die Ihrige ist, wie Sie sich erinnern werden, nicht von Adel; Sie haben sich lange meinen Vorstellungen widersetzt, allein jetzt ist meine Ehre im Spiel und ich will nicht mit ihr scherzen lassen. Sie sollen jetzt durchaus bei der Erklärung bleiben, die Sie mir für den Grafen aufgetragen haben!«
»Ich muß Sie wohl unrecht verstehn«, sagte Emilie; »meine Antworten über diese Sache sind immer dieselben gewesen; es ist Ihrer unwerth, mich eines Eigensinns zu beschuldigen. Wenn Sie sich herabgelassen haben, Aufträge von mir zu besorgen, so ist das eine Ehre, die ich nie verlangt habe. Ich selbst habe sowohl dem Grafen Morano als Ihnen stets standhaft erklärt, daß ich nie die Ehre, die er mir anbietet, annehmen kann, und wiederhole Ihnen jetzt diese Erklärung nochmals.«
Der Graf sah befremdet und forschend Montoni an, auf dessen Gesicht sich auch eine gewisse Befremdung, aber vermischt mit Unwillen zeigte.
»Hier ist Unverschämtheit mit Eigensinn vereinigt«, sagte er — »Wollen Sie Ihre eignen Worte läugnen, Madam?«
»Eine solche Frage verdient keine Antwort«, sagte Emilie erröthend, »Sie werden sich besinnen und es bereuen, sie gethan zu haben.«
»Reden Sie, was zur Sache gehört«, sagte Montoni mit steigender Heftigkeit. »Wollen Sie ihre eignen Worte läugnen? wollen Sie läugnen, daß Sie nur vor wenigen Stunden selbst eingestanden haben, daß es zu spät wäre, ihr Versprechen zurückzunehmen, und daß Sie des Grafen Hand annähmen!«
»Allerdings läugne ich das, denn ich habe nie etwas ähnliches gesagt!«
»Erstaunlich! Wollen Sie läugnen, was Sie an Ihren Onkel Herrn Quesnel geschrieben haben? so muß Ihre eigne Hand gegen Sie zeugen. Was sagen Sie nun?« fuhr er fort, da er Emiliens Stillschweigen und Verlegenheit sah.
»Ich sehe jezt, daß Sie in einem großen Irrthum stehn, und daß ich Sie ebenfalls misverstanden hatte.«
»Keine weitere Falschheit, wenn ich bitten darf; seyn Sie offen und wahr, wenn es möglich ist.«
»Ich war es stets, mein Herr, und kann mir kein Verdienst daraus machen, weil ich nichts zu verheelen hatte.«
»Was ist das, Signor«, rief Morano vor Ungeduld zitternd.
»Halten Sie ihr Urtheil zurück, Graf«, erwiederte Montoni; »die List eines weiblichen Herzens ist unergründlich. Nun Fräulein, Ihre Erklärung.«
»Verzeihen Sie mir, wenn ich meine Erklärung zurückhalte, bis Sie geneigt scheinen, mir Ihr Vertrauen zu schenken, denn jezt würde ich mich durch alles was ich sage, nur Beleidigungen aussetzen.«
»Ich beschwöre Sie, sich zu erklären«, sagte Morano.
»Gut gut, ich will Ihnen vertrauen«, hub Montoni wieder an, »lassen Sie uns nur die Erklärung hören.«
»So erlauben Sie mir, ihr durch eine Frage näher zu kommen.«
»Fragen Sie soviel Sie wollen« — sagte Montoni verächtlich —
»Was war denn der Inhalt Ihres Briefes an Herrn Quesnel?«
»Unstreitig der nämliche, als in Ihrer Nachschrift. Es war in der That sehr gut, mein Vertrauen zu fodern, ehe Sie diese Frage thaten!«
»Ich muß Sie bitten, sich deutlicher zu erklären, was eigentlich der Inhalt war.« —
»Was anders, als der edelmüthige Antrag des Grafen Morano.«
»Wenn das ist, so haben wir einander gänzlich misverstanden.«
»So müßten wir uns auch bei dem vorhergehenden Gespräch misverstanden haben«, versetzte Montoni. »Ich muß Ihnen die Gerechtigkeit wiederfahren lassen, daß Sie in dieser Art von Misverständnissen sehr stark sind.«
Emilie suchte die Thränen zurückzuhalten, die ihr in die Augen traten und mit geziemender Festgkeit zu antworten: »Erlauben Sie mir entweder, mein Herr, mich ganz zu erklären, oder ganz still zu schweigen.«
»Wir bedürfen jezt keine weitere Erklärung; sie ist schon vorhergegangen, wenn der Graf Morano noch eine nöthig glaubt, so werde ich ihm eine anständige geben. Sie haben seit unserm letzten Gespräch Ihre Gesinnung verändert, und wenn er so viel Geduld und Demuth haben kann, bis morgen zu warten, so wird er sie wahrscheinlich wieder verändert finden; da ich aber weder die Geduld noch die Demuth eines Liebhabers besitze, so bitte ich Sie, meinen Unwillen nicht zu reitzen.«
»Sie sind zu schnell, Montoni«, sagte der Graf, der mit äusserster Angst und Ungeduld dies Gespräch angehört hatte. — »Ich beschwöre Sie, Signora, mir eine Aufklärung zu geben.«
»Signor Montoni hatte Recht zu sagen, daß jezt alle Erklärungen unnöthig sind; nach dem was vorgefallen ist, werde ich gewiß kein Wort mehr verlieren. Genug für Sie und mich, mein Herr, wenn ich meine letzte wiederhole. Lassen Sie mich hoffen, daß dies das letztemal ist, wo ich es nöthig habe — ich kann nie die Ehre Ihrer Verbindung annehmen!«
»Reizende Emilie«, rief der Graf in höchster Bewegung, »lassen Sie keine Empfindlichkeit Sie ungerecht machen. Lassen Sie mich nicht für Montonis Beleidigungen büßen: — Widerrufen Sie! —«
»Beleidigung« unterbrach Montoni — »Graf, diese Sprache ist lächerlich, diese Unterwürfigkeit kindisch — sprechen Sie, wie es einem Manne geziemt; und nicht als der Sklave eines kleinen Tyrannen.«
»Sie bringen mich zur Verzweiflung, Signor; lassen Sie mich meine eigne Sache führen; Sie haben bereits bewiesen, wie ungeschickt Sie dazu sind.«
»Alle Gespräche über diese Sache, Signor«, sagte Emilie, »ist schlimmer als unnütz, weil es uns allen nur unangenehme Empfindungen machen kann; wenn Sie mir einen Gefallen thun wollen, so setzen Sie es nicht weiter fort.«
»Es ist unmöglich Signora, so leicht den Gegenstand einer Leidenschaft aufzugeben, die das Entzücken und die Qual meines Lebens ist. Ich muß Sie stets lieben — Sie stets mit unablässiger Glut verfolgen, wenn Sie die Stärke und Standhaftigkeit meiner Leidenschaft fühlen könnten, so müßte Ihr Herz in Mitleid und Reue schmelzen.«
»Ist das edel, Herr Graf? ist das männlich? Ist eine so hartnäckige Verfolgung, von der ich jetzt kein Mittel habe, mich zu befreien, wohl geschickt, die Achtung, die Sie wünschen, zu verdienen oder zu erwerben?«
Ein Schimmer von Mondlicht, der auf Moranos Gesicht fiel, verrieth die gewaltsame Bewegung seiner Seele, und zeigte zugleich auf Montonis Zügen eine finstre Bosheit, die den Grafen aufbrachte.
»Bei Gott, das ist zu viel«, rief er plötzlich. »Montoni, Sie behandeln mich entsetzlich! Von Ihnen fodre ich jetzt eine Erklärung!«
»Von mir Signor! — Sie sollen Sie haben, wenn Ihr Scharfsinn in der That durch Leidenschaft so sehr verdunkelt ist, daß sie ihrer bedürfen. Und was Sie betrift, mein Fräulein, Sie sollen erfahren, daß man mit einem Mann von Ehre nicht spielen darf, wenn Sie auch einen verliebten Knaben ungestraft wie eine Puppe behandeln!«
Diese Spötterei machte Moranos Stolz rege, und da seine Empfindlichkeit über Emiliens Kälte sich im Unwillen über Montonis Unverschämtheit verlor, so beschloß er, ihn zu demüthigen, indem er sie vertheidigte.
»Auch dies«, sagte er, zur Antwort auf Montonis letzte Worte — »auch dies soll nicht ungeahndet bleiben. Sie sollen lernen, daß Sie es mit einem stärkern Feinde als mit einem Frauenzimmer zu thun haben; ich werde die Signora vor Ihren Beleidigungen schützen. Sie haben mich hintergangen und möchten gern Ihre vereitelten Absichten an einer Unschuldigen rächen!«
»Sie hintergangen«, erwiederte Montoni schnell — »ist nicht mein Betragen, mein Wort« — er hielt inne, und fuhr, indem er den Zorn, der in seinen Augen flammte, zu bekämpfen suchte, mit gemässigter Stimme fort: »Graf Morano, dies ist eine Sprache, ein Betragen, woran ich nicht gewöhnt bin — es ist das Betragen eines verliebten Knaben, und als solches will ich es mit Verachtung übergehn.«
»Mit Verachtung, Signor?«
»Die Achtung, die ich mir selbst schuldig bin«, erwiederte Montoni, »verlangt, daß ich ausführlicher über einige Punkte mit Ihnen spreche. Gehn Sie mit mir nach Venedig zurück, so werde ich mich herablassen, Sie von Ihrem Irrthum zu überzeugen.«
»Herablassen! — aber wissen Sie, daß ich mich nicht herablassen will, solche Reden anzuhören.«
Montoni lächelte verächtlich und Emilie, der jetzt vor den Folgen dessen was sie sah und hörte, bange war, konnte nun nicht länger schweigen. Sie erläuterte nun den ganzen Anlaß des Misverständnisses, daß sie nämlich geglaubt hatte, Montoni spräche von dem Verkauf von La Vallée, und drang darauf, daß er sogleich an Herrn Quesnel schreiben, und den Irrthum ins Reine bringen möchte.
Allein Montoni war, oder stellte sich ungläubig, und der Graf Morano wußte noch immer nicht, wie er daran war. Indessen war durch dies Gespräch die Aufmerksamkeit der Zuhörer von dem eigentlichen Gegenstand ihres Streites abgezogen worden, und ihr Zorn hatte sich folglich einigermaßen gelegt. Montoni bat den Grafen, seine Leute nach Venedig zurückfahren zu lassen, damit er ein Gespräch unter vier Augen mit ihm haben könnte, und Morano, durch seinen gemäßigten Ton etwas besänftigt, und begierig, der Sache ganz auf den Grund zu kommen, war es zufrieden.
Emilie durch diese Aussicht, bald befreit zu werden, beruhigt, wandte nun die übrigen Augenblicke dazu an, die Herren auszusöhnen, um alles Unglück zwischen Menschen zu verhüten, die noch so eben sie verfolgt und beleidigt hatten.
Sie lebte wieder auf, als sie die Stimme des Scherzes und Gesangs von dem großen Kanal ertönen hörte, und endlich wieder zwischen den prächtigen Gebäuden, die den Markusplatz einfassen, hinfuhr. Die Gondel hielt vor Montonis Hause still, und der Graf führte sie eilends in den Saal, wo Montoni ihn beim Arm nahm und ihm etwas ins Ohr sagte. Morano küßte hierauf Emiliens Hand, ohngeachtet sie sich bemühte sie loszumachen, und nachdem er ihr mit einem Tone, den sie nicht misdeuten konnte, einen guten Abend gewünscht hatte, kehrte er mit Montoni nach seiner Gondel zurück.
Als Emilie wieder in ihrem Zimmer war, dachte sie mit innerlicher Angst an Montonis ungerechte, tyrannische Behandlung, an Moranos hartnäckige Verfolgung und an ihre eigne freundlose Lage in einem fremden Lande. Vergebens blickte sie um Schutz auf Valancourt, den sein Stand in ein fernes Königreich verbannte; doch war es ihr ein Trost zu wissen, daß es wenigstens eine Seele in der Welt gab, die an ihrem Kummer Theil nahm, und deren Wünsche ihr zu helfen, sehnsuchtsvoll zu ihr fliegen würden. Allein sie nahm sich vor, ihm den fruchtlosen Schmerz zu ersparen, daß sie ihm erzählte, wie sehr sie Ursach hatte zu bereuen, daß sie seinem bessern Urtheil über Montoni nicht geglaubt hatte, zumal da keine Unannehmlichkeit ihrer Lage sie dahin bringen konnte, sich die Delikatesse und uneigennützige Liebe reuen zu lassen, die ihr eingab, seinen Antrag einer geheimen Heirath zurückzuweisen. Sie versprach sich einigen Trost von der Zusammenkunft mit ihrem Onkel, dem sie alles Unangenehme ihrer Lage zu eröfnen, und ihn zu bitten beschloß, sie wieder mit nach Frankreich zu nehmen. Plötzlich erinnerte sie sich, daß ihr geliebtes La Vallée, ihre einzige Heimath, nicht mehr ihr Eigenthum war, und ihre Thränen flossen aufs neue — sie fürchtete, sich wenig Mitleid von einem Manne versprechen zu dürfen, der ohne sie einer Frage zu würdigen, es verkaufen, und eine alte treue Magd, die keine andre Stütze oder Zuflucht mehr hatte, verstoßen konnte. Allein, so gewiß es auch war, daß sie keine Heimath und nur wenig Freunde in Frankreich mehr hatte, blieb es doch ihr Vorsatz, wo möglich dahin zurück zu kehren, um sich aus Montonis Händen zu befreien, dessen drückendes Betragen gegen sie, so wie sein ganzer Charakter ihr mit Recht fürchterlich war. Sie wünschte nicht bei ihrem Onkel zu bleiben, denn sie hatte genug von seinem Betragen gegen ihren seeligen Vater gesehn, um überzeugt zu seyn, daß sie nur ihre Tyrannen vertauschen würde, wenn sie zu ihm gienge: eben so wenig hegte sie nur den kleinsten Gedanken, in Valancourts Vorschlag einer unverzüglichen Heirath zu willigen, denn ohngeachtet sie dadurch einen edelmüthigen und rechtschaffnen Besitzer erhalten haben würde, waren doch noch die wichtigsten Gründe, die sie davon abgehalten hatten, so gut als damals vorhanden. Eine sichre Zuflucht aber blieb ihr in Frankreich noch immer offen. Sie wußte, daß sie in dem Kloster willkommen seyn würde, wo sie ehemals so viel Güte genossen hatte, und das einen rührenden, feierlichen Anspruch auf ihr Herz hatte, weil es die Gebeine ihres verstorbnen Vaters in sich schloß. Hier konte sie sicher und ruhig bleiben, bis die Zeit, auf welche La Vallée verpachtet war, verflossen, oder Herrn Mottevilles Angelegenheit so weit aufs Reine gebracht seyn würde, daß sie urtheilen konnte, ob es bei dem Ueberrest ihres Vermögens rathsam für sie wäre, dies Gut zu ihrem Aufenthalt zu wählen.
Den Tag darauf brachte Madame Montoni, da sie mit Emilien allein war, das Gespräch auf den Graf Morano, und äusserte ihre Verwundrung, daß sie statt sich mit der übrigen Gesellschaft auf dem Wasser zu vereinigen, so schnell wieder nach Venedig zurückgekehrt wären. Emilie erzählte ihr darauf was vorgefallen war, sagte daß ihr das Misverständniß zwischen ihr und Montoni leid thäte, und bat sie um ihren Beistand, des Grafen fernere Anträge zurückzuweisen — merkte aber bald, daß Madame Montoni schon vorher von dem Inhalt des Gesprächs unterrichtet gewesen war.
»Sie dürfen bei solchen Grillen keine Aufmunterung von mir erwarten«, sagte ihre Tante; »ich habe Ihnen bereits meine Meinung über die Sache gesagt, und halte es für sehr recht, daß Signor Montoni Sie auf alle Weise zur Einwilligung zwingt. Wenn junge Leute blind gegen ihren eignen Vortheil sind, und hartnäckig auf ihrem Kopfe beharren, so können ihre Freunde ihnen keine größere Wohlthat erzeigen, als wenn sie sich ihrer Thorheit widersetzen. Ich möchte doch wissen, was Sie wohl besseres verlangen könnten, als diese Heirath. Haben Sie höhere Erwartungen?«
»Ganz und gar keine, Madame«, erwiederte Emilie, »und ich ersuche Sie deswegen, mich in meiner glücklichen Niedrigkeit zu lassen.«
»Wohl Nichte, es ist nicht zu läugnen, daß Sie Stolz genug besitzen, mein armer Bruder, Ihr Vater besaß auch einen guten Theil davon, so wenig auch seine Umstände ihm entsprachen.«
Emilie fühlte sich durch diese lieblose Erwähnung ihres Vaters zu tief gekränkt, als daß sie ihre Tante einer Antwort hätte würdigen sollen. Sie verließ das Zimmer, und begab sich in das ihrige, wo ihr Schmerz sich bald in Thränen auflöste. Jeder Rückblick auf ihre Lage mußte in der That nur ihren Schmerz erhöhen. Auf einer Seite sah sie Montonis unwürdigen Charakter, auf der andern die grausame Eitelkeit ihrer Tante, deren Befriedigung sie aufgeopfert werden sollte; es blieb ihr nichts übrig als die Hofnung, bald aus diesem Labyrinthe befreit zu werden.
Während der wenigen Tage, die zwischen diesem Gespräch und der Abreise nach Miarenti verflossen, würdigte Montoni Emilien auch nicht eines Wortes. Seine Blicke verriethen seinen Unwillen deutlich genug, nur wunderte es sie, daß er sich enthalten konnte, des Gegenstandes desselben zu erwähnen, wie auch daß der Graf Morano ihn drei Tage hindurch weder besucht noch von ihm genannt wurde. Verschiedne Vermuthungen stiegen in ihr auf. Zuweilen fürchtete sie, daß der Streit zwischen ihnen neu aufgeregt, und für den Grafen unglücklich ausgefallen wäre, dann wieder war sie geneigt zu hoffen, daß er, durch ihre hartnäckige Verweigerung ermüdet oder beleidigt, seine Bewerbung endlich aufgegeben hätte; oft aber hatte sie ihn wieder in Verdacht, daß er zu einer List seine Zuflucht genommen, und sowohl seine Besuche eingestellt als auch Montoni gebeten hätte, seiner nicht zu erwähnen, um durch Dankbarkeit und Großmuth sie zu der Einwilligung zu bewegen, die er von der Liebe nicht hoffen konnte.
Auf solche Art verstrich ihr die Zeit zwischen abwechselnder Furcht und Hofnung bis der Tag erschien, wo Montoni nach Miarenti abreisen wollte. Auch an diesem Tage ließ sich der Graf weder sehn, noch wurde seiner erwähnt.
Montoni nahm sich vor, erst gegen Abend Venedig zu verlassen, um die Hitze zu vermeiden und der erfrischenden Abendkühle zu genießen, und schiffte sich eine Stunde vor Sonnenuntergang, mit seiner Familie auf dem Brenta ein. Emilie saß alleine auf dem Verdeck und sah während es langsam hinschwamm, die hohe prächtige Stadt vor ihrem Blicke verschwinden, bis ihre Palläste in den fernen Wellen zu versinken schienen, indes die höhern Thürme und Dome, von der untergehenden Sonne beleuchtet, den in der Ferne gesehnen Wolken glichen, die in nördlichern Himmelsstrichen oft am Saume des Westen verweilen und das letzte Licht eines Sommerabends auffangen. Bald darauf verdunkelten sich auch diese und schwanden in der Entfernung auf ihrem Gesicht — allein sie saß noch immer, den großen Anblick des unumwölkten Himmels und des gewaltigen Wassers anstaunend, da und hörte mit süßem Schauder das tiefe Braußen der Wellen. Sie dachte, indem sie über das Adriatische Meer hinweg nach dem gegenüberliegenden Ufer hinblickte, an das alte Griechenland und tausend Erinnerungen aus der alten Geschichte drängten sich ihr auf. Die Schilderungen der Iliade traten in glühenden Farben vor ihre Phantasie. — Diese Gegenden, einst der Wohnplatz von Helden, waren jetzt einsam und verfallen, und nur noch die Einbildungskraft des Dichters konnte die verschwundnen Bilder der Wirklichkeit zurückrufen.
So wie Emilie den Ufern von Italien nahe kam, konnte sie die reichen Umrisse und abwechselnde Farbenmischung der Landschaft, die purpurfarbnen Hügel, die von Orangen, Fichten und Cypressenwäldchen beschatteten prächtigen Villas, und die zwischen Weinbergen und Plantagen aufsteigenden Städte unterscheiden. Jetzt sah sie den edeln Brenta, der seine breiten Wellen in die See goß; als sie seine Mündung erreichte, stand die Barke still, damit die Pferde, die sie den Strom hinauf ziehn sollten, befestigt werden konnten. Nachdem dies geschehn war, warf Emilie einen letzten Blick auf das Adriatische Meer und auf das dunkle Seegel — und die Barke glitt zwischen den grünen, üppigen Ufern des Flusses hin. Die Schönheit der Villas, die diese Ufer schmücken, wurde noch erhöht durch die untergehenden Stralen, die abwechselnd Licht und Schatten auf die Porticos und langen Arkaden warfen, und einen gelben Glanz auf die Orangerien und schlanken Fichten und Cypressenwäldchen strahlten, die das Gebäude überhiengen. Der Duft der Orangen, der blühenden Myrthen und anderer wohlriechenden Pflanzen war durch die Luft verbreitet, und oft schlich sich aus diesem schattigten Aufenthalt eine melodische Musik durch die Lüfte.
Die Sonne sank nun unter den Horizont; Dämrung bedeckte die Landschaft, und Emilie, in nachdenkendes Schweigen gehüllt, sah allmählig ihre Umrisse in Dunkelheit schwinden. Sie erinnerte sich an die vielen glücklichen Abende, wo sie mit St. Aubert aus dem Garten zu La Vallée die Schatten der Dämmrung sich über eine eben so schöne Scene verbreiten sah, und eine Thräne floß dem Gedächtnisse ihres Vaters. Die stille Stunde, das leise Murmeln der Wellen, die unter dem Schiffe hinglitten und die Stille der Luft, die nur zu Zeiten von ferner Musik ertönte, wiegten ihre Seele in Schwermuth, denn warum sollte sie sonst mit so niederschlagenden Ahndungen an Valancourt gedacht haben, da sie erst kürzlich Briefe von ihm erhalten hatte, die fürs erste alle ihre Besorgnisse um ihn aufheben mußten. Es schien jetzt ihrer bekümmerten Seele, als hätte sie auf ewig Abschied von ihm genommen, und als würde sie nie wieder die Länder, welche sie trennten, betreten. Sie betrachtete den Grafen Morano, den sie gewissermaßen für die Ursache davon hielt, mit einer Art von Abscheu, allein noch ausserdem stieg eine gewisse Ueberzeugung, die man oft durch keine Gründe zu rechtfertigen weiß, in ihr auf, daß sie ihn nie wieder sehn würde. So gut sie auch wußte, daß weder Moranos Bitten noch Montonis Befehle das Recht hatten sie zum Gehorsam zu zwingen, so dachte sie doch mit einer ängstlichen Furcht an die Möglichkeit, am Ende dadurch überwältigt zu werden.
In diese melancholischen Schwärmereien verloren, konnte sie sich der Thränen nicht enthalten, bis sie endlich durch Montoni aufgeschreckt wurde. Sie folgte ihm in die Cajütte, wo sie ihre Tante mit einem von Zorn flammenden Gesicht, das eine vorher geführte unangenehme Unterhaltung mit ihrem Manne zu verrathen schien, allein sitzen fand. Er sah sie mit mürrischem Unwillen an, und beide beobachteten eine Weile ein mürrisches Schweigen. »Sie werden hoffentlich nicht darauf bestehn, Herrn Quesnel läugnen zu wollen, daß Sie von dem Inhalt meines Briefes an ihn unterrichtet waren.«
»Ich hatte gehofft, mein Herr, daß es nicht länger nöthig seyn würde, es zu läugnen, und daß Sie von Ihrem Irrthum überzeugt wären.«
»Sie haben also das Unmögliche gehofft«, erwiederte Montoni, »ich müßte erst erwarten können, Aufrichtigkeit und Gleichheit des Betragens bei einer Ihres Geschlechts zu finden, wenn es Ihnen gelingen solle, mich bei dieser Sache eines Irrthums zu überführen.«
Emilie erröthete und schwieg; sie sah jetzt nur zu deutlich, daß sie das Unmögliche gehofft hatte: denn wo kein Misverständniß gewesen war, konnte auch keine Ueberzeugung folgen, und es war sichtlich, daß Montonis Betragen nicht aus Irrthum, sondern aus Vorsatz entstanden war.
Um einem Gespräch zu entgehn, das sowohl niederschlagend, als demüthigend für sie seyn mußte, verfügte sie sich bald wieder auf das Verdeck ohne die Kälte zu fürchten, denn kein Dunst stieg aus dem Wasser, und die Luft war trocken und ruhig — die gütige Natur gewährte ihr endlich hier die Ruhe, die Montoni ihr sonst allenthalben verweigert hatte. Es war nun Mitternacht vorbei, die Sterne verbreiteten eine Art von Dämmrung, welche die dunkeln Ufer an beiden Seiten, und die graue Oberfläche des Flusses sehn ließ, bis der Mond hinter einem hohen Palmenwäldchen aufstieg und seinen falben Glanz über die Gegend verbreitete. Das Fahrzeug glitt langsam fort und Emilie hörte von Zeit zu Zeit durch die Stille die einsame Stimme der Fuhrleute am Ufer, die mit ihren Pferden sprachen.
Sie dachte indessen im voraus an ihre Aufnahme bei Herrn und Madame Quesnel, überlegte, was sie wegen La Vallée sagen sollte, und suchte dann, um ihre Seele von peinlichern Gegenständen abzuziehn, sich dadurch zu erheitern, daß sie die schwach bezeichneten Umrisse der im Mondscheine ruhenden Landschaft zu unterscheiden suchte. Während ihre Phantasie so umherwanderte, sah sie in der Ferne ein Gebäude zwischen den vom Mondlicht beleuchteten Bäumen hervorragen, und hörte, wie die Barke näher kam, Stimmen, und erkannte bald das hohe Thor einer Villa, die sie nach der Beschreibung für die ihres Onkels erkannte.
Die Barke hielt vor einer Reihe von Marmorstufen still, die zu einem grünen Platze hinauf führten. Man sah Lichter zwischen einigen Pfeilern hinter dem Eingang. Montoni schickte seinen Bedienten voraus und stieg dann mit seiner Familie ans Land. Sie fanden Herrn und Madame Quesnel mit ein paar guten Freunden auf Sophas unter dem Portico sitzen, wo sie die Abendkühle genossen und Eis und Früchte verzehrten, während einige von ihren Leuten in einiger Entfernung am Ufer des Flusses eine Serenade aufführten. Emilie war jetzt schon die Lebensart in diesem warmen Lande gewohnt und wunderte sich nicht mehr, Herrn und Madame Quesnel zwei Stunden nach Mitternacht noch draussen zu finden.
Nachdem die Gesellschaft sich gegenseitig begrüßt hatte, setzten sie sich unter dem Portico, und labten sich an Erfrischungen, die aus dem angränzenden Saale gebracht wurden, wo ein stattliches Mahl bereitet war, und eine große Anzahl Bedienten wartete. Als das erste Gewühl sich ein wenig gelegt, und Emilie sich von der Betäubung ihrer Lebensgeister erholt hatte, fand sie Zeit, die außerordentliche Schönheit des Saals zu bewundern, an dem aller Luxus der damaligen Zeit verschwendet war. Er war von weissem Marmor, und die zu einer offnen Kuppel aufsteigende Decke wurde von Säulen des nämlichen Steins getragen. Das Zimmer endigte von beiden Seiten in ofne Porticos, die eine volle Aussicht auf den Garten und auf die Gegend am Flusse zuließen; in der Mitte erfrischte ein Springbrunnen unaufhörlich die Luft und schien den Wohlgeruch zu erhöhen, der aus den umliegenden Orangerien duftete, während sein Plätschern ein angenehmes, einwiegendes Geräusch machte. Etruscische Lampen, die an den Pfeilern hiengen, verbreiteten ein schimmerndes Licht über den innern Saal, während die fernen Porticos blos vom sanften Schimmer des Mondes beleuchtet wurden.
Herr Quesnel sprach mit Montoni in seinem gewöhnlichen pralerischen Tone von seinen eignen Angelegenheiten, rühmte sich seiner neuen Besitzungen und stellte sich dann, als wenn er einige Unfälle, die Montoni kürzlich betroffen hatten, beklagte. Montoni, der wenigstens Stolz genug besaß, um eine solche Eitelkeit zu verachten, und Scharfsinn genug, um unter diesem erkünstelten Mitleid Herrn Quesnels kleinliche Bosheit zu entdecken, hörte ihm mit verächtlichem Stillschweigen zu, bis er seine Nichte nannte, worauf er das Portico mit ihm verließ und hinaus in den Garten gieng.
Emilie hörte indessen Madame Quesnel von Frankreich sprechen, und fand ein eignes Vergnügen darin, eine Person zu sehn, die kürzlich in diesem geliebten Lande gewesen war. Valancourt wohnte darin, und sie konnte eine schwache Hofnung nicht unterdrücken, daß auch er genannt werden würde. Madame Quesnel, die so lange sie in Frankreich war, mit Entzücken von Italien gesprochen hatte, sprach jetzt in Italien mit gleichen Lobeserhebungen von Frankreich und suchte durch die Beschreibung von Oertern, die sie in der That nie das Glück gehabt hatte, zu sehn, den Neid und die Verwunderung ihrer Zuhörer zu erregen. Sie täuschte bei diesen Beschreibungen nicht nur sie, sondern auch sich selbst, denn sie konnte nie ein gegenwärtiges Vergnügen einem vergangnen gleich schätzen, und die köstliche Luft, die wohlriechenden Orangerien und aller üppige Reichthum, der sie umgab, glitten unbemerkt an ihr hin, während ihre Phantasie in den fernen Scenen eines nördlichen Landes umher irrte.
Emilie lauerte vergebens, Valancourts Namen zu hören. Madame Montoni sprach von den Schönheiten Venedigs und von dem Vergnügen, das sie sich von ihrer Reise nach dem Schlosse Udolpho zwischen den Appeninen, versprach. Dies letzte war blos eine wiedervergeltende Pralerei, denn Emilie wußte recht gut, daß ihre Tante keinen Geschmack an einsamer Größe und besonders an solcher hatte, als das Schloß Udolpho ihr versprach. Auf solche Art fuhr die Gesellschaft fort zu sprechen, und sich, so weit es die Höflichkeit erlaubte, durch gegenseitige Pralerei zu quälen, während sie, auf weichen Polstern im Portico hingegossen, von allen Schönheiten der Natur und Kunst umgeben waren, welche jedes richtig empfindende Herz zum Wohlgefühl gestimmt, und jede unverdorbne Einbildungskraft bezaubert haben würden.
Die Morgendämmerung zitterte bald im östlichen Horizont, und die hellen Farben des jungen Tages, sich allmählig ausbreitend, zeigten die sich schön senkenden Umrisse der italiänischen Berge und die zu ihren Füßen ausgestreckten glühenden Landschaften. Die Sonnenstrahlen, die hinter den Hügeln aufschossen, verbreiteten jetzt über die Gegend den schönen Saffranhauch, der allem, was er berührt, Ruhe mitzutheilen scheint. Jetzt schimmerte die Landschaft nicht mehr: alle ihre glänzenden Farben lagen aufgedeckt da, nur die fernen Umrisse flossen noch im Nebel der Entfernung in einander, und das dunkle Grün der Fichten und Cypressen, die den Vordergrund des Flusses überhiengen, erhöhte die süße Wirkung des Ganzen.
Das Marktvolk, das jezt auf seinen Booten nach Venedig schiffte, stellte auf dem Brenta ein lebendiges Gemälde dar. Die meisten waren mit kleinen gemahlten Decken versehn, um ihre Eigenthümer vor den Sonnenstrahlen zu schützen; welches mit den aufgethürmten Haufen von Früchten und Blumen unter ihnen, und der geschmackvollen Simplicität der Bäuerinnen, die den ländlichen Schatz bewachten, ein artiges Ganzes ausmachte. Die geschwinde Bewegung der Boote den Fluß hinab, das schnelle Schlagen der Ruder auf dem Wasser, und von Zeit zu Zeit der vorüberrauschende Chor der Bauern, die sich unter die Seegel ihrer kleinen Barke lehnten, oder die Töne eines ländlichen Instruments, von einem Mädchen an der Seite ihres Schäfers gespielt, machten die Scene belebter und festlicher.
Nachdem sich Montoni und Herr Quesnel wieder zu den Damen verfügt hatten, vertauschte die Gesellschaft das Portico mit dem Garten, wo die reitzende Gegend Emiliens Gedanken bald von peinlichen Gegenständen abzog. Sie hatte die majestätischen Formen und das reiche Grün der Cypressen noch nie so vollkommen gesehen. Ceder, Limonien und Orangenwäldchen, die pyramidenförmigten Gruppen der Fichten und Pappeln, der üppige Wallnus und orientalische Ahornbaum warfen allen Reichthum ihres Schattens auf diesen Garten, während Bogengänge von blühenden Myrthen und andern balsamischen Gesträuchen ihren Wohlgeruch mit dem Duft der Blumen vermischten, deren lebhafte bunte Farben doppelt schön unter dem abstehenden Schatten der Wäldchen glühten. Auch die Luft wurde stets durch kleine Bäche gekühlt, die man mehr dem Geschmack, als der Mode getreu, ungestöhrt zwischen den grünen Rasen hinlaufen ließ.
Emilie blieb oft hinter der Gesellschaft zurück, um die schöne Landschaft, die eine perspektivische Aussicht schloß, oder hinter dem dunkeln Laube im Vordergrunde hervorschimmerte, zu betrachten. Sie sah die spitzen Gipfel der Berge, mit einem Purpurhauch gefärbt, oben steil und gespalten, aber immer glätter sich zum Fuße herabsenkend, das ofne Thal, dem man keine Spuren der Kunst ansah, und die schlanken Cypressen, Fichten und Pappelwäldchen, zuweilen durch eine verfallne Villa verschönert, deren gebrochne Säulen zwischen den Zweigen einer Fichte hervorschienen, die sich über ihren Fall zu neigen schien.
In andern Gegenden des Gartens sah man die Scene durchaus verändert; gehäufte, künstliche Figuren und bunte Farben waren an die Stelle der schönen, einsamen Pracht der Landschaft getreten.
Die Sonne stieg nun schnell am Himmel empor, und die Gesellschaft verließ den Garten und begab sich zur Ruhe.
Emilie ergriff die erste Gelegenheit, da sie sich mit Herrn Quesnel allein sah, über La Vallée mit ihm zu sprechen. Er beantwortete ihre Fragen ganz kurz und mit dem Wesen eines Mannes, der sich bewußt ist, eine unumschränkte Gewalt zu besitzen, und sie ungern in Zweifel gezogen sieht. Er erklärte, daß es nothwendig gewesen wäre, das Gut zu vermiethen und daß sie sogar das kleine Einkommen, das ihr noch übrig bliebe, seiner Klugheit zu danken hätte. »Zwar«, setzte er hinzu, »wenn dieser venetianische Graf — ich habe seinen Namen vergessen — Sie heirathet, so werden Sie aus ihrer drückenden Abhängigkeit gerissen werden. Als ein Verwandter von Ihnen freue ich mich über dieses Ereignis, das eben so glücklich für Sie ist, als es, wenn ich so sagen darf, unerwartet für Ihre Freunde war.«
Emilie gerieth über diese Worte in solche Bestürzung, daß ihr auf einige Minuten die Sprache vergieng. Als sie es endlich versuchte, ihn aus seinem Irrthum wegen ihrer Nachschrift im Montonis Briefe zu reissen, schien er seine besondern Gründe zu haben, ihr nicht zu glauben, und beharrte lange darauf, sie eines Eigensinns anzuklagen. Als es ihr aber gelang, ihn zu überzeugen, daß ihr Morano in der That nicht gefiel, und daß sie seinen Antrag ausgeschlagen hatte, wurde er heftig aufgebracht, und äusserte seinen Zorn auf die beleidigendste ungesitteste Art. Die Verheirathung seiner Nichte mit einem Edelmanne, dessen Namen er vergessen zu haben sich stellte, schmeichelte seiner Eitelkeit so sehr, daß er nicht fähig war, Rücksicht auf die Empfindungen zu nehmen, die ihr diese Verbindung unerträglich machten.
Emilie sah mit einem Blicke alle Schwierigkeiten, die auf sie warteten, und wenn gleich keine Bedrückung sie dahin bringen konnte, Morano mit Valancourt zu vertauschen, so zitterte sie doch bei der Vorstellung, sich dem heftigen Zorne ihres Onkels auszusetzen. Sie begegnete seinem stürmischen Unwillen nur mit der sanften Würde eines überlegnen Geistes: allein die edle Festigkeit ihres Betragens brachte ihn nur noch mehr auf, weil sie ihn zwang, seine eigne Kleinheit zu fühlen, und er verließ sie mit der Erklärung, daß wenn sie in ihrer Thorheit beharrte, sowohl er als Montoni sie der Verachtung der Welt Preis geben würden.
Die Ruhe, die sie in seiner Gegenwart angenommen hatte, verließ sie, sobald sie sich allein sah; sie weinte bitterlich und rief oft den Namen ihres verstorbenen Vaters aus, an dessen Rathschläge auf seinem Todtenbett sie sich erinnerte. Ach sagte sie, ich fühle nur zu sehr, wie weit eine gewisse Stärke der Seele dem Schmuck der Empfindsamkeit vorzuziehn ist, und gewiß werde ich mich bestreben, das Versprechen, welches ich ihm damals that, zu erfüllen. Ich will keinen fruchtlosen Klagen nachhängen, sondern mit Festigkeit das zu ertragen suchen, was ich nicht vermeiden kann.
Durch das Bewußtseyn, einen Theil von St. Auberts letzter Bitte zu erfüllen, und sich eines Betragens zu befleissigen, das er gewiß gebilligt haben würde, einigermaßen getröstet, trocknete sie ihre Thränen, und als die Gesellschaft sich zum Essen versammlete, hatte ihr Gesicht seine gewohnte Heiterkeit wieder angenommen.
Gegen Abend fuhren die Damen in Madame Quesnels Wagen längs den Ufern des Brenta hin. Emiliens Seelenstimmung machte einen traurigen Abstand mit den frölichen Gruppen, die sich unter den Schatten der Bäume an diesem bezaubernden Flusse versammlet hatten. Einige tanzten unter den Bäumen; andre lehnten sich aufs Gras, labten sich an Eis und Caffee, und genossen ruhig die Wirkung eines schönen Abends auf einer üppigen Landschaft. Wenn Emilie die mit Schnee bedeckten Spitzen der Appeninen in der Ferne aufsteigen sah, dachte sie an Montonis Schloß und fühlte eine bange Furcht, daß er sie dahin führen möchte, um sie zu einer geheimen Heirath zu zwingen; doch verschwand dieser Gedanke wieder wenn sie bedachte, daß sie zu Venedig so gut wie an jedem andern Orte in seiner Macht war. Der Mond schien bereits, als die Gesellschaft nach der Villa zurückkehrte, wo das Abendessen in dem luftigen Saale angerichtet war, der Emilien am Abend zuvor so sehr gefallen hatte. Die Damen nahmen in dem Portico Platz, bis Herr Quesnel, Montoni und einige andere Herren erscheinen würden, und Emilie bemühte sich, ihre Seele mit der ruhigen Stunde in Einklang zu stimmen. Nicht lange darauf hielt eine Barke an den Stuffen, die in den Garten führten, still, und sie erkannte Montonis und Quesnels, und bald darauf auch Moranos Stimme, der gleich nachher erschien. Sie nahm seine Begrüßung stillschweigend an; ihr kaltes Wesen schien ihn anfangs ausser Fassung zu bringen, bald aber nahm er seine gewöhnliche Munterkeit wieder an, wiewohl Emilie merkte, daß Herrn und Madame Quesnels zudringliche Höflichkeit ihm lästig war. Sie hätte Herrn Quesnel keines solchen Grades von Aufmerksamkeit fähig geglaubt, denn sie hatte ihn bisher nur unter seines Gleichen oder unter Geringern gesehn.
Sobald sie sich wieder in ihr Zimmer zurückziehn durfte, dachte sie nach, auf welche Art sie wohl den Grafen am besten von seiner Bewerbung zurückbringen könnte, und am Ende schien ihr das beste Mittel zu seyn, ihm ihre frühere Neigung für einen andern zu gestehn, und sich gleichsam seiner Großmuth anzuvertrauen. Als er aber den Tag darauf seine Verfolgung erneute, verließ sie der Muth diesen Vorsatz auszuführen. Es widerstrebte ihrem edeln Stolz so sehr einem solchen Manne wie Morano, ihr Herz offen darzulegen, und um sein Mitleid zu flehen, daß sie sich beinahe wunderte, wie sie nur einen Augenblick auf diesen Gedanken hätte kommen können. Sie wiederholte in den bündigsten Ausdrücken, die sie nur finden konnte, ihre abschlägige Antwort, und unterließ nicht, ihm zugleich ihre Misbilligung seines Betragens unverholen zu äussern, allein so sehr auch der Graf hiedurch gedemüthigt schien, beharrte er doch in den wärmsten Betheurungen seiner Bewundrung, bis Madame Quesnels Gegenwart ihn unterbrach und Emilien erlöste.
Moranos Zudringlichkeit, und Herrn Quesnels und Montonis Härte, die sowohl als ihre Tante, mehr als je ihren Sinn auf diese Heirath gesetzt zu haben schienen, verbitterten Emilien allen Genuß, den sie sonst auf dieser reitzenden Villa gehabt haben würde. Da Herr Quesnel fand, daß seine Gründe sowohl als seine Drohungen unvermögend waren, die Sache zum Schluß zu bringen, gab er endlich die Mühe auf, und überließ sie Montonis Klugheit und dem Lauf der Umstände zu Venedig. Emilie versprach sich in der That viel von Venedig, denn dort hofte sie einigermaßen von Moranos Verfolgung befreit zu seyn, weil er nicht länger ein Haus mit ihr bewohnen würde, und auch von Montoni weniger zu leiden, da seine Gesellschaften ihn nicht oft zu Hause lassen würden. Doch vergaß sie unter dem Druck ihrer eignen Sorgen der arme Therese nicht, sondern sprach mit beherzter Zärtlichkeit für sie bei Herrn Quesnel, der ihr in leichten und allgemeinen Ausdrücken versprach, daß sie nicht vergessen werden sollte.
Montoni verabredete in einem langen Gespräch mit Herrn Quesnel, wie sie mit Emilien verfahren wollten, und Herr Quesnel nahm sich vor, nach Venedig zu kommen, sobald er erfahren würde, daß die Hochzeit vorüber sey.
Es war Emilien etwas neues, sich von Personen, die ihr so nahe verwandt waren, ohne allen Schmerz zu trennen; ja, der Augenblick, wo sie sich von Herrn und Madame Quesnel trennte, war vielleicht der einzige angenehme, den sie in ihrer Gegenwart gekannt hatte.
Morano fuhr in Montonis Barke zurück und Emilie mußte, als sie sich allmählig dieser Zauberstadt näherte, die einzige Person, welche Schuld war, daß sie ein minder vollkommenes Vergnügen bei dem Anblick genoß, an ihrer Seite dulden. Sie kamen gegen Mitternacht daselbst an, und Emilie durfte endlich, da Morano sich mit Montoni nach einem Casino verfügte, sich in ihr Zimmer zurückziehn.
Den andern Tag sagte Montoni Emilien in einem kurzen Gespräch, das er mit ihr führte, er wollte nicht länger mit sich scherzen lassen; ihre Heirath mit dem Grafen wäre in jeder Rücksicht so vortheilhaft, daß nur Unverstand etwas dagegen einwenden könnte; er bestände also durchaus darauf, daß sie ohne weitern Aufschub, und wenn es nöthig wäre, ohne ihre Einwilligung vollzogen würde.
Emilie, die bisher Gründe aufgeboten hatte, nahm nun ihre Zuflucht zu Bitten, denn ihr Schmerz verhinderte sie einzusehn, daß bei einem Manne von Montonis Art Bitten eben so fruchtlos sey. Sie fragte ihn darauf, vermöge welches Rechtes er eine so unumschränkte Gewalt über sie ausübte; eine Frage, die ihr besseres Urtheil in einem ruhigern Augenblick ebenfalls würde zurückgehalten haben, da sie zu nichts helfen konnte, und Montoni nur neue Gelegenheit gab, über sie zu triumphiren.
»Vermöge welches Rechtes«, rief Montoni mit boshaftem Lächeln. »Vermöge des Rechts meines Willens — können Sie diesem entgehn, so werde ich nicht fragen, vermöge welches Rechtes. Ich erinnre Sie jetzt zum leztenmale, daß Sie eine Fremde in einem fremden Lande sind, und daß es Ihr Vortheil ist, mich zu Ihrem Freunde zu machen. — Sie wissen das Mittel dazu. Zwingen Sie mich aber, Ihr Feind zu werden, so lassen Sie mich Ihnen sagen, daß die Strafe Ihre Erwartung übertreffen soll. Sie sollen erfahren, daß ich nicht mit mir scherzen lasse.«
Emilie blieb lange nachdem Montoni sie verlassen hatte, in einem Zustande der Verzweiflung, oder vielmehr der Betäubung. Ein Bewußtseyn des Elendes war alles, was in ihrer Seele zurückblieb. In dieser Lage fand sie Madame Montoni; bei dem Ton ihrer Stimme blickte Emilie auf, und ihre Tante, durch den Ausdruck der Verzweiflung in ihrem Gesicht einigermaßen erweicht, sprach gütiger mit ihr, als noch je zuvor. Emilie fühlte ihr Herz erweicht: sie vergoß Thränen, und nachdem sie eine Zeitlang geweint hatte, gewann sie soviel Stärke, von dem Gegenstande ihres Schmerzes zu sprechen, und zu versuchen, ob sie Madame Montoni für sich gewinnen könnte. Allein wenn diese sich gleich zum Mitleid hatte überraschen lassen, so war doch ihr Ehrgeitz nicht besiegt, und ihr einziges Augenmerk war jetzt, die Tante einer Gräfin zu seyn. Emiliens Bemühungen waren daher bei ihr eben so fruchtlos, als sie bei Montoni gewesen waren, und sie zog sich in ihr Zimmer zurück, um für sich allein zu denken und zu weinen. Wie oft erinnerte sie sich an ihr letztes Gespräch mit Valancourt und wünschte, daß der Italiäner mit weniger Zurückhaltung von Montoni gesprochen hätte. Als sie sich indessen von dem ersten Stoße, den dies Betragen ihr versetzte, einigermaßen erholt hatte, erwog sie, daß es ihm unmöglich seyn würde, sie zu einer Verbindung mit Morano zu zwingen, wenn sie sich standhaft weigerte, das Gelübde vor dem Altar auszusprechen, und sie beharrte auf ihrem Entschluß, lieber Montonis angedrohte Rache zu erwarten, als sich auf ihre ganze Lebenszeit einem Manne hinzugeben, den sie allein schon wegen seines jetzigen Betragens verachten mußte, wenn sie auch Valancourt nie geliebt hätte — doch zitterte sie vor der Rache, der sie Trotz zu bieten beschloß.
Bald darauf aber trat ein Umstand ein, der Montonis Aufmerksamkeit einigermaßen von Emilien abzog. Orsinos geheimnißvolle Besuche wurden jetzt seit Montonis Zurückkunft häufiger als je fortgesetzt. Auch wurden ausser Orsino noch andre Mitglieder, unter welchen sich Cavigni und Verezzi befanden, zu diesen nächtlichen Berathschlagungen zugelassen. Montonis Wesen wurde ernsthafter und finstrer als je, und wenn nicht Emilie zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen wäre, um auf ihn zu achten, so hätte sie merken müssen, daß etwas ausserordentliches in seiner Seele vorgieng.
Eines Abends, wo das Concilium nicht gehalten wurde, erschien Orsino in großer Bewegung und schickte seinen vertrauten Bedienten zu Montoni, der auf einem Casino war, um ihn unverzüglich nach Hause zu rufen, nur verboth er dem Bedienten, seinen Namen zu nennen. Montoni erschien sogleich, und Orsino benachrichtigte ihn nun von der Ursache seines Besuchs und seiner sichtlichen Unruhe, die ihm zum Theil schon bekannt war.
Ein venetianischer Edelmann, der kürzlich bei einer gewissen Gelegenheit Orsinos Haß auf sich gezogen hatte, war unterwegs von gedungenen Mördern überfallen und ermordet worden: und da er von hohem Stande war, so hatte der Senat sich in die Sache gemischt. Man hatte einen von den Banditen ergriffen, und dieser gestand, daß Orsino ihn zu der barbarischen That gedungen hätte. Orsino erfuhr, welche Gefahr ihm drohte, und eilte zu Montoni, um ihn wegen der Mittel zur Flucht zu Rathe zu ziehn. Er wußte, daß die Gerichtsdiener in allen Winkeln der Stadt auf ihn lauerten, es war also unmöglich, jetzt heraus zu kommen und Montoni versprach, ihn einige Tage zu verbergen, bis die Wachsamkeit der Gerechtigkeit eingeschläfert seyn würde, und ihm dann behülflich zu seyn, aus Venedig zu entkommen. Er wußte, welcher Gefahr er sich selbst aussetzte, wenn er Orsino im Hause behielt, aber seine Verbindlichkeiten gegen diesen Menschen waren von solcher Art, daß er es nicht wagte, ihm einen Zufluchtsort zu verweigern.
Dies war der Mann, dem Montoni sein Vertrauen und soviel Freundschaft geschenkt hatte, als sich nur irgend mit seinem Charakter vertrug.
So lange Orsino in seinem Hause versteckt blieb, mochte Montoni nicht durch die Hochzeitsfeier des Grafen Morano die öffentliche Aufmerksamkeit herbeiziehn; allein dies Hinderniß wurde in wenig Tagen durch die Abreise seines strafbaren Gastes gehoben, und er benachrichtigte nunmehr Emilien, daß ihre Heirath am folgenden Morgen vollzogen werden sollte. Ihre wiederholten Versicherungen, daß dieses nie geschehen würde, beantwortete er nur mit boshaftem Lächeln; und indem er ihr ankündigte, daß der Graf und ein Geistlicher in aller Frühe erscheinen würden, rieth er ihr, ihn nicht noch länger durch Widersetzlichkeit gegen seinen Willen und gegen ihren eignen Vortheil aufzubringen. »Ich gehe jetzt auf den Abend aus«, sagte er; »vergessen Sie nicht, daß ich auf den andern Morgen dem Grafen Morano Ihre Hand versprochen habe.« Emilie hatte seit seiner letzten Drohung immer erwartet, daß es zu diesem Ausgange kommen würde, und wurde deswegen durch diese Erklärung weniger erschüttert. Sie suchte sich durch den Gedanken bei Muth zu erhalten, daß die Heirath nicht gültig seyn könnte, so lange sie sich weigerte, einen Theil der Ceremonie vor dem Priester auszusprechen. Als aber der Augenblick der Prüfung selbst herannahte, bebte ihre lange gefolterte Seele beinahe in gleichem Maße vor seiner Rache und vor der Hand des Grafen Morano. Sie war nicht einmal ganz gewiß, welche Wirkung ihre standhafte Weigerung vor dem Altare thun würde, und zitterte mehr als je, vor Montonis Macht, die eben so unbegränzt schien als sein Wille, denn sie sah, daß er sich nicht scheuen würde, jedes Gesetz zu übertreten, wenn er seinen Zweck dadurch erreichen könnte.
Während ihre Seele so schmerzlich litt und in einem, nahe an Wahnsinn gränzendem, Zustande war, meldete man den Grafen Morano bei ihr an, und kaum hatte sie sich entschuldigen lassen, als sie schon bereute, ihn nicht angenommen zu haben. Entschlossen, wie es schon einmal ihr Vorsatz gewesen war, zu versuchen, ob Gründe und Bitten da etwas fruchten würden, wo eine abschlägige Antwort und gerechte Verachtung, nichts gewirkt hatte, rief sie den Bedienten zurück, um ihm eine andre Antwort sagen zu lassen und machte sich gefaßt, zu ihm herunter zu gehn.
Die Würde und Fassung, womit sie ihm entgegen gieng, und die stille Ergebung, die auf ihrem sanften Gesichte lag, waren eben nicht geschickt, ihn zum Aufgeben seiner Wünsche zu stimmen, da sie nur dazu dienten, eine Leidenschaft zu erhöhn, die bereits sein Urtheil umnebelt hatte. Er hörte alles was sie sagte, mit einem Schein von Gefälligkeit und dem Wunsche, sie zu verpflichten an; sein Entschluß aber blieb unveränderlich derselbe, und er bemühte sich, durch alle Kunst der Schmeichelei, die er so gut verstand, ihren Beifall zu gewinnen. Da sie endlich überzeugt wurde, daß sie von seiner Gerechtigkeit nichts zu hoffen hatte, wiederholte sie feierlich und nachdrucksvoll ihre durchaus bestimmte Weigerung und versicherte ihn mit Zuversicht, daß sie trotz allem was man hervorsuchen möchte, ihre Weigerung zu überwinden, durchaus darauf beharren würde. Ein gerechter Stolz hatte in seiner Gegenwart ihre Thränen zurückgehalten, jetzt aber flossen sie aus der Fülle ihres Herzens. Sie rief oft den Namen ihres verstorbenen Vaters aus, und verweilte mit unaussprechlichem Schmerz bei dem Gedanken an Valancourt.
Sie gieng nicht zum Abendessen herunter, sondern blieb in ihrem Zimmer allein, wo sie sich oft ganz dem Eindruck des Schmerzes und Grausens überließ, oft wieder ihre Seele dagegen zu stärken und sich zu bereiten suchte, mit gefaßtem Muthe dem Auftritt des folgenden Morgens entgegen zu gehn, wo alle Kunstgriffe Moranos und alle Gewalt Montonis sich gegen sie zu vereinigen drohten.
Es war schon spät, als Madame Montoni mit einem Brautschmuck, den der Graf Emilien geschickt hatte, zu ihr herein trat. Sie hatte den ganzen Tag über Emilien absichtlich vermieden, vielleicht weil ihre gewöhnliche Fühllosigkeit sie verließ und weil sie fürchtete, sich dem Anblick von Emiliens Schmerz auszusetzen. Vielleicht auch war ihr Gewissen aus seinem gewöhnlichen Schlafe einmal erwacht, und warf ihr jetzt ihr Betragen gegen ihres Bruders Kind vor, dessen Glückseeligkeit ein sterbender Vater ihrer Sorge anvertraut hatte.
Emilie mochte diese Geschenke nicht ansehen, und machte einen letzten, obgleich beinahe hofnungslosen Versuch, Madame Montoni zum Mitleid zu bewegen. Wenn diese ja einiges Erbarmen oder Gewissensbisse fühlte, so wußte sie sich wenigstens glücklich zu verbergen, und warf ihrer Nichte die Thorheit vor, sich wegen einer Heirath, die sie für ein Glück halten sollte, unglücklich zu schätzen. »Ich weiß gewiß«, sagte sie, »daß wenn ich ledig gewesen wäre, und man hätte mir den Grafen angetragen, ich mich sehr geschmeichelt gefunden haben würde; und wenn ich so denke, so sollten doch wohl unstreitig Sie Nichte, da Sie kein Vermögen besitzen, sich höchlichst durch seine Herablassung geehrt finden und ihm auf alle Weise Ihre Dankbarkeit und bescheidne Anerkennung beweisen. Ich muß gestehn, daß ich mich oft gewundert habe, wie demüthig er sich ohngeachtet des Hochmuths, womit Sie ihm begegnen, gegen Sie beträgt; mir würde die Geduld schon längst ausgegangen seyn, und ich würde an seiner Stelle Sie gefragt haben, ob Sie etwan auf einen Prinzen warten.«
»Mein einziger Wunsch, Madame«, erwiederte Emilie mit Mäßigung, »ist ruhig in meiner gegenwärtigen Lage zu bleiben.«
»O das heißt sehr wenig vom Herzen sprechen«, sagte ihre Tante: »ich sehe, Sie denken noch immer an Herrn Valancourt. Ich bitte Sie, lassen Sie doch endlich diese phantastischen Chimären von Liebe, und diesen lächerlichen Stolz fahren, und betragen Sie sich, als ein vernünftiges Geschöpf. Indessen thut das alles nichts zur Sache: Ihre Heirath mit dem Grafen ist nun einmal auf morgen bestimmt, Sie mögen es gut finden oder nicht. Der Graf will sich nicht länger zum besten haben lassen.«
Emilie machte keinen Versuch, diese seltsame Rede zu beantworten, sie fühlte, daß es ihrer unwerth seyn würde, und wußte, daß es zu nichts helfen konnte. Madame Montoni legte des Grafen Geschenke auf den Tisch, an welchem Emilie stand, trug ihr auf, sich frühzeitig bereit zu halten, und wünschte ihr eine gute Nacht. »Gute Nacht, Madame«, sagte Emilie mit einem tiefen Seufzer, als die Thüre sich hinter ihrer Tante schloß, und sie noch einmal ihren eignen traurigen Betrachtungen überlassen blieb. Eine Zeitlang saß sie so verloren in Gedanken, daß sie gar nicht wußte, wo sie war; endlich als sie den Kopf in die Höhe hob, und sich rings im Zimmer umsah, schreckte sie die tiefe Dunkelheit und Stille um sie her. Sie heftete ihre Augen auf die Thüre, durch die ihre Tante hinaus gegangen war, und horchte ängstlich auf einen Laut, der ihre Lebensgeister aus ihrer tiefen Niedergeschlagenheit erwecken könnte; allein es war Mitternacht vorbei und das ganze Haus, den Bedienten ausgenommen, der auf Montoni wartete, hatte sich zu Bette gelegt. Ihr vom Schmerz lange gefolterter Geist gab nunmehr eingebildeten Schrecken Raum; sie zitterte vor der Finsterniß ihres großen Zimmers und fürchtete, sie wußte nicht was — dieser Seelenzustand hielt so lange an, daß sie Annetten, ihrer Tante Kammermädchen, würde gerufen haben, wenn sie das Herz gehabt hätte, vom Stuhl aufzustehn und durch das Zimmer zu gehn.
Endlich verließen sie diese dunkeln Phantome und sie legte sich zu Bette nicht um zu schlafen, denn das war kaum möglich, sondern um zu versuchen, ob sie ihre empörte Einbildungskraft beruhigen, und Stärke genug sammeln könnte um dem Auftritte des herannahenden Morgens entgegen zu gehn.
Emilie wurde durch ein schnelles Klopfen an ihrer Kammerthüre aus einer Art von Schlummer, worin sie endlich gesunken war, erweckt. Sie fuhr erschrocken auf, denn Montoni und der Graf fielen ihr sogleich ein; nachdem sie aber eine Weile still gehorcht hatte und Annettens Stimme erkannte, stand sie auf und öfnete die Thüre. »Was bringt dich so früh hieher?«, sagte Emilie zitternd. — Sie war nicht im Stande, sich aufrecht zu halten, und mußte sich aufs Bette niedersetzen.
»Liebes Fräulein«, sagte Annette, »sehn Sie doch nicht so blaß aus, ich erschrecke ganz, wenn ich Sie ansehe. Unten im Hause ist ein gewaltiger Lärm — alle Bedienten laufen ab und zu, und keiner kann schnell genug seyn. Gott weiß, warum alles so plötzlich in Aufruhr gerathen ist.«
»Wer ist denn sonst noch unten? Spaße nicht mit mir, Annette!«
»Nicht doch Fräulein, ich möchte um alles in der Welt nicht spaßen; allein man kann doch nicht umhin, so das seinige zu denken, und der Signor ist in einer solchen Geschäftigkeit, als ich ihn noch nie gesehn habe. Er hat mich zu Ihnen geschickt, um Ihnen zu sagen, daß Sie sich sogleich fertig halten sollten.«
»Gott steh mir bei!« rief Emilie, die beinahe in Ohnmacht sank; »der Graf Morano ist also unten?«
»Das ich nicht wüßte! der Signor läßt Ihnen nur sagen, daß Sie sich fertig halten möchten, unverzüglich Venedig zu verlassen, weil die Gondeln in wenig Minuten da seyn würden; allein ich muß geschwind zu meiner gnädigen Frau zurück eilen: denn sie ist ganz ausser sich, und weiß vor Eile nicht, was sie zuerst angreifen soll.«
»Erkläre mir doch erst, was das alles bedeutet«, rief Emilie von Erstaunen und furchtsamer Hofnung so überwältigt, daß sie kaum Athem hatte zu sprechen.
»Ja, gnädiges Fräulein, das ist mehr, als ich im Stande bin. Ich weiß nur, daß der Signor in sehr übler Laune zu Hause gekommen ist, daß er uns alle aus dem Bette gejagt, und uns angekündigt hat, daß wir Venedig sogleich verlassen sollten.«
»Wird der Graf Morano den Signor begleiten? und wohin sollen wir gehen?«
»Ich weiß wahrhaftig keines von beiden; allein ich hörte Ludovico von einem Schlosse des Signors zwischen den Gebürgen sprechen, vermuthlich werden wir dahin gehn.«
»Zwischen den Appeninen«, sagte Emilie heftig. »Ach! dann habe ich wenig zu hoffen!«
»Ganz Recht Fräulein, das ist das Schloß. Aber erheitern Sie sich, und nehmen es sich nicht so sehr zu Herzen; denken Sie nur, wie wenig Zeit Sie noch übrig haben, und wie ungeduldig der Signor ist. Heiliger St. Markus! ich höre schon die Ruder auf dem Kanal! Sie kommen näher — wahrhaftig es ist die Gondel!«
Annette eilte aus dem Zimmer und Emilie bereitete sich, so schnell ihre zitternden Hände es zulassen wollten, auf diese unerwartete Flucht ohne zu merken, daß jede Veränderung ihrer Lage wahrscheinlich Verschlimmerung seyn würde. Kaum hatte sie ihre Bücher und Kleider in ihren Reisekoffer geworfen, als sie zum zweitenmal in ihrer Tante Zimmer gerufen wurde, wo sie Montoni fand, der seiner Frau ungeduldig ihr Zögern verwies. Er gieng bald darauf aus, um seinen Leuten noch einige Befehle zu geben, und Emilie fragte indeß ihre Tante um die Ursache ihrer schleunigen Reise: allein sie schien eben so wenig davon zu wissen und die Reise noch mit mehr Widerwillen zu unternehmen.
Endlich schiffte sich die Familie ein, allein weder der Graf, noch Cavigni waren von der Parthie. Hiedurch einigermaßen erleichtert, fühlte sich Emilie, als die Gondelfahrer mit ihren Rudern ins Wasser schlugen, gleichsam wie ein Verbrecher, der eine kurze Frist erhält. Ihr Herz schlug noch leichter als sie aus dem Kanal in die ofne See schifften, und immer leichter, als sie die Mauern des St. Markusplatzes zurücklegten, ohne anzuhalten, um den Grafen Morano einzunehmen.
Die Dämmerung begann nun, den Horizont zu färben und sich auf die Ufer des Adriatischen Meeres zu schleichen. Emilie getraute sich nicht, Montoni eine Frage vorzulegen. Er saß eine Zeitlang in düstern Stillschweigen da, und hüllte sich dann in seinen Mantel als wollte er schlafen; Madame Montoni that dasselbe, Emilie aber, die nicht schlafen konnte, zog einen der Vorhänge der Gondel ein wenig zurück und sah hinaus auf die See. Die anbrechende Dämmerung beleuchtete nun die Bergspitzen von Frioli, allein die tiefern Ufer und die fernen Wellen, die zu ihren Füßen rollten, lagen noch in tiefen Schatten. Emilie, in ruhiger Melancholie versunken, sah das zunehmende Licht sich über den Ocean ausbreiten und nach einander Venedig mit seinen Inseln und den Ufern von Italien zeigen, längs welchen Boote mit ihren bezeichneten Seegeln sich fortzubewegen begannen.
Die Gondelfahrer wurden in dieser frühen Stunde häufig von den Marktleuten, die nach Venedig fuhren, angerufen, und das Wasser stellte bald einen frölichen Schauplatz von unzähligen kleinen Barken dar, die mit Lebensmitteln von dem festen Lande kamen. Emilie warf den letzten Blick auf die prächtige Stadt, allein ihre Seele war zu sehr mit den Begebenheiten, die wahrscheinlich an den Orten, wohin sie gieng, auf sie warteten, und mit Vermuthungen über den Grund dieser plötzlichen Reise beschäftigt. Bei ruhigerer Ueberlegung schien es ihr, daß Montoni sie nach diesem abgesonderten Schlosse führte, weil er dort ihre erzwungene Heirath mit dem Grafen besser mit der Heimlichkeit feiern konnte, die für seine Ehre nothwendig war. Der wenige Muth, den diese kurze Frist ihr wieder eingeflößt hatte, verließ sie aufs neue und als sie das Ufer erreichten, war sie ganz in ihre alte Niedergeschlagenheit zurück gesunken.
Montoni schiffte sich nicht auf dem Brenta ein, sondern gieng zu Wagen quer durch das Land nach den Appeninischen Gebürgen zu. Sein Betragen gegen Emilien war auf dieser Reise so besonders unfreundlich, daß schon dies allein sie in ihrer letzten Vermuthung würde bestärkt haben, wenn es noch irgend einer Bestätigung bedurft hätte. Ihre Sinne waren jetzt taub für die schöne Gegend, durch welche sie kam. Oft mußte sie über Annettens naive Bemerkungen lächeln, und oft seufzte sie, wenn eine vorzüglich schöne Gegend ihr Valancourt in die Gedanken rief, desen Bild sich in der That selten von ihr entfernte, und von dem sie in der Einsamkeit, welcher sie zueilte, nie zu hören hoffen konnte.
Endlich traten die Reisenden ihren Weg Bergaufwärts zwischen den Appeninen an. Die unermeßlichen Fichtenwälder, welche damals diese Gebürge überhiengen, verschlossen alle Aussicht ausser auf die oben hervorragenden Klippen, wenn nicht von Zeit zu Zeit eine Oefnung durch die dunkeln Wälder dem Auge einen flüchtigen Blick auf das unten liegende Land gewährte. Die Dunkelheit dieser Schatten, ihre einsame Stille, wofern nicht ein Lüftchen über ihre Gipfel hinfuhr, die zitternden Spitzen der Berge, die nur stellenweis ins Auge fielen, alles vereinte sich, um Emiliens Gefühle zum Schauerlichen zu stimmen: sie sah nur Bilder dunkler Größe oder furchtbarer Erhabenheit um sich her; — andre eben so finstre, eben so schreckliche Bilder dämmerten vor ihrer Einbildungskraft. Sie gieng, ohne kaum zu wissen, wohin; unter der Herrschaft eines Mannes, von dessen herrschsüchtiger Gemüthsart sie bereits so viel gelitten hatte, um vielleicht einen Mann zu heirathen, der sie weder schätzte noch liebte, oder, um ohne Hofnung auf Rettung alle Strafe zu dulden, die nur Rache und zwar italiänische Rache auflegen konnte. Jemehr sie über den Bewegungsgrund der Reise nachdachte, jemehr wurde sie überzeugt, daß sie unternommen wurde, um ihre Heirath mit dem Grafen Morano mit der Heimlichkeit zu vollziehn, welche ihr entschloßner Widerstand für Montonis Ehre, wenn nicht für seine Sicherheit nothwendig machte. Ihr krankes Herz bebte mit Entsetzen vor der tiefen Einsamkeit, der sie zueilte, und vor dem finstern Schlosse zurück, von dem sie einige geheimnißvolle Winke gehört hatte, und sie empfand, daß ihr Herz, so sehr es auch schon von einem besondern Kummer niedergedrückt war, doch noch neuen Besorgnissen offen stand, warum sollte sie sonst vor dem Gedanken an dies einsame Schloß erbeben?
So wie die Reisenden immer höher zwischen den Fichtenwäldern hinauf stiegen, thürmte sich Stuffe auf Stuffe; die Berge schienen sich zu vervielfachen so wie sie weiter drangen, und was anfangs der Gipfel des einen war, schien jetzt nur der Fuß des andern. Endlich erreichten sie ein kleines Thal, wo ihre Führer still hielten, um die Maulthiere ausruhen zu lassen, und hier that sich unter ihren Füßen eine Gegend von solcher Pracht und Umfang auf, daß selbst Madame Montoni in einen Ausruf der Bewunderung ausbrach. Emilie vergaß auf einen Augenblick ihren Kummer in der Unermeßlichkeit der Natur. Jenseits der Kette der Berge, deren Spitzen beinahe so zahllos schienen, als die Wellen der See, und deren Füße von Wäldern eingefaßt waren, erstreckte sich die Campagna von Italien, wo Städte und Flüsse, und Waldungen und aller Glanz der Kultur sich in bunter Verwirrung mischten. Das Adriatische Meer, in welches der Po und Brenta, nachdem sie sich durch die ganze Fläche der Landschaft hingeschlängelt hatten, ihre fruchtbaren Wellen ausgossen, begränzte den Gesichtskreis. Emilie staunte lange die Pracht der Welt an, die sie zu verlassen im Begriff war, und deren ganze Pracht nur vor ihr ausgebreitet schien, um ihren Schmerz, sie verlassen zu müssen, zu erhöhn. Für sie war Valancourt allein in der Welt; nur zu ihm wandte sich ihr Herz, und für ihn allein flossen ihre Thränen.
Von dieser erhabnen Gegend stiegen sie zwischen Fichten empor, bis sie in einen engen Paß zwischen den Gebürgen kamen, der jede Aussicht auf das ferne Land verschloß, und statt dessen nur furchtbare Klippen zeigte, die den Weg überhiengen. Hier zeigte sich keine Spur von menschlicher Bewohnung; nicht einmal eine Pflanze, ausser hie und da der Stamm einer zerstörten Eiche, die beinahe schnurgerade von dem Felsen herabhieng, in dessen Eingeweiden sich ihre starken Wurzeln fest geklammert hatten. Dieser Paß, der in das Herz der appeninischen Gebürge führte, öfnete sich endlich dem Tage, und eine Berggegend, wilder als sie noch gesehn hatten, streckte sich in langer Perspective vor ihnen aus. Große Fichtenwälder hiengen über ihrem Fuße und krönten den Felsen, der senkrecht aus dem Thale aufstieg, während oben die rollenden Nebel die Sonnenstrahlen auffiengen, und ihre Gipfel in alle Zauberfarbe von Licht und Schatten tauchten. Die Scene schien sich unaufhörlich zu verändern, und neue Gestalten anzunehmen, so wie die Krümmung des Wegs sie von einer andern Seite darstellte, während die wandelnden Dünste, die jezt ihre kleinern Schönheiten zum Theil verheelten, jetzt wieder sie in glänzende Farben tauchten, den Täuschungen des Gesichts zu Hülfe kamen.
Obgleich die tiefen Thäler zwischen diesen Bergen größtentheils mit Fichten bekleidet waren, zeigte doch oft eine plötzliche Oefnung eine Perspective von blos kahlen Felsen, mit einem Wasserfall, der von ihren Spitzen über gespaltne Klippen hinstürzte, bis das Wasser den Grund erreichte, und mit unaufhaltsamer Wuth fortbraußte: oft wieder zeigten ländliche Scenen ihren grünen Schmuck in den engen Thälern, die zwischen den sie umgebenden Schrecknissen lächelten. Dort graseten Heerden von Schaafen und Ziegen unter dem Schatten herabhängender Wälder, und des Schäfers kleine Hütte, am Rande eines klaren Stroms aufgebaut, stellte ein süßes Gemälde der Ruhe dar.
So wild und romantisch auch diese Gegenden waren, hatten sie doch ein weit weniger romantisches Ansehn als die der Alpen, die den Eingang von Italien schützen. Emilie fühlte oft Bewunderung, selten aber empfand sie die Regungen unbeschreiblicher Ehrfurcht, die sie auf ihrer Reise über die Alpen oft empfunden hatte.
Gegen das Ende des Tags wand sich der Weg in ein tiefes Thal. Berge, deren zackigte Spitzen unersteiglich schienen, umzingelten es beinahe. Nach Osten öfnete sich eine Aussicht, welche die Appeninen in ihrem schauerlichsten Dunkel sehn ließ; die lange Reihe der sich zurückziehenden Bergspitzen, mit Fichten bekleidet, stellte ein grösseres Gemälde dar, als Emilie je gesehn hatte. Die Sonne war eben unter die Spitzen der Berge gesunken, deren lange Schatten sich quer durch das Thal streckten, aber ihre gesenkten Strahlen, die durch eine Oefnung der Berge brachen, färbten die Gipfel des Waldes, der an den gegenüber liegenden Hügeln hieng, mit einem gelben Schimmer, und strömten in vollem Glanz auf die Thürme und Zinnen des Schlosses, dessen breite Wälle sich längs einem Felsen hinzogen. Der Glanz dieser beleuchteten Gegenstände wurde noch durch den abstechenden Schatten, der das Thal unten einhüllte erhöht.
»Dort«, sagte Montoni, indem er seit mehrern Stunden zum erstenmal sprach — »dort liegt Udolpho.«
Emilie staunte mit wunderbarem Schauer das Schloß an, welches Montoni das seinige nannte: obgleich von der untergehenden Sonne beleuchtet, gaben doch die gothische Größe seines Umfangs und die zerfallenden Mauern von grauem Stein ihm ein düstres, erhabnes Ansehn. Indem sie es noch betrachtete, verschwand das Licht von den Mauern und ließ eine melancholische Purpurfarbe zurück, die sich immer tiefer und tiefer ausbreitete, so wie der feine Dunst den Berg hinauf schlich, während die Zinnen oben noch in Glanz getaucht standen. Auch von diesem schwanden bald die Strahlen hinweg, und das ganze Gebäude war in das feierliche Dunkel des Abends gekleidet. Stille, einsam und erhaben stand es da, der König der Gegend, und schien trotzend jedem zu drohn, der es wagen würde, sein einsames Gebiet zu betreten. Jemehr die Dunkelheit zunahm, je schauerlicher stand es da, und Emilie staunte darauf hin, bis man nur noch die emporstrebenden Thürme über die Spitzen der Wälder ragen sah, in deren dicken Schatten bald der Wagen hinfuhr.
Der Umfang und die Dunkelheit dieser hohen Wälder erweckten schreckliche Bilder in ihrer Seele, und sie erwartete beinahe Banditen hinter den Bäumen hervorbrechen zu sehn. Endlich kamen sie auf einen mit Häyde bewachsenen Berg und erreichten bald die Schloßthore, wo der tiefe Ton der Glocke, die um ihre Ankunft zu verkündigen geläutet wurde, den Eindruck von Furcht, der sich Emiliens bemächtigt hatte, erhöhte. Indeß die Bedienten herbei kamen, um ihnen die Thore zu öfnen, betrachtete sie aufmerksam das Gebäude; allein die Dunkelheit, die es überzog, ließ sie nicht vielmehr als einen Theil des Umrisses und die dicken Ringmauern sehn, welche einen großen, alten und öden Aufenthalt zu verrathen schienen, und sie einen Schluß auf die schwerfällige Stärke und den Umfang des Ganzen machen ließen. Der Thorweg vor ihr, der in die Vorhöfe führte, war von gigantischer Größe, und wurde von zwei runden Thürmen bestrichen, auf deren hervorragenden Zinnen statt der Fahnen langes Gras und wildes Gesträuch wehte, das zwischen den verfallnen Steinen Wurzel gefaßt hatte, und in den vorüberstreichenden Lüftchen über die Verheerung rings umher zu seufzen schien.
Während Emilie die Mauern betrachtete, die allenthalben von der Verwüstung des Krieges zu zeugen schienen, hörte man von innen Fußtritte herannahen und Riegel aufschieben. Bald darauf erschien ein alter Bedienter aus dem Schlosse, und zwang die alten Flügelthore zurück, um seinen Herrn einzulassen. Als die Wagenräder schwer unter dem Schutzgatter hinrollten, sank Emilien das Herz, und es däuchte sie, als ob sie in ihr Gefängniß gienge. Der finstre Hof, den sie betraten, schien diese Vorstellung zu bestärken, und ihre stets dem Eindruck der Gegenwart ofne Einbildungskraft stellte ihr mehr Schrecknisse dar, als ihre Vernunft rechtfertigen konnte.
Ein andres Thor brachte sie in den zweiten Hof, der mit Gras bewachsen und noch wilder als der erste war, — wenn sie hier durch die Dämmerung hin die öde Verheerung, die hohen, mit Wintergrün, Moos und Nachtschatten bewachsnen Mauern und die Gitterthürme über ihnen ansah, so kam banges Leiden und Mord ihr in die Gedanken. Eine von den augenblicklichen und unerklärlichen Ahndungen, die zuweilen selbst starker Seelen sich bemächtigen, erfüllte sie mit Grausen. Dieses Gefühl wurde nicht geschwächt, als sie in einen weiten, gothischen Saal trat, dessen Dunkelheit durch ein, in der Ferne zwischen einer langen Reihe von Schwibbögen durchschimmerndes, Licht nur noch auffallender gemacht wurde. Als ein Bedienter die Lampe näher brachte, fiel stellenweis ein Schimmer auf die Pfeiler und spitz zulaufenden Wölbungen, und machte einen starken Contrast mit dem Schatten, der sich längs den Wänden hinzog.
Montonis plötzliche Reise hatte seine Leute verhindert, Anstalten zu seinem Empfang zu machen, und es war daher kein Wunder, daß sie alles in so ödem, verfallnem Zustande antrafen.
Der Bediente, der herbei kam, um Montoni zu leuchten, verneigte sich stillschweigend, und die gespannten Muskeln seines Gesichts erheiterten sich zu keinem Ausdruck von Freude. Montoni erwiederte den Gruß durch eine leichte Bewegung mit der Hand, und gieng weiter, während seine Gemahlin, die ihm folgte, indem sie sich mit einem Ausdruck von Verwunderung und Misvergnügen, den sie zu verrathen fürchtete, umsah, und Emilie die den Umfang und die Größe des Saals mit furchtsamer Verwunderung betrachtete, sich einer schwarz marmornen Winkeltreppe näherten. Hier öfneten sich die Schwibbögen in ein hohes Gewölbe, in dessen Mitte ein Kronleuchter hieng, den ein Bedienter eilends anzündete. Die reiche ausgelegte Arbeit der Decke, ein Corridor, der in verschiedene obere Zimmer führte, und ein gemahltes Fenster, das beinahe von dem Fußboden bis an die Decke reichte, wurden nun nach und nach sichtbar.
Nachdem sie über den Fuß der Winkeltreppe weg durch ein Vorzimmer gekommen waren, traten sie in ein geräumiges Gemach, dessen mit schwarzem Ebenholz — dem Produckt der benachbarten Berge — getäfelte Wände von der Dunkelheit selbst kaum zu unterscheiden waren.
»Mehr Licht!« rief Montoni, indem er hereintrat. Der Bediente setzte seine Lampe nieder und wollte fortgehn, um ihm zu gehorchen, als Madame Montoni bemerkte, daß die Abendluft in dieser Berggegend kühl sey, und daß es ihr angenehm seyn würde, wenn man ein Feuer anmachte, worauf Montoni dem Bedienten Holz zu bringen befahl.
Während er in tiefen Gedanken das Zimmer auf und abgieng und Madame Montoni stillschweigend auf einem Lehnstuhl in einer Ecke saß, und auf die Zurückkunft des Bedienten wartete, betrachtete Emilie die auffallende Einsamkeit und Oede des Zimmers, von dem Schimmer der einzigen, neben einen großen venetianischen Spiegel, der das ganze Dunkel zurückwarf, gestellten, Lampe beleuchtet; und Montonis hagre Gestalt, der mit untergeschlagnen Armen, und das Gesicht von der Feder, die auf seinem Hute wehte, beschattet, langsam auf und abgieng.
Emiliens Seele gieng von der Betrachtung dieses Orts zu der Besorgnis von dem Leiden, was hier auf sie warten könnte, über, bis die Erinnerung an Valancourt, der jetzt weit, ach so weit von ihr entfernt war, an ihr Herz drang und es zur Wehmuth stimmte. Ein schwerer Seufzer entfuhr ihr, allein sie bemühte sich, ihre Thränen zu verbergen, und gieng an eines der hohen Fenster, die auf die Wälle stießen, unter welchen sich der Wald hinzog, durch den sie bei ihrer Annäherung auf das Schloß gekommen war. Allein die Nachtschatten lagen tief auf den Bergen, und nur schwach konnte man noch den Einschnitt ihres Umrisses am Horizont wahrnehmen, wo ein rother Streif noch im Westen schimmerte. Das zwischenliegende Thal war in Dunkelheit gesunken.
Die Scene innerhalb, zu welcher Emilie bei dem Aufmachen der Thüre sich wieder hinwandte, war nicht minder finster. Der alte Bediente, der sie am Thore empfangen hatte, trat jetzt unter einer Last von Fichtenzweigen gekrümmt, herein, während zwei von Montonis venetianischen Bedienten mit Licht folgten.
»Ihro Gnaden sind willkommen im Schlosse«, sagte der alte Mann, als er sich von dem Camine, wo er das Holz niedergelegt hatte, aufrichtete — »es ist lange ein einsamer Aufenthalt gewesen, und Sie werden zu gute halten, wenn Sie nicht alles so finden, wie es seyn sollte: da wir Ihre Ankunft nicht vorher wußten. Auf zukünftiges Markusfest werden es nun zwei Jahre seyn, daß Ihro Gnaden nicht hier gewesen sind.«
»Du hast ein gutes Gedächtnis, alter Carlo«, sagte Montoni; »aber wie hast du es angefangen, so lange zu leben?«
»Ach gnädiger Herr, an manchen Tagen wurde es mir auch sauer genug, die kalten Winde, die im Winter durch das Schloß streifen, sind mir fast zu viel, und ich war oft willens, Eur Gnaden zu bitten, daß Sie mich in die Niederlande zurückschicken möchten. Allein ich weiß nicht wie es kommt, es würde mir doch leid thun, diese alten Mauern zu verlassen, in welchen ich so lange gelebt habe.«
»Gut, gut, aber ist denn sonst noch alles im Schlosse in gutem Stande?«
»Es wären wohl manche Ausbesserungen nöthig, Ihro Gnaden, die Mauer um den Wall ist an drei Orten eingestürzt; und die Treppe, die nach der westlichen Gallerie führt, ist schon lange in so schlechtem Stande gewesen, daß es gefährlich ist, darauf zu gehn, auch der Gang, der nach der großen eichnen Stube über dem nördlichen Walle führt; vergangnen Winter wagte ich einmal eines Abends, selbst dahin zu gehn, und Ihro Gnaden —«
»Genug, genug davon« — fiel Montoni schnell ein; »morgen wollen wir mehr darüber sprechen.«
Das Feuer brannte nun hell: Carlo kehrte den Heerd ab, setzte Stühle, wischte den Staub von einem großen Marmortische, der neben dem Kamin stand, und verließ darauf das Zimmer.
Montoni und seine Familie setzten sich rings ums Feuer. Madame Montoni machte verschiedene Versuche, ein Gespräch anzuknüpfen, allein seine mürrischen Antworten stießen sie zurück, während Emilie Muth zu schöpfen suchte, ihn anzureden. Endlich sagte sie mit zitternder Stimme; »darf ich wohl um die Ursache dieser plötzlichen Reise fragen?« Nach einer langen Pause faßte sie Herz, die Frage zu wiederholen.
»Es geziemt mir eben so wenig, Fragen zu beantworten, als Ihnen welche zu thun«, versetzte Montoni, »die Zeit wird alles aufklären. Ich bitte sehr, daß Sie sich darüber keine weitere Sorge machen, und rathe Ihnen, sich in Ihr Zimmer zu begeben, und sich eines vernünftigern Betragens zu befleissigen, statt Grillen und einer Empfindsamkeit Raum zu geben, die aufs gelindeste nur Schwäche genannt werden kann.«
Emilie stand auf um fortzugehn — »Gute Nacht!« sagte sie zu ihrer Tante mit einer angenommenen Fassung, die aber ihre Bewegung nicht verbergen konnte.
»Gute Nacht meine Liebe«, sagte Madame Montoni mit einer Freundlichkeit, die Emilie noch nie von ihr gehört hatte, und die ihr Thränen in die Augen lockte. Sie verneigte sich gegen Montoni und wollte fortgehn. »Aber Sie wissen ja den Weg nach Ihrem Zimmer nicht?« sagte ihre Tante. Montoni rief den Bedienten, der im Vorzimmer wartete, und befahl ihm, Madame Montonis Mädchen zu schicken, mit der Emilie in wenig Minuten sich zurückzog.
»Weißt du wo mein Zimmer ist?« sagte sie zu Annetten, als sie durch den Saal giengen.
»Ich denke ja wohl, Fräulein, aber dies ist so ein seltsamer, wüster Ort! Ich habe mich schon verirrt. Sie nennen es das doppelte Zimmer über der südlichen Mauer und ich gieng durch die große Treppe hinauf. Meiner gnädigen Frau Zimmer liegt am andern Ende des Schlosses.«
Emilie stieg die marmorne Winkeltreppe hinauf und als sie durch den Corridor giengen, knüpfte Annette ihr Gespräch wieder an. »Was dies für ein wilder, einsamer Ort ist! Man sollte sich fast fürchten hier zu leben. Wie oft! o wie oft habe ich mich wieder nach Frankreich gewünscht! Ich dachte wohl nicht, als ich mit meiner Frau gieng um die Welt zu sehn, daß ich jemals an einem solchen Orte würde eingesperrt werden, sonst hätte ich mich wohl gehütet, mein Vaterland zu verlassen. Man sollte hier fast wieder an Riesen und Gespenster glauben, denn dies sieht ganz aus wie eins von ihren Schlössern, und ich denke immer, ich werde noch Gespenster in dem großen alten Saale herum hüpfen sehn, der mit seinen dicken Pfeilern mehr einer Kirche als sonst etwas gleich sieht.«
»Setze dir doch nicht so lächerliche Grillen in den Kopf«, sagte Emilie.
»O Fräulein, es sind wohl mehr als Grillen. Benedetto sagt, daß diese traurigen Gänge und Hallen zu nichts anderm gut sind, als zu einem Aufenthalt für Geister; und wahrhaftig, wenn ich noch lange darin lebe, werde ich endlich selbst zum Geiste werden.«
»Ich hoffe nicht, daß du dem Signor Montoni etwas von dieser thörigten Furcht wirst zu Ohren kommen lassen; es würde ihm sehr misfällig seyn.«
»Wie? Sie haben also auch alles gehört«, versetzte Annette. »Nein nein, ich bin wohl nicht so dumm, mir etwas merken zu lassen, denn ich weiß wohl, daß wenn der Signor ruhig schlafen kann, niemand anders im Schlosse das Recht hat zu wachen.«
Emilie that nicht, als wenn sie auf diese Bemerkung achtete.
»Diesen Gang hinab Fräulein — er führt zu einer schwarzen Winkeltreppe. O wenn ich hier etwas erblicke, so werde ich vor Schrecken den Verstand verlieren.«
»Das wird kaum möglich seyn«, sagte Emilie lächelnd, indem sie ihr durch den winklichten Gang folgte, der in eine andre Gallerie führte. Hier sah Annette, daß sie über ihr beredtes Gespräch von Geistern und Zauberern den rechten Weg verfehlt hatte, und lief lange durch andre Gänge und Vorsäle herum, bis sie endlich verzweifelte, sich wieder zurechte zu finden und laut um Hülfe rief: allein die Bedienten, die sich an der andern Seite des Schlosses befanden, waren nicht im Stande sie zu hören und Emilie öfnete jetzt die Thüre eines Zimmers zur Linken.
»O gehn Sie da nicht herein, Fräulein«, sagte Annette, »Sie dürften sich sonst noch weiter verirren.«
»Bring nur das Licht her, wir werden uns doch vielleicht durch diese Zimmer hindurch finden.«
Annette blieb unschlüssig an der Thüre stehn, und hielt das Licht in die Höhe um das Zimmer zu zeigen, allein der schwache Schimmer verbreitete sich kaum halb dadurch hin.
»Warum bedenkest du dich denn?« fragte Emilie. »Laß doch sehn, wohin dies Zimmer führt.«
Annette gieng widerstrebend weiter. Es sties in eine Reihe geräumiger alter Zimmer, wovon einige mit Tapeten behangen, und andre mit Ceder und schwarzem Ebenholz getäfelt waren. Die wenigen Möbeln schienen beinahe eben so alt als die Zimmer, und hatten ein gewisses Ansehen von Größe behalten, ohngeachtet sie mit Staub bedeckt, und von Feuchtigkeit und Alter beinahe in Stücken zerfallen waren.
»Wie kalt sind doch diese Zimmer, Fräulein«, sagte Annette, »wie es heißt, hat seit vielen, vielen Jahren niemand darin gewohnt. Lassen Sie uns gehen.«
»Vielleicht führen sie auf die große Winkeltreppe«, sagte Emilie und gieng weiter bis sie an ein mit Gemählden behangnes Zimmer kam. Sie nahm das Licht, um eines zu betrachten, das einen Soldaten zu Pferde auf dem Schlachtfelde vorstellte. Er zielte mit seinem Speer nach einem Manne, der unter den Füßen des Pferdes lag, und in flehender Stellung eine Hand in die Höhe reichte. Der Soldat, dessen Visier aufgeschlagen war, warf einen Blick der Rache auf ihn, und Emilie glaubte in seinem Gesichte eine Aehnlichkeit mit Montoni wahrzunehmen. Sie wandte sich mit einem Schauder ab, und nachdem sie noch einige andre Gemählde beleuchtet hatte, kam sie an eines, das mit einem Vorhang von schwarzer Seide bedeckt war. Das Sonderbare dieses Umstandes fiel ihr auf, sie stand still, wünschte den Schleier aufzuheben, um zu sehn, was so sorgfältig verborgen seyn könnte, und wurde doch durch eine gewisse Besorgnis zurückgehalten.
»Heilige Jungfrau, was kann dies bedeuten«, rief Annette! »Das ist gewiß das Gemählde, von dem ich zu Venedig gehört habe.«
»Was für ein Gemählde« sagte Emilie. —
»Je nun, ein Gemählde, ein Gemählde!« erwiederte Annette zögernd — »ich habe nie recht eigentlich erfahren können, was es für eine Bewandniß damit hatte.«
»Zieh den Vorhang weg, Annette.«
»Wie, ich Fräulein? nicht um die Welt«, Emilie drehte sich um und sah Annetten erblassen.
»Nun so sag mir doch, was du denn so schreckhaftes von diesem Gemählde gehört hast, mein gutes Mädchen.«
»Nichts Fräulein, wahrhaftig ich habe nichts gehört. Lassen Sie uns nur machen, daß wir fortkommen.«
»Das wollen wir auch, aber zuvor möchte ich das Gemählde besehn. Leuchte mir Annette, indeß ich den Vorhang aufhebe.«
Annette nahm das Licht und gieng sogleich damit fort, ohne auf Emiliens Rufen, daß sie da bleiben möchte, zu warten, und diese, die im dunkeln Zimmer nicht allein zurückbleiben mochte, folgte ihr endlich.
»Was bedeutet das Annette«, sagte Emilie, als sie sie einholte, »was hast du von diesem Gemählde gehört, weswegen du durchaus nicht bleiben wolltest.«
»Ich weiß warlich nichts davon zu sagen, Fräulein. Alles was ich gehört habe, ist, daß etwas fürchterliches damit geschehn seyn soll, und daß es seitdem immer bedeckt gewesen ist — und daß seit vielen Jahren niemand es angesehn hat — es ist etwas von der Person dabei, die dies Schloß besessen hat, ehe es dem Signor Montoni gehörte — und —«
»Schon gut Annette«, sagte Emilie lächelnd — »ich sehe wohl, du sagst wirklich die Wahrheit, daß du nichts von dem Gemählde weißt.«
»Nein wahrhaftig, Fräulein, ich weiß nichts, denn ich habe versprechen müssen, nie etwas zu sagen — aber —«
»Gut, so will ich auch nicht weiter fragen«, versetzte Emilie, die wohl bemerkte, daß sie zwischen ihrer Neigung, ein Geheimniß zu offenbaren, und ihrer Furcht vor den Folgen kämpfte —
»Nein Fräulein thun Sie das auch ja nicht —«
»Damit du mir ja nicht alles erzählst«, unterbrach Emilie —
Annette wurde roth und Emilie lächelte; sie giengen bis ans äusserste Ende dieser Reihe von Zimmern, und fanden sich endlich nach einigen Verirrungen wieder an der Spitze der Marmortreppe, wo Annette Emilien verließ, um einen Bedienten aus dem Schlosse zu rufen der sie nach dem Zimmer, welches sie suchten, führen könnte.
Während sie fort war, dachte Emilie wieder an das Gemählde; um nicht die Redlichkeit eines Dienstboten in Versuchung zu führen, hatte sie ihre Fragen sowohl hierüber, als wegen einiger bedeutenden Winke, die Annette über Montoni fallen ließ, zurückgehalten, so sehr auch ihre Neugier rege gemacht war, und so gut sie auch wahrgenommen hatte, daß sie leicht eine Antwort auf ihre Fragen erhalten würde. Sie fühlte jetzt einen großen Trieb, in das Zimmer zurückzugehn, und das Gemählde zu untersuchen, allein das Einsame der Stunde und des Orts, mit dem melancholischen Schweigen das rings um sie herrschte, zusammengenommen, flößten ihr einen gewissen Schauer ein, das Geheimnis, das mit diesem Gemählde verbunden zu seyn schien, zu durchdringen. Doch nahm sie sich vor, wenn das Tageslicht ihre Lebensgeister neu gestärkt haben würde, wieder in das Zimmer zu gehn, und den Vorhang wegzunehmen. Als sie sich von dem Corridor über die Treppe lehnte, und ihre Augen rings umher wandern ließ, bemerkte sie aufs neue mit Verwunderung die ungeheure Stärke der jetzt etwas verfallnen Mauern, und die Pfeiler von dichtem Marmor, die von der Halle empor stiegen und die Decke unterstützten.
Ein Bedienter kam jetzt mit Annetten zum Vorschein und führte Emilien in ihr Zimmer, das in einem fernen Theile des Schlosses und am Ende desselben Corridors lag, von welchem die Reihe von Zimmern ausgieng, durch die sie gekommen waren. Das einsame Ansehn desselben machte Emilien abgeneigt, Annetten gleich fortzuschicken, und die feuchte Kälte machte sie von mehr als Furcht beben. Sie bat Katherinen, das Mädchen im Schlosse, etwas Holz herbei zu bringen und ein Feuer anzumachen.
»Ach Fräulein, es sind viele Jahre, seit kein Feuer hier angemacht ist!«
»Das brauchst du uns nicht zu sagen, gutes Mädchen« sagte Annette, »jedes Zimmer im Schlosse ist wie ein Eiskeller; ich wundre mich nur, wie ihr es aushalten könnt, hier zu leben; ich für mein Theil wünsche mich wieder nach Venedig.«
Emilie winkte Katherinen mit der Hand, nach Holz zu gehn.
»Ich möchte wissen, Fräulein, warum sie dies das doppelte Zimmer nennen?« sagte Annette, während Emilie es stillschweigend betrachtete, und sah, daß es hoch und geräumig wie die andern war, die sie gesehn hatte, und daß die Wände ebenfalls mit schwarzem Ebenholz getäfelt waren. Das Bette und das andre Amöblement war sehr antik und hatte, wie alles im Schlosse, ein Ansehn von dunkler Größe. Eines von den hohen Fenstern, die sie öfnete, stieß auf einen Wall, allein jenseits demselben verlor sich die Aussicht in Dunkelheit.
Emilie bemühte sich, in Annettens Gegenwart ihren Muth aufrecht zu halten, und die Thränen zu unterdrücken, die ihr von Zeit zu Zeit in die Augen traten. Sie hätte gerne gefragt, wann der Graf Morano im Schlosse erwartet würde, aber eine gewisse Delikatesse hielt sie zurück. Annettens Gedanken waren indeß mit einem andern Gegenstande beschäftigt; sie liebte das Wunderbare zum Sterben, und hatte von einem Umstande gehört, der zur Geschichte des Schlosses gehörte, und diesen Geschmack im höchsten Grade befriedigte. Da man ihr eingeschärft hatte, nichts davon zu erwähnen, so war ihre Begierde, davon zu sprechen, so groß, daß sie alle Augenblick auf dem Punkt stand, zu sagen, was sie gehört hätte. Es war in der That eine harte Strafe, einen so wunderbaren Umstand zu wissen, und ihn verheelen zu müssen! allein sie wußte, daß Montoni eine noch härtere auflegen konnte, und fürchtete, sie sich zuzuziehn.
Katherine brachte nun Holz, und die helle Flamme vertrieb auf eine Weile die Dunkelheit des Zimmers. Sie sagte Annetten, daß ihre Herrschaft nach ihr gefragt hätte, und Emilie blieb aufs neue ihren eignen traurigen Betrachtungen überlassen. Ihr Herz war gegen Montonis finstre Blicke noch nicht abgehärtet, und seine Behandlung machte noch jetzt einen fast eben so abschreckenden Eindruck auf sie, als vormals. Die Zärtlichkeit und Liebe, woran sie, so lange ihre Eltern lebten, immer gewöhnt gewesen war, machte sie doppelt empfindlich gegen jede unfreundliche Behandlung, und es hatte ihr nie geahndet, daß sie je eine so ganz entgegengesetzte erfahren würde.
Um ihre Aufmerksamkeit von Gegenständen, die sie schwer niederdrückten, abzuziehn, stand sie auf und untersuchte aufs neue ihr Zimmer. Sie sah eine Thüre, die nicht ganz zugemacht war, und da sie fand, daß es nicht dieselbe war, durch die sie herein gekommen war, nahm sie das Licht um zu sehn, wohin sie führte. Sie machte sie auf, hatte aber kaum einen Schritt gethan, als sie beinahe eine steile, schmale Winkeltreppe herunter gefallen wäre, die gleich von der Thüre an zwischen zwei steinernen Mauern herunter führte. Sie wünschte zu wissen, wohin sie gienge, und zwar um so mehr, da sie so unmittelbar auf ihr Zimmer stieß; doch gebrach es ihr bei der jetzigen Stimmung ihrer Lebensgeister an Muth, sich so allein in die Dunkelheit herunter zu wagen. Sie machte also die Thüre zu und bemühte sich, sie zu befestigen, fand aber bei näherer Untersuchung, daß sie von innen keine Riegel hatte, wiewohl sie von aussen doppelt damit versehn war. Sie half dem Uebel einigermaßen dadurch ab, daß sie einen schweren Stuhl dagegen stellte, doch beunruhigte der Gedanke sie noch immer, in diesem entlegnen Zimmer, mit einer Thüre, von der sie nicht wußte wohin sie führte, und die von inwendig nicht ganz zugemacht werden konnte, zu schlafen. Einmal fiel es ihr ein, Madame Montoni zu bitten, daß sie Annetten die ganze Nacht bei ihr lassen möchte, allein die Besorgniß, in Verdacht einer kindischen Furcht gezogen zu werden, und Annettens stets fertige Ängstlichkeit noch zu vermehren, hielt sie zurück.
Ihre trüben Betrachtungen wurden bald darauf durch den Schall von Fußtritten im Corridor unterbrochen, und es war ihr sehr erfreulich, Annetten mit einem Abendessen, das Madame Montoni ihr schickte, hereinkommen zu sehn. Sie stellte einen Tisch zum Feuer und ließ das gute Mädchen nieder setzen und mit ihr essen. Als ihre kleine Mahlzeit verzehrt war, schürte Annette, durch ihre Güte aufgemuntert, das Holz in eine Flamme, zog ihren Stuhl näher zum Kamin und sagte: »Haben Sie wohl je von dem seltsamen Umstande gehört, gnädiges Fräulein, wodurch der Signor zum Besitz dieses Schlosses gekommen ist?«
»Was hast du doch nun wieder für ein Mährchen zu erzählen«, sagte Emilie, indem sie die Neugier verbarg, die durch die geheimnisvollen Winke, welche sie schon früher hievon gehört hatte, erregt worden war.
»Ich habe alles gehört, Fräulein«, sagte Annette, indem sie sich rund im Zimmer umsah, und sich näher zu Emilien setzte. »Bennedetto erzählte es mir, als wir zusammen hieher reisten, aber unter der ausdrücklichen Bedingung, es als ein Geheimnis bei mir zu behalten.«
»Wenn du das versprochen hast, Annette, so thust du nicht recht, es mir anzuvertrauen.«
Annette schwieg einen Augenblick — »o ich weiß, gnädiges Fräulein, daß ich es Ihnen sicher anvertrauen kann —«
»Wenigstens werde ich es eben so treulich verwahren, als du Annette«, sagte Emilie lächelnd.
Annette erwiederte sehr ernsthaft, das wäre hinreichend, und fuhr fort: »Sie müssen wissen, gnädiges Fräulein, daß dies Schloß sehr alt, und sehr stark ist, und schon manche Belagerungen ausgehalten hat; allein es hat nicht immer dem Signor Montoni oder seinem Vater gehört, sondern sollte nur nach einem gewissen Gesetze dem Signor zufallen, wenn die Dame unverheirathet stürbe.«
»Welche Dame?« sagte Emilie.
»Ich bin ja noch nicht so weit gekommen«, erwiederte Annette; »eben von dieser Dame wollte ich Ihnen erzählen; aber wie ich sage, sie lebte im Schlosse, und hatte alles auf sehr großen Fuß, wie Sie leicht denken können, gnädiges Fräulein; der Signor kam oft sie zu besuchen, und war verliebt in sie, und wollte sie heirathen; denn daß sie etwas verwandt waren, hatte nichts zu bedeuten; allein sie liebte einen andern, und wollte ihn nicht haben, und er soll sehr aufgebracht darüber gewesen seyn, denn Sie wissen ja, Fräulein, was für ein schlimmer Herr er ist, wenn er in Zorn geräth. Vielleicht hat sie ihn einmal in Zorn gesehn, und ihn deswegen nicht haben wollen. Allein wie ich sage, sie war sehr traurig und niedergeschlagen, und das lange Zeit — Heilige Jungfrau, was ist das für ein Geräusch, haben Sie nichts gehört, Fräulein?«
»Es war nur der Wind«, sagte Emilie, »aber wirst du denn mit deiner Geschichte gar nicht zu Ende kommen?«
»Wie ich gesagt habe, — aber wo war ich denn? Ja, wie ich sage, sie war lange Zeit sehr niedergeschlagen und sehr unglücklich, und pflegte immer auf der Terrasse, dort unter den Fenstern herum zu gehn, und so erbärmlich zu weinen — es würde Ihnen das Herz zerrissen haben, es anzusehn — ich meine nur —«
»Gut gut Annette, sag mir doch nur endlich den Hauptumstand deiner Erzählung.«
»Alles zu seiner Zeit, Fräulein — alles was ich jetzt gesagt habe, hörte ich schon zu Venedig, aber was jetzt kommt, habe ich erst heute erfahren. Dies geschah nämlich vor vielen langen Jahren, als der Signor Montoni noch ein ganz junger Mann war. Die Dame — sie hieß Signora Laurentini, war sehr schön, allein sie pflegte oft, eben so wie der Signor, in sehr heftigen Zorn zu gerathen. Da er endlich sieht, daß er sich kein Gehör bei ihr verschaffen kann, was thut er — er verläßt das Schloß, und ist seit langer langer Zeit nicht wieder in diese Gegend gekommen; aber das war für sie alles einerlei; sie war eben so unglücklich, er mochte hier seyn oder nicht, bis eines Abends — Heiliger St Peter«, rief Annette plötzlich — »sehn Sie doch einmal die Lampe an, Fräulein, wie blau sie brennt!« — sie sah sich furchtsam im Zimmer um —
»Närrisches Mädchen!« sagte Emilie, »warum hängst du doch solchen Thorheiten nach — komm endlich einmal mit deiner Geschichte zum Schlusse, ich bin es müde.«
Annette sah unverwandt die Lampe an, und fuhr mit leiser Stimme fort — »eines Abends, sagt man — gegen Ende des Jahrs — ich denke, es mag in der Mitte des Septembers, oder vielleicht zu Anfang des Octobers gewesen seyn — nein es war doch wohl im November, denn das ist ja zu Ende des Jahrs — aber wie gesagt, das weiß ich selbst nicht genau, weil man es mir nicht für gewiß erzählt hat. Genug also, gegen das Ende des Jahrs gieng diese große Dame aus dem Schlosse unten in den Wald, wie sie schon oft gethan hatte, und zwar ganz allein, blos mit ihrem Mädchen. Der Wind bließ kalt, und streute die Blätter umher, und pfiff abscheulich zwischen den großen, alten Wallnusbäumen, die wir vorbei gekommen sind — denn Benedetto zeigte mir die Bäume, als er mir die Geschichte erzählte — der Wind bließ kalt, und ihr Mädchen wollte sie bereden, umzukehren, allein das war umsonst, denn sie mochte gar zu gerne des Abends im Walde gehn, und wenn das Laub um sie her abfiel, so war es ihr desto lieber. Man sah sie die Wälder hinab gehn; allein die Nacht brach an, und sie kam nicht wieder; es schlug Zehne, es schlug eilf, es schlug zwölf, und keine Dame ließ sich sehn; die Leute im Schlosse glaubten, es hätte sie ein Unglück betroffen und giengen aus um sie zu suchen. Sie suchten die ganze Nacht, konnten aber weder sie, noch eine Spur von ihr finden, und von der Zeit an bis auf den heutigen Tag Fräulein, hat man nie wieder etwas von ihr gehört.«
»Ist das wirklich wahr, Annette?« sagte Emilie mit grosser Verwunderung.
»Ganz gewiß, Fräulein«, sagte Annette mit einem Blick des Entsetzens, »es ist wahrhaftig wahr — allein man sagt« — setzte sie ganz leise hinzu, »daß die Signora sich seitdem oft zur Nachtzeit im Walde und um das Schloß hat sehn lassen, verschiedne von den alten Bedienten, die noch einige Zeit nachher hier geblieben sind, haben versichert, daß sie sie gesehn hätten, und seitdem haben auch andre Leute, die im Schlosse gewesen sind, sie oft des Nachts gesehn. Carlo, der alte Verwalter, sagen sie, könnte, wenn er wollte, manche Dinge erzählen.«
»Das widerspricht sich ja ganz und gar Annette; du sagst, man hätte seitdem nichts von ihr gehört, und doch ist sie gesehn worden?«
»Aber alles dies hat man mir als ein großes Geheimnis erzählt«, fuhr Annette fort, ohne daß sie auf die Bemerkung zu achten schien, »und gewiß werden Sie es weder mir noch Benedetto zu Leide thun, weiter davon zu sprechen.« Emilie schwieg, und Annette wiederholte ihre letzten Worte.
»Davor kannst du ganz ruhig seyn«, erwiederte Emilie; »aber laß dir selbst den guten Rath geben, meine liebe Annette, vorsichtig zu seyn, und von dem was du mir da gesagt hast, gegen niemand anders etwas zu erwähnen. Der Signor Montoni, wie du ganz richtig sagst, könnte böse werden, wenn er es erführe — Aber zog man denn keine Erkundigungen wegen der Dame ein?«
»O genug! denn der Signor, als der nächste Erbe, nahm das Schloß sogleich in Anspruch, und da hieß es, er könne es nicht bekommen, bis so und so viele Jahre verflossen wären, oder man wirklich den Tod der Dame bewiesen hätte. Da man nun seit vielen Jahren nichts wieder von ihr gehört hat, so ist sie so gut als tod anzusehn, und das Schloß ist ihm zugefallen. Allein die Geschichte wurde ruchbar und da sollen sich viele seltsame Gespräche verbreitet haben, so seltsam in der That, daß ich es nicht nachsagen mag.«
»Das ist noch seltsamer, Annette«, sagte Emilie lächelnd, und riß sich aus ihrem Nachdenken — »Aber wenn die Signora Laurentini sich nachher wirklich im Schlosse hat sehn lassen, hat denn niemand sie angeredet?«
»Angeredet! — sie angeredet —« rief Annette mit einem Blick des Entsetzens; »nein, warlich nicht.«
»Und warum nicht?« erwiederte Emilie, die gerne mehr hören wollte.
»Heilige Mutter Christi! man sollte einen Geist anreden!«
»Aber was für Ursachen hatte man denn, zu glauben, daß es ein Geist wäre, wenn sich niemand ihm genähert, oder mit ihm gesprochen hatte?«
»O Fräulein, das kann ich nicht sagen. Wie mögen Sie doch nur solche anstößige Fragen thun? Allein niemand sah sie weder ins Schloß gehen, noch herauskommen; und bald war es an einem, bald wieder an einem ganz andern Orte im Schloß; es sprach auch niemals, und was sollte es wohl im Schlosse thun, wenn es nicht sprach. Man sagt, daß seit dieser Zeit niemand wieder in gewisse Gegenden des Schlosses hat gehen mögen.«
»Wie, weil es nicht sprach hat man nicht wieder hingehn mögen?« sagte Emilie, indem sie sich die Furcht, die sich ihrer bemächtigte, wegzulachen bemühte. —
»Nein, Fräulein, nein, nicht deswegen«, versetzte Annette etwas aufgebracht, »sondern weil man etwas da gesehn hat. Man sagt auch, daß an der westlichen Seite des Schlosses eine alte Kapelle steht, wo man des Mitternachts solches Aechzen hört, daß einen schaudert, daran zu denken; — auch soll man seltsame Dinge da gesehn haben.«
»Ich bitte dich Annette, schweig mir von diesen einfältigen Mährchen.«
»Einfältige Mährchen, Fräulein! o ich will Ihnen nur noch eine Geschichte erzählen, die Katherine mir gesagt hat. Es war an einem kalten Winterabend, als Katherine mit dem alten Carlo und seiner Frau in dem kleinen Saal saß. ›Ich wollte, daß ich ein paar Aepfel aus der Speisekammer zu braten hätte‹, sagte Carlo — ›allein es ist ein gar zu weiter Weg, und es verdrießt mich, sie zu holen. Geh du Katherine und hole uns eine Schürze voll, wir können sie bei dem Feuer hier recht schöne braten; nimm dich nur in Acht, daß dir der Wind die Lampe nicht ausbläst, wenn du die große Treppe herauf gehst.‹ Katherine nahm die Lampe — aber still Fräulein, ich hörte gewiß ein Geräusch.«
Emilie, die von Annettens Furcht mit angesteckt war, horchte aufmerksam, allein alles war still und Annette fuhr fort. »Katherine gieng die Treppe herauf in den breiten Gang, durch den wir auch gekommen sind, als wir uns verirrten, aber plötzlich — Schon wieder«, rief Annette, »ich hörte es schon wieder — gewiß es war keine Einbildung.«
»Still!« sagte Emilie zitternd. Sie horchten und saßen still, bis Emilie ein leises Klopfen an der Wand hörte. Es kam wieder — Annette schrie laut und die Kammerthüre gieng langsam auf. Es war Katherine, die herein kam, um Annetten zu sagen, daß ihre Frau auf sie wartete. Emilie konnte sich nicht sogleich von ihrem Schrecken erholen, indeß Annette, halb lachend, halb weinend, Katherinen tapfer ausschalt, sie so erschreckt zu haben, auch war ihr bange, daß man sie vielleicht behorcht haben könnte. Emilie, auf deren Seele der Hauptumstand in Annettens Erzählung einen tiefen Eindruck gemacht hatte, blieb in ihrer jetzigen Stimmung ungern allein, um aber Madame Montoni nicht zu beleidigen und nicht ihre eigene Schwachheit zu verrathen, suchte sie die Einbildungen ihrer Furcht zu überwinden, und schickte selbst Annetten fort.
Sobald sie sich allein sah, dachte sie nach, über die seltsame Geschichte der Signora Laurentini und über ihre eigne sonderbare Lage in den wilden und einsamen Gebürgen eines fremden Landes, in der Macht eines Mannes, den sie noch vor wenig Monathen nicht kannte, der bereits eine angemaßte Gewalt über sie ausgeübt hatte, und dessen Character ihr eine gewisse Furcht einflößte. Sie wußte, daß er eben so viel Erfindung, ein Projekt zu entwerfen, als Talente es auszuführen besaß, und fürchtete sehr, daß er zu wenig Gefühl hätte, um irgend ein Mittel zur Erreichung seines Vortheils zu scheuen. Sie hatte längst bemerkt, wie unglücklich Madame Montoni war, und oft die mürrische, verächtliche Begegnung, die sie von ihrem Manne erlitt, mit angesehn. Zu diesen gegründeten Ursachen kamen noch tausend namenlose Schrecken, die nur in einer lebhaften Einbildungskraft statt finden, und die Untersuchung der Vernunft nicht aushalten.
Emilie erinnerte sich an alles, was Valancourt ihr am Abend ihrer Abreise von Languedoc über Montoni gesagt, und wie viel Mühe er sich gegeben hatte, sie von der Reise abzuhalten. Sie hatte oft nachher seine Besorgnisse für prophetisch gehalten, jetzt schienen sie bestätigt. Ihr Herz seufzte, als es ihr Valancourts Bild darstellte, die Vernunft aber führte bald einen Trost herbei, der so schwach er auch anfangs schien, durch wiederholtes Nachdenken Stärke gewann. Sie bedachte, daß sie, was auch sie selbst leiden möchte, sich wenigstens enthalten hatte, ihn ins Unglück zu bringen, und daß sie, welches Leiden auch in Zukunft auf sie warten könnte, wenigstens sich selbst keinen Vorwurf zu machen hätte.
Ihre Melancholie wurde durch das hohle Pfeifen des Windes auf dem Gange und rings um das Schloß erhöht. Das erfreuliche Feuer im Kamin war schon lange erloschen, und sie saß, die Augen auf die noch schwach glimmenden Kohlen gerichtet, da, bis ein lauter Windstoß, der durch den Gang strich, und die Thüren und Fenster erschütterte, sie erschreckte: der Stuhl, den sie zur Befestigung vor die Thüre gestellt hatte, wurde dadurch fortgetrieben und die Thüre, die zu der geheimen Winkeltreppe führte, stand halb offen. Ihre Neugier und Furcht wurde aufs neue rege gemacht. Sie gieng mit der Lampe an die Treppe und blieb unschlüssig, ob sie herunter gehn sollte, stehn; allein die tiefe Stille und Dunkelheit des Orts schreckten sie aufs neue, und mit dem Vorsatze, morgen, wenn das Tageslicht ihr zu Hülfe kommen würde, weiter nachzusuchen, machte sie die Thüre zu und verrammelte sie stärker.
Sie legte sich nun zu Bette und ließ die brennende Lampe auf dem Tische stehn; allein der düstre Schimmer erhöhte nur ihre Furcht statt sie zu vertreiben; sie glaubte bei den unstäten Stralen Gestalten vor ihren Vorhängen vorbei in die dunklern Winkel des Zimmers gleiten zu sehn. — Die Schloßuhr schlug zwölfe, ehe sie ihre Augen zum Schlummer schloß.
Das Tageslicht vertrieb zwar die dunkeln Schatten, aber nicht die ängstlichen Besorgnisse aus Emiliens Seele. Der Graf Morano war das erste Bild, das sich ihr wachend darstellte, und mit ihm ein Gefolge vorausgeahndeter Uebel, die sie weder besiegen noch vermeiden konnte. Sie stand auf, und um ihre Seele von den geschäftigen Vorstellungen, die sie quälten zu befreien, zwang sie sich, die äussern Gegenstände um sich her zu betrachten. Sie sah aus ihrem Fenster auf die wilde Größe der Gegend hin, die fast von allen Seiten durch Alpengebürge geschlossen wurde, deren über einander ragende Spitzen in feuchten Nebeln vor dem Auge verschwanden, während die Vorgebürge unten von Wäldern verdunkelt waren, die sich bis zu ihrem Fuße hinabsenkten und längs den engen Thälern hinstreckten. Die reiche Pracht dieser Thäler hatte für Emilien einen besondern Reitz, und sie betrachtete mit Erstaunen die Befestigungen des Schlosses, die sich weit auf den Felsen hinzogen, die großen Wälle unten, und die Thürme und Zinnen und mannichfaltigen Umrisse des Gebäudes oben. Von diesen Gegenständen wanderte ihr Blick über die Klippen und Wälder im Thale, durch welches ein breiter und schneller Strom hinschäumte, den man zwischen den Spalten eines gegen über liegenden Berges herabfallen, jetzt in den Sonnenstralen glänzen, und jetzt wieder von überhängenden Fichten beschattet sah, bis ihre dichten Zweige ihn ganz verheelten. Bald aber brach er aus dieser Dunkelheit wieder in einen breiten Guß von Schaum aus und stürzte donnernd ins Thal herab. Näher gegen Westen öfnete sich die Perspektive zwischen den Bergen, die Emilie bei ihrer Annäherung nach dem Schlosse mit so erhabner Bewegung betrachtet hatte: ein dünner Nebel, der aus dem Walde empor stieg, hüllte alle Gegenstände in süße Dämmerung ein. So wie er aufstieg und die Sonnenstralen auffieng, entzündete er sich in ein schönes Roth, und färbte die Wälder und Klippen mit prangender Schönheit; als aber endlich der Schleier ganz aufgezogen wurde, war es ein entzückender Anblick, die glänzenden Gegenstände zu betrachten, die sich nach und nach im Thale aufthaten — der grüne Rasen — die dunkeln Wälder — die kleinen Felsenhölen — einige wenige Bauernhütten — der schäumende Strom — eine weidende Heerde und mehrere Gemählde ländlicher Schönheit. Dann glänzten die Fichtenwälder und dann der breite Rücken der Berge, bis endlich der Nebel sich rund um ihren Gipfel festsetzte, und sie in einen röthlichen Glanz tauchte. Die Berge traten nun deutlicher hervor, und die tiefen Schatten, die von den untern Klippen fielen, erhöhten die Wirkung des oben strömenden Glanzes; während die allmählig herabsinkenden Berge sich in das Adriatische Meer zu neigen schienen: denn dafür hielt Emilie den bläulichten Schimmer, der die Aussicht begränzte.
Auf solche Art beschäftigte sie ihre Phantasie und es mislang ihr nicht. Die luftige Kühle des Morgens erfrischte sie; sie erhub ihre Gedanken in Gebeth, wozu sie sich bei Betrachtung der Erhabenheit der Natur immer am meisten geneigt fühlte, und ihre Seele erlangte ihre Stärke wieder.
Als sie sich vom Fenster abwandte, fielen ihre Augen auf die Thüre, die sie den Abend zuvor so sorgfältig verwahrt hatte, und sie beschloß jetzt zu untersuchen, wohin sie führte; als sie aber hinzu gieng, um die Stühle aus dem Wege zu räumen, sah sie zu ihrem größten Erstaunen, daß sie schon ein wenig fortgeschoben waren. Man kann sich nicht leicht ihr Erstaunen denken, als sie den Augenblick darauf merkte, daß die Thüre befestigt war. Es war ihr als hätte sie einen Geist gesehn. Die Thüre auf den Gang war verschlossen, wie sie sie gelassen hatte, diese Thüre aber, die man nur von aussen befestigen konnte, mußte in der Nacht verriegelt worden seyn. Der Gedanke beunruhigte sie ernstlich, wieder in einem Zimmer zu schlafen, das so entlegen und einem Ueberfall so ausgesetzt war, und sie nahm sich vor, ihrer Tante den Umstand zu sagen, und sie um eine Veränderung zu bitten.
Nach einigem Umherirren fand sie ihren Weg in den großen Saal und in das Zimmer, das sie den Abend zuvor verlassen hatte. Sie fand ihre Tante ganz allein beim Frühstück: denn Montoni war ausgegangen, um die Gegend ums Schloß und den Zustand der Befestigungen zu besehn, und sich mit Carlo zu besprechen. Emilie bemerkte, daß ihre Tante geweint hatte, und ihr Herz neigte sich mit einer Zärtlichkeit zu ihr hin, die sich mehr in ihrem Betragen, als durch Worte zeigte: denn sie vermied sorgfältig, sich merken zu lassen, daß sie ihre unglückliche Lage fühlte. Sie benutzte Montonis Abwesenheit, um des Umstandes mit der Thüre zu erwähnen, zu bitten, daß man ihr ein anderes Zimmer einräumen möchte, und wieder nach der Ursache ihrer plötzlichen Reise zu fragen. Wegen des ersten Punkts verwies ihre Tante sie an Montoni, indem sie durchaus verweigerte, sich in die Sache zu mischen, wegen des letztern gab sie völlige Unwissenheit vor.
In der Absicht, ihre Tante mehr mit ihrer Lage auszusöhnen, lobte Emilie die Grösse und schöne Gegend des Schlosses, und gab sich Mühe, alles unangenehme in ein besseres Licht zu setzen. Allein obgleich das Unglück die rauhen Seiten in Madame Montonis Character einigermaßen gemildert, und indem es sie mit eignen Sorgen bekannt machte, ihr auch für andre einiges Gefühl eingeflößt hatte, war doch die eigensinnige Liebe zum Herrschen, welche die Natur in ihr Herz gepflanzt, und die Gewohnheit darinn befestigt hatte, noch nicht ausgerottet. Sie konnte sich die Befriedigung nicht versagen, die unschuldige, hülflose Emilie zu tyrannisiren, und über den Geschmack zu spotten, den sie nicht fühlen konnte.
Ihre Spötterei wurde bald durch Montonis Eintritt unterbrochen, und ihr Gesicht nahm, so wie er sich ohne zu thun, als ob ausser ihm noch jemand im Zimmer wäre an den Tisch niedersetzte, einen gemischten Ausdruck von Furcht und Erbitterung an.
Emilie, die ihn stillschweigend beobachtete, sah, daß seine Miene noch finstrer und mürrischer war, als gewöhnlich. O könnte ich wissen, sagte sie zu sich selbst, was in dieser Seele vorgeht, könnte ich die Gedanken errathen, die da ausgebrütet werden, so würde ich nicht länger in dieser quälenden Ungewißheit seyn. Das Frühstück wurde stillschweigends verzehrt, bis Emilie darauf anzutragen wagte, daß man ihr ein anderes Zimmer einräumen möchte, und den Umstand, der sie dies wünschen machte, erzählte.
»Ich habe keine Zeit, mich mit diesen kindischen Einfällen abzugeben«, sagte Montoni, »das Zimmer ist einmal für Sie eingerichtet, und Sie müssen darinn bleiben. Es ist nicht wahrscheinlich, daß jemand sich die Mühe geben sollte, die abgelegene Winkeltreppe hinauf zu klettern, um eine Thüre zu verriegeln. Wenn sie nicht fest gewesen ist, als Sie ins Zimmer kamen, so hat vielleicht der Wind die Thüre erschüttert und die Riegel vorgetrieben: aber ich weiß wahrhaftig nicht, warum ich mir die Mühe gebe, über ein so unbedeutendes Nichts Worte zu verlieren.«
Diese Erklärung war auf keine Weise befriedigend für Emilien, da sie bemerkt hatte, daß die Riegel verrostet waren, und folglich nicht so leicht aus der Stelle geschoben werden konnten; allein sie enthielt sich, diese Einwendung zu sagen, und wiederholte blos ihre Bitte.
»Wenn Sie sich nicht von dieser elenden Furcht losreissen wollen«, sagte Montoni, »so quälen Sie wenigstens andere nicht damit. Ueberwinden Sie solche Grillen und suchen Sie Ihre Seele zu stärken. Keine Existenz ist verächtlicher, als die durch Furcht verbittert wird.« Bei diesen Worten warf er einen Blick auf Madame Montoni, die hochroth wurde, aber still schwieg. Emilie, tief verwundet und gekränkt, glaubte, daß ihre Besorgnisse in diesem Fall zu gegründet gewesen wären, um Spott zu verdienen; da sie aber sah, daß es fruchtlos seyn würde, davon zu reden, suchte sie ihre Aufmerksamkeit auf etwas anders zu ziehn.
Carlo kam bald darauf mit einigen Früchten herein. »Ihro Gnaden werden nach dem langen Spatziergange ermüdet seyn«, sagte er, als er die Früchte auf den Tisch setzte, »allein Sie haben nach dem Frühstück noch mehr zu sehn. Da ist eine Stelle in dem gewölbten Gange, die zu —«
Montoni sah ihn finster an, und winkte ihm mit der Hand, das Zimmer zu verlassen. Carlo stand still, sah zur Erde und sagte dann, indem er mit den Körbchen voll Früchte an den Tisch trat. »Ich habe mir die Freiheit genommen, gnädiger Herr, einige Kirschen für meine gnädige Frau und das gnädige Fräulein zu bringen. Wollen Ihro Gnaden sie versuchen. Sie sind so süß als Pflaumen.«
»Gut, alter Carlo, gebe er nur her«, sagte Madame Montoni.
»Vielleicht beliebt es auch dem jungen Fräulein, einige zu versuchen«, versetzte Carlo, indem er sich mit dem Körbchen zu Emilien wandte. »Es wird mir wohl thun, wenn ich sie davon essen sehe.«
»Ich danke ihm sehr, guter Carlo«, sagte Emilie mit freundlichem Lächeln.
»Geh nur, geh«, sagte Montoni ungeduldig; »es ist genug. Verlaß das Zimmer, aber warte aussen; ich werde dich gleich brauchen.«
Carlo gehorchte und Montoni gieng bald nachher fort, um den Zustand des Schlosses genauer in Augenschein zu nehmen. Emilie blieb bei ihrer Tante, ertrug geduldig ihre üble Laune und bemühte sich mit vieler Sanftmuth, ihre Betrübnis zu lindern, statt Empfindlichkeit über den Ausbruch derselben blicken zu lassen.
Als Madame Montoni sich in ihr Ankleidezimmer zurückzog, besah Emilie, um sich zu zerstreuen, das Schloß. Durch eine große Flügelthüre gieng sie aus dem großen Saal auf die Wälle, die sich längs dem Berge hin, um drei Seiten des Gebäudes erstreckten. Die vierte war durch die hohen Mauern der Vorhöfe und durch den Thorweg, durch den sie den Abend zuvor gekommen waren, geschützt. Die Größe der breiten Wälle, und die Mannigfaltigkeit der aussen liegenden Gegend erregte ihre Bewunderung: denn der weite Umfang der Terassen ließ sie die Gegend in so verschiedenen Gesichtspunkten sehn, daß sie neue Landschaften zu bilden schien. Sie stand oftmals still, um die gothische Pracht des Schlosses Udolpho, seine stolze Unregelmäßigkeit, seine hohen Thürme und Zinnen, seine hochgewölbten Fenster und kleinen Warten, die auf den Spitzen der Thürme hiengen, zu betrachten: dann lehnte sie sich an die Mauer der Terrasse und maaß schaudernd den Abgrund unten mit ihrem Auge, bis die dunkeln Spitzen der Wälder es aufhielten. Wohin sie blickte, sah sie Bergspitzen, Fichtenwälder und enge Klüfte sich zwischen den Appeninen öfnen und sich dem Gesichte in unzugängliche Regionen entziehn.
Während sie so da stand, sah sie Montoni mit zwei Leuten einen krummen Pfad, der unten in den Fels eingehauen war, hinauf steigen. Er stand auf einer Klippe still, zeigte auf die Wälle, wandte sich zu seinen Begleitern und schien mit vieler Lebhaftigkeit zu sprechen. Emilie erkannte den einen dieser Leute für Carlo, der andere war als ein Bauer gekleidet, und an ihn allein schienen Montonis Aufträge gerichtet zu seyn.
Sie zog sich von den Wällen zurück und setzte ihren Spatziergang fort, bis sie in der Ferne einen Wagen und bald darauf die Glocke an der Thüre hörte, wobei ihr sogleich einfiel, daß der Graf Morano angekommen seyn würde. Indem sie sich eilends von der Terrasse nach ihrem Zimmer begab, sah sie durch die Flügelthüren verschiedene Personen in den großen Saal kommen. Sie eilte sogleich fort, allein ihre Bewegung, und die Größe und Dunkelheit des Saals verhinderten sie, die Person der Fremden zu unterscheiden. Ihre Furcht kannte indessen nur einen Gegenstand, und dieser wurde vor ihre Einbildungskraft gerufen — sie glaubte, den Grafen Morano gesehn zu haben.
Voll ängstlicher Besorgniß erreichte sie ihr Zimmer, wo sie auf jeden fernen Ton lauschte. Endlich, da sie Stimmen auf dem Walle hörte, eilte sie ans Fenster, und sah Montoni mit dem Signor Cavigni in tiefem Gespräch auf und abgehn, während sie oft im Feuer der Unterhaltung sich gegen einander wandten und still standen.
Cavigni war der einzige den sie von den Fremden hier sah; allein ihre Unruhe wurde bald erhöht, als sie andre Personen in dem Gange hörte, die wie sie glaubte, eine Botschaft von dem Grafen brachten. Gleich darauf erschien Annette.
»Ach Fräulein«, sagte sie, »der Signor Cavigni ist hier angekommen. Es war mir wahrhaftig recht lieb, einen Christenmenschen an diesem Orte wieder zu sehn, und er ist auch ein so guter und freundlicher Herr, der sich immer so viel mit unser einem abgiebt. Auch der Signor Verezzi ist hier, und wer meinen Sie noch wohl sonst, Fräulein?«
»Wie kann ich das rathen, Annette, sag doch geschwind.«
»Aber so rathen Sie doch nur Fräulein!«
»Nun wer sonst«, sagte Emilie mit angenommener Fassung, »als — Graf Morano.«
»Heilige Jungfrau« rief Annette, »befinden Sie sich nicht wohl Fräulein? Sie sehn ja aus, als wollten Sie in Ohnmacht fallen. Soll ich Ihnen Wasser holen?«
Emilie sank in einen Stuhl. »Bleib Annette« sagte sie schwach; »verlaß mich nicht, mir wird bald besser werden — mache doch das Fenster auf. Der Graf, sagtest du — er ist also gekommen.«
»Wer? ich hätte das gesagt? der Graf! Nein Fräulein, das sagte ich nicht.«
»Er ist also nicht gekommen?« — fragte Emilie mit Heftigkeit. —
»Nicht doch Fräulein.«
»Weißt du das gewiß?«
»Nun wahrhaftig Fräulein, Sie erholen sich sehr geschwind. Noch den Augenblick dachte ich gewiß, Sie würden sterben.«
»Aber der Graf? Weißt du gewiß, daß er nicht gekommen ist?«
»Was werde ich nicht wissen? Ich sah durch das Gitter vom Thurm, als die Wagen in den Hof fuhren, und hätte mir einen so herrlichen Anblick in diesem verwünschten alten Schlosse gewiß nicht träumen lassen. Ich hätte vor Freuden durch das alte verrostete Gitter springen mögen.«
»Gut gut Annette, mir ist jetzt schon besser!«
»Ja Fräulein, das sehe ich. Aber wissen Sie, wer noch mehr gekommen ist? — Ludovico des Signor Cavignis Bedienter. O Sie müssen sich ja Ludovicos erinnern, der immer seinen Mantel mit solcher Zierlichkeit um die linke Schulter geworfen trägt, und den Hut ein wenig schief auf die eine Seite setzt. Er hat —«
»Ja, ja Annette, ich besinne mich — aber mir ist nun wieder so wohl, daß du mich verlassen kannst.«
»Aber bald hätte ich zu fragen vergessen, wie Sie in diesem wüsten alten Zimmer geschlafen haben? Ist Ihnen nichts zu Ohren, nichts zu Gesicht gekommen.«
»Nichts in der Welt — aber warum frägst du denn so?«
»O Fräulein nicht um die Welt möchte ich Ihnen das sagen, eben so wenig als was ich von diesem Zimmer gehört habe; es würde Sie tödlich erschrecken.«
»Wenn du weiter keinen Grund hast, so sprich nur, du hast mich schon genug erschreckt, und kannst jetzt dreist alles sagen.«
»O Jesus, es soll in diesem Zimmer spuken, und schon seit vielen Jahren darinn gespukt haben.«
»Das Gespenst kann also wohl Riegel aufschieben«, sagte Emilie, die ihre Furcht wegzulachen suchte: »denn ich ließ vergangene Nacht die Thüre offen, und fand sie diesen Morgen verriegelt.«
Annette wurde blaß und sagte kein Wort.
»Weißt du nicht, ob einer von den Bedienten diesen Morgen die Thüre verriegelt hat, ehe ich aufstand.«
»Nein Fräulein, ich will wohl wetten, daß das keiner gethan hat; doch weiß ichs nicht. Soll ich gehn und fragen«, sagte sie und gieng eilends nach der Thüre zu.
»Bleib Annette ich habe dir noch andre Fragen zu thun. Sag mir, was du von diesem Zimmer gehört hast, und wohin die Winkeltreppe führt.«
»Ich will sogleich gehn Fräulein, und nach allem fragen; zudem wartet meine gnädige Frau gewiß auf mich. Ich kann jetzt wahrhaftig nicht bleiben.«
Sie eilte aus dem Zimmer ohne Emiliens Antwort abzuwarten, die sich jetzt durch die Gewißheit, daß der Graf nicht gekommen sey, so erleichtert fühlte, daß sie über die abergläubige Furcht, die Annetten ergriffen hatte, lächeln konnte: denn wenn sie gleich sich selbst ihrer nicht erwehren konnte, schien sie ihr doch an andern lächerlich.
Da Montoni Emilien ein anderes Zimmer verweigert hatte, beschloß sie das Uebel, dem sie nicht abhelfen konnte, mit Geduld zu tragen, und um sich den Aufenthalt so leidlich als möglich zu machen, packte sie ihre Bücher aus — ihre liebste Freude in glücklichen Tagen, und ihre erheiternde Zuflucht in Stunden des Kummers — zwar gab es auch Stunden, wo dieses Mittel seine Wirkung verfehlte, wo das Genie, der Geschmack, die Begeisterung der erhabensten Schriftsteller an ihr verloren giengen.
Nachdem sie ihre kleine Bibliothek auf einem hohen Kasten, der einen Theil des Amöblements vom Zimmer ausmachte, in Ordnung gestellt hatte, nahm sie ihr Zeichengeräth heraus, und fühlte sich ruhig genug, an dem Gedanken Vergnügen zu finden, die erhabenen Gegenstände, die sie aus ihrem Fenster sah, zu entwerfen — plötzlich aber zog sie die Hand zurück, von der Erinnerung ergriffen, wie oft eine solche Beschäftigung nur der Vorbothe eines neuen Unglücks bei ihr gewesen war.
»Wie kann ich mich nur durch Hofnung täuschen lassen«, sagte sie, »und weil der Graf Morano noch nicht angekommen ist, mich für den Augenblick glücklich fühlen? Macht es wohl einen Unterschied für mich, ob er heute oder morgen kömmt, wenn er überhaupt kommen will? und daß er kommen wird, daran zu zweifeln wäre wohl eine Thorheit.«
Um indessen ihre Gedanken von dem Gegenstande ihres Kummers abzuziehn, versuchte sie zu lesen; allein ihre Aufmerksamkeit irrte über die Buchstaben weg und sie warf das Buch endlich bei Seite und beschloß, die angränzenden Zimmer im Schlosse zu besuchen. Ihre Einbildungskraft fand Gefallen an dem Anblick der antiken Größe und eine Regung melancholischer Ehrfurcht erweckte alle ihre Kräfte, indem sie durch finstre, öde Zimmer gieng, die seit vielen Jahren kein menschlicher Fuß betreten hatte, und sich an die wunderbare Geschichte von der ersten Besitzerin des Schlosses erinnerte. Sie dachte dabei an das verschleierte Gemählde, das in der Nacht zuvor ihre Aufmerksamkeit rege gemacht hatte, und nahm sich vor, es zu besehn. Als sie durch die Zimmer gieng die dahin führten, fühlte sie eine gewisse Bewegung; ihr Zusammenhang mit der verstorbenen Gebieterin des Schlosses und Annettens Gespräch nebst dem Umstande mit dem Schleier warf ein Geheimniß über diese Sache, das eine Art von Furcht bei ihr erregte — allein es war eine solche Furcht, die vermöge eines seltsamen Eigensinns unserer Seele, uns dahin bringt, gerade den Gegenstand, vor welchem wir zittern, aufzusuchen.
Emilie gieng mit behenden Schritten weiter, und nachdem sie einen Augenblick vor der Thüre still gestanden hatte, ehe sie versuchte, sie zu öfnen, trat sie eilends in das Zimmer und gieng auf das Gemählde zu, das in einem Rahmen von ungewöhnlicher Größe, der in einer dunkeln Ecke des Zimmers hieng, eingefaßt schien. Sie stand aufs neue still, und hob dann mit furchtsamer Hand den Schleier auf — sogleich aber ließ sie ihn wieder fallen, denn sie sah, daß das, was er verbarg — kein Gemählde war; und ehe sie das Zimmer verlassen konnte, sank sie ohne Gefühl zur Erde.
Sobald sie die Besinnung wieder erhielt, drohte die Erinnerung an das, was sie gesehn hatte, sie ihr zum zweitenmal wieder zu rauben. Sie behielt kaum so viel Kräfte, aus dem Zimmer zu gehn, und das ihrige wieder zu erreichen, und als sie endlich dahin kam, hatte sie nicht Muth, allein zu bleiben. Grausen erfüllte ihre Seele, und schloß auf eine Zeitlang alles Gefühl des Vergangenen und alle Furcht des Zukünftigen aus. Sie setzte sich ans Fenster, weil sie doch da eine Möglichkeit hatte, wenigstens in der Ferne Stimmen zu hören, und Leute vorüber gehn zu sehn; und das war in ihrer jetzigen Stimmung schon großer Trost. Nachdem sie wieder ganz zu sich selbst gekommen war, gieng sie mit sich zu Rathe, ob sie das Gesehene gegen Madame Montoni erwähnen sollte; verschiedene wichtige Gründe trieben sie dazu an, worunter die Hofnung, sich die Erleichterung zu verschaffen, welche ein belastetes Herz durch Ergießung seines Leidens erhält, vielleicht nicht der geringste war. Allein sie fürchtete die schrecklichen Folgen, die eine solche Mittheilung nach sich ziehn könnte, und da sie die Unvorsichtigkeit ihrer Tante kannte, suchte sie sich endlich mit Entschlossenheit zu waffnen, und nahm sich vor, ein tiefes Stillschweigen über diesen Umstand zu beobachten. Montoni und Verezzi giengen bald darauf in lebhaftem Gespräch unter dem Fenster hin, und es erheiterte sie, menschliche Stimmen zu hören. Die Signors Bertolini und Cavigni kamen bald zu ihnen, und Emilie, die ihre Tante allein zu finden glaubte, gieng zu ihr, denn die Einsamkeit ihres Zimmers und die Nähe dessen, was sie in so namenloses Schrecken gesetzt hatte, fielen ihr von neuem aufs Herz.
Sie fand ihre Tante beim Ankleiden. Emiliens bleiches und entstelltes Gesicht erschreckte sogar Madame Montoni: allein sie besaß Stärke genug, ein unverbrüchliches Stillschweigen über den Gegenstand, bei dessen Erinnerung sie noch schauderte, und der alle Augenblick ihren Lippen zu entwischen drohte, zu beobachten. Sie blieb bei ihrer Tante, bis sie beide zu Tisch giengen. Hier fand sie die kürzlich angekommenen Herrn, deren Gesicht eine ihnen sonst ungewöhnliche Ernsthaftigkeit verrieth. Ihre Gedanken schienen so ganz von einem wichtigen Gegenstande erfüllt zu seyn, daß sie keine Zeit fanden, weder Emilien noch Madame Montoni viel Aufmerksamkeit zu beweisen. Sie sprachen wenig, und Montoni noch weniger. Emilie schauderte, wenn sie ihn jetzt ansah. Die Schrecken jenes Zimmers drangen an ihre Seele. Verschiedenemal wich die Farbe von ihren Wangen, und sie fürchtete, daß eine Unpäßlichkeit sie verrathen, und sie nöthigen möchte, das Zimmer zu verlassen; allein die Stärke ihres Entschlusses kam der Schwäche ihres Körpers zu Hülfe; sie zwang sich zu reden, und versuchte sogar, eine heitere Miene anzunehmen.
Montoni arbeitete sichtbar unter einem Verdruße, der wahrscheinlich ein schwächeres Gemüth, oder ein mehr empfängliches Herz erschüttert haben würde, bei ihm aber, wie sein finstres Aussehn verrieth, nur die Kräfte seiner Seele in erhöhte Thätigkeit zu rufen schien.
Die Mahlzeit verstrich ungesellig und stillschweigend. Die Dunkelheit des Schlosses schien ihre ansteckende Kraft sogar auf Cavignis frölichem Gesichte verbreitet zu haben, und mit dieser Finsterkeit war ein gewisser wilder Ausdruck verbunden, den sie noch selten auf seinem Gesichte gesehn zu haben sich erinnerte. Des Grafen Morano wurde nicht gedacht, und das wenige, was überhaupt noch gesprochen wurde, betraf den Krieg, der damals die italiänischen Staaten zerrüttete, die Stärke der venetianischen Armeen und den Character ihrer Generale.
Nach Tische, als die Bedienten sich zurückgezogen hatten, hörte Emilie, daß der Kavalier, der sich Orsinos Rache zugezogen hatte, seitdem an seinen Wunden gestorben war, und daß man dem Mörder noch immer strenge nachforschte. Diese Nachricht schien Montoni sehr zu beunruhigen. Er wurde nachdenkend und fragte darauf, wo Orsino sich verborgen hätte. Seine Gäste, die sämmtlich, den einzigen Cavigni ausgenommen, nichts davon wußten, daß Montoni selbst ihm auf seiner Flucht von Venedig behülflich gewesen war, antworteten, er hätte sich in der Nacht mit solcher Eile und Heimlichkeit davon gemacht, daß selbst seine vertrautesten Freunde nicht wüßten wohin. Montoni tadelte sich selbst, diese Frage gethan zu haben, weil ein zweites Nachdenken ihn sogleich überzeugte, daß ein Mann von Orsinos argwöhnischem Temperament schwerlich seinen Zufluchtsort einem der hier Anwesenden würde vertraut haben. Nur sich allein glaubte er zu seinem unbeschränkten Vertrauen berechtigt, und zweifelte nicht, daß er bald von ihm hören würde.
Emilie zog sich mit Madame Montoni sobald abgespeist war, jedoch nicht eher bis Montonis bedeutendes Stirnrunzeln sie daran erinnert hatte, zurück, um die Herren ungestört ihren geheimen Berathschlagungen zu überlassen. Sie giengen aus dem Saal auf den Wall und wanderten eine Zeitlang in einem Stillschweigen fort, welches Emilie nicht zu unterbrechen versuchte, da ihre Seele mit ihren eignen Gedanken beschäftigt genug war. Es erfoderte alle ihre Entschlossenheit, den schrecklichen Gegenstand, der noch immer durch alle ihre Nerven bebte, ihrer Tante zu verschweigen; und zuweilen stand sie im Begriff davon zu sprechen, um sich nur die Erleichterung eines Augenblicks zu verschaffen; allein sie wußte, wie gänzlich sie in Montonis Macht war, und da sie erwog, wie nachtheilig die Unvorsichtigkeit ihrer Tante für sie beide seyn könnte, that sie sich Gewalt an, lieber ein gegenwärtiges, geringeres Uebel zu erdulden, als sich einem zukünftigen, schrecklichern auszusetzen. Eine wunderbare Ahndung bemächtigte sich ihrer mehrmals an diesem Tage: es schien, als wenn ihr Schicksal hier ruhte, und auf eine ihr unbegreifliche Weise mit diesem Schlosse zusammenhienge.
»Ich will es nicht beschleunigen«, sagte sie; »denn zu was ich auch aufbehalten seyn mag, will ich wenigstens meine eigenen Vorwürfe vermeiden.«
Wenn sie die dicken Mauern des Gebäudes betrachtete, so ließen ihre schwermüthigen Gedanken es sie als ihr Gefängniß ansehn, und sie fuhr gleichsam wie vor einer neuen Vorstellung zurück, wenn sie bedachte, wie fern sie von ihrem Vaterlande, von ihrer kleinen friedlichen Heimath, und von ihrem einzigen Freunde war — wie fern ihre Hofnung auf Glückseligkeit war! wie schwach die Erwartung ihn wieder zu sehn. Doch war der Gedanke an Valancourt, ihr Vertrauen auf seine treue Liebe bisher ihr einziger Trost gewesen, und sie bot noch die letzten Kräfte auf, sich daran zu halten. Thränen der Angst traten ihr in die Augen und sie wandte sich zur Seite, um sie zu verbergen.
Als sie bald darauf an die Mauer des Walls gelehnt da stand, sah sie einige Bauern in einer kleinen Entfernung einen Bruch betrachten, vor welchem ein Haufen Steine, als zum Ausbessern und eine rostige alte Kanone lag, die von ihrem Standorte oben herabgefallen schien. Madame Montoni stand still, um mit den Leuten zu sprechen, und erkundigte sich, was sie machen wollten. »Wir wollen die Festungswerke ausbessern«, antwortete einer. — Es befremdete sie, daß Montoni diese Arbeit für nothwendig hielt, da sie ihn nie hatte davon reden hören, daß er sich lange im Schlosse aufzuhalten dächte. Sie giengen auf ein hohes Gewölbe zu, das von dem südlichen nach dem östlichen Walle führte, und von einer Seite ans Schloß stieß, während es von der andern eine kleine Warte unterstützte, die das tiefe Thal unten gänzlich bestrich. Als sie sich diesem Gewölbe näherten, sah sie einen langen Zug Menschen zu Pferde und zu Fuße, die sie nach dem Glanz ihrer Picken und andern Waffen — denn die Entfernung ließ ihr nicht zu, die Farbe ihrer Kleider zu unterscheiden — für Soldaten erkannte, einen Berg herunter kommen. Bald sah sie den Vortrupp aus dem Walde in das Thal hervor gehn, allein der Zug drang noch immer in endloser Reihe von dem fernen Gipfel des Berges herab. An den vordern erkannte man nun schon die militairische Tracht, und die Anführer, die voran ritten, schienen nach ihren Bewegungen den Marsch der folgenden zu dirigiren, die bald dem Schlosse sehr nahe kamen.
Ein solcher Anblick in diesen einsamen Gegenden befremdete und beunruhigte Madame Montoni, und sie eilte auf einige Bauern zu, die sich beschäftigten, Bastionen vor dem südlichen Walle, wo der Felsen minder steil war, zu errichten. Diese Leute konnten keine befriedigende Antwort auf ihre Fragen ertheilen, sondern staunten, durch sie aufmerksam gemacht, mit dummer Verwunderung den langen Zug an. Madame Montoni hielt es nunmehr für nöthig, den Gegenstand ihrer Besorgniß weiter mitzutheilen, und schickte Emilien an Montoni ab, um ihm zu sagen, daß sie ihn zu sprechen wünschte. Dieser Auftrag machte ihrer Nichte wenig Freude, denn sie fürchtete den finstern Blick, womit er diese Botschaft aufnehmen würde — doch gehorchte sie schweigend.
Als sie dem Zimmer nahe kam, wo er mit seinen Gästen saß, hörte sie einen ernsthaften lauten Streit und stand einen Augenblick still, weil sie fühlte, wie unwillkommen ihr plötzlicher Eintritt seyn würde. Gleich darauf war alles still; sie wagte es, die Thüre zu öfnen, und während Montoni sich schnell nach ihr umsah, richtete sie ihre Bestellung aus.
»Sagen Sie Madame Montoni, daß ich Geschäfte hätte«, war seine Antwort.
Emilie hielt es nunmehr für nothwendig, die Ursache ihrer Unruhe zu sagen. Montoni und seine Gefährten standen sogleich auf, und giengen ans Fenster; da sie aber hier den Zug nicht sehn konnten, giengen sie endlich auf die Wälle, wo Cavigni es für ein Heer der auf dem Marsche nach Modena begriffnen Condottieri erkannte.
Ein Theil der Reuterei zog sich nun längs dem Thale hin, und ein andrer wand sich zwischen den Bergen nach Norden, während ein Theil des Zugs noch auf den Bergen zurückblieb, wo die ersten sich hatten sehn lassen, so daß das Ganze eine vollständige Armee zu seyn schien. Indes Montoni und seine Familie ihr Vorrücken beobachteten, hörten sie den Schall der Trompeten und Cymbeln im Thale, von andrer Musik auf den Anhöhen beantwortet. Emilie horchte aufmerksam auf den hellen Schall, der das Echo zwischen den Bergen erweckte, und Montoni erklärte ihr die Signale, die ihm wohl bekannt schienen und nichts feindliches bedeuteten. Die Uniform der Truppen, und die Art ihrer Waffen bestätigte ihm Cavignis Vermuthung, und er hatte das Vergnügen, sie vorbei ziehn zu sehn, ohne daß sie einmal Halt machten, um sein Schloß zu besehn. Doch verließ er den Wall nicht eher, bis der Fuss der Berge sie seinem Blicke entzog, und der letzte Hauch der Trompete mit dem Winde verwehte. Cavigni und Verezzi geriethen bei dem Anblick, der alles Feuer ihres Temperaments aufgeregt zu haben schien, in Begeisterung, Montoni kehrte schweigend und gedankenvoll ins Schloß zurück.
Emilie hatte sich noch nicht genug von dem Anblick des Morgens erholt, um die Einsamkeit ihres Zimmers zu ertragen, und blieb auf dem Walle zurück. Madame Montoni hatte sie nicht genöthigt mit in ihr Zimmer zu gehn, wohin sie sich mit sichtlicher Niedergeschlagenheit begeben hatte, und Emilien war seit ihrer letzten Erfahrung alle Lust vergangen die finstern, geheimnisvollen Tiefen des Schlosses zu erforschen. Die Wälle waren also beinahe ihre einzige Zuflucht, und hier verweilte sie, bis der graue Nebel des Abends sich wieder über die Gegend ausbreitete.
Die Ritter aßen zusammen, und Madame Montoni blieb in ihrem Zimmer, wo Emilie sie aufsuchte, ehe sie sich in das ihrige begab. Sie fand ihre Tante weinend und in großer Bewegung. Emiliens Zärtlichkeit hatte von Natur etwas so einnehmendes, daß sie selten ihren Trost an dem niedergeschlagenen Herzen verfehlte; allein das Herz der Madame Montoni war zerrissen und Emiliens sanfteste Töne giengen davon verloren. Mit ihrer gewöhnlichen Delikatesse schien sie ihrer Tante Betrübnis nicht zu bemerken, nur nahm ihr Wesen unwillkührlich eine gewisse Sanftheit und ihr Gesicht eine zärtliche Bekümmerniß an, die Madame Montoni mit Verdruß bemerkte, denn sie schien das Mitleid ihrer Nichte als eine Beleidigung für ihren Stolz aufzunehmen und entfernte sie, sobald es nur die Schicklichkeit zuließ. Emilie wagte es nicht einmal, ihres Widerwillens gegen das finstre Zimmer zu erwähnen, nur bat sie um die Erlaubniß, Annetten bei sich behalten zu dürfen, bis sie sich zu Bette legte; die Bitte wurde ihr etwas unfreundlich gewährt: allein Annette war jezt bei den Bedienten und Emilie mußte alleine gehn.
Mit leichten schnellen Schritten gieng sie durch die langen Gallerien, während der schwache Schimmer ihres Lichts ihr nur die Dunkelheit um sie her zeigte, und der vorüberstreifende Wind es auszulöschen drohte. Die einsame Stille, die in diesem Theile des Schlosses herrschte, war ihr schauerlich. In der Ferne hörte sie zwar von Zeit zu Zeit ein lärmendes Gelächter aus einer fernen Gegend des Gebäudes aufsteigen, wo die Bedienten versammlet waren, allein es verlor sich bald und nur eine athemlose Stille blieb. Als sie durch die Reihe von Zimmern kam, die sie des Morgens besucht hatte, warf sie einen furchtsamen Blick auf die Thüre, und wähnte beinahe, von innen Töne murmeln zu hören, doch stand sie keinen Augenblick still, um näher zu untersuchen.
Nachdem sie ihr Zimmer erreicht hatte, wo kein flammendes Holz auf dem Kamin die Dunkelheit vertrieb, setzte sie sich mit einem Buche nieder, um sich wach zu erhalten bis Annette kommen und ein Feuer anmachen würde. Sie las fort, bis ihr Licht beinahe ausgegangen war, allein Annette erschien nicht, und die Einsamkeit und Dunkelheit des Zimmers machte einen um so größern Eindruck auf sie, da es der Scene des Schreckens nahe war, die sie am Morgen angesehn hatte. Dunkle und phantastische Bilder stiegen vor ihrer Seele auf. Sie sah furchtsam nach der Thüre, die zu der geheimen Winkeltreppe führte, und fand sie noch befestigt. Sie konnte ihre Unruhe, wieder allein in diesem entlegnen, unsichern Zimmer zu schlafen, in welchem die vorige Nacht ohne ihr Wissen jemand gewesen zu seyn schien, nicht überwinden, und verlangte sehnlich, Annetten hereinkommen zu sehn, um sie wegen des Umstands zu befragen. Auch wünschte sie, sie um den Gegenstand zu befragen, der ihr so viel Grausen verursacht hatte, und wovon Annette etwas zu wissen schien, so sehr auch ihre Aeusserungen von der Wahrheit abwichen. Vorzüglich nahm es sie Wunder, daß man die Thüre des Zimmers, wo es enthalten war, nicht verschlossen hatte; eine solche Nachläßigkeit überstieg beinahe allen Glauben. Ihr Licht wollte eben ausgehn, der schwache Schimmer, den es auf die Mauer warf, rief alle Schrecken der Phantasie herbei, und sie stand auf um ihren Weg nach dem bewohnten Theile des Schlosses zu suchen, ehe es ganz erlösche.
Als sie die Thüre des Zimmers öfnete, hörte sie ferne Stimmen und sah bald darauf ein Licht aus dem fernen Ende des Gangs hervorkommen, wo sie Annetten und noch ein andres Mädchen erblickte.
»Es ist mir lieb, daß du kommst«, sagte Emilie; »was hat dich denn so lange aufgehalten? Zünde mir doch sogleich ein Feuer an.«
»Meine Frau brauchte mich, Fräulein«, sagte Annette verlegen; »ich will gehn und Holz holen.«
»Nein«, sagte Katherine, »das ist meine Sache« und verließ sogleich das Zimmer. Annette wollte ihr folgen, da sie aber zurückgerufen wurde, fieng sie an, sehr laut zu sprechen und zu lachen und schien jedes Stillschweigen beinahe zu fürchten.
Katherine kam bald mit Holz zurück, und als die erfreuliche Flamme nun wieder das Zimmer belebte, und Emilie mit Annetten allein war, fragte sie, ob sie sich nach dem bewußten Umstande erkundigt hätte?
»Ja Fräulein«, sagte Annette, »aber niemand weiß darum, und der alte Carlo, — ich beobachtete ihn sehr genau, denn man sagt, daß er manche wunderbare Dinge weiß, — machte ein Gesicht, das ich nicht beschreiben kann, und fragte mich immer wieder und wieder, ob ich auch gewiß wüßte, daß die Thüre nicht zugemacht gewesen sey. »Hätte ich nur mit Ludovico sprechen können! Ludovico war der erste, der mir auch von dem Gemählde erzählte, das Sie gestern Abend sehn wollten, und —«
»Was für ein Gemählde?« sagte Emilie, welche wünschte, daß Annette sich deutlicher erklären möchte.
»O das schreckliche Gemählde mit dem schwarzen Vorhang.«
»Du hast es also niemals gesehn?« sagte Emilie.
»Wer? ich? Nein Fräulein wahrhaftig nicht. Aber diesen Morgen«, fuhr Annette fort, indem sie ganz leise sprach, und sich rings im Zimmer umsah, »diesen Morgen, als es heller Tag war, fiel mir ein, es zu besehn, da ich so seltsame Dinge davon gehört hatte, und ich kam auch würklich bis an die Thüre, und würde sie aufgemacht haben, wenn sie nicht verschlossen gewesen wäre.«
Emilie suchte die Unruhe, welche dieser Umstand ihr verursachte, zu verheelen, und fragte um welche Zeit sie vor dem Zimmer gewesen wäre. Sie schloß noch aus einigen andern Fragen, die sie Annetten vorlegte, daß weder sie noch die, mit welchen sie gesprochen hatte, die schreckliche Wahrheit wüßten, wiewohl Annettens Reden oft der Wahrheit sehr nahe kamen. Emilie fürchtete nun, daß man ihren Besuch in dem Zimmer bemerckt hätte, da man gleich nachdem sie fortgegangen war, die Thüre verschlossen zu haben schien, und fürchtete, daß sie sich dadurch Montonis Rache würde zugezogen haben. Sie hätte gern noch manche Fragen an Annetten gethan, allein sie fühlte, daß diese Unterhaltung für diese einsame Stunde zu schauderlich war, und zwang sich mit Annetten, deren einfältiges Gespräch sie der gänzlichen Stille und Einsamkeit doch noch vorzog, von gleichgültigen Dingen zu reden.
So saßen sie bis es beinahe Mitternacht war, aber nicht ohne manche Winke von Annetten, daß sie fortzugehn wünschte. Die Kohlen waren nun beinahe ausgebrannt, und Emilie hörte in einiger Entfernung das donnernde Krachen der Saalthüren, die für die Nacht zugemacht wurden. Sie schickte sich also zum Schlafengehn an, hätte aber Annetten gerne noch länger behalten: in diesem Augenblick erscholl die große Thorglocke: sie lauschten in furchtsamer Erwartung, und nach einer langen Pause tönte sie zum zweitenmal — bald darauf hörten sie einen Wagen im Schloßhofe rasseln. Emilie sank beinahe leblos in ihren Stuhl: »es ist der Graf«, rief sie.
»Wie um diese Zeit in der Nacht! Nicht doch liebstes Fräulein. Aber mit alle dem ist doch jetzt eine sonderbare Zeit für Gäste zu kommen.«
»O ich bitte dich«, rief Emilie ängstlich; »halte dich jetzt nicht mit Reden auf. Geh, geh und sieh wer da ist.«
Annette gieng aus dem Zimmer und nahm das Licht mit, so daß Emilie im Dunkeln zurück blieb. Noch vor wenig Augenblicken würde sie sich in dieser Dunkelheit gefürchtet haben; jetzt aber bemerkte sie es kaum. Sie lauschte in athemloser Erwartung und hörte Geräusch in der Ferne, allein Annette kam nicht wieder. Ihre Geduld gieng zu Ende, und sie bemühte sich, ihren Weg nach dem Gange zu finden, allein es dauerte lange, ehe sie die Thüre des Zimmers erreichte, und als sie sie aufgemacht hatte, benahm ihr die Dunkelheit den Muth, weiter zu gehn. Man hörte jetzt Stimmen, und Emilie glaubte sogar, Morano und Montoni zu unterscheiden. Bald darauf näherten sich Fußtritte, ein Schimmer von Licht stralte durch die Dunkelheit, und Annette trat herein.
»Sie hatten wohl Recht, Fräulein«, sagte sie; »es ist der Graf.«
»Ist er es?« rief Emilie —
»Um Gotteswillen liebstes Fräulein, erschrecken Sie doch nicht so sehr; wir werden bald mehr erfahren.«
»Das werden wir gewiß!« sagte Emilie und eilte so schnell sie konnte, nach dem Fenster. »Gieb mir Luft«, sagte sie, »mir ist nicht wohl.«
Annette machte das Fenster auf und brachte Wasser. Emilie kam bald wieder zu sich selbst, bat aber Annetten sie noch nicht zu verlassen. Ihre Unruhe über die Absicht dieses nächtlichen Besuchs stieg so hoch, daß sie Annetten bat, in das Bedientenzimmer zu gehn, um wo möglich etwas von dem Aufenthalt des Grafen zu erfahren.
Annette war sehr bereitwillig dazu — »allein wie soll ich den Weg finden, wenn ich Ihnen das Licht lasse«; setzte sie hinzu.
Emilie versprach ihr zu leuchten und sie verließen sogleich das Zimmer. Als sie an die große Treppe gekommen waren, fiel Emilien ein, daß der Graf sie vielleicht sehn könnte, und um den großen Saal zu vermeiden, ließ sie sich von Annetten durch einige geheime Gänge nach einer schwarzen Winkeltreppe führen, die unmittelbar in das Bedientenzimmer führte.
Als Emilie in ihr Zimmer zurück gieng, fürchtete sie, sich wieder in den Irrgängen des Schlosses zu verlieren und durch ein neues geheimnißvolles Schauspiel erschreckt zu werden. Die vielen Krümmungen setzten sie schon in Verlegenheit und sie fürchtete beinahe eine der vielen Thüren, die sie vor sich sah, zu öfnen. Während sie in Gedanken vor sich hin gieng, glaubte sie nicht weit von sich ein leises Stöhnen zu hören, und nachdem sie einen Augenblick still gestanden hatte, hörte sie es aufs neue und deutlich. Zur rechten Seite des Ganges waren verschiedene Thüren. Sie gieng vorwärts und horchte. Als sie an die zweite kam, hörte sie eine, wie es schien, klagende Stimme innerhalb. Sie scheute sich, die Thüre aufzumachen und blieb aussen stehn. Bald erfolgte ein krampfhaftes Schluchzen und dann brach es in die durchdringenden Töne eines von Schmerzen zerrißnen Herzens aus. Emilie stand in tödlicher Angst da und sah mit furchtsamer Erwartung durch die Dunkelheit hin. Die Klagen dauerten fort. Mitleid erhielt bald die Oberhand über den Schrecken; sie glaubte vielleicht dem Leidenden wenigstens durch Bezeugung ihres Mitleids Trost geben zu können, und legte die Hand an die Thüre. Bald glaubte sie, die Stimme zu erkennen, so sehr sie auch durch den Schmerz verändert schien. Nachdem sie die Lampe in dem Gange niedergesetzt hatte, öfnete sie leise die Thüre; es war alles dunkel; nur aus einem innern Zimmer fiel hie und da auf einige Stellen ein einzelnes Licht. Sie gieng darauf zu, allein ehe sie es erreichte, fiel der Anblick von Madame Montoni ihr auf, die weinend, mit dem Schnupftuch in der Hand an ihrem Tische saß, und sie stand erschrocken still.
Neben dem Feuer saß jemand auf einem Stuhl, allein sie konnte nicht unterscheiden wer es war. Von Zeit zu Zeit sprach er, aber so leise, daß Emilie nichts verstehn konnte, nur schien es ihr, als wenn Madame Montoni stärker weinte. Sie war mit ihrem eigenen Schmerz zu sehr beschäftigt, um Emilien zu bemerken, während diese, so sehr sie auch die Ursache ihres Schmerzes und wer der Fremde sey, der so spät in ihrem Zimmer Zutritt hatte, zu wissen wünschte, sich enthielt, ihr Leiden dadurch zu erhöhn, daß sie sie überraschte, oder die Gelegenheit benutzte, ein geheimes Gespräch zu belauschen. Sie schlich sich leise zurück, und fand nach einiger Schwierigkeit den Weg in ihr Zimmer wieder, wo ein näheres Interesse endlich die Theilname und Bekümmerniß verdrängte, die sie für Madame Montoni empfand.
Annette kam indessen ohne befriedigende Nachricht zurück, denn die Bedienten, bei denen sie sich erkundigt hatte, wußten entweder nichts von des Grafen Absicht bei diesem Besuche, oder wollten nichts davon wissen. Sie hatten nur von dem steilen, beschwerlichen Wege gesprochen, und sich gewundert, wie ihr Herr sich dieser Gefahr in stockfinsterer Nacht hätte aussetzen können, denn die Fackeln hätten zu nichts weiter gedient, als ihnen das Wüste und Kahle der Berge zu zeigen. Da Annette sah, daß sie nichts von ihnen erfahren konnte, hielt sie es für unnütz, sich länger aufzuhalten, und Emilie, die es unbarmherzig fand, sie noch länger von ihrem Schlafe abzuhalten, suchte ihre chimärische Furcht zu bekämpfen, und schickte sie endlich fort. Sie blieb nun über ihre eigene und Madame Montonis Lage nachdenkend, sitzen, bis ihr Auge von ohngefähr auf das Miniaturgemählde fiel, das sie nach ihres Vaters Tode zwischen den Papieren gefunden hatte, die er ihr zu vernichten auftrug. Es lag offen unter einigen Zeichnungen vor ihr, mit welchen sie es einige Stunden zuvor aus einem Kästchen genommen hatte. Der Anblick dieses Gemähldes rief manche Betrachtungen in ihr hervor, allein der schwermüthig sanfte Ausdruck in diesem Gesicht stillte die Bewegung, zu der sie sich hingerissen fühlte. Es schien ihr, als wenn es einige Aehnlichkeit mit ihrem verstorbenen Vater hätte, und diese Aehnlichkeit stieg, je länger sie es betrachtete. Plötzlich aber fielen ihr die Worte in dem Manuscript ein, das sie mit diesem Gemählde zugleich gesehn, und wobei sie so viel Schrecken und Zweifel empfunden hatte: Endlich riß sie sich aus der tiefen Träumerei, worin diese Erinnerung sie versenkt hatte, als sie aber aufstand um sich auszukleiden, kam das Stillschweigen und die Einsamkeit, der sie in dieser mitternächtlichen Stunde überlassen war — mit dem Eindruck, den dieser Gegenstand in ihrer Seele zurückgelassen hatte, zusammen, um sie zu schrecken. Auch Annettens Winke wegen dieses Zimmers, so einfältig sie auch waren, hatten doch eine Würkung auf sie gemacht, da der nur vorhergegangene schreckliche Anblick, den sie in einem so nahe bei dem ihrigen gelegenen Zimmer gehabt hatte, ihre Seele schon vorher getroffen hatte.
Die Thüre neben der Winkeltreppe konnte ihr vielleicht mehr gegründete Ursache zu Besorgnissen geben, und ihre Furcht war so erfinderisch, daß sie sich einbildete, diese Treppe könnte einen geheimen Zusammenhang mit dem Zimmer haben, an das sie nicht ohne Schauder denken konnte. Sie beschloß, sich nicht auszukleiden, und legte sich, den treuen Hund ihres verstorbenen Vaters als eine Schutzwehr zu den Füßen ihres Bettes, nieder.
So sehr sie sich auch bemühte, alles Nachdenken zu verbannen, arbeitete doch ihre Phantasie so geschäftig über den Gegenständen, die sie erfüllten, daß die Schloßglocke zwei schlug, ehe sie die Augen schloß.
Sie wurde bald durch ein Geräusch, das in ihrem Zimmer zu entstehn schien, aus ihrem unruhigen Schlummer geweckt; allein da gleich darauf alles wieder still war, beredete sie sich, es sey nur eine Einbildung gewesen, und legte den Kopf wieder aufs Kissen nieder.
Bald aber hörte sie das Geräusch aufs neue: es schien aus der Gegend nach der Treppe hin zu kommen, und sie erinnerte sich sogleich an den sonderbaren Umstand, daß die Thüre in der vergangnen Nacht durch eine unbekannte Hand war verriegelt worden. Das Herz sank ihr, sie richtete sich halb im Bette auf, schob leise den Vorhang zurück, und sah nach der Thüre der Winkeltreppe, allein die Lampe, die auf dem Kamin brannte, verbreitete ein so schwaches Licht durch das Zimmer, daß die fernen Stellen ganz im Schatten lagen. Indessen dauerte das Geräusch, das wie sie deutlich merkte, von der Thüre kam, fort. Es schien als ob verrostete Riegel aufgeschoben würden; oft war es still, und dann fieng es wieder leiser an, als ob die Hand von der es herrührte, durch die Furcht, entdeckt zu werden, zurückgehalten würde. Während Emilie ihre Augen starr auf die Stelle richtete, sah sie die Thüre bewegen und langsam aufmachen, und glaubte etwas hereinkommen zu sehn, allein die ausnehmende Dunkelheit verhinderte sie, die Gestalt zu unterscheiden. Halb ohnmächtig vor Schrecken hatte sie kaum soviel Gewalt über sich, einen lauten Schrei zurück zu halten; sie ließ den Vorhang aus der Hand fallen, und beobachtete stillschweigend die Bewegungen der geheimnisvollen Gestalt. Sie schien durch die dunkeln Winkel des Zimmers hinzugleiten, stand dann still, und schien, wie sie dem Kamin näher kam, bei dem stärkern Lichte, einer menschlichen Figur zu gleichen. Gewisse Erinnerungen drangen jetzt an ihr Herz, und überwältigten beinahe den schwachen Ueberrest ihrer Lebenskraft; doch betrachtete sie noch immer die Gestalt, die eine Zeitlang ohne Bewegung blieb, dann aber sich langsam näherte, und bei dem Bette still stand, wo eine kleine Oefnung zwischen den Vorhängen sie ihr noch immer sehn ließ, nur hatte Schrecken ihr alle Kraft zu unterscheiden sowohl als zu sprechen geraubt.
Nachdem die Gestalt einen Augenblick da gestanden hatte, zog sie sich nach dem Kamin zurück, nahm die Lampe auf, hielt sie einige Augenblicke in die Höhe, um das Zimmer zu besehn, und gieng dann wieder nach dem Bette zu. In diesem Augenblick weckte das Licht den Hund, der zu Emiliens Füßen geschlafen hatte; er bellte laut, sprang auf die Erde, flog auf den Fremden zu, der mit gezogenem Schwerdt nach ihm schlug, auf das Bette zueilte, und Emilien — den Graf Morano sehn ließ.
Sie staunte ihn einen Augenblick in sprachlosen Schrecken an; er warf sich neben dem Bette auf die Knie, beschwur sie nichts zu fürchten und wollte ihre Hand ergreifen; allein die Kräfte, welche das Schrecken unterdrückt hatte, kehrten plötzlich zurück, und sie sprang in den Kleidern, welche anzubehalten ihr gewiß den Abend zuvor ein prophetischer Geist eingegeben hatte, aus dem Bette.
Morano stand auf, folgte ihr an die Thüre, durch die er herein gekommen war, und ergrif sie bei der Hand, ehe sie die Treppe erreichte; doch wurde sie bei dem Schimmer der Lampe, einen andern Mann auf der Hälfte derselben gewahr. Sie schrie jetzt laut, vor Verzweiflung, denn sie glaubte sich von Montoni aufgegeben und sah in der That keine Möglichkeit zu entwischen.
Der Graf, der sie noch bei der Hand hielt, führte sie ins Zimmer zurück.
»Warum dieses Schrecken«, sagte er mit zitternder Stimme; »hören Sie mich Emilie, ich komme nicht, Sie zu beunruhigen; nein bei Gott, ich liebe Sie zu sehr, zu sehr für meine Ruhe.«
Emilie sah ihn einen Augenblick mit furchtsamen Zweifel an. — »So verlassen Sie mich, mein Herr, verlassen Sie mich auf der Stelle.«
»Hören Sie mich Emilie«, fuhr Morano fort; »hören Sie mich! ich liebe und bin in Verzweiflung — ja in Verzweiflung! Wie kann ich Sie ansehn und wissen, daß es vielleicht das letztemal ist, ohne allen Schmerz der Verzweiflung zu fühlen. Aber es soll nicht so seyn; Sie sollen mein werden, trotz Montoni und aller seiner Niederträchtigkeit.«
»Trotz Montoni?« rief Emilie voll Erstaunen — »höre ich recht —«
»Sie hören, daß Montoni ein Nichtswürdiger ist«, rief Morano heftig; »ein Nichtswürdiger der Sie meiner Liebe verkaufen wollte, der —«
»Und verdient der, welcher mich kaufen wollte, einen bessern Namen?« sagte Emilie, indem sie einen Blick ruhiger Verachtung auf den Grafen warf. »Verlassen Sie sogleich das Zimmer« fuhr sie mit einer zwischen Furcht und Freude zitternden Stimme fort, »sonst werde ich das Haus herbei rufen und Sie werden dann von Montonis Rache erhalten, was ich vergebens von seinem Mitleid erfleht habe. —«
»Von seinem Mitleid werden Sie nie etwas hoffen können«, sagte Morano, »er hat mir schändlich mitgespielt und meine Rache soll ihn verfolgen. Und was Sie betrift, Emilie für Sie hat er ohne Zweifel einträglichere Pläne.«
Der Schimmer von Hofnung, den des Grafen erste Reden erweckt hatten, wurde durch diese letzten Worte wieder erstickt. Ihr Gesicht verrieth, was in ihrer Seele vorgieng, und der Graf suchte sich diese Entdeckung zu Nutze zu machen.
»Ich verliere nur Zeit«, sagte er; »ich kam nicht, um gegen Montoni meinen Unwillen auszulassen: ich kam, um Emilien zu bitten, zu flehn — um ihr alles zu sagen, was ich leide, um sie anzuflehn, mich von der Verzweiflung, und sich selbst vom Untergange zu retten. Glauben Sie mir Emilie, Montoni ist unergründlich in seinen Plänen, aber er ist fürchterlich: er kennt keine Grundsätze, wenn sein Eigennutz oder sein Ehrgeitz ins Spiel kommt. Kann ich Sie lieben, und Sie seiner Macht überlassen! fliehen Sie, o fliehen Sie aus diesem finstern Kerker mit einem Manne, der Sie anbethet. Ich habe den Bedienten im Schlosse bestochen, mir die Thore zu öfnen, und morgen ehe der Tag anbricht, sollen Sie nicht fern von Venedig mehr seyn.«
Emilie, überwältigt von dem plötzlichen Stoß, den sie in dem Augenblick erlitten hatte, wo sie auf bessere Tage zu hoffen anfieng, glaubte jetzt rings um sie her Verderben zu sehn. Unvermögend zu antworten, ja nur zu denken, warf sie sich bleich und athemlos in einen Stuhl. Daß Montoni sie ehmals an Morano verkauft hatte, war sehr wahrscheinlich; daß er jetzt seine Einwilligung in diese Heirath zurückgenommen hatte, erhellte aus des Grafen jetzigem Betragen, und es war wohl gewiß genug, daß nur ein seinem Eigennutze noch mehr entsprechender Plan ihn bewegen konnte, denjenigen aufzugeben, den er bisher so hartnäckig verfolgt hatte. Diese Betrachtungen machten sie über Moranos Winke, an deren Wahrheit sie nicht länger zweifeln konnte, zittern, und wenn sie vor den neuen Auftritten des Leidens und der Tyrannei, die im Schlosse Udolpho auf sie warten konnten, zurückbebte, mußte sie zugleich einsehn, daß sie ihnen nur einzig dadurch entgehn konnte, wenn sie sich dem Schutz eines Mannes unterwarf, bei dem sie noch gewissere, und nicht minder schreckliche Uebel voraus sah; Uebel, bei denen sie keinen Augenblick verweilen mochte.
Ihr Schweigen, wiewohl es das Schweigen der Verzweiflung war, belebte Moranos Hofnungen, er sah sie mit ungeduldigem Verlangen an, ergriff ihre widerstrebende Hand, drückte sie an sein Herz und beschwur sie aufs neue, sich ohne Verzug zu bestimmen. »Mit jedem Augenblicke, den wir zögern«, sagte er, »wird unsre Abreise gefährlicher; diese wenigen verlornen Augenblicke können machen, daß Montoni uns einholt.«
»Ich bitte Sie, mein Herr, schweigen Sie still«, sagte Emilie schwach: »ich fühle mich in der That sehr unglücklich, und unglücklich muß ich auf allen Fall bleiben. Ueberlassen Sie mich, ich verlange es durchaus, überlassen Sie mich meinem Schicksale.«
»Nimmermehr!« rief der Graf mit Heftigkeit. »Erst müßte ich selbst umkommen! Aber verzeihn Sie mir; der Gedanke, Sie zu verlieren, ist Wahnsinn! Montonis Character kann Ihnen nicht unbekannt seyn; vielleicht aber sind es Ihnen seine Absichten — wäre das nicht, so würden Sie nicht länger anstehn, zwischen meiner Liebe und seiner Macht zu wählen.«
»Auch stehe ich nicht an«, sagte Emilie.
»So lassen Sie uns gehn«, sagte Morano, indem er ihr feurig die Hand küßte und aufstand. »Mein Wagen wartet hinter dem Schlosse.«
»Sie verstehn mich unrecht«, sagte Emilie. »Erlauben Sie mir, Ihnen für den Antheil, den Sie an meiner Wohlfahrt nehmen, zu danken, und nach meiner eignen Wahl zu entscheiden. Ich werde unter dem Schutze des Signor Montoni bleiben.«
»Unter seinem Schutze«, rief Morano stolz. »Sein Schutz! Emilie, warum wollen Sie sich so täuschen lassen? Ich habe Ihnen schon gesagt, was Sie von seinem Schutze erwarten können!«
»Verzeihn Sie mir, mein Herr, wenn ich in diesem Falle einen Zweifel in bloße Behauptungen setze, und lieber etwas verlange, das einem Beweise ähnlich sieht.«
»Ich habe weder Zeit noch Mittel, Beweise herbeizuschaffen«, sagte der Graf.
»Und wenn Sie es auch hätten, so habe ich noch weniger Lust, sie zu hören.«
»Aber Sie spielen mit meiner Geduld und mit meinem Schmerz«, fuhr Morano fort. »Ist eine Verbindung mit einem Manne, der Sie anbethet, so schrecklich in Ihren Augen, daß Sie sie allem Elende vorziehn möchten, wozu Montoni Sie in diesem entfernten Kerker verdammen kann? Irgend ein Elender muß diese Neigung geraubt haben, die mir gehören sollte, sonst könnten Sie nicht so hartnäckig einen Antrag ausschlagen, der Sie vor aller Tyrannei schützen müßte.«
»Diese Rede, Graf Morano, beweist hinlänglich, daß meine Liebe Ihnen auf keine Weise gebührt«, sagte Emilie sanft, »so wie dies Betragen beweist, daß ich auf keine Weise vor Tyrannei gesichert seyn würde, so lange ich in Ihrer Macht bliebe. Wenn Sie wünschen, daß ich anders denken soll, so hören Sie auf, mich länger durch Ihre Gegenwart zu quälen. Wenn Sie es mir verweigern, so werden Sie mich zwingen, Sie der Ahndung des Signor Montoni auszusetzen.«
»Ja lassen Sie ihn kommen«, rief Morano wütend, »und meiner Ahndung trotzen. Lassen Sie ihn sich erdreisten, dem Manne, den er so ungescheut beleidigt hat, noch einmal ins Gesicht zu sehn; die Gefahr soll ihm Moral, und die Rache Gerechtigkeit lehren. Lassen Sie ihn kommen und mein Schwerdt in seinem Herzen fühlen.«
Die Heftigkeit, womit er dies sagte, gab Emilien neuen Stoff zur Unruhe; sie stand von ihrem Stuhle auf, allein ihr zitternder Körper weigerte sich, sie zu tragen, und sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl nieder. — Die Worte erstarben auf ihren Lippen, und sie sah nur zu gut, wenn sie einen Blick auf die verschloßne Thüre warf, daß es ihr unmöglich seyn würde, das Zimmer zu verlassen, ohne daß Morano ihre Absicht merkte und hinderte.
Ohne zu bemerken, was in ihr vorgieng, schritt er in äusserster Bewegung im Zimmer auf und ab. Sein düstres Gesicht verrieth alle Wuth der Eifersucht und Rache, und wer den Ausdruck der unaussprechlichen Zärtlichkeit gesehn hätte, die er noch vor wenig Augenblicken seinen Zügen geben wollte, würde nicht geglaubt haben, daß dies Gesicht dasselbe seyn könnte.
»Graf Morano«, sagte Emilie, die endlich die Sprache wieder gewann, »stillen Sie, ich beschwöre Sie, diese Heftigkeit, und hören Sie auf die Vernunft, wenn Sie auf Mitleid nicht hören wollen. Sie haben Ihre Liebe eben so unrecht angewandt, als Ihren Haß. Ich hätte niemals die Neigung, womit Sie mich beehrt haben, erwiedern können, und habe gewiß sie niemals aufgemuntert: eben so wenig hat Signor Montoni Sie beleidigt, denn Sie mußten wissen, daß er kein Recht hatte, über meine Hand zu bestimmen, wenn er auch ja die Macht dazu besessen hätte. Verlassen Sie also das Schloß, so lange Sie es noch mit Sicherheit können. Ersparen Sie sich die schrecklichen Folgen einer ungerechten Rache und den Vorwurf, mir diese Augenblicke des Leidens verlängert zu haben.«
»Sind Sie für meine oder für Montonis Sicherheit so sehr besorgt?« sagte Morano kalt, indem er sie mit einem scharfen Blicke ansah.
»Für beide«, erwiederte Emilie zitternd.
»Ungerechte Rache!« rief der Graf, der in die abgebrochnen Töne der Leidenschaft zurück fiel. »Wer kann dies Gesicht ansehn, und irgend eine Strafe groß genug für die Beleidigung glauben, die er mir zufügen wollte. Ja, ich will das Schloß verlassen, aber nicht allein. Ich habe schon zu lange getändelt. Da meine Bitten und mein Leiden nichts über Sie vermögen, so soll es die Gewalt. Unten warten Leute, um Sie nach meinem Wagen zu bringen. Schreien wird Ihnen nichts helfen: denn man kann Sie aus diesem entlegnen Theile des Schlosses nicht hören; lassen Sie sich also gutwillig gefallen mit mir zu gehen.«
Diese Erinnerung war für den Augenblick überflüssig: Emilie wußte zu gut, daß Schreien ihr zu nichts helfen konnte, und Schrecken hatte ihre Gedanken so gänzlich verwirrt, daß sie nicht wußte, was sie Morano sagen sollte, sondern stumm und zitternd in ihrem Stuhle sitzen blieb, bis er näher kam, um sie heraus zu heben. Sie richtete sich nun plötzlich auf und sagte mit einer zurückweisenden Bewegung, und einem gezwungen heitern Gesicht: »Graf Morano, ich bin jetzt in Ihrer Gewalt, allein Sie müssen selbst fühlen, daß dieses Betragen Ihnen unmöglich die Achtung verschaffen kann, die Sie so sehr zu wünschen scheinen, und daß Sie sich in dem Elende einer Freundlosen Waise eine Last von Gewissensbissen bereiten, die Sie nie wieder los werden können. Ist Ihr Herz in der That so verhärtet, daß Sie ohne Gefühl die Qual ansehn können, zu der Sie mich verdammen wollen?«
Das Bellen des Hundes, der jetzt wieder aus dem Bette hervorkam, unterbrach Emilien, Morano sah nach der Thüre und als er niemand erblickte, rief er laut: »Cesario!«
»Emilie«, sagte der Graf, »warum wollen Sie mich zu diesem Betragen zwingen? Wie weit lieber möchte ich Sie überreden, als zwingen, die meinige zu werden: aber bei Gott, ich will Sie nicht von Montoni verkaufen lassen. Allein ein Gedanke, der Wahnsinn mit sich führt, blitzt mir durch die Seele; ich weiß nicht, wie ich ihn ausdrücken soll. Es ist entsetzlich — nein es kann nicht seyn — aber Sie zittern — Sie werden blaß — ja es ist, es ist so — Sie — Sie lieben Montoni!« rief der Graf, indem er Emiliens Arm ergriff und mit den Füßen auf die Erde stampfte.
Eine unwillkührliche Verwunderung blickte aus ihrem Gesicht. »Wenn Sie das würklich geglaubt haben«, sagte sie, »so glauben Sie es immerhin.«
»Dieser Blick, diese Worte bestätigen es«, rief Morano wüthend. »Nein, nein! Montoni hat eine reichere Beute vor Augen als Gold. Aber er soll nicht leben, um über mich zu triumphiren. Diesen Augenblick« — das laute Bellen des Hundes unterbrach ihn —
»Bleiben Sie, Graf Morano«, sagte Emilie, durch seine Worte, und durch die Wuth, die aus seinen Augen blitzte, erschreckt. »Ich will Sie aus diesem Irrthum reißen. Unter allen Männern auf der Welt ist Montoni gewiß am wenigsten gemacht, Ihr Nebenbuhler zu seyn; aber dennoch werde ich, wenn alle andere Mittel, mich zu retten, vergebens sind, versuchen, ob meine Stimme nicht seine Bedienten mir zu Hülfe rufen kann.«
»In einem solchen Augenblick«, erwiederte Morano, »ist auf eine wörtliche Versicherung nicht zu bauen. Wie konnte ich nur einen Augenblick zweifeln, daß er Sie sehn und nicht lieben könnte! Aber meine erste Sorge muß jetzt seyn, Sie aus dem Schlosse zu bringen. Cesario! he Cesario!«
Eine Mannsgestalt erschien jetzt an der Thüre, und man hörte noch jemand heraufkommen. Emilie that einen lauten Schrei, als Morano sie durch das Zimmer schleppte, und in demselben Augenblicke hörte sie ein Geräusch an der Thüre, die auf den Gang stieß. Der Graf stand einen Augenblick still, als wenn seine Seele zwischen Liebe und dem Verlangen nach Rache schwankte, und in demselben Augenblicke öfnete sich die Thüre und Montoni, von dem alten Verwalter und verschiedenen andern Personen begleitet, drang herein.
»Zieh!« rief Montoni dem Grafen zu, der sich dies nicht zum zweitenmal sagen ließ, sondern sich stolz umdrehte, indem er die Sorge für Emilien den Leuten übertrug, die sich auf der andern Seite sehn ließen.
»Dies in dein Herz, Elender«, sagte er, und stieß mit dem Degen nach Montoni, der den Stoß abwehrte, und einen andern nach ihm führte, während einige von den Leuten, die ihm ins Zimmer gefolgt waren, sich bemühten, die Streitenden auseinander zu bringen, und andre Emilien aus den Händen von Moranos Bedienten befreiten.
»Mußte ich Sie deswegen unter meinem Dache aufnehmen, Graf Morano?« sagte Montoni in einem kalten spöttischen Tone; »erlaubte ich Ihnen deswegen, ohngeachtet Sie mein erklärter Feind waren, die Nacht unter demselben zuzubringen. Mußten Sie meine Gastfreiheit mit der Verrätherei eines Feindes bezahlen, und mir meine Nichte rauben?«
»Wer spricht von Verrätherei?« sagte Morano mit unverhaltner Heftigkeit. »Er wage es, mir mit dem Bewußtseyn der Unschuld ins Gesicht zu sehn. Montoni, Sie sind ein Nichtswürdiger. Wenn Verrätherei hier im Spiel war, so sehn Sie sich selbst als den Urheber davon an. Wenn — sage ich das würklich? ich, den Sie mit so beispielloser Niederträchtigkeit behandelten? den Sie schwerer, als Sie je wieder gut zu machen vermögen, beleidigten? Aber warum verschwende ich Worte? Komm, Feiger, und empfange deinen gerechten Lohn von meinen Händen.«
»Feiger!« rief Montoni, riß sich von den Leuten los, die ihn hielten, und drang auf den Grafen ein. Beide zogen sich jetzt auf den Corridor zurück, wo sie mit solcher Heftigkeit fochten, daß keiner von den Zuschauern sich ihnen zu nähern wagte. Montoni schwur, daß der erste, der sich zwischen sie legte, von seiner Hand fallen sollte.
Eifersucht und Rache liehen Morano alle ihre Wuth, während Montonis höhere Kunst und Kaltblütigkeit ihn in Stand setzte, seinen Nebenbuhler zu verwunden. Des Grafen Bedienten wollten ihn jetzt ergreifen, allein er ließ sich nicht zurückhalten und fuhr ohngeachtet seiner Wunde zu fechten fort. Er schien weder Schmerz noch Blutverlust zu fühlen, und nur für die Wuth seiner Leidenschaften empfänglich zu seyn. Montoni hingegen setzte mit stolzer aber doch vorsichtiger Tapferkeit das Gefecht fort. Die Spitze von Moranos Degen streifte ihm den Arm, allein in demselben Augenblicke sah er sich von Montoni schwer verwundet und entwafnet. Er sank in die Arme seiner Bedienten zurück, während Montoni seinen Degen über ihm hielt, und ihm befahl, um sein Leben zu bitten. Morano, der unter dem Schmerz seiner Wunde erlag, hatte kaum durch eine Bewegung mit der Hand, und durch wenige, schwach ausgesprochne Worte erwiedert, daß er es nicht würde, als er in Ohnmacht sank. Montoni war in Begrif, ihm, wie er ohne Bewußtseyn da lag, das Schwerdt in die Brust zu stoßen, allein Cavigni hielt ihm den Arm. Er ließ sich ohne viele Mühe zurückhalten, allein seine Gesichtsfarbe verdunkelte sich beinahe bis zum Schwarzen, als er seinen gefallnen Gegner ansah, und er befahl, ihn sogleich aus dem Schlosse zu tragen.
Emilie, die man während des Zweikampfs verhindert hatte, aus dem Zimmer zu gehn, kam jetzt in den Gang, und führte die Sache der Menschlichkeit, mit den Gefühlen des wärmsten Wohlwollens, indem sie Montoni bat, dem Grafen die Hülfe, welche sein Zustand erfoderte, im Schlosse zu gewähren. Allein Montoni, der selten auf Mitleid gehört hatte, schien jetzt nach Rache zu dürsten, und befahl aufs neue mit der Grausamkeit eines Unthiers, seinen niedergeworfnen Feind aus dem Schlosse zu bringen, obgleich kein andrer Aufenthalt als die Wälder, oder vielleicht eine einsame Hütte vorhanden war, um ihm Schutz für die Nacht zu geben.
Da des Grafen Bedienten erklärt hatten, daß sie ihn nicht von der Stelle bringen würden, bis er wieder aufgelebt sey, stand Montoni unthätig da, Cavigni machte ihm Vorstellungen und Emilie, über seine Drohungen erhaben, gab Morano Wasser und hieß die Umstehenden seine Wunde verbinden. Montoni hatte endlich Zeit, den Schmerz seiner eignen Wunde zu fühlen, und zog sich zurück, um sie zu untersuchen.
Der Graf hatte sich indessen langsam erholt, und der erste Gegenstand, den er sah, als er die Augen aufschlug, war Emilie, die sich mit einem Gesichte, das die äusserste Bekümmerniß ausdrückte, über ihn neigte. Er betrachtete sie mit einem Blicke des Schmerzes.
»Ich habe dies verdient« sagte er, »aber nicht von Montoni. Von Ihnen Emilie habe ich Strafe verdient, und erhalte nun Mitleid.«
Er hielt inne, denn die Sprache wurde ihm schwer. Nach einem Augenblick fuhr er fort. »Ich muß Sie aufgeben, aber nicht an Montoni. Vergeben Sie mir die Leiden, die ich schon über Sie gebracht habe; allein jenes Elenden Niederträchtigkeit soll nicht ungestraft bleiben. Bringt mich von diesem Orte«, sagte er zu seinen Bedienten. »Ich bin ietzt nicht im Stande zu reisen; ihr müßt mich also in die nächste Hütte bringen, denn unter seinem Dache will ich die Nacht nicht zubringen, sollte ich auch unterwegens umkommen.«
Cesario schlug vor, daß er vorausgehn und sich nach einer Hütte erkundigen wollte, ehe er seinen Herrn fortzubringen versuchte; allein Morano wollte durchaus fort; der Schmerz seiner Seele schien größer zu seyn, als der seiner Wunde, und er verwarf mit Verachtung Cavignis Erbieten, daß er Montoni ersuchen wollte, ihn die Nacht im Schlosse zu behalten. Cesario wollte nun den Wagen vor das große Thor fahren lassen, allein der Graf verbot es ihm. »Ich kann das Stoßen des Wagens nicht aushalten«, sagte er; »ruf noch einige von meinen Leuten herbei, daß sie mich forttragen helfen.«
Endlich aber ließ er sich doch zureden, und gab zu, daß Cesario vorausgehn, und eine Hütte zu seinem Empfang einrichten sollte. Emilie wollte nunmehr, da er seine Sinne wieder erlangt hatte, sich fortbegeben, als Montoni ihr den Befehl dazu schickte, und zugleich sagen ließ, daß der Graf, wenn er noch da wäre, sich unverzüglich fortmachen sollte. Unwillen flammte aus Moranos Augen.
»Sagt Montoni«, hub er an, »daß ich gehn werde, sobald es meiner Bequemlichkeit gemäß ist; daß ich das Schloß, welches er sein zu nennen wagt, verlasse, wie die Höhle einer Schlange, und daß dies nicht das letzte ist, was er von mir hören soll. Sagt ihm, ich werde nicht noch einen Mord auf seiner Seele lassen, wenn ich umhin kann.«
»Graf Morano, wissen Sie auch was Sie sagen?«, erwiederte Cavigni.
»Ja, Signor, ich weiß recht gut, was ich sage, und er wird recht gut verstehn, was ich meine. Sein Gewissen wird diesmal seinem Verstande zu Hülfe kommen.«
»Graf Morano«, sagte Verezzi, der ihn bisher stillschweigend beobachtet hatte, »wagen Sie es noch einmal meinen Freund zu lästern, so werde ich Ihnen diesen Degen in den Leib stoßen.«
»Diese Handlung wäre des Freundes eines Niederträchtigen würdig!« sagte Morano, den die Heftigkeit seines Unwillens in Stand setzte, sich aus den Armen seiner Bedienten aufzurichten; allein diese Kraft dauerte nur einen Augenblick, und er sank, von der Anstrengung ermüdet, wieder zurück. Montonis Leute hielten indessen Verezzi, der geneigt schien, in diesem Augenblicke selbst, seine Drohung auszuführen, und Cavigni, der nicht so herabgesunken war, Verezzis feige Bosheit zu unterstützen, suchte ihn fortzuschaffen. Emilie, die nur durch mitleidige Theilname so lange hier zurückgehalten ward, wollte jetzt in neuem Schrecken fortgehn, als Moranos flehende Stimme sie zurück hielt, der sie durch eine schwache Bewegung näher zu kommen bat. Sie kam mit furchtsamen Schritten herbei, allein die ohnmächtige Schwäche seines Gesichts erweckte aufs neue ihr Mitleid, und überwältigte ihr Entsetzen.
»Ich gehe auf immer von hier«, sagte er; »vielleicht werde ich Sie nie wieder sehn. Ich möchte gern Ihre Vergebung Emilie, ja noch mehr, Ihre gute Wünsche mit mir nehmen.«
»So empfangen Sie denn meine Vergebung«, sagte Emilie, »und meine aufrichtigsten Wünsche für ihre Genesung.«
»Und nur für meine Genesung?« sagte Morano mit einem Seufzer.
»Für Ihr allgemeines Wohl«, setzte Emilie hinzu.
»Vielleicht sollte ich damit zufrieden seyn«, fuhr er fort; »gewiß habe ich nicht mehr verdient; aber ich möchte Sie bitten Emilie, zuweilen an mich zu denken, und meine Beleidigung vergessend, sich nur der Leidenschaft, welche sie veranlaßte, zu erinnern. Ach! ich möchte Sie um das Unmögliche bitten, Sie bitten mich zu lieben. In diesem Augenblicke, wo ich im Begrif stehe, von Ihnen zu scheiden, und vielleicht auf immer, bin ich kaum meiner selbst mächtig. Emilie, mögen Sie nie die Qual einer Leidenschaft, wie die meinige, kennen lernen! Was sage ich, o daß Sie für mich einer solchen Leidenschaft empfänglich wären.«
Emilie verlangte mit Ungeduld fortzukommen. »Ich bitte Sie inständigst, Graf, auf Ihre eigene Sicherheit zu denken«, sagte sie, »und hier nicht länger zu verweilen. Ich zittre vor den Folgen von Verezzis Zorn und von Montonis Rache, wenn er erführe, daß Sie noch hier sind.«
Eine fliegende Röthe überzog Moranos Gesicht; seine Augen funkelten, allein er bemühte sich, seine Bewegung zu unterdrücken, und sagte mit ruhiger Stimme: »da Sie an meinem Wohl Antheil zu nehmen würdigen, so will ich auch darauf bedacht seyn, und mich fortbegeben. Aber lassen Sie mich, ehe ich gehe, noch einmal hören, daß Sie mir Gutes wünschen«, sagte er, und heftete einen ernsten, traurigen Blick auf sie.
Emilie wiederholte ihre Versicherungen. Er nahm ihre Hand, die sie kaum zurück zu ziehn wagte, und drückte sie an seine Lippen.
»Leben Sie wohl! Graf Morano«, sagte Emilie, und wollte gehn, als eine zweite Botschaft von Montoni anlangte; sie beschwor nun aufs neue den Grafen, wenn ihm sein Leben lieb wäre, das Schloß unverzüglich zu verlassen. Er sah sie schweigend, mit einem Blick starrer Verzweiflung an, allein sie hatte nicht Zeit, ihre mitleidigen Bitten noch nachdrücklicher zu wiederholen, und da sie nicht wagte, Montonis zweiter Aufforderung nicht zu gehorsamen, verließ sie den Corridor, um zu ihm zu gehn.
Er lag auf einem Ruhebette in dem Sprachzimmer am großen Saal, und litt an seiner Wunde einen Schmerz, den wenig Menschen, so wie er, würden haben verbergen können. Sein finstres, aber ruhiges Gesicht, drückte die düstre Leidenschaft der Rache, aber keine Spur von Schmerz aus; er hatte in der That den körperlichen Schmerz von jeher verachtet, und nur den starken, schrecklichen Erschütterungen der Seele Raum gegeben. Der alte Carlo und Signor Bertolini befanden sich bei ihm; Madame Montoni aber war nicht gegenwärtig.
Emilie zitterte, als sie sich ihm näherte, und einen scharfen Verweis erhielt, seiner ersten Auffoderung nicht gehorcht zu haben. Sie wurde gewahr, daß er ihr Bleiben einem Bewegungsgrunde zuschrieb, der nie in ihre arglose Seele gekommen war.
»Dies ist ein Beweis von weiblichen Eigensinn, den ich hätte voraussehn können«, sagte er. »Graf Morano, dessen Bewerbung Sie hartnäckig abwiesen, so lange ich sie gut hieß, besitzt, wie es scheint, jetzt, seitdem ich ihn zurückgewiesen habe, Ihre Gunst.«
Emilie sah ihn voll Erstaunen an. »Ich begreife Sie in der That nicht«, sagte sie. »Sie können doch unmöglich zu verstehn geben wollen, daß der Graf seinen Plan, in mein Zimmer zu kommen, auf meine vorhergegangne Einwilligung gegründet hätte.«
»Darauf lasse ich mich gar nicht ein«, versetzte Montoni, »aber es müßte gewiß eine mehr als gewöhnliche Theilnahme seyn, die Sie zu seiner so warmen Vorsprecherin machte, und Sie so lange, trotz meinem ausdrücklichen Befehl, in seiner Gegenwart hielt — in der Gesellschaft eines Mannes, den Sie bisher bei allen Gelegenheiten so ängstlich vermieden haben!«
»Ich fürchte allerdings, Signor, daß es eine mehr als gewöhnliche Theilnahme war, denn seit kurzem habe ich Ursache gefunden die Gefühle der Menschlichkeit für eine ungewöhnliche Erscheinung zu halten; allein wie war es möglich, den kläglichen Zustand des Grafen anzusehn, ohne den Wunsch zu fühlen, ihm zu helfen.«
»Sie gesellen Heuchelei zu Eigensinn«, sagte Montoni finster, »und einen Versuch zu spotten, zu beiden; allein ehe Sie sich herausnehmen, andern Personen moralische Vorschriften zu geben, sollten Sie zuvor die Tugenden ausüben lernen, die einem Weibe nie fehlen dürfen: Aufrichtigkeit, Einförmigkeit des Betragens und Gehorsam.«
Emilie, die sich stets bemüht hatte, ihr Betragen nach den strengsten Gesetzen der Schicklichkeit zu ordnen, und deren Seele von dem feinsten Gefühl nicht nur von dem, was recht, sondern auch was schön im weiblichen Character ist, durchdrungen war, erschrack bei diesen Worten: doch schwellte sogleich das Bewußtseyn, Lob und nicht Tadel zu verdienen, ihr Herz, und sie schwieg in stolzem Selbstgefühl. Montoni, der ihre Delikatesse kannte, wußte, wie scharf sie seinen Verweis fühlen würde, allein er kannte den Reichthum des innern Werthes nicht, und ahndete nichts von der Stärke der Empfindung, an der jetzt sein Spott zurückprallte. Er wandte sich zu einem Bedienten, der eben hereintrat, und fragte, ob Morano das Schloß verlassen hätte. Der Bediente antwortete, daß seine Leute eben im Begrif wären, ihn auf einer Tragbahre in eine benachbarte Hütte zu bringen. Diese Nachricht schien Montoni einigermaßen zu besänftigen, und als kurz darauf Ludovico erschien und ihm ankündigte, daß Morano fort wäre, sagte er Emilien, daß sie sich wieder in ihr Zimmer begeben könnte.
Sie war sehr geneigt, sich von ihm zu entfernen, allein der Gedanke, den Ueberrest der Nacht in einem Zimmer zuzubringen, in welches jeder Fremde durch die Thüre nach der Winkeltreppe hereinkommen konnte, beunruhigte sie jetzt mehr als je, und sie nahm sich vor, bei Madame Montoni anzusprechen und sie zu bitten, daß sie Annetten erlauben möchte, bei ihr zu bleiben.
Als sie in die große Gallerie kam, hörte sie zwei Personen zusammen streiten; sie stand furchtsam still, erkannte aber bald Cavignis und Verezzis Stimme, und gieng in der Hofnung ihren Streit zu schlichten, auf sie zu. Sie waren alleine. Verezzis Gesicht flammte noch immer von Zorn, und da der erste Gegenstand desselben jetzt von ihm entfernt war, schien er geneigt, ihn auf Cavigni überzutragen, der mehr ihm Vorstellungen zu machen, als mit ihm zu streiten schien.
Verezzi versicherte, daß er Montoni unverzüglich von der Beleidigung, die Morano gegen ihn ausgestoßen hätte, Nachricht geben wollte. Cavigni widerrieth es ihm und da Emilie ihre Bitten mit seinen Gründen vereinigte, brachten sie es endlich so weit, daß Verezzi fortzugehn versprach, ohne Montoni zu sehn.
Sie fand ihrer Tante Zimmer verschlossen, doch wurde es auf ihr Klopfen sogleich von Madame Montoni selbst geöfnet.
Man wird sich erinnern, daß Emilie durch eine Thüre, die aus dem hintern Gange in das Schlafzimmer führte, einige Stunden zuvor heimlich hereingekommen war. Sie schloß jetzt aus Madame Montonis ruhigem Wesen, daß sie nichts von dem Unfalle ihres Mannes wüßte, und suchte ihr das Geschehene auf die behutsamste Art beizubringen, als ihre Tante sie unterbrach und ihr sagte, daß sie alles wüßte.
Emilie wußte zwar, daß sie wenig Ursache hatte, Montoni zu lieben, doch hätte sie einer so gänzlichen Unempfindlichkeit gegen ihn, sie kaum fähig gehalten. Sie erhielt die Erlaubnis, Annetten in ihrem Zimmer schlafen zu lassen, und begab sich unverzüglich dahin.
Man sah eine Spur von Blut auf dem Gange, der dahin führte, und auf der Stelle, wo der Graf und Montoni gefochten hatten, war die ganze Erde befleckt. Emilien schauderte, und sie stützte sich auf Annetten, als sie vorübergieng. So wie sie ihr Zimmer erreichte, nahm sie sich vor, da die Thüre nach der Winkeltreppe offen geblieben war, und sie Annetten bei sich hatte, unverzüglich zu untersuchen, wohin sie führte, ein Umstand, der für ihre eigne Sicherheit jetzt sehr wichtig war. Annette schlug halb neugierig und halb furchtsam vor, die Treppe herunter zu gehn, als sie sich aber der Thüre näherten, wurden sie gewahr, daß sie bereits von aussen befestigt war, und ließen es sich nunmehr blos angelegen seyn, sie auch von innen zu befestigen, und mit allem schweren Geräth zu verrammeln, was sie nur im Zimmer aufbringen konnten. Emilie legte sich darauf zu Bette und Annette blieb auf einem Stuhle am Kamin sitzen, wo noch einige schwache Funken glimmten.
Wir müssen jetzt einige Umstände nachholen, womit wir die Erzählung von Emiliens schneller Abreise von Venedig und von den Ereignissen, die so schnell auf ihre Ankunft im Schlosse folgten, nicht wohl unterbrechen konnten.
Am Morgen ihrer Abreise war der Graf um die bestimmte Stunde in Montonis Haus gekommen, um seine Braut zu fodern. Bei seinem Eintritt fiel ihm die Stille und Einsamkeit im Vorzimmer auf, wo sich Montonis Bedienten gewöhnlich aufzuhalten pflegten; allein seine Verwunderung verwandelte sich bald in Erstaunen, und sein Erstaunen in die Wuth getäuschter Hofnung, als ein altes Weib die Thüre öfnete, und seinen Leuten sagte, daß ihr Herr und seine Familie Venedig des Morgens in aller Frühe verlassen hätte. Er traute kaum seinen Ohren und sprang aus der Gondel, um selbst weiter zu fragen. Die alte Frau, die einzige Person, der die Sorge für das Haus übertragen war, blieb auf ihrer Aussage, von deren Wahrheit die leeren Zimmer ihn bald überzeugten. Er fiel nun mit drohender Gebährde, als wollte er alle seine Rache an ihr auslassen, über sie her, und that ihr zwanzig Fragen in einem Athem, und zwar mit so wüthender Stimme, daß sie alle Kraft zu antworten verlor; dann ließ er sie plötzlich los, stampfte wie ein toller Mensch mit den Füßen und verwünschte Montoni und seine eigne Thorheit.
Als die gute Frau sich wieder in Freiheit sah, und sich einigermaßen von ihrem Schrecken erholt hatte, erzählte sie ihm alles, was sie von der Sache wußte, welches freilich sehr wenig, aber doch genug war, um Morano zu überzeugen, daß Montoni nach seinem Schlosse in den Appeninischen Gebürgen gegangen seyn müsse. Er folgte ihm dahin, sobald seine Leute die nöthigen Anstalten zur Reise getroffen hatten, von einem Freunde und von einer hinlänglichen Anzahl Bedienten begleitet, mit dem festen Vorsatze, Emilien zu bekommen, oder volle Rache an Montoni zu nehmen. Als er sich von dem ersten Anfall der Wuth erholt und seine Gedanken gesammlet hatte, erinnerte ihn sein Gewissen an einige Umstände, die Montonis Betragen einigermaßen erklärten, nur konnte er nicht errathen, auf welche Art Montoni dahin gekommen war, eine Absicht zu argwöhnen, die wie er glaubte, niemand ausser ihm wissen konnte. Allein der sympathetische Scharfsinn, der so zu sagen, zwischen schlechten Seelen herrscht, und den einen wissen lehrt, was der andre in ähnlichen Fällen thun wird, hatte ihn diesmal verrathen. Montoni hatte jetzt unbezweifelte Beweise von der Wahrheit erhalten, die er lange argwöhnte, daß Moranos Umstände nicht so vortheilhaft waren, als er ihn wollte glauben machen, sondern daß er vielmehr tief in Schulden steckte. Montoni hatte sich blos aus eigennützigen Rücksichten des Stolzes und Geitzes für ihn verwandt; den erstern hoffte er durch Emiliens Verbindung mit einem venetianischen Edelmann, den letztern durch Emiliens Guth in Gasconien zu befriedigen, das ihm zum Lohn für seine Begünstigung vom Tage der Heirath an ausgeliefert werden sollte. Indessen hatte er Gelegenheit genug gehabt, üble Folgen von des Grafen unbegränzter Verschwendung zu fürchten; allein erst am Abend vor der bestimmten Hochzeit erfuhr er mit Gewißheit, in wie sehr schlechten Umständen er sey. Er fand es nun sehr wahrscheinlich, daß Morano ihn um Emiliens Guth zu betrügen dächte und wurde in dieser Vermuthung mit anscheinendem Rechte durch das Betragen des Grafen bestärkt, der sich am Abend, wo er die Schrift zu unterzeichnen versprochen hatte, nicht einfand. Dieses Ausbleiben hätte sich zwar bei einem so leichtsinnigen Manne, als Morano, und zu einer Zeit, wo seine Seele mit dem Gedanken an seine nahe Hochzeit so sehr beschäftigt war, wohl entschuldigen lassen; allein Montoni stand nicht einen Augenblick an, es auf seine eigne Art zu erklären, und nachdem er einige Stunden vergebens auf des Grafen Ankunft gewartet hatte, gab er seinen Leuten Befehl, sich auf einen Wink zur Abreise bereit zu halten. Er reiste nach Udolpho, um sowohl Emilien vor Morano in Sicherheit zu bringen, als auch um die Sache abzubrechen, ohne sich in unnütze Erörterungen einzulassen; und wenn der Graf eine, wie er es nannte, ehrenvolle Absicht hätte, so zweifelte er nicht, daß er Emilien folgen und die Schrift unterzeichnen würde. Wenn er nur dies erreichte, so lag ihm übrigens ihr Wohl so wenig am Herzen, daß er sich nicht bedacht haben würde, sie einem Manne von schlechten Glücksumständen aufzuopfern, wenn er nur sich selbst dadurch bereichern konnte, und er enthielt sich, der Absicht seiner plötzlichen Reise gegen sie zu erwähnen, damit nicht die Hofnung, die dadurch rege gemacht werden mußte, sie unbiegsamer machte, wenn er Unterwerfung von ihr fodern würde.
Mit diesen Vorsätzen hatte er Venedig verlassen, und mit andern, ganz verschiedenen, verfolgte bald darauf Morano seinen Weg durch die rauhen Appeninen. Als er im Schlosse angekündigt wurde, glaubte Morano nicht, daß er das Herz haben würde, sich sehn zu lassen, wenn er nicht sein Versprechen zu erfüllen dächte. Er nahm ihn deswegen ohne Bedenken an; allein Moranos wüthendes Gesicht und seine Aeusserungen rissen ihn sogleich aus seinem Irrthum und als Montoni ihm zum Theil die Ursach seiner plötzlichen Abreise von Venedig erklärt hatte, beharrte der Graf dennoch darauf, Emilien zu fodern und Montoni Vorwürfe zu machen, ohne einmal des vorhergegangnen Vergleichs zu erwähnen.
Montoni, der des Streites müde war, verschob es endlich bis morgen, ihn zu schlichten, und Morano zog sich mit einiger Hofnung, die auf Montonis anscheinende Unschlüssigkeit gebaut war, zurück. Als er aber in der Stille seines Zimmers über das gehabte Gespräch, über Montonis Character, und über einige frühere Beweise seiner Falschheit nachdachte, verschwand diese Hofnung, und er beschloß, die gegenwärtige Gelegenheit, sich auf andre Art Emiliens Besitz zu verschaffen, nicht zu vernachlässigen. Er eröfnete seinem vertrauten Diener seine Absicht, Emilien zu entführen, und ließ ihn zu Montonis Leuten gehn, um einen unter ihnen aufzufinden, der ihm zur Ausführung dieses Plans behülflich seyn könnte. Er überließ die Wahl gänzlich dem Scharfsinn dieses Vertrauten, und nicht mit Unrecht: denn er machte einen Mann ausfindig, den Montoni bei einer vorhergehenden Gelegenheit einmal hart behandelt hatte, und der jetzt bereit war, ihn zu verrathen. Dieser Mann führte Cesario durch einen geheimen Gang und ums Schloß nach der Winkeltreppe, die zu Emiliens Zimmer führte, zeigte ihm einen kurzen Ausweg aus dem Gebäude, und verschaffte ihm nachher die Schlüssel, ihm den Rückweg zu sichern. Er erhielt einen reichen Lohn für seine Verrätherei; wie der Graf für die seinige belohnt wurde, haben wir bereits gesehn.
Indessen hatte der alte Carlo zwei Bedienten von Morano behorcht, die mit dem Wagen hinter den Schloßmauern warten sollten, und die sich gegenseitig ihre Verwunderung über ihres Herrn plötzliche und geheime Abreise äusserten: denn der Bediente hatte ihnen nicht mehr von Moranos Absichten gesagt, als sie zur Ausrichtung ihres Auftrags zu wissen brauchten. Für Carlo aber war dies genug, um den wahren Zusammenhang der Sache zu errathen; nur wollte er sich erst mehr Bestätigung seines Argwohns verschaffen, ehe er ihn Montoni zu entdecken wagte, und stellte sich zu dem Ende mit einem von seinen Kammeraden an die Thüre von Emiliens Zimmer, das auf den Gang stieß. Er brauchte nicht lange vergebens zu warten; sobald er überzeugt war, daß Morano im Zimmer sey, und genug von seinem Gespräch gehört hatte, um seines Planes gewiß zu seyn, rief er Montoni herbei und befreite dadurch Emilien aus den Händen des Grafen.
Montoni erschien den folgenden Morgen wie gewöhnlich, ausser daß er seinen verwundeten Arm in einer Binde trug; er gieng auf die Wälle, sah nach den Leuten, die bei den Ausbessern beschäftigt waren; gab Befehl, noch mehr Arbeiter anzustellen und kam dann wieder ins Schloß, um einige Leute zu sprechen, die eben angekommen und in ein besonderes Zimmer geführt waren, wo er sich beinahe eine Stunde mit ihnen unterhielt. Carlo wurde nun herbei gerufen und erhielt Befehl, die Fremden in Zimmer zu führen, die ehmals von den obern Hausbedienten waren bewohnt worden, und sie mit allen nöthigen Erfrischungen zu versorgen. Nachdem er dies gethan hatte, erhielt er Befehl, wieder zu seinem Herrn zu kommen.
Der Graf blieb indessen in einer Hütte am Walde, litt Körper- und Seelenpein und brütete tiefe Rache gegen Montoni. Sein Bedienter, den er nach einem Wundarzt in die nächste Stadt, die aber doch ziemlich weit entfernt war, geschickt hatte, kam erst den folgenden Tag zurück. Der Arzt fand die Wunde bedenklich, hieß den Kranken sich ruhig verhalten und blieb in der Hütte, um den Ausgang abzuwarten.
Emilie hatte indessen den Rest dieser unruhigen Nacht in ungestörtem Schlummer zugebracht; und als ihre Seele aus der Betäubung des Schlafs erwachte und sie sich erinnerte, daß sie nunmehr von des Grafen Morano Verfolgung befreit war, fühlte sie sich von einem Theil der schrecklichen Last, die so lange auf ihr gelegen hatte, entbunden, und fühlte nur noch eine Besorgnis wegen der Absichten, die vielleicht Montoni mit ihr haben könnte, und wovon der Graf ihr bereits einige beunruhigende Winke gegeben hatte. Doch faßte sie den Entschluß, sich nicht mit Sorgen für die Zukunft zu ängstigen; sie suchte ihre Zeichengeräthschaften hervor und setzte sich in ein Fenster, um von der Gegend aussen einige Züge zu einer Landschaft auszuwählen.
Indem sie sich damit beschäftigte, sah sie unten auf dem Walle, die Leute gehn, die kürzlich im Schlosse angekommen waren. Der Anblick von Fremden überraschte sie, und vorzüglich von Fremden wie diese. Sie hatten etwas besonderes in ihrer Kleidung, und eine gewisse Kühnheit in ihrem Wesen, die ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Ihre Figur schien so ganz zu dem Wilden der sie umgebenden Gegenstände zu passen, daß sie auf den Einfall gerieth, sie als Banditen in der Bergaussicht, die sie entworfen hatte, zu zeichnen; nachdem sie mit ihrer Arbeit fertig war, erstaunte sie selbst über den Geist, der in dem Gemählde herrschte; allein sie hatte die Natur kopiert.
Montoni befragte den alten Carlo, auf welche Art Morano in der vergangnen Nacht die Schlüssel zum Schlosse erhalten hätte, allein obgleich dieser Alte seinem Herrn zu treu war, um ihm Unrecht geschehn zu lassen, wollte er doch seinen Mitbedienten nicht verrathen; er gab vor, daß er nichts davon wisse, und Montonis Verdacht fiel nun natürlich auf den Thürsteher, den er sogleich rufen ließ.
Bamardine, so hieß er, läugnete die Anklage mit einem so festen, unerschrocknen Gesicht, daß Montoni ihn kaum für schuldig halten konnte, so schwer es ihm auch wieder von der andern Seite ward, ihn für unschuldig zu halten. Er mußte ihn endlich fortgehn lassen, ohne zu entdecken, daß er wirklich der Verbrecher war.
Montoni gieng nunmehr in seiner Frau Zimmer, wohin Emilie ihm bald darauf folgte: da sie aber beide in heftigem Streite antraf, wollte sie das Zimmer sogleich wieder verlassen, als ihre Tante sie zurück rief und ihr zu bleiben befahl.
»Sie sollen Zeugin meines Widerstandes seyn«, sagte sie; »wiederholen Sie jetzt den Befehl, Signor, dem zu gehorchen ich mich so oft geweigert habe.«
Montoni wandte sich mit finsterm Gesicht zu Emilien, und hieß sie das Zimmer verlassen, während seine Frau darauf bestand, daß sie bleiben sollte. Emilie wollte sich gerne von dieser Scene des Streits entfernen und wünschte doch eben so sehr, ihrer Tante gefällig zu seyn; allein sie verzweifelte, Montoni zu versöhnen, aus dessen Augen der furchtbare Sturm in seinem Innern schrecklich flammte.
»Gehn Sie aus dem Zimmer«, sagte er mit donnernder Stimme. Emilie gehorchte, und dachte indem sie den Wall herunter gieng, den die Fremden jetzt verlassen hatten, über die unglückliche Heirath von ihres Vaters Schwester, und über ihre eigne traurige Lage nach, worin die lächerliche Unbesonnenheit derjenigen, die sie immer zu ehren und zu lieben gewünscht hätte, sie gestürzt hatte. Madame Montonis Betragen hatte in der That Emilien beides unmöglich gemacht, doch wurde ihr sanftes Herz von ihrem Kummer gerührt, und sie vergaß über dem rege gemachten Mitleid die schwächliche Behandlung, die sie von ihr erlitten hatte.
An der Thüre des Saals kam ihr Annette entgegen, die sich vorsichtig umsah, und dann auf sie zukam.
»Liebes Fräulein, ich habe mich im ganzen Schlosse nach Ihnen umgesehn«, sagte sie. »Wenn Sie hieher kommen wollen, so werde ich Ihnen ein Gemählde zeigen.«
»Ein Gemählde«, rief Emilie schaudernd.
»Ja, Fräulein, ein Gemählde von der vorigen Besitzerin dieses Schlosses. Der alte Carlo sagte mir eben, daß sie es wäre, und ich glaubte, Sie würden vielleicht neugierig seyn, es zu sehn. Mit meiner Frau, wissen Sie wohl, lässt sich über solche Dinge nicht sprechen.«
»Und mit jemand«, sagte Emilie lächelnd, »mußtest du doch darüber sprechen.«
»Freilich wohl Fräulein, was sollte man auch an einem solchen Orte als dieser ist, anfangen, wenn man nicht sprechen dürfte? Wenn ich auch in einem Gefängnis wäre und dürfte nur reden, so würde es mir ein Trost seyn, ja, ich würde reden, wenn es auch nur mit den Wänden wäre. Aber kommen Sie Fräulein, wir verlieren Zeit, lassen Sie mich Ihnen das Gemählde zeigen.«
»Ist es hinter einem Vorhange« sagte Emilie nach einer Pause.
»Bestes Fräulein«, sagte Annette, und heftete ihre Augen starr auf Emilien; »warum werden Sie so blaß? befinden Sie sich nicht wohl?«
»Nicht doch, Annette, ich befinde mich recht wohl, aber ich habe kein Verlangen, das Gemählde zu sehn, geh wieder in den Saal.«
»Wie Fräulein, Sie wollen die Dame dieses Schlosses nicht sehn? die Dame nicht, die auf so sonderbare Art verschwunden ist? Wahrhaftig, ich würde bis zu jenem weitesten Berge gelaufen seyn, um ein solches Gemählde zu sehn; und die Wahrheit zu sagen, diese sonderbare Geschichte ist das einzige, was mir in diesem alten Schlosse merkwürdig ist, wiewohl mich ein Schauder überläuft, so oft ich daran denke. Aber kommen Sie, lassen Sie uns das Gemählde sehn.«
»Weißt du gewiß, daß es ein Gemählde ist«, sagte Emilie. »Hast du es gesehn? — Ist es hinter einem Vorhange verborgen?«
»Heilige Jungfrau Maria, nicht doch, ja, nicht doch! Ich weiß gewiß, das es ein Gemählde ist; ich habe es gesehn, und es ist hinter keinem Vorhange.«
Der Ton und Blick der Verwunderung, womit sie dies sagte, rief Emilien zur Besinnung zurück; sie verbarg ihre Bewegung unter einem Lächeln, und hieß Annetten, sie zu dem Gemählde zu führen. Es hieng in einem finstern Zimmer, das an den Theil des Schlosses stieß, der den Bedienten angewiesen war. Noch verschiedene andre Gemählde, so wie dieses, mit Staub und Spinngewebe bedeckt hiengen an der Wand.
»Das ist es, Fräulein«, sagte Annette leise, und zeigte darauf hin. Emilie trat näher, und betrachtete das Gemählde. Es stellte ein Frauenzimmer in der Blüte der Jugend und Schönheit vor; ihre Züge waren schön und edel, voll starken Ausdrucks, hatten aber nichts von dem holden einnehmenden, was Emilie erwartet hatte, und noch weniger von der sanften Milde, die sie liebte. Es war ein Gesicht, das mehr die Sprache der Leidenschaft als der Empfindung, den stolzen Ueberdruß des Unglücks, aber nicht die stille Schwermuth eines gekränkten Geistes verrieth.
»Wie viel Jahre sind es schon, seit die Dame verschwunden ist, Annette?«, sagte Emilie.
»Zwanzig Jahre, Fräulein, oder doch ohngefähr so lange wie man sagt: es soll schon eine geraume Zeit seyn.« Emilie staunte das Gemählde unverwandt an.
»Ich denke«, erwiederte Annette, »der Signor würde gut thun, es an einem bessern Orte, als in diesem alten Zimmer aufzuhängen. Nein bei meiner Ehre; er sollte das Gemählde einer Dame, die ihm alle diese Reichthümer verschafte, im schönsten Zimmer des Schlosses aufhängen. Allein er mag wohl seine guten Ursachen zu dem haben, was er thut, einige Leute sagen, daß er sowohl seinen Reichthum, als seine Dankbarkeit verloren hat. Aber still, Fräulein, kein Wort davon«, sagte Annette, und legte den Finger auf die Lippen. Emilie war zu sehr in Gedanken vertieft, um zu hören, was sie sagte.
»Es ist gewiß eine schöne Dame«, fuhr Annette fort, »der Signor brauchte sich nicht zu schämen, sie in das große Zimmer zu bringen, wo das verschleierte Gemählde hängt.« Emilie drehte sich um. »Allein was das betrift, so würde man sie dort eben so wenig sehn, als hier, denn die Thüre ist immer verschlossen.«
»Laß uns aus dem Zimmer gehn«, sagte Emilie, »und laß dich noch einmal warnen, in deinen Gesprächen vorsichtig zu seyn, und dir nie merken zu lassen, daß du etwas von dem Gemählde weißt.«
»Heilige Mutter«, rief Annette, »es ist ja kein Geheimnis: alle Bedienten haben es schon gesehn.«
Emilie fuhr zusammen. »Wie — sie haben es gesehn — wann? Wo?«
»Liebstes Fräulein, das ist ja wohl nicht zu verwundern; wir hatten alle ein wenig mehr Neugierde als Sie?«
»Ich verstand, daß die Thüre verschlossen gehalten würde«, sagte Emilie.
»Wenn das wäre, Fräulein«, sagte Annette, indem sie sich umsah, »nie hätten wir dann herein kommen können.«
»O du meinst dies Gemählde«, sagte Emilie wieder beruhigt. »Gut Annette, hier ist nun nichts weiter, was meine Aufmerksamkeit verdiente. Laß uns gehn.«
Als Emilie sich nach ihrem Zimmer begab, hörte sie laut im Saale reden.
»Wir glauben nur, was wir wissen«, sagte Verezzi, »und wir wissen nichts von dem, was Morano behauptet.« Montoni schien sich wieder zu erholen: »Ich bin hitzig in dem was meine Ehre betrift, keiner soll sie ungestraft in Zweifel ziehn; allein ich weiß nun, daß dies auch nicht Ihre Absicht war. Diese thörigten Worte sind nicht werth, daß Sie sich ihrer erinnern, oder daß ich sie ahnde. Verezzi, auf das Glück Ihres ersten Unternehmens.«
»Glück Ihrem ersten Unternehmen!« wiederhallte die ganze Gesellschaft.
»Edler Signor«, erwiederte Verezzi, der sich freute, Montonis Ahndung entgangen zu seyn, »wenn es nach meinem Willen geht, so sollen Sie Ihre Mauern von Gold bauen.«
»Laßt den Becher rings umgehn«, rief Montoni.
»Wir wollen eins auf das Wohl des Fräuleins St. Aubert trinken«, sagte Cavigni.
»Mit Erlaubnis, zuvor eins auf das Wohl der Dame des Schlosses«, sagte Bertolini. —
Montoni schwieg —
»Der Dame des Schlosses« — sagten seine Gäste; er verneigte sich mit dem Kopfe.
»Es wundert mich sehr, Signor«, sagte Bertolini, »daß Sie dies Schloß so lange vernachlässigt haben; es ist ein edles Gebäude.«
»Es ist für unsere Absichten sehr bequem«, erwiederte Montoni, »und ist ein edles Gebäude. Wie es scheint, wissen Sie nicht, durch was für einen besondern Zufall es an mich gekommen ist?«
»Es war ein glücklicher Zufall, was es auch gewesen seyn mag, Signor«, erwiederte Bertolini lächelnd: »ich wünschte nur, daß mich ein ähnliches betreffen möchte.«
Montoni sah ihn ernsthaft an. »Wenn Sie mir aufmerksam zuhören wollen«, sagte er, »so sollen Sie die Geschichte hören.«
Bertolini und Verezzis Gesicht verrieth mehr als Neugierde; Cavigni, der keine zu fühlen schien, hatte wahrscheinlich die Geschichte schon gehört.
»Es sind nun beinahe zwanzig Jahre, daß dies Schloß mir zugefallen ist«, sagte Montoni. »Ich erbte es von weiblicher Seite. Meine Vorgängerin war nur weitläuftig mit mir verwandt; ich bin der letzte von ihrer Familie: sie war schön und reich; ich warb um sie, allein sie hieng an einem andern und verwarf mich, wahrscheinlich aber hat derjenige, dem sie ihre Liebe geschenkt hatte, wer er auch gewesen seyn mag, sie ebenfalls ausgeschlagen: denn eine tiefe und bleibende Schwermuth bemeisterte sich ihrer, und ich habe Ursache zu glauben, daß sie selbst ihrem Leben ein Ende gemacht hat. Ich befand mich damals nicht im Schlosse; allein die Umstände ihres Todes waren so sonderbar und dunkel, daß ich sie erzählen werde.«
»Erzählen sie!« sagte eine Stimme.
Montoni schwieg; die Gäste sahen einander an, um zu wissen, wer spräche, allein sie merkten, daß jeder das nämliche fragte. Montoni faßte sich endlich. »Wir werden behorcht«, sagte er: »laßt uns ein anderesmal weiter davon sprechen. Laßt den Becher umgehn.«
Die Ritter sahen sich rings im großen Zimmer um.
»Hier ist niemand, als wir«, sagte Verezzi, »fahren Sie doch fort.«
»Haben Sie etwas gehört?«, sagte Montoni.
»Allerdings«, sagte Bertolini.
»Es kann wohl nur Einbildung gewesen seyn«, sagte Verezzi, und sah sich rings umher. »Wir sehen niemand ausser uns, und der Ton schien mir doch aus dem Zimmer zu kommen. Ich bitte Signor, fahren Sie fort.«
Montoni schwieg einen Augenblick und fuhr dann leise fort, während die Ritter näher kamen, um ihn zuzuhören.
»Sie müssen wissen, Signors, daß die Dame Laurentini schon einige Monathe vorher Spuren von Tiefsinn, ja von zerrütteter Einbildungskraft, verrathen hatte. Ihre Stimmung war sehr ungleich; oft versank sie in ruhige Melancholie, und dann wieder verrieth sie alle Zeichen von Wahnsinn. Eines Abends im Monath October, nachdem sie von einem dieser Anfälle sich erholt hatte, und wieder in ihre gewöhnliche Melancholie zurückgefallen war, zog sie sich allein in ihr Zimmer zurück, und befahl, daß niemand sie stöhren sollte. Es war das Zimmer am Ende des Corridors, wo wir vergangne Nacht das Gefecht hatten. — Seit dieser Stunde hat man sie nicht mehr gesehn.«
»Wie? nicht mehr gesehn?« sagte Bertolini; »hat man nicht ihren Leichnam im Zimmer gefunden?«
»Hat man nie ihre Ueberreste gefunden?«, rief die ganze Gesellschaft mit einmüthiger Stimme
»Niemals«, erwiederte Montoni.
»Aus was für Ursachen glaubte man denn, daß sie sich selbst umgebracht hätte?«, sagte Bertolini.
»Ja, das möchte ich auch wissen«, sagte Verezzi: »wie kam es, daß man ihre Ueberreste niemals gefunden hat? Wenn sie sich auch selbst tödtete, so konnte sie sich doch nicht selbst begraben.« Montoni warf einen unwilligen Blick auf Verezzi, der eine Entschuldigung anfieng. »Verzeihn Sie, Signor«, sagte er, »ich bedachte nicht, daß die Dame mit Ihnen verwandt war, als ich so leicht von ihr sprach.«
Montoni ließ sich die Entschuldigung gefallen.
»Allein der Signor wird uns verbinden, wenn er uns sagt, aus welchen Gründen er glaubt, daß die Dame einen Selbstmord begangen hätte.«
»Darüber werde ich mich nachher erklären«, sagte Montoni; »jetzt lassen Sie mich Ihnen einen sehr sonderbaren Umstand erzählen. Aber hören Sie wohl zu, meine Herren!«
»Höret!« sagte eine Stimme.
Sie schwiegen alle aufs neue, und Montonis Gesicht veränderte sich. »Dies ist keine Einbildung«, sagte Cavigni, der endlich das tiefe Stillschweigen unterbrach. »Nein wahrhaftig nicht! Ich hörte es jetzt eben mit meinen eignen Ohren; und doch ist niemand im Zimmer als wir.«
»Das ist doch sehr sonderbar«, sagte Montoni, indem er plötzlich aufstand. »Hier wird ein Betrug, irgend ein böser Streich gespielt. Ich will wissen, was das bedeutet.«
Die ganze Gesellschaft stand betroffen von ihren Stühlen auf.
»Es ist sehr sonderbar«, sagte Bertolini. »Gewiß ist doch kein Fremder hier im Zimmer. Wenn es ein Schalksstreich ist Signor, so wollen wir den Urheber schwer bestrafen.«
»Ein Schalksstreich! was könnte es sonst seyn«, sagte Carigni, indem er sich zum Lachen zwang.
Die Bedienten wurden herein gerufen und das Zimmer durchsucht, aber niemand gefunden. Die Gesellschaft wurde immer verlegner. Montoni gerieth ausser Fassung. »Wir wollen das Zimmer verlassen, und nicht weiter von der Sache reden! sie ist zu ernsthaft.«
Seine Gäste waren eben so bereit als er, das Zimmer zu verlassen; allein das Gespräch hatte ihre Neugierde rege gemacht, und sie baten Montoni in ein anderes Zimmer mit ihnen zu gehen und es zu beendigen: allein kein Bitten konnte ihn dahin bringen. So sehr er sich auch bemühte, ruhig zu scheinen, war er doch sichtlich in großer Bewegung.
»Nun Signor, Sie sind doch nicht abergläubig«, rief Verezzi spöttisch; »Sie, der so oft über die Leichtgläubigkeit anderer gelacht hat.«
»Ich bin nicht abergläubisch«, erwiederte Montoni und sah ihn mit finsterm Unwillen an, »wiewohl ich die Gemeinplätze verachte, womit man so oft gegen den Aberglauben zu Felde zieht. Ich werde die Sache weiter zu ergründen suchen.« Er verließ darauf das Zimmer, und seine Gäste begaben sich jeder in das seinige.
Wir kehren nun zu Valancourt zurück, der, wie wir uns noch erinnern werden, nach Emiliens Abreise rastlos und unglücklich zu Thoulouse zurück blieb. Mit jedem anbrechenden Morgen nahm er sich vor, von da abzureisen, und doch kehrte ein Tag nach dem andern zurück, und immer verweilte er noch in der Gegend seiner verschwundnen Glückseligkeit. Er konnte sich nicht sogleich von der Stelle losreißen, wo er so oft mit Emilien gesprochen hatte; von den Gegenständen, die sie so oft zusammen gesehn hatten, und die ihm Denkmähler ihrer Liebe sowohl, als Unterpfänder ihrer Treue zu seyn schienen, und der Schmerz, von den Gegenden Abschied zu nehmen, die ihr Bild so lebhaft in ihm erweckten, war nicht viel geringer, als der Schmerz, den er beim Abschiede von ihr selbst empfunden hatte. Oft hatte er sich von einem Bedienten, dem die Aufsicht über Madame Montonis Schloß aufgetragen war, die Erlaubniß erkauft, den Garten zu besuchen, und hier irrte er zu ganzen Stunden, in eine nicht unangenehme Schwermuth vertieft, umher. Die Terrasse, und der Pavillon am Ende desselben, wo er am Abend vor Emiliens Abreise von Thoulouse, Abschied von ihr genommen hatte, waren sein liebster Aufenthalt. Wenn er hier gieng oder sich zum Fenster heraus lehnte, suchte er sich an alles, was sie an dem Abend gesagt hatte, zu erinnern; die Töne ihrer Stimme sich zurückzurufen die noch in seinem Gedächtniß lebten, und sich ganz den Abdruck ihres Gesichts zu mahlen, das oft wie eine schöne Erscheinung plötzlich vor seine Phantasie trat: dieses reitzende Gesicht, das, wie durch augenblickliche Magie, alle Zärtlichkeit seines Herzens erweckte, und ihm mit unwiderstehlicher Beredsamkeit zu sagen schien, daß er sie — auf immer verloren hätte. In solchen Augenblicken würden seine schnellen Schritte jedem Zuschauer die Verzweiflung seines Herzens verrathen haben. Er fürchtete alles von Montonis Character und konnte sich nicht zufrieden geben, daß er Emilien nicht dringender von dieser Reise abgehalten hatte. Jeder Nachtheil, der aus ihrer Reise hätte entstehn können, schien so unbedeutend gegen die Gefahr, die ihrer Liebe drohte, oder selbst gegen den Schmerz der Abwesenheit, daß er sich wunderte, wie er hatte aufhören können, in sie zu dringen; und gewiß würde er ihr noch jetzt nach Italien gefolgt seyn, wenn er sich auf eine so lange Zeit von seinem Regimente hätte entfernen dürfen. In der That erinnerte dieses ihn auch bald, daß er noch andere Pflichten, als die der Liebe zu erfüllen hätte.
Kurz nach seiner Ankunft in seines Bruders Hause erhielt er eine Auffoderung, zu seinem Regiment zu kommen, und verfügte sich mit demselben nach Paris, wo er neue und lebhafte Scenen um sich sah, wovon er bisher nur einen schwachen Begrif gehabt hatte. Allein die Freude ekelte ihn an; die Gesellschaft ermüdete seine kranke Seele, und er wurde ein Gegenstand des Spottes für seine Gefährten, von denen er sich so oft als möglich losmachte, um an Emilien zu denken. Doch erregten wenigstens die Gegenstände um ihn her und die Gesellschaft, unter die er sich mischen mußte, seine Aufmerksamkeit, wenn sie auch seine Phantasie nicht beschäftigen konnten, und schwächten nach und nach die Gewohnheit sich Klagen zu überlassen, bis es ihm weniger eine Pflicht der Liebe schien, ihnen nachzuhängen. Unter seinen Mitoffizieren befanden sich verschiedene, die mit der gewöhnlichen französischen Munterkeit einige von den blendenden Eigenschaften vereinigten, die nur zu oft einen Schleier über die Thorheit werfen, und oft sogar die Züge des Lasters in Lächeln verkleiden. Für diese Leute war Valancourts zurückhaltendes, nachdenkendes Wesen eine Art von stummen Vorwurf, über den sie ihn verspotteten, so oft er gegenwärtig war, und hinter seinem Rücken Anschläge gegen ihn machten. Sie frohlockten bei dem Gedanken, ihn zu ihrem eignen Maßstabe herunter zu bringen und machten sich ein wahres Fest daraus, diesen Vorsatz auszuführen.
Valancourt ahndete nichts von diesem Anschlage, gegen den er auf keine Weise auf seiner Huth war. Er war nie gewohnt gewesen, Spott zu ertragen, und lehnte sich dagegen auf — dieses zog ihm nur noch ein lauteres Verlachen zu. Um ähnlichen Auftritten zu entgehn, floh er in die Einsamkeit, wo ihn Emiliens Bild verfolgte und die Qual der Liebe und Verzweiflung neu aufregte. Er suchte nunmehr die geschmackvollen Stunden wieder hervor, welche die Freude seiner frühern Jahre gemacht hatten, allein seine Seele hatte die Ruhe verloren, die zum Genuß derselben erfodert wird. Um sich selbst und die Angst und Schmerzen zu vergessen, welche der Gedanke an sie hervorrief, verließ er seine Einsamkeit und stürzte sich wieder unter die Menge, um nur die Zeit zu tödten und sich die Erheiterung eines Augenblicks zu verschaffen.
So verstrich Woche auf Woche; die Zeit milderte allmählig seinen Kummer, und Gewohnheit verstärkte seinen Hang nach Zerstreuung, bis die Gegenstände um ihn her eine neue Gestalt annahmen, und Valancourt, wie aus den Wolken herab, unter sie gefallen zu seyn schien.
Seine Gestalt und Betragen machten ihn allenthalben willkommen, und er sah sich bald in den besten und lebhaftesten Cirkeln von Paris aufgenommen. Unter diese gehörten die Gesellschaften der Gräfin Lacleur, einer Frau von ausnehmender Schönheit und einnehmendem Wesen. Sie hatte den Frühling der Jugend zurückgelegt, allein ihr Witz verlängerte die Dauer desselben, und erhöhte die Wirkung ihrer Reitze. Diejenigen, die ihre Liebenswürdigkeit gefesselt hatte, sprachen mit Begeisterung von ihren Talenten und andre, die ihre glänzende Einbildungskraft bewunderten, erklärten, daß ihre persönlichen Reitze ihres Gleichen nicht hätten. Allein ihre Einbildungskraft war blos spielend, und ihr Witz — wenn man es anders so nennen konnte, mehr schimmernd als richtig: er blendete und man merkte auf den ersten Anblick nicht, wie falsch er war, denn der Ton, womit sie sprach, das Lächeln, womit sie ihre Einfälle begleitete, wirkten wie ein Talismann auf das Urtheil der Zuhörer. Ihre petits soupers waren die geschmackvollsten in Paris und wurden von vielen Gelehrten der zweiten Klasse besucht. Sie war eine warme Verehrerin der Musik, spielte selbst sehr gut und gab oft Concerte in ihrem Hause. Valancourt, der die Musik leidenschaftlich liebte, und zu Zeiten diesen Concerten beiwohnte, bewunderte ihre Fertigkeit, erinnerte sich aber oft mit einem Seufzer an die beredte Einfalt von Emiliens Gesang, an ihren natürlichen Ausdruck, der nicht erst auf die Billigung des Urtheils zu warten brauchte, sondern auf einmal seinen Weg zum Herzen fand.
Die Frau Gräfin gab oft hohes Spiel in ihrem Hause, das sie zu misbilligen sich stellte, aber insgeheim aufmunterte; es war unter ihren Freunden bekannt genug, daß sie den Glanz ihres Hauses großentheils von dem Ertrag ihrer Spieltische unterhielt. Allein ihre petits soupers waren auch die angenehmsten, die man sich denken konnte! Alle Delikatessen aus allen vier Welttheilen, aller Witz und alle leichten Werke des Genies, aller Zauber des Gesprächs — das Lächeln der Schönheit, die Reitze der Musik waren hier versammlet und Valancourt brachte seine angenehmsten sowohl als seine gefährlichsten Stunden in dieser Gesellschaft hin.
Sein Bruder, der bei seiner Familie in Gasconien blieb, hatte sich begnügt, ihm Empfehlungsbriefe an seine Verwandten zu Paris zu geben. Sie waren alle Leute von Stande, und da weder die Person, noch die Sitten und Eigenschaften Valancourt des jüngern ihnen Schande machen konnten, so nahmen sie ihn mit so viel Güte auf, als ihr durch ununterbrochnen Wohlstand verhärtetes Herz ihnen zuließ, nur erstreckte sich ihre Aufmerksamkeit nicht bis zu wirklichen Freundschaftsdiensten, denn sie waren mit ihrem eignen Interesse zu sehr beschäftigt, um Antheil an dem seinigen zu nehmen, und er sah sich in der Blüte der Jugend, mit einem ofnen, arglosen Gemüth und heissen Leidenschaften in der Mitte von Paris ohne einen Freund, der ihn vor den Gefahren, die ihm drohten, warnen konnte. Emilie, die, wenn sie gegenwärtig gewesen wäre, ihn vor diesen Uebeln gerettet, sein Herz beschäftigt, und ihn zu würdigern Zwecken ermuntert haben würde, vermehrte jetzt nur seine Gefahr — um den Schmerz los zu werden, den die Erinnerung an sie ihm verursachte, suchte er zuerst Zerstreuung, und verfolgte sie, bis Gewohnheit sie ihm zum Bedürfniß machte.
Auch gab es eine Marquise Champfort, eine junge Witwe, in deren Hause er einen großen Theil seiner Zeit zubrachte. Sie war schön, noch mehr schlau als schön, lebhaft und intrigant. Die Gesellschaft, welche sie um sich versammlete, war weniger elegant und mehr versunken als die der Gräfin Lacleur; da sie aber Gewandheit genug besaß, einen Schleier, so dünn er auch war, über die schlimmsten Seiten ihres Characters zu werfen, so wurde sie noch immer von manchen sogenannten Standespersonen besucht. Valancourt wurde von zweien seiner Kammeraden, deren vorige Spötterei er so ganz vergessen hatte, daß er jetzt zuweilen mit ihnen gemeinschaftlich über seine vorigen Sitten lachen konnte, in ihrem Hause eingeführt.
Die Lebhaftigkeit des glänzendsten Hofes in Europa, die Pracht der Palläste, Feste und Equipagen, die ihn umringten — alles vereinte sich, seine Einbildungskraft zu blenden, und seinen Lebensgeistern wieder einen neuen Schwung zu geben, während das Beispiel und die Grundsätze seiner Kammeraden die seinigen verderbten. Zwar lebte Emiliens Bild noch in seiner Seele, aber es war nicht mehr der Freund, der Rathgeber, der ihn vor sich selbst rettete, und zu dem er sich zurückzog, um schwermüthig süße Thränen der Zärtlichkeit zu weinen. Wenn er sich zu ihm flüchtete, so nahm es den Ausdruck eines sanften Vorwurfs an, der seine Seele zerriß und ihm Thränen unvermischten Schmerzes ablockte; seine einzige Rettung war, den Gegenstand desselben zu vergessen, und er gab sich Mühe, so selten als möglich an Emilien zu denken.
In so gefährlicher Lage befand sich Valancourt zu eben der Zeit, wo Emilie zu Venedig von des Grafen Morano Verfolgung und Montonis ungerechter Herrschaft litt, eine Periode, in welcher wir ihn verlassen.
Wir verlassen die frölichen Scenen von Paris, und kehren zu denen in den finstern Appeninen zurück, wo Emiliens Gedanken noch immer treu an Valancourt hiengen. Sie sah ihn als ihre einzige Hofnung an, und erinnerte sich mit der pünktlichsten Genauigkeit an alle Versicherungen, an alle Beweise, die er ihr von seiner Liebe gegeben hatte; sie las immer wieder und wieder die Briefe, die sie von ihm erhalten hatte; wog mit innerer Angst die Stärke jedes Wortes, das von seiner Liebe zeugte und trocknete ihre Thränen im Vertrauen auf seine Wahrhaftigkeit.
Montoni hatte indessen strenge Erkundigung wegen des sonderbaren Vorfalls eingezogen, und wußte ihn am Ende nicht anders zu erklären, als daß es ein übler Streich seyn müßte, den einer von seinen Bedienten ihm gespielt habe. Seine Zwistigkeiten mit Madame Montoni wegen ihres Vermögens wurden nun häufiger als je; er sperrte sie ganz und gar in ihr Zimmer ein, und machte sich kein Bedenken ihr mit noch härterer Behandlung zu drohn, wenn sie auf ihrer Weigerung beharrte.
Wenn sie die Vernunft zu Rathe gezogen hätte, so würde sie in Verlegenheit gewesen seyn, wie sie sich betragen sollte. Sie würde eingesehn haben, wie gefährlich es sey, einen Mann wie Montoni, dessen Händen sie sich so gänzlich hingegeben hatte, durch fernern Widerstand zu reitzen, so wie sie auf der andern Seite gefühlt haben mußte, wie äusserst wichtig es für ihr künftiges Wohl sey, die Besitzungen für sich zu behalten, die sie in Stand setzen konnten, unabhängig von Montoni zu leben, wenn sie sich je seiner unmittelbaren Herrschaft entziehn könnte. Allein sie wurde von einem mächtigern Führer, von dem Geiste der Rache regiert, der sie antrieb, Gewalt der Gewalt, und Hartnäckigkeit der Hartnäckigkeit entgegen zu setzen.
Gänzlich auf die Einsamkeit ihres Zimmers eingeschränkt, sah sie sich nunmehr genöthigt, um die Gesellschaft zu bitten, die sie bisher verschmäht hatte: denn Emilie war ausser Annetten die einzige Person, mit der sie Umgang haben durfte.
Großmüthig besorgt für ihre Ruhe suchte Emilie sie zu überreden, wo sie nicht überzeugen konnte, und gab sich Mühe, sie durch alle sanften Mittel von den harten Antworten zurückzuhalten, wodurch sie Montoni so sehr erbittert hatte. Der Stolz ihrer Tante wich zuweilen Emiliens sanfter Stimme, und es gab sogar Augenblicke, wo sie ihre zärtliche Aufmerksamkeit mit gutem Willen annahm.
Die schrecklichen Auftritte des Streits, die Emilie oft mit ansehn mußte, griffen sie heftiger an, als alles, was sich seit ihrer Abreise von Thoulouse mit ihr zugetragen hatte. Die Sanftmuth und Güte ihrer Eltern, mit den Scenen ihrer frühern Glückseligkeit zusammengenommen, drang oft an ihre Seele gleich den Erscheinungen einer höhern Welt, während die Charactere und Begebenheiten, die jetzt unter ihren Augen vorgiengen, sie sowohl in Schrecken als Verwunderung setzten. Sie hatte bisher keine Ahndung davon gehabt, daß so wilde und verschiedenartige Leidenschaften, als Montoni sehn ließ, in einem Individuum vereinigt seyn könnten: was sie aber noch mehr verwunderte, war, daß er bei wichtigen Gelegenheiten diese Leidenschaften, so ungestümm sie auch waren, so wie es sein Interesse foderte, bändigen, und sogar auf seinem Gesicht ihre Wirkung auf seine Seele verbergen konnte: allein sie hatte ihn zu oft gesehn, wenn er es für unnöthig hielt, sich zu verstellen, um sich bei solchen Gelegenheiten hintergehn zu lassen.
Ihr gegenwärtiges Leben glich dem Traum einer gestöhrten Einbildungskraft oder einer der schrecklichen Dichtungen, woran das wilde Genie der Dichter sich oft ergötzt. Erinnerung des Vergangnen brachte ihr nur Schmerzen und der Blick in die Zukunft nur Schrecken. Wie oft wünschte sie sich auf der Lerche Flügel zu schleichen und mit dem schnellsten Lüftchen fortzueilen, um ihr geliebtes Languedoc und Ruhe noch einmal wieder zu finden.
Sie erkundigte sich oft nach des Grafen Morano Befinden; allein Annette hörte nur unbestimmte Gerüchte von seiner Gefahr, und daß sein Wundarzt gesagt hätte, er würde die Hütte nicht lebendig verlassen. Emilie konnte nicht ohne Ensetzen daran denken, daß sie vielleicht die unschuldige Ursache seines Todes wäre, und Annette die ihre Bewegung bemerkte, unterließ nicht sie auf ihre eigne Art zu deuten.
Als Emilie gegen Abend einige traurige Stunden mit Madame Montoni zugebracht hatte, und eben im Begrif war, sich niederzulegen, wurde sie durch ein seltsames, lautes Klopfen an ihrer Thüre erschreckt, und bald darauf war es, als ob eine schwere Last dagegen fiele, die sie beinahe aufsprengte. Sie rief laut, wer da wäre, und da sie keine Antwort erhielt, rief sie noch einmal — aber alles blieb todtenstill. Es fiel ihr ein, denn in diesem Augenblick war sie nicht im Stande, über Wahrscheinlichkeiten nachzudenken, daß einige von den kürzlich im Schlosse angekommenen Fremden ihr Zimmer ausfündig gemacht hätten, und in der Absicht, der ihr äusseres Ansehn nicht widersprach, herbei kämen, sie zu entführen, vielleicht auch zu ermorden. In dem Augenblick, wo sie dieses möglich glaubte, trat Schrecken an die Stelle der Ueberzeugung, und eine Art von instinktmäßiger Erinnerung, wie weit sie von den übrigen Hausgenossen entfernt sey, erhöhte es so sehr, daß sie beinahe ihrer Sinnen beraubt wurde. Sie sah nach der Thüre, die zu der Winkeltreppe führte, in der Erwartung sie offen zu sehn, und horchte mit furchtsamen Stillschweigen auf die Wiederkehr des Geräusches, bis sie auf den Gedanken kam, daß es von dieser Thüre herkommen müsse, und durch die gegen überliegende zu entwischen wünschte. Sie gieng an die Thüre, die auf den Gang führte, und fürchtete sich doch, sie aufzumachen, weil sie besorgte, daß jemand aussen stehen und lauschen könnte. Indem hörte sie neben sich leise Athem holen, und wurde überzeugt, daß jemand an der andern Seite der Thüre, die schon verschlossen war, seyn müsse. Sie suchte nach einem andern Riegel, fand aber keinen.
Während sie noch lauschte, hörte sie deutlich Athem holen, und ihr Schrecken wurde nicht verringert, als sie rings in ihrem weiten, einsamen Zimmer umher sah, und aufs neue an ihre weite Entfernung vom übrigen Hause dachte. Unschlüssig, ob sie nach Hülfe rufen sollte, wunderte sie sich nur, daß alles still blieb, und würde wieder neuen Muth geschöpft haben, wenn sie nicht noch immer ein schwaches Athemholen gehört hätte, woraus sie sah, daß die Person, wer es auch seyn mochte, die Thüre noch nicht verlassen hatte.
Endlich von Angst erschöpft, beschloß sie aus ihrem Fenster laut um Hülfe zu rufen; sie wollte eben darauf zu gehn, als sie jemand die geheime Treppe herauf kommen zu hören glaubte, und nun in der Erwartung, die Thüre öfnen zu sehn, alles andre vergaß, und nach dem Gange zueilte. Hier suchte sie zu entwischen, als sie aber die Thüre aufmachte, wäre sie um ein Haar über eine Person gestolpert, die aussen quer vor derselben lag. Sie schrie laut und wollte vorüber gehn, allein ihr zitternder Körper weigerte sich, sie zu tragen, und der Augenblick, wo sie sich an die Wand lehnte, ließ ihr Muße, die Gestalt vor ihr zu betrachten und Annettens Züge zu erkennen. Furcht machte nunmehr dem Erstaunen Platz. Umsonst sprach sie mit dem armen Mädchen, das sinnlos auf der Erde lag, und eilte, alles Gefühl ihrer eigenen Schwäche vergessend, ihr zu Hülfe.
Als Annette wieder zu sich selbst kam, half Emilie ihr in das Zimmer, allein sie war noch immer nicht im Stande zu sprechen und sah rings umher, als wenn ihre Augen jemand im Zimmer verfolgten. Emilie suchte ihre gestörten Lebensgeister zu beruhigen und enthielt sich fürs erste, eine Frage an sie zu thun; allein das Vermögen der Sprache blieb bei Annetten niemals lange zurück und sie erklärte in gebrochnen Worten, und auf ihre langweilige Art die Ursache ihres zerstörten Wesens. Sie betheuerte, und mit einer so festen Ueberzeugung, daß Emiliens Ungläubigkeit beinahe schwankte, sie hätte eine Erscheinung gesehn, als sie auf dem Wege nach ihrer Schlafkammer, durch den Gang gekommen sey.
»Ich hatte schon vorher seltsame Dinge von diesem Zimmer gehört«, sagte Annette, »weil es aber so nahe bei dem Ihrigen war, so mochte ich Ihnen nichts erzählen, um Sie nicht zu erschrecken. Die Bedienten hatten mir oft gesagt, daß es darin spükte, und daß es aus dieser Ursache verschlossen würde; ja was das betrift, so ist freilich die ganze Reihe von diesen Zimmern hier verschlossen. Ich mußte immer schreien, so oft ich vorbei kam, und ich muß sagen, daß es mir oft vorkam, als hörte ich inwendig seltsame Geräusche. Aber wie ich sage, als ich den Gang hinauf gieng, und mit keiner Silbe an die Sache dachte, so wenig als an die sonderbare Stimme, die die Herren des Nachts zuvor gehört hatten, kam auf einmal ein großes Licht, und als ich mich umsah, erblickte ich eine lange Figur, — ich sah sie so deutlich Fräulein, als ich Sie jetzt sehe — die — ich kann Ihnen gar nicht beschreiben, wie — in das Zimmer schlüpfte, das immer verschlossen ist, und wozu niemand als der Signor den Schlüssel hat, — und die Thüre sogleich hinter sich zuschloß.«
»So war es gewiß der Signor« sagte Emilie.
»O nicht doch Fräulein, er kann es unmöglich gewesen seyn, denn ich verließ ihn in einem heftigen Streit mit meiner Frau in ihrem Zimmer!«
»Du hinterbringst mir seltsame Mährchen, Annette«, sagte Emilie; »erst diesen Morgen erschrecktest du mich mit deiner Furcht, ermordet zu werden, und nun willst du mich gar überreden du hättest einen Geist gesehn! Diese wunderbaren Geschichten folgen zu schnell auf einander.«
»Nun Fräulein, ich will nichts weiter sagen, nur würde ich gewiß nicht für todt niedergefallen seyn, wenn ich nicht ein solches Schrecken gehabt hätte; ich lief was ich konnte, nach der Thüre, aber was das ärgste war, ich konnte kein Wort hervorbringen — und da dachte ich, es müßte doch etwas ganz sonderbares mit mir vorgegangen seyn, und fiel auf der Stelle nieder.«
»War es das Zimmer, wo das Gemählde mit dem schwarzen Schleier hängt?« sagte Emilie. — »O nein Fräulein, es war näher bei diesem hier. Wie soll ich es anfangen, wieder in mein Zimmer zu kommen? Ich möchte um alles in der Welt willen nicht wieder über den Gang gehn.«
Emilie deren Lebensgeister wirklich einen harten Stoß erlitten hatten, und die nicht gerne die Nacht alleine zubringen wollte, sagte ihr, sie möchte nur bei ihr schlafen. »O nicht doch Fräulein«, erwiederte Annette; »nicht um tausend Zechinen möchte ich in diesem Zimmer bleiben.«
Ermüdet und verdrießlich wollte Emilie anfangs über ihre Furcht spotten, ohngeachtet sie selbst davon angesteckt war, und dann sie durch Gründe davon abzubringen suchen, allein keines von beiden gelang, und das Mädchen blieb durchaus darauf, daß das, was sie gesehn hätte, nichts menschliches gewesen sey. Als Emilie ganz wieder zur Besinnung gekommen war, erinnerte sie sich an die Fußtritte, die sie auf der Winkeltreppe gehört hatte und fand nun einen Grund mehr, durchaus darauf zu bestehn, daß Annette die Nacht bei ihr zubringen sollte, es gelang ihr endlich mit vieler Mühe, da des Mädchens Furcht, über den Gang zu gehn, dazu kam.
Früh am andern Morgen, als Emilie durch den Saal auf den Wall gieng, hörte sie im Vorhofe Gewühl und Pferdestampfen. So ungewöhnliche Töne erregten ihre Neugierde, und statt auf den Wall zu gehn, trat sie vor ein oberes Fenster, von wo sie unten im Hofe eine große Menge Reuter in sonderbarer, aber einförmiger Kleidung und vollständig, obgleich auf verschiedene Art bewafnet, erblickte. Sie trugen ein kurze Jacke von schwarz und scharlach, und verschiedene hatten einen Mantel von einfachen schwarzen Tuch, der ihre Person ganz bedeckte, und bis auf die Steigbügel herab hieng. Einer von diesen Reutern ließ den Mantel ein wenig zurückfallen und sie sah einen Dolch in seinem Wehrgehänge stecken. Sie bemerkte ferner, daß die meisten, die ohne Mäntel waren, ebenfalls Piken oder Wurfspieße führten. Auf dem Kopfe trugen sie kleine italiänische Mützen, die zum Theil mit schwarzen Federn geschmückt waren. Ob nun diese Mützen dem Gesicht ein stolzes Ansehn gaben, oder ob diese Gesichter es von Natur hatten, genug Emilie glaubte bis dahin noch nie eine solche Zusammenstellung von wilden und schrecklichen Gesichtern gesehn zu haben. Es war ihr, als sey sie von Banditen umgeben, und ein dunkler Gedanke fuhr durch ihre Seele, daß Montoni vielleicht der Anführer dieses Haufens und dies Schloß der Ort ihrer Zusammenkunft sey. Diese seltsame schreckliche Vermuthung dauerte nur einen Augenblick, obgleich ihre Vernunft keine wahrscheinlichere an die Stelle setzen konnte, und obgleich sie unter dem Haufen die Fremden erkannte, die sie früher einmal mit so vieler Unruhe bemerkt hatte, und die sich jetzt durch die schwarze Feder auszeichneten.
Indem sie noch da stand, kamen Cavigni, Verezzi, und Bertolini aus dem Saale hervor; sie waren wie die andern gekleidet, ausser daß sie Hüte mit einer schwarz und rothen Feder trugen und daß ihre Waffen von den Waffen der übrigen verschieden waren. Emilien fiel der Ausdruck jubelnder Freude auf Verezzis Gesichte auf; Cavigni war frölich, doch hieng ein Schatten von Nachdenken auf seinem Gesicht; nie aber war seine hohe, einnehmende Gestalt, die das Majestätische eines Helden zeigte, vortheilhafter erschienen, als jetzt, da er mit dem schönsten Anstande sein Pferd regierte. Emilie glaubte zu bemerken, daß seine Figur einige Ähnlichkeit mit Valancourt hatte; vergebens aber suchte sie in seinem Gesicht den edeln, wohlwollenden Ausdruck, — das Gepräge der Seele, welches aus dem Gesichte ihres Abwesenden leuchtete.
Sie hoffte, ohne selbst zu wissen warum, daß Montoni die Gesellschaft begleiten würde; allein er erschien ungerüstet an der Thüre des Saals. Nachdem er die Ritter aufmerksam betrachtet, ein Weilchen mit ihnen gesprochen und ihnen Lebewohl gesagt hatte, drehte sich der ganze Zug rings im Hofe um und ritt unter Verezzis Anführung unter dem Schutzgatter hin. Montoni folgte ihnen bis ans Thor, und staunte ihnen eine Weile nach. Emilie zog sich vom Fenster zurück, und da sie nunmehr vor aller Beunruhigung sicher seyn konnte, gieng sie auf den Wall heraus, von wo sie bald darauf den ganzen Haufen sich zwischen den Bergen nach Westen hinwinden, bald zwischen den Wäldern erscheinen und bald wieder verschwinden sahe, bis die Entfernung ihre Gestalten verwirrte, ihre Zahl verdichtete, und nur noch eine dunkele Masse sich zwischen den Anhöhen bewegte.
Emilie bemerkte, daß keine Arbeiter auf den Wällen waren, und daß die Ausbesserungen an den Festungswerken fertig zu seyn schienen. Während sie gedankenvoll fortschlenderte, hörte sie ferne Fußtritte, und sah verschiedene Männer, die sicher keine Arbeitsleute waren, sondern aussahen als könnten sie wohl zu der Gesellschaft, die eben davon gezogen war, gehören, unter dem Fenster lauschen. Sie wunderte sich, wo Annette wohl so lange gesteckt haben möchte, die ihr manche von diesen Umständen hätte erklären können; da sie aber glaubte, daß Madame Montoni nunmehr wahrscheinlich aufgestanden seyn würde, verfügte sie sich in ihr Zimmer, wo sie ihr erzählte, was vorgefallen war: allein Madame Montoni konnte oder wollte ihr keine Erklärung darüber geben. Des Signors Zurückhaltung gegen seine Frau war nichts ungewöhnliches, doch gab es in Emiliens Augen der ganzen Sache ein geheimnißvolles Ansehn, woraus sie schloß, daß seine Pläne, wo nicht niederträchtig, doch gewiß gefährlich wären.
Annette erschien sogleich und war wie gewöhnlich lauter Unruhe, auf ihrer Herrschaft hastige Frage, was sie bei den Bedienten gehört hätte, antwortete sie:
»Ach gnädige Frau, niemand weiß, was dies alles bedeutet, ausser der alte Carlo; der weiß es mehr als zu gut, aber ich kann wohl sagen, er ist eben so geheimnisvoll als sein Herr. Einige sagen, der Signor wollte ausziehn, um den Feind zurück zu treiben, wie sie es nennen, aber wo ist der Feind? Andre sagen wieder, er wollte ausziehn, um jemandes Schloß wegzunehmen; allein mich däucht, er hat Raum genug in seinem eigenen, ohne daß er andrer Leute ihre wegzunehmen braucht, und es würde mir noch mal so gut darin gefallen, wenn mehr Leute darin wären, um es auszufüllen.«
»Ach diesen Wunsch wirst du, wie ich fürchte, nur zu bald erfüllt sehn«, erwiederte Madame Montoni.
»Nein gnädige Frau. Leute von so übeln Aussehn sind des Habens nicht werth, wenn es noch so hübsche, artige, muntre Bursche wären, als Ludovico, der immer so drollige Geschichten erzählt, die einen Lachen machen. Erst gestern erzählte er mir —«
»O wir brauchen deine Geschichte nicht«, unterbrach sie Madame Montoni.
»Glauben Sie nur, er sieht weit genug, gewiß weiter als manche andre Leute. Er durchsieht des Signors ganze Absicht ohne daß er ein Wort davon weiß.«
»Was ist das?« sagte Madame Montoni.
»Je nun, er sagt — aber ich habe ihm versprechen müssen, es nicht wieder zu sagen — und ich möchte ihn um alles in der Welt willen nicht böse machen.«
»Was ist das, was du ihm versprechen mußtest, nicht zu erzählen?« sagte Madame Montoni finster. »Ich will es durchaus wissen, und zwar sogleich. Was hast du ihm versprechen müssen?«
»O Madame«, rief Annette, »ich möchte es um die ganze Welt nicht sagen.«
»Ich bestehe darauf, daß du es ohne weitere Umstände sagst.«
»O beste gnädige Frau, nicht um hundert Zechinen. Sie werden nicht haben wollen, daß ich mich verschwören soll.«
»Ich will keinen Augenblick länger warten«, sagte Madame Montoni. — Annette schwieg.
»Der Signor soll dies sogleich erfahren«, fuhr ihre Gebieterin fort: »er wird dich schon zur Sprache bringen.«
»O um Gotteswillen, daß nur der Signor nichts erfährt; Ludovico wäre auf ewig unglücklich. Sie sollen alles wissen, gnädige Frau, wenn sie nur dem Signor nichts zu sagen versprechen.«
Madame Montoni versprach es ihr.
»Nun denn Madame, Ludovico sagt, daß der Signor mein Herr ein — das heißt, er denkt nur so, und Gedanken sind ja, wie Sie wissen, gnädige Frau, zollfrei — er denkt, daß der Signor mein Herr ein — ein —«
»Nun heraus damit, was denkt er«, rief Madame Montoni voll Ungeduld. —
»Daß der Signor mein Herr im Begrif steht, ein großer Räuber — daß er im Begrif steht, für seinen eignen Vortheil zu rauben, mit einem Worte, (aber gewiß, er weiß nicht was er sagt) — daß er der Anführer einer Räuberbande werden will.«
»Bist du bei Sinnen?« rief Madame Montoni, »oder ist dies ein angelegter Streich um mich hinters Licht zu führen. Sag mir den Augenblick, was Ludovico wirklich zu dir gesagt hat. Keine Ausflüchte! Auf der Stelle!«
»So Madame, ist das mein ganzer Lohn, das Geheimniß verrathen zu haben?«
Ihre Frau fuhr noch fort in sie zu dringen, und Annette zu protestiren, bis Montoni selbst erschien; er hieß sie aus dem Zimmer gehn und sie zog sich für den Erfolg ihrer Geschichte zitternd zurück. Auch Emilie wollte fortgehn, allein ihre Tante bat sie zu bleiben, und Montoni hatte sie so oft Zeugin ihrer Streitigkeiten seyn lassen, daß er sich kein Bedenken mehr daraus machte.
»Ich verlange durchaus zu wissen, Signor, was dies alles bedeutet«, sagte seine Frau; »wer alle diese bewafneten Männer sind, die, wie ich höre, von hier ausgezogen seyn sollen.«
Montoni antwortete ihr nur mit einem verächtlichen Blick und Emilie flüsterte ihr etwas ins Ohr. »Es ist einerlei«, sagte ihre Tante; »ich will es wissen; so wie ich ebenfalls wissen will, warum dies Schloß befestigt worden ist?«
»Still davon, still«, sagte Montoni: »ich kam in andern Absichten her; ich will nicht länger mit mir spaßen lassen. Ich brauche jetzt nöthig, was ich schon so lange gefodert habe. Diese Güter müssen ohne weitere Einwendung aufgegeben werden, sonst werde ich Mittel finden —«
»Sie sollen nie aufgegeben werden«, unterbrach Madame Montoni — »sie sollen Ihnen nie die Mittel verschaffen, Ihre wilden Absichten auszuführen. Aber worin bestehn diese; ich will es wissen. Erwarten Sie einen Angrif auf das Schloß? Erwarten Sie Feinde? Soll ich hier eingesperrt werden, um in einer Belagerung den Tod zu finden?«
»Unterzeichnen Sie die Schriften«, sagte Montoni, »so sollen Sie mehr erfahren.«
»Was für ein Feind könnte wohl hieher kommen«, fuhr seine Frau fort. »Sind Sie in die Dienste des Staates getreten. Soll ich hier eingeschlossen werden und umkommen?«
»Das könnte sich wohl zutragen«, sagte Montoni ruhig, »wenn Sie mein Verlangen nicht erfüllen: denn es mag auch kommen, was da will, so sollen Sie das Schloß nicht eher verlassen.« Madame Montoni brach in laute Klagen aus, die sie aber eben so plötzlich wieder verstummen ließ, weil ihr einfiel, daß diese Reden nur Kunstgriff seyn könnten, um sie zur Einwilligung zu bringen. Sie gab diesen Argwohn zu verstehn, und setzte gleich darauf hinzu, daß seine Absichten nicht so ehrenvoll wären, als dem Staate zu dienen, und daß sie glaubte, er hätte sich nur zu einem Anführer der Banditen aufgeworfen, um sich mit den Feinden Venedigs im Plündern zu vereinigen und das umliegende Land zu verwüsten.
Montoni sah sie mit einem starren, finstern Blicke an; Emilie zitterte, und seine Frau glaubte einmal in ihrem Leben zu viel gesagt zu haben. »Sie sollen noch heute Abend«, sagte er, »nach dem östlichen Thurme gebracht werden: dort werden Sie vielleicht einsehn lernen, wie gefährlich es ist, einen Mann zu beleidigen, der unumschränkte Gewalt über Sie hat.«
Emilie fiel ihm zu Füßen, und flehte mit Thränen der Angst für ihre Tante, die vor Furcht und Unwillen bebend, da saß, oft in Verwünschungen ausbrechen wollte, und dann wieder gerne ihre Bitten mit Emiliens Bitten vereinigt hätte. Montoni unterbrach indessen diese Bitten bald durch einen schrecklichen Fluch, und riß sich mit solcher Gewalt von Emilien, die ihn beim Mantel hielt, los, daß sie blutend mit dem Kopfe auf die Erde fiel. Er verließ das Zimmer, ohne daß er sich die Mühe gab, sie aufzuheben; allein ihre Aufmerksamkeit wurde bald von ihr selbst ab auf Madame Montoni gezogen, die ohne in Ohnmacht gefallen zu seyn, unbeweglich auf ihrem Stuhle sitzen blieb. Emilie, die sie tief stöhnen hörte, eilte ihr zu Hülfe, und fand sie mit rollenden Augen und verzucktem Gesicht.
Sie redete sie an, ohne eine Antwort zu erhalten und lief nach Wasser, das sie ihr vor den Mund hielt: allein die zunehmenden Krämpfe zwangen sie bald, Hülfe zu rufen. Indem sie durch den Vorsaal gieng, um Annetten zu suchen; stieß sie auf Montoni, dem sie den Zustand ihrer Tante beschrieb, und ihn beschwur, wieder umzukehren und sie zu trösten: allein er drehte sich stillschweigend mit einem gleichgültigen Blick um, und gieng auf den Wall. Endlich fand sie den alten Carlo und Annetten; mit denen sie ins Zimmer eilte, wo sie Madame Montoni in heftigen Verzuckungen auf der Erde liegen fanden. Nachdem sie sie ins nächste Zimmer gebracht und aufs Bett gelegt hatten, mußten sie alle Kräfte anwenden, sie zu halten; Annette zitterte und seufzte, und der alte Carlo sah sie stillschweigend und mitleidig an, ergrif eine von ihren Händen und sagte, indem er sich zu Emilien wandte: »Großer Gott Signora, was soll dies bedeuten?«
Emilie sah ihn ruhig an, wie er seine forschenden Augen auf sie heftete, und Annette schrie laut als sie ihr ins Gesicht blickte: denn Emiliens Wange war voll Blut, das ihr noch immer langsam von der Stirne floß; allein ihre Aufmerksamkeit war so ganz mit dem Auftritt vor ihr beschäftigt, daß sie keinen Schmerz von ihrer Wunde gefühlt hatte. Sie hielt jetzt ein Schnupftuch vors Gesicht und blieb ihrer Schwäche ohngeachtet bei Madame Montoni, deren heftige Krämpfe sich verminderten, bis sie endlich ganz aufhörten und sie in einer Art von dumpfen Betäubung ließen.
»Meine Tante muß ruhig gelassen werden«, sagte Emilie. »Geht guter Carlo, wenn wir eures Beistandes brauchen, will ich euch rufen lassen. Wenn ihr indessen Gelegenheit habt, so sucht euren Herrn zu besänftigen!«
»Ach«, sagte Carlo, »ich habe nur zu viel gesehn! Mein Einfluß bei unserm Herrn ist sehr gering. Aber ich bitte Sie, liebes junges Fräulein, tragen Sie doch Sorge für sich selbst: dies ist eine böse Wunde und Sie sehn schlimm aus.«
»Ich danke euch lieber Freund, für eure Aufmerksamkeit«, sagte Emilie gütig lächelnd. »Die Wunde hat nichts zu bedeuten, sie kam von einem Falle.«
Carlo schüttelte den Kopf und verließ das Zimmer und Emilie blieb mit Annetten bei ihrer Tante zurück. Sie saßen stillschweigend vor dem Bette, bis Madame Montoni einen tiefen Seufzer ausstieß. Emilie ergrif ihre Hand und redete sie sanft an; allein ihre Tante sah sie starr an und brachte lange Zeit zu, ohne sie zu erkennen. Ihre ersten Worte waren eine Frage an Montoni, worauf Emilie mit der Bitte antwortete, daß sie sich ruhig halten und sich aller traurigen Gedanken entschlagen möchte. Wenn sie etwas an Montoni zu bestellen hätte, setzte sie hinzu, so wollte sie selbst es ihm hinterbringen. »Nein« antworte ihre Tante mit schwacher Stimme, »ich habe ihm nichts neues zu sagen; besteht er darauf, daß ich aus meinem Zimmer gebracht werden soll?«
Emilie antwortete, er hätte seitdem nichts davon gesprochen, und bemühte sich nun, ihre Aufmerksamkeit auf einen andern Gegenstand zu ziehn; allein ihre Tante schien auf alles was sie sagte, nicht zu achten und in geheimen Gedanken verloren zu seyn. Nachdem Emilie ihr einige Erfrischungen gereicht hatte, überließ sie es Annetten, für sie zu sorgen und gieng um Montoni aufzusuchen, den sie auf dem Walle unter einem Haufen von Leuten fand, die Annette ihr beschrieben hatte. Sie standen rings um ihn her mit wilden, doch unterwürfigen Blicken, während er heftig sprach und auf die Mauern zeigte, ohne Emilien wahrzunehmen, die in einiger Entfernung stehn blieb, um einen günstigen Augenblick abzuwarten. Ihre Aufmerksamkeit fiel unwillkührlich auf einen Mann, der, wilder als seine Gefährten, auf seine Pike gelehnt, da stand, und über die Schultern eines seiner Kammeraden weg, nach Montoni sah, dem er sehr angelegentlich zuhörte. Dieser Mann war wie es schien, von niedrigem Stande; doch schienen seine Blicke nicht so wie die seiner Gefährten, Montonis Obergewalt anzuerkennen, und oft nahm er sogar ein gewisses Ansehn an, welches Montoni durch keinen seiner stolzen Blicke zu unterdrücken im Stande war. Einige wenige Worte von Montoni verflogen in Winde; als sie aber auseinander giengen, hörte sie ihn sagen, heute Abend also mit Sonnenuntergang begebt euch auf die Wache.
»Mit Sonnenuntergang, Signor«, erwiederte einer von ihnen — sie giengen fort, während Emilie sich Montoni näherte, der sie gern vermeiden zu wollen schien; sie bemerkte es, hatte aber doch den Muth auf ihn zuzugehn. Sie bemühte sich noch einmal, ein Vorwort für ihre Tante einzulegen; stellte ihm ihr Leiden vor, und wie gefährlich es sey, sie in ihrem gegenwärtigen Zustande in ein kaltes Zimmer zu bringen. »Sie leidet durch ihre eigne Thorheit«, sagte Montoni, »und verdient nicht beklagt zu werden, sie weiß auf welche Art sie diese Leiden in Zukunft vermeiden kann; wenn sie nach dem Thurme gebracht wird, so ist es ihre eigne Schuld. Laß sie gehorsamen und die Schriften unterzeichnen, so will ich nicht mehr daran denken.«
Als Emilie noch weiter zu bitten wagte, hieß er sie mürrisch schweigen, und verwies ihr, daß sie sich in seine häuslichen Angelegenheiten mische, endlich aber schickte er sie mit der Erklärung fort: daß er Madame Montoni nicht vor dem folgenden Abend fortschicken, sondern ihr Zeit lassen wollte, zu überlegen, ob sie es vorzöge, ihre Besitzungen aufzugeben, oder sich in dem östlichen Thurme einsperren zu lassen, wo sie, setzte er hinzu, eine Strafe finden soll, die sie nicht erwartet.
Emilie eilte nun, ihre Tante von dieser kurzen Frist, und der ihr übrig gelaßnen Wahl zu benachrichtigen; — sie gab keine Antwort, sondern schien in Gedanken, während Emilie in Betracht ihrer ausnehmenden Schwäche ihre Seele zu beruhigen und das Gespräch auf minder angreifende Gegenstände zu lenken suchte; allein obgleich dieser Versuch fehl schlug, und Madame Montoni unwillig wurde, schien sie doch von ihrem festen Vorsatz etwas nachzulassen und Emilie rieth ihr nun, als das einzige Mittel sich zu schützen, daß sie Montonis Verlangen erfüllen sollte.
»Sie wissen nicht, was Sie mir rathen«, sagte ihre Tante; »diese Güter werden nach meinem Tode Ihnen zufallen, wenn ich auf meiner Weigerung beharre.«
»Das wußte ich freilich nicht«, erwiederte Emilie, »aber es kann mich nicht verhindern, Ihnen anzurathen, was nicht nur für Ihre Ruhe, sondern auch wie ich fürchte, für Ihre Sicherheit nothwendig ist, und ich bitte Sie dringend, daß Sie sich durch eine vergleichungsweise so unbedeutende Rücksicht nicht einen Augenblick abhalten lassen, Verzicht darauf zu thun.«
»Ist das Ihr wahrer Ernst Nichte?« — »Ist es möglich, Madame, daß Sie daran zweifeln können?« — Ihre Tante schien gerührt zu seyn. »Sie verdienten wohl, diese Güter zu besitzen«, sagte sie; »ich wünschte um Ihrentwillen, sie erhalten zu können, Sie zeigen eine Tugend, die ich nicht erwartete.«
»Wie habe ich diesen Vorwurf verdient, liebste Tante?« sagte Emilie betrübt.
»Vorwurf!« versetzte Madame Montoni: »ich wollte Ihre Tugend loben.«
»Ach! hier kann keine Ausübung von Tugend statt finden«, sagte Emilie, »denn hier ist keine Versuchung zu überwinden.«
»Aber Herr Valancourt —« sagte ihre Tante. »O Madame«, unterbrach Emilie, die voraus sah, was sie sagen wollte; »lassen Sie mich daran nicht denken; lassen Sie mich mein Herz durch keinen so eigennützigen Wunsch beflecken.« Sie lenkte sogleich das Gespräch auf etwas anders und blieb bei Madame Montoni, bis sie sich zur Nachtruhe in ihr Zimmer begab.
Um diese Stunde war alles im Schlosse still, und jeder Bewohner, ausser ihr selbst, schien sich zur Ruhe gelegt zu haben. Als sie durch die weiten und einsamen Gänge düster und schweigend hingieng, fühlte sie sich verlassen und beängstigt, ohne selbst zu wissen warum; so wie sie aber den Corridor betrat, erinnerte sie sich an den Umstand von vergangner Nacht, es ergrif sie eine Furcht, daß ihr ein ähnlicher Gegenstand des Schreckens, als Annetten aufstoßen könnte, und sie fühlte, daß es ihre geschwächten Lebensgeister kaum weniger angreifen würde; sie wußte nicht genau, welches Zimmer Annette gemeint hatte, und gieng, indem sie einen furchtsamen Blick durch die Dunkelheit schickte, mit leisen, behutsamen Schritten weiter, bis sie an eine Thüre kam, wo sie einen leisen Laut hörte, und unschlüssig still stand. Während dieses einzigen Augenblicks nahm ihre Furcht so sehr zu, daß sie nicht mehr die Kraft hatte, sich von der Stelle zu rühren. Da sie eine menschliche Stimme inwendig zu hören glaubte, lebte sie einigermaaßen wieder auf, allein den Augenblick darauf wurde die Thüre geöfnet und es erschien eine männliche Gestalt, die sie für Montoni erkannte; er fuhr sogleich wieder zurück und verschloß die Thüre, jedoch nicht eher, bis sie bei dem Lichte, das inwendig brannte, eine andre Person, die in einer traurigen Stellung beim Feuer saß, gesehn hatte. Ihr Schrecken verschwand, aber sie gerieth in Erstaunen über Montonis geheimnisvolles Betragen und über die Entdeckung einer Person, die er auf solche Art um Mitternacht in einem Zimmer besuchte, das lange verschlossen gewesen war, und von dem solche sonderbare Gerüchte umliefen.
Während sie so unschlüssig da stand, voll Begierde, Montonis Bewegungen zu beobachten und zugleich furchtsam, ihn dadurch aufzubringen, daß sie ihn zu bemerken schien, wurde die Thüre aufs neue vorsichtig geöfnet, und so wie vorhin, auf der Stelle wieder zugeschlossen. Sie schlich nun leise nach ihrem Zimmer, stellte sich aber, nachdem sie die Lampe niedergesetzt hatte, in einen dunkeln Winkel des Gangs, um zu sehn, was diese halb gesehne Person anfienge, und ob es wirklich Montoni sey.
Nachdem sie einige Minuten in stummer Erwartung mit fest auf die Thüre gerichteten Augen da gestanden hatte, wurde wieder aufgemacht, und dieselbe Person erschien, die sie nun für Montoni erkannte. Er sah sich vorsichtig um, ohne sie wahrzunehmen, trat hervor, machte die Thüre zu, und verließ den Gang. Bald darauf hörte Emilie die Thüre inwendig abschließen, und zog sich voll Verwundrung über das, was sie gesehn hatte, in ihr Zimmer zurück.
Es war nun zwölf Uhr. Als sie ihr Fenster zumachte, hörte sie Fußtritte auf der Terrasse unten, und sah undeutlich durch die Dunkelheit verschiedene Personen heran kommen, die unter dem Fenster hingiengen. Gleich darauf hörte sie Waffen klirren und den Augenblick nachher die Parole sagen; sie erinnerte sich nun an den Befehl, den sie von Montoni gehört hatte, und an die Stunde der Nacht und merkte, daß diese Leute zum erstenmal die Wache im Schlosse ablösten. Nachdem sie gehorcht hatte, bis alles wieder still war, legte sie sich zur Ruhe.
Am folgenden Morgen gieng Emilie in aller Frühe in das Zimmer der Madame Montoni, die gut geschlafen, und sich sehr wieder erholt hatte. Auch ihr Muth war mit ihrer Gesundheit wiedergekehrt, und ihr Entschluß, sich Montonis Verlangen zu widersetzen, hatte neue Stärke erlangt, ohngeachtet ihre Furcht, welche Emilie, die vor den Folgen ihres fernern Widerstandes zitterte, zu erhöhen sich bemühte, noch dagegen kämpfte.
Wir haben bereits gesehn, daß ihre Tante eine große Sucht zu widersprechen besaß. Lange Gewohnheit hatte diesen natürlichen Hang so sehr bestärkt, daß sie sich seiner kaum bewußt war. Emiliens Gründe und Vorstellungen machten ihren Stolz rege, statt ihre Urtheilskraft zu beschäftigen, oder sie zu überzeugen, und sie dachte nur darüber nach, ein Mittel auszufinden, wie sie vermeiden könnte, sich dem Verlangen ihres Mannes zu widersetzen. Sie glaubte, wenn sie nur einmal aus seinem Schlosse entwischt wäre, seiner Macht Trotz bieten und eine Scheidung bewirken zu können, nach welcher sie ruhig auf ihren Gütern zu leben hoffte. Sie sprach davon mit ihrer Nichte, die in ihren Wunsch einstimmte, aber über die Wahrscheinlichkeit der Ausführung mit ihr verschiedner Meinung war. Sie stellte ihr vor, daß es unmöglich sey, aus den Thoren, die fest verschlossen und verwahrt waren, zu kommen, und wie gefährlich es sey, ihr Vorhaben dem Gutbefinden eines Bedienten anzuvertrauen, der es entweder absichtlich oder zufällig verrathen könnte. Montonis Rache würde auch keine Gränzen kennen, wenn ihre Absicht entdeckt würde. So sehnlich auch Emilie wünschte, ihre Freiheit wieder zu erhalten und nach Frankreich zurückzukehren, zog sie doch nur Madame Montonis Sicherheit zu Rathe und blieb bei ihrem Vorschlage, daß sie ihr Vermögen aufgeben sollte, ohne ihn zu weitern Beleidigungen zu reitzen.
Der Kampf widerstrebender Gefühle wüthete indessen in ihrer Tante Busen fort, und sie beschäftigte sich noch immer mit der Möglichkeit, ihre Flucht durchzusetzen. Während sie so da saß, trat Montoni herein, und sagte, ohne von der Krankheit seiner Frau etwas zu erwähnen, er käme um sie zu erinnern, wie unartig es sey, ihr Spiel mit ihm zu treiben, und er gäbe ihr nur noch bis diesen Abend Bedenkzeit, ob sie seine Foderung erfüllen, oder ihn durch ihre Weigerung zwingen wollte, sie nach dem östlichen Thurme zu bringen. Er setzte hinzu, daß eine Gesellschaft von Herren Mittag mit ihm essen würde, und daß er sie an der Spitze der Tafel, wo auch Emilie gegenwärtig seyn müßte, erwartete. Madame Montoni war auf dem Punkte, eine durchaus abschlägige Antwort zu geben, da ihr aber plötzlich einfiel, daß ihre Freiheit während dieses Gastmahls, so beschränkt sie auch seyn möchte, ihre andern Pläne vielleicht begünstigen könnte, so willigte sie mit anscheinendem Widerstreben ein und Montoni verließ bald nachher das Zimmer. Sein Befehl versetzte Emilien in Verwundrung und Besorgnis; sie erschrack vor dem Gedanken, dem Anblick von Fremden, so wie sie diese sich dachte, ausgesetzt zu seyn, und die Worte des Grafen Morano, die ihr jetzt wieder einfielen, dienten eben nicht ihre Furcht zu vermindern.
Sie kleidete sich beinahe noch einfacher als gewöhnlich, um nicht bemerkt zu werden, allein diese kleine List half ihr nichts, denn als sie wieder zu ihrer Tante ins Zimmer zurückgehn wollte, begegnete sie Montoni, der ihren steifen Anzug, wie er es nannte, tadelte, und darauf bestand, daß sie ihren schönsten Putz, ja sogar das Kleid, das zu ihrer Hochzeit mit dem Grafen Morano gemacht worden war, und das ihre Tante, wie sich jetzt zeigte, sorgfältig von Venedig mitgebracht hatte, anziehn sollte. Dieses Kleid war nicht nach der venetianischen, sondern nach der neapolitanischen Mode gemacht, und setzte ihren Wuchs, so wie ihre ganze Figur in das vortheilhafteste Licht. Ihre schönen kastanienbraunen Flechten waren nachlässig mit Perlen aufgebunden und fielen wieder auf ihren schönen Nacken zurück. Das einfache eines bessern Geschmacks als Madame Montoni besaß, leuchtete aus dieser Kleidung, so prächtig sie auch war, hervor, und Emiliens ungekünstelte Schönheit hatte nie zaubrischer geschienen.
Sie schmeichelte sich mit der Hofnung, daß Montoni aus keiner andern Absicht, als aus einem gewissen Stolz seine Familie in reichem Schmuck vor Fremden sehn zu lassen, ihr geheissen hätte, sich herauszuputzen; doch hätte ausser seinem ausdrücklichen Befehl nichts sie bewegen können, eine Kleidung zu tragen, die zu einem so gehässigen Zweck bestimmt war und am wenigsten bei dieser Gelegenheit. Als sie zu Tisch herunter kam, verbreitete die Bewegung ihrer Seele eine schwache Röthe über ihr Gesicht und erhöhte den interessanten Ausdruck desselben: sie war aus einer gewissen Furchtsamkeit bis auf den letzten Augenblick in ihrem Zimmer geblieben, und als sie in den Saal trat, wo ein stattliches Mahl angerichtet war, saßen Montoni und seine Gäste bereits an der Tafel. Sie wollte sich zu ihrer Tante setzen, allein Montoni winkte mit der Hand und zwei von den Herren standen auf und nöthigten sie, Platz zwischen ihnen zu nehmen. Der eine, der weit älter zu seyn schien, als der andre war ein langer Mann mit starken italiänischen Zügen, einer Habichtsnase und dunkeln, durchdringenden Augen, die Feuer sprühten, wenn seine Seele in Bewegung war, und selbst, wenn sie sich im Stande der Ruhe befand, etwas von der Wildheit seiner Leidenschaften behielten. Sein Gesicht war lang und schmal und seine Farbe bleichgelb.
Der andre, der gegen vierzig Jahre zu seyn schien, hatte zwar auch ein italiänisches, aber doch eine ganz andre Art von Gesicht, und einen schlauen, feinen, durchdringenden Blick. Seine dunkelgrauen Augen waren klein und tief; seine Gesichtsfarbe ein von der Sonne verbranntes Braun, und der Umris seines Gesichts länglicht, aber unregelmäßig und übelgestaltet.
Acht andre Gäste, die alle einförmig gekleidet waren, saßen rund um den Tisch und ihrer aller Physiognomie verrieth mehr oder weniger einen Ausdruck wilden Stolzes, listiger Verschlagenheit oder ungezähmter Leidenschaft; Emilie sah sie furchtsam an, und erinnerte sich des Auftritts vom vergangnen Morgen so lebhaft, daß sie beinahe von Banditen umgeben zu seyn wähnte. Sie blickte zurück auf die Ruhe ihres frühern Lebens und betrachtete mit Erstaunen und Schmerz ihre gegenwärtige Lage. Der Ort, wo sie sich befanden, kam der Einbildungskraft zu Hülfe: es war ein antik gebauter, dunkler Saal, in den nur durch ein großes, gothisches Fenster und durch ein paar Flügelthüren Licht fiel, die geöfnet waren, und eine Aussicht auf den westlichen Wall mit den wilden Appeninischen Gebürgen im Hintergrunde zuließen.
Der mittlere Theil dieses Saals stieg in eine gewölbte Decke auf, die mit Schnitzwerk bereichert war und von drei Seiten auf Marmorpfeilern ruhte: jenseits derselben zogen sich lange Säulenreihen in dunkler Größe zurück, bis sich ihr Umfang in der Dämmerung verlor. Die leisesten Fußtritte der Bedienten, hallten in flüsternden Echos wieder, und ihre Gestalten die man in der Ferne undeutlich durch die Dämmerung sah, beschäftigten oft Emiliens Einbildungskraft. Sie betrachtete abwechselnd Montoni, seine Gäste und die Scene um sie her, und die Erinnerung an ihre theure Heimath, an die reitzende Gegend, wo sie ihre erste Jugend zubrachte, an die Einfalt und Güte der Freunde, die sie verloren hatte, erfüllte aufs neue ihre Seele mit Schmerz.
Während der Mahlzeit wurde meistens von Krieg und politischen Gegenständen gesprochen, und Emilie bemerkte, daß Montoni einen gewissen entscheidenden Ton gegen seine Gäste annahm, den sie sich mit stillschweigender Anerkennung seiner Superiorität gefallen zu lassen schienen. Nachdem die Mahlzeit vorüber war, standen sie auf; jeder füllte seinen Becher mit Wein aus der vergüldeten Kanne, die neben ihm stand, und trank, Glück und Heil unsern Thaten! Montoni wollte seinen Becher eben an die Lippen führen, um diese Gesundheit zu trinken, als plötzlich der Wein aufbrauste, bis an den Rand aufstieg und das Glas in tausend Stücke sprengte.
In ihm, der sich gewöhnlich einer Art von venedischem Glas bediente, das die Eigenschaft hat zu springen, sobald vergifteter Liquor hereingegossen wird, stieg natürlich der Verdacht auf, daß jemand von seinen Gästen ihn verrathen wollte; er befahl sogleich, alle Thore zu schließen, zog den Degen und rief, indem er sie, die in stummen Erstaunen da standen, der Reihe nach ansah: »Es ist ein Verräther unter uns. Laßt die welche sich unschuldig wissen, behülflich seyn, den Schuldigen heraus zu bringen.«
Unwillen flammte aus den Augen der Ritter: sie zogen alle das Schwerdt, und Madame Montoni, voll Angst was daraus erfolgen würde, wollte aus dem Saale eilen, als ihr Mann sie bleiben hieß: allein man konnte seine Worte nicht mehr unterscheiden, weil alle Stimmen zu gleicher Zeit sprachen. Sein Befehl, daß alle Bedienten herbei kommen sollten, wurde endlich befolgt; sie betheuerten, daß sie von keinen Betruge wüßten — eine Behauptung, der man nicht glauben konnte: denn es war offenbar, daß, da Montonis Wein, und nur der seinige vergiftet gewesen war, man einen Anschlag gegen sein Leben gemacht hatte, der unmöglich ohne die Mitwissenschaft des Bedienten, der die Aufsicht über die Weinbecher hatte, so weit hätte ausgeführt werden können.
Montoni ließ sogleich diesen Menschen, dessen Gesicht entweder das Bewußtseyn der Schuld, oder die Furcht vor Strafe verrieth, in Fesseln legen und in ein stark verwahrtes Zimmer sperren, das ehmals zum Gefängnis gedient hatte. Er würde alle seine Gäste ebenfalls dahin geschickt haben, hätte er nicht die Folge einer so dreisten und nicht zu rechtfertigenden Behandlung vorausgesehn. Er begnügte sich also, was diese betraf, zu schwören, daß niemand aus seinen Thoren gelassen werden sollte, bis dieser ausserordentliche Vorfall aufs reine gebracht wäre. — Seiner Frau befahl er mit finstrer Miene, in ihr Zimmer zu gehn, wohin er Emilien ihr zu folgen erlaubte.
Ohngefähr eine halbe Stunde darauf kam er ihnen nach und Emilie bemerkte mit Schrecken sein finstres Gesicht und bebende Lippen, und hörte ihn Rache über ihre Tante ausrufen.
»Es wird Ihnen zu nichts helfen, die That zu läugnen«, sagte er zu seiner Frau; »ich habe Beweise Ihrer Schuld. Die einzige Möglichkeit, Vergebung zu erhalten ist, wenn Sie alles offen bekennen; sie dürfen weder von Starrsinn noch von Falschheit etwas hoffen; Ihr Mitschuldiger hat alles bekannt.«
Emiliens schwache Lebensgeister wurden durch Erstaunen aufgeschreckt, als sie ihre Tante eines so schwarzen Verbrechens anklagen hörte, und sie konnte keinen Augenblick die Möglichkeit ihrer Schuld glauben. Madame Montoni hingegen war zu bewegt um antworten zu können; sie wurde abwechselnd blaß und roth und zitterte, ob aber aus Unwillen oder aus Furcht war schwer zu unterscheiden.
»Sparen Sie Ihre Worte«, sagte Montoni, da er sie im Begrif sah zu reden; »Ihr Gesicht legt ein volles Geständnis Ihres Verbrechens ab. Sie sollen unverzüglich nach dem östlichen Thurme gebracht werden.«
»Diese Beschuldigung«, sagte Madame Montoni, der es sauer wurde zu sprechen, »wird nur vorgebracht, um Ihrer Grausamkeit zur Entschuldigung zu dienen: ich verachte es, darauf zu antworten. Sie selbst glauben nicht daran.«
»Signor«, sagte Emilie feierlich, »ich wollte mit meinem Leben dafür stehn, daß diese schreckliche Anklage falsch ist. Nein«, setzte sie hinzu, als er einen finstern Blick auf sie schoß, »jetzt ist es nicht mehr Zeit zu schweigen. Nichts soll mich abhalten, Ihnen zu sagen, daß Sie hintergangen, schändlich hintergangen durch jemand sind, der es darauf abgesehn hat, meine Tante ins Verderben zu stürzen. Es ist nicht möglich, daß Sie von selbst darauf gefallen seyn könnten, sie eines so entsetzlichen Verbrechens zu beschuldigen.«
Montonis Lippen bebten noch stärker; er antwortete Emilien nur: »wenn Ihnen Ihr eignes Wohl lieb ist, so schweigen Sie. Ich werde schon wissen, wie ich Ihre Vermittelung zu deuten habe, wenn Sie noch länger darauf beharren.«
Emilie hub ruhig die Augen gen Himmel auf. »So ist also hier nichts zu hoffen«, sagte sie.
»Still«, rief Montoni, »sonst sollen Sie erfahren, daß wenigstens etwas zu fürchten ist.«
Er wandte sich zu seiner Frau, die nun wieder zu sich selbst gekommen war, und sich mit Heftigkeit gegen diesen dunkeln Verdacht vertheidigte: allein Montonis Wuth stieg mit ihrem Unwillen, und Emilie, die den Ausgang fürchtete, warf sich zwischen sie, klammerte sich schweigend um seine Knie, und sah ihn mit einem Ausdruck an, der das Herz eines Barbaren hätte erweichen können. Ob das seinige durch die Ueberzeugung von Madame Montonis Schuld verhärtet war, oder ob ein bloßer Verdacht ihn so rachdürstig machte — genug er blieb durchaus unempfindlich sowohl gegen den Kummer seiner Frau, als gegen Emiliens flehende Blicke. Er machte keinen Versuch sie aufzuheben, sondern stieß heftige Drohungen gegen Beide aus, als er von jemand aus dem Zimmer gerufen wurde. Emilie hörte ihn das Schloß umdrehn und den Schlüssel einstecken. Sie sah nun, daß sie und Madame Montoni Gefangne waren und seine Absichten wurden ihr immer fürchterlicher. Sie konnte sich seine Ursachen zu diesem Betragen eben so wenig erklären, als wenig es ihr gelang, den Schmerz ihrer Tante zu stillen, an deren Unschuld sie nicht zweifeln konnte.
Madame Montoni sah sich aufs neue im Zimmer um, ob sie nicht eine Möglichkeit entdecken könnte, aus dem Schlosse zu entwischen, und sprach mit Emilien darüber, die jetzt bereit war, sich aller Gefahr zu unterziehn, wiewohl sie sich enthielt, eine Hofnung, mit der sie selbst sich nicht schmeichelte, bei ihrer Tante aufzumuntern. Sie wußte zu gut, wie sehr das Gebäude befestigt, und wie sorgsam es bewacht war, und zitterte, ihre Sicherheit der Laune der Bedienten anzuvertrauen, deren Hülfe sie suchen mußten. Der alte Carlo war mitleidig, allein er war zu sehr in seines Herren Interesse verflochten, als daß man ihm trauen konnte. Annette selbst konnte wenig thun, und Ludovico kannte Emilie nur von Hörensagen. Diese Betrachtungen waren indeß für den gegenwärtigen Augenblick unnütz, da Madame Montoni und ihre Nichte von allem Umgang, selbst mit den Personen, gegen welche diese Gründe angeführt werden konnten, ausgeschlossen waren.
Im Saale war noch alles in Verwirrung und Aufruhr. Emilie glaubte zuweilen Schwerdter klirren zu hören, und sie hielt es nur für mehr als zu wahrscheinlich, daß dieser Streit durch nichts geringers als durch die Waffen entschieden werden konnte. Nachdem Madame Montoni allen Unwillen und Emilie alle Trostgründe erschöpft hatte, herrschte unter ihnen die athemlose Stille, die oft in der Natur auf den Aufruhr der empörten Elemente folgt; eine Stille gleich dem Morgen, der auf den Trümmern eines Erdbebens dämmert.
Eine unbestimmte Furcht herrschte in Emiliens Seele; sie erinnerte sich dunkel und undeutlich an das, was in der vergangnen Stunde vor ihren Augen geschehn war, und ihre Gedanken drehten sich schnell und abwechselnd wie in einem Wirbel.
Sie wurde aus diesem wachenden Traume durch ein Klopfen an der Thüre ihres Zimmers erweckt, und als sie fragte, wer da sey, hörte sie Annettens flüsternde Stimme.
»Beste gnädige Frau, lassen Sie mich herein kommen, ich habe Ihnen viel zu sagen«, rief das arme Mädchen.
»Die Thüre ist verschlossen«, antwortete ihre Frau.
»Das sehe ich wohl, aber ich bitte, machen Sie doch auf.«
»Der Signor hat den Schlüssel«, versetzte Madame Montoni.
»Großer Gott! was wird dann aus uns werden!«
»Hilf uns von hier entfliehn, Annette. Wo ist Ludovico?«
»Unten im Saale, Madame, er ist mitten unter ihnen, und ficht trotz dem Besten.«
»Ficht? Wer ficht?«, rief Madame Montoni.
»Ey der Signor, Madame, und alle die Signors und viele andre mehr.«
»Es ist doch niemand verwundet worden?« sagte Emilie mit bebender Stimme.
»Verwundet! — Ach Fräulein, sie schwimmen im Blute und die Schwerdter klirren, und — o heilige Jungfrau, lassen Sie mich herein, Madame, sie kommen hieher; man wird mich ermorden!«
»Fliehe«, rief Emilie, »flieh, wir können die Thüre nicht aufmachen.«
Annette wiederholte, daß sie kämen und floh in demselben Augenblick.
»Seyn Sie ruhig, Madame«, sagte Emilie und wandte sich zu ihrer Tante. — »Barmherziger Gott, was haben sie mit uns vor!« — »Sie kommen vielleicht uns zu befreien«, sagte Emilie. »Vielleicht ist Signor Montoni — überwunden.«
Der Gedanke an seinen Tod gab ihren Lebensgeistern einen plötzlichen Stoß, und sie wurde ohnmächtig, als sie ihn in der Einbildung zu ihren Füßen umkommen sah.
»Sie kommen«, rief Madame Montoni; »ich höre ihre Schritte; sie sind an der Thüre.«
Emilie richtete ihre matten Augen nach der Thüre, allein Schrecken beraubte sie der Sprache. Der Schlüssel knarrte im Schlosse, die Thüre gieng auf, und Montoni erschien, von drei Menschen, die wie Henkersknechte aussahen, begleitet. »Vollzieht eure Befehle«, sagte er zu ihnen und zeigte auf seine Frau, die laut aufschrie, aber sogleich aus dem Zimmer getragen wurde, während Emilie sinnlos auf ein Sopha sank, an dem sie sich aufrecht zu halten gesucht hatte. Als sie wieder zu sich selbst kam, erinnerte sie sich nur, daß Madame Montoni da gewesen war, und daß Dinge vorgegangen waren, an welche sie mit dunkeln Schrecken zurückdachte. Sie sah wild im Zimmer umher, als suchte sie etwas von ihrer Tante zu erfahren, während sie weder an ihre eigne Gefahr, noch daran dachte, aus dem Zimmer zu entfliehn.
Als sie aber wieder mehr zur Besinnung gekommen war, stand sie auf, um, freilich nur mit schwacher Hofnung zu untersuchen, ob die Thüre nicht befestigt sey. Sie war offen und sie schlich furchtsam heraus auf den Gang; hier aber stand sie still, unschlüssig welchen Weg sie nehmen sollte. Ihr erster Wunsch war, einige Nachricht von ihrer Tante zu erfahren, und sie richtete endlich ihre Schritte nach dem untern Saal, wo Annette und das andre Gesinde sich gewöhnlich aufhielten.
Allenthalben, wohin sie nur gieng, hörte sie in der Ferne Aufruhr und Streit, und die Gestalten und Gesichter, die sie durch die Gänge hineilen sah, verkündigten nur Unheil. Emilie glich jetzt einem Engel des Lichts, von bösen Feinden umgeben. Endlich kam sie in den untern Saal, der still und öde war, sie schnappte nach Luft und mußte sich niedersetzen, um wieder zu sich selbst zu kommen. Die Todtenstille dieses Ortes war eben so fürchterlich, als das Lärmen dem sie entwischt war; allein sie hatte doch nun Zeit, ihre zerstreuten Gedanken zu sammeln, und auf Mittel zu ihrer Sicherheit zu denken. Sie fand, daß es unnütz seyn würde, ihre Tante in den weiten Irrgängen des Schlosses zu suchen, vorzüglich jetzt, da jeder Zugang von Banditen besetzt schien; sie konnte sich nicht entschließen, in diesem Saale zu bleiben: da sie nicht wußte, ob sie ihn nicht bald zu dem Ort ihrer Zusammenkunft wählen würden: allein so sehr sie auch in ihr Zimmer zu gehen wünschte, fürchtete sie sich doch, ihnen unterwegs zu begegnen.
Unschlüssig und zitternd saß sie da, als ein fernes Murmeln durch die Stille drang, und immer lauter und lauter wurde, bis sie Stimmen unterschied und Schritte heran nahen hörte. Sie stand auf um fort zu gehn, allein die Töne kamen aus dem Gange, durch den sie gehn mußte, und sie sah sich genöthigt, im Saal die Ankunft der Personen zu erwarten, deren Schritte sie hörte. So wie sie näher kamen, hörte sie ein Stöhnen, und sah einen Mann langsam von vier andern herbei tragen. Ihre Lebensgeister erstarben bei dem Anblick und sie lehnte sich an die Mauer, um nicht umzusinken. Die Träger kamen indeß in den Saal und da sie zu beschäftigt waren, um Emilien aufzuhalten oder nur zu bemerken, versuchte sie herauszugehn, allein ihre Kräfte verließen sie, und sie mußte sich wieder auf die Bank setzen. Eine feuchte Kälte übernahm sie; es wurde ihr düster vor den Augen; sie wußte nicht, was mit ihr vorgegangen war, oder wo sie sich befand, doch zitterte das Stöhnen des Verwundeten noch immer in ihrem Herzen. Nach wenig Augenblicken schien der Strom des Lebens wieder zu fließen; sie schöpfte freier Athem und ihre Sinne erwachten wieder. Sie hatte nicht eigentlich eine Ohnmacht gehabt, oder ihr Bewußtseyn gänzlich verloren; sie suchte sich auf der Bank zu erhalten, ohne daß sie den Muth hatte, ihre Augen auf den unglücklichen Gegenstand zu richten, dem alles noch zu beschäftigt war, um auf sie zu achten.
Sobald ihre Kräfte wiederkehrten, stand sie auf und kam ungehindert aus dem Saal; sie hörte noch in der Ferne verworrne Töne und suchte sorgfältig ihren Weg durch einige dunkle Zimmer zu nehmen, um einen ähnlichen schrecklichen Anblick, wie sie zuvor gehabt hatte, zu vermeiden.
Endlich erreichte sie ihr Zimmer und fühlte sich, nachdem sie die Thüre nach dem Gange verriegelt hatte, für den ersten Augenblick sicher. Eine tiefe Stille herrschte in diesem entlegnen Zimmer, wohin jetzt nicht einmal das schwache Murmeln des fernsten Lautes drang. Sie setzte sich in eines der Fenster, und als sie auf die Aussicht zwischen den Bergen hinblickte, fühlte sie mit aller Stärke den Abstand, den die tiefe Ruhe dieser schönen Gegend mit der Scene wilden Aufruhrs machte, die sie eben verlassen hatte. Die kämpfenden Elemente schienen sich aus ihren natürlichen Kreisen zurückgezogen und in die Seelen der Menschen gelagert zu haben: denn nur da wüthete jetzt der Sturm.
Emilie suchte ihre Lebensgeister zu beruhigen, allein ihre Angst machte, daß sie stets nach einem Laute horchte und oft auf die Wälle heraus sah, wo indessen alles einsam und still war. So wie das Gefühl ihrer eignen unmittelbaren Gefahr abgenommen hatte, stieg ihre Besorgnis für Madame Montoni, der man, wie sie sich erinnerte, mit einem Gefängnis im östlichen Thurm gedroht hatte, und sie fand es nicht unwahrscheinlich, daß ihr Mann seine gegenwärtige Rache durch diese Strafe befriedigt haben möchte. Sie faßte deswegen den Vorsatz, wenn die Einwohner des Schlosses sich zur Ruhe gelegt haben würden, den Weg nach dem Thurme aufzusuchen, der nicht schwer zu finden seyn konnte. Zwar wußte sie wohl, daß sie ihrer Tante, wenn sie auch da wäre, keinen wesentlichen Beistand leisten konnte, allein es konnte ihr doch vielleicht zu einigem Trost gereichen, nur zu wissen, daß man sie entdeckt hatte, und ihrer Nichte Stimme zu hören: auch ihr selbst schien jede Gewißheit über Madame Montonis Schicksal weit leidlicher als diese quälenden Zweifel.
Annette ließ sich indessen nicht sehn, und Emilie war wirklich besorgt, daß ihr bei den letzten Unruhen ein Unfall zugestoßen seyn möchte, denn es ließ sich sonst nicht vermuthen, daß sie versäumt haben würde, wieder in ihr Zimmer zu kommen.
So verstrichen die Stunden in Einsamkeit, Schweigen und ängstlichen Vermuthungen. Da sie weder durch einen Laut, noch durch eine Botschaft von Montoni gestört wurde, so schien es, daß er sie ganz vergessen hätte und es gereichte ihr zu einigem Troste, daß man sie so unbemerkt ließ. Sie suchte ihre Gedanken von der innern Angst, die an ihr nagte, abzuziehn, allein sie wollten sich nicht gebieten lassen; sie konnte weder lesen noch zeichnen und die Töne ihrer Laute standen so sehr in Mißklang mit ihren gegenwärtigen Gefühlen, daß sie nicht einen Augenblick dabei aushalten konnte.
Die Sonne gieng endlich hinter den westlichen Gebürgen unter; ihre feurigen Strahlen verblichen von den Wolken; ein dünner melancholischer Purpur überzog sie und hüllte nach und nach das Land unten ein. Bald darauf gieng die Schildwache auf dem Walle vorbei, um die Wache anzufangen.
Die Dämmerung hatte nunmehr ihren Schimmer über alle Gegenstände ausgebreitet; die traurige Dunkelheit ihres Zimmers rief fürchterliche Gedanken zurück, allein sie besann sich, daß sie um ein Licht zu holen, weit durch das Schloß und vorzüglich durch die Säle gehn müßte, wo sie bereits so viel Schrecken ausgestanden hatte. Zwar waren ihr bei der gegenwärtigen Stimmung ihrer Seele, Einsamkeit und Dunkelheit schrecklich; auch war es ihr unmöglich, im Dunkeln den Weg zu ihrer Tante im Thurm zu finden, doch wagte sie sich nicht heraus, um eine Lampe zu holen.
Während sie so am Fenster stand, um den letzten zögernden Schimmer des Abends zu haschen, schwebten tausend undeutliche Schreckensgestalten um ihre Phantasie. »Wie wenn einer dieser Banditen die geheime Winkeltreppe entdeckte«, sagte sie, »und sich in der Dunkelheit der Nacht in mein Zimmer schliche?« Dann fiel ihr wieder der geheimnisvolle Einwohner des Zimmers neben ihr ein und ihre Furcht nahm eine andre Richtung. »Er ist kein Gefangner«, sagte sie, »ob er gleich in seinem Zimmer bleiben muß: denn Montoni machte die Thüre nicht zu als er herausgieng: der Unbekannte selbst verschloß sie: es ist also offenbar, daß er herausgehn kann, wenn es ihm gefällt.«
Sie hielt inne: denn ohngeachtet der Furcht, die ihr die Dunkelheit verursachte, hielt sie es doch für sehr unwahrscheinlich, daß der Fremde, wer er auch seyn möchte, irgend eine Ursache haben könnte, sich in ihre Einsamkeit zu schleichen; der Gegenstand ihrer Angst veränderte sich aufs neue, wenn sie sich an die Nähe des Zimmers, wo das verschleierte Gemählde hieng, erinnerte, und sie war ungewiß, ob nicht ein Gang von demselben zu der unverriegelten Thüre der Winkeltreppe führte.
Es war nunmehr völlig dunkel und sie verließ das Fenster: als sie, die Augen auf das Camin geheftet, so da saß, glaubte sie einen Funken Feuer zu sehn. Sie fachte mit vieler Mühe ein paar Kohlen, die noch in der Asche glimmten, an; und nachdem sie eine Lampe dabei angezündet hatte, die immer in ihrem Zimmer stand, fühlte sie eine Zufriedenheit, die sie für den Augenblick gar nicht an ihre gegenwärtige traurige Lage denken ließ. Sie ließ es ihre erste Sorge seyn, die Thüre nach der Winkeltreppe zu verwahren; sie schleppte alle Möbeln, die sie nur von der Stelle bringen konnte, dahin, und fand bei dieser Beschäftigung neue Gelegenheit zu bemerken, wie weit drückender der Müssige sein Unglück fühlt, als der, welcher sich zu beschäftigen sucht: denn sobald sie sich die Zeit nahm, über alle Umstände ihres gegenwärtigen Leidens nachzudenken, bildete sie sich tausend Uebel von der Zukunft ein, und diese wirklichen und eingebildeten Ursachen des Kummers verwundeten ihr Herz auf gleiche Art.
So strichen die Stunden bis Mitternacht schwer vorüber, und sie zählte nun die dumpfen Töne der großen Glocke, die unvermischt mit einem andern Laut, ausser dem fernen Rufen einer Schildwache, die zum Ablösen kam, längs dem Walle hinrollten. Sie glaubte nun, sich nach dem Thurme hinwagen zu können, und nachdem sie leise die Thüre geöfnet hatte, um den Gang zu untersuchen und zu horchen, ob jemand im Schlosse sich rührte, fand sie alles in tiefer Stille. Allein nicht sobald hatte sie das Zimmer verlassen, als sie ein Licht an der Wand schimmern sah; ohne sich aufzuhalten um zu sehn, von wem es käme, fuhr sie zurück und machte die Thüre zu. Da sich niemand sehn ließ, glaubte sie, daß es Montoni wäre, der ihrem unbekannten Nachbar seinen mitternächtlichen Besuch abstattete, und beschloß zu warten, bis er sich wieder in sein Zimmer begeben haben würde.
Sobald die Glocke aufs neue eine halbe Stunde verkündigt hatte, machte sie die Thüre wieder auf, und da sie niemand aussen sah, eilte sie schnell in einen Gang, der längs der Südseite des Schlosses nach der Winkeltreppe führte, von wo sie ihren Weg nach dem Thurme leicht finden zu können glaubte. Sie stand oftmals unterweges still, horchte ängstlich auf das Brausen des Windes und sah furchtsam durch die Dunkelheit der langen Gänge hin, bis sie endlich die Winkeltreppe erreichte; allein hier gieng ihre Verlegenheit aufs neue an. Sie sah zwei Gänge, ohne zu wissen, welchen sie wählen sollte, und mußte endlich mehr den Zufall als die Umstände entscheiden lassen. Der, welchen sie nahm, führte zuerst in einen weiten Gang, durch den sie leise und schnell hingieng: denn das einsame Ansehn des Ortes schreckte sie, und sie fuhr vor dem Wiederhall ihrer eignen Schritte zurück.
Plötzlich glaubte sie eine Stimme zu hören, und da sie nicht unterscheiden konnte, woher sie kam, fürchtete sie sich eben so sehr weiter zu gehn, als umzukehren. Einige Augenblicke stand sie in horchender Erwartung da, fuhr beinahe vor sich selbst zurück und wagte kaum, sich umzusehn. Die Stimme kam wieder, allein ob sie gleich nahe war, ließ ihre Angst sie doch nicht deutlich unterscheiden, woher sie käme. Sie glaubte blos zu hören, daß es klagende Töne waren, und wurde in diesem Glauben durch ein tiefes Stöhnen bestärkt, das aus einem der Zimmer kam, die in den Gang stießen. Es fiel ihr sogleich ein, daß Madame Montoni hier eingesperrt seyn könnte, und sie gieng an die Thüre, um mit ihr zu sprechen, wurde aber durch die Betrachtung abgeschreckt, daß sie sich vielleicht einem Fremden blos geben und dieser sie an Montoni verrathen könnte: denn wenn gleich diese Person, wer es auch seyn mochte, sehr betrübt zu seyn schien, so folgte doch daraus nicht, daß er ein Gefangner seyn müsse.
Während diese Gedanken sich in ihrer Seele durchkreuzten und sie unschlüssig erhielten, ließ sich die Stimme wieder hören und rief Ludovico; sie merkte nun, daß es Annette war und gieng freudig auf sie zu.
»Ludovico«, rief Annette schluchzend, »Ludovico!«
»Bist du es«, sagte Emilie und versuchte die Thüre aufzumachen. »Wie kamst du hieher? Wer sperrte dich ein?«
»Ludovico«, wiederholte Annette, »o Ludovico!«
»Es ist nicht Ludovico, ich bin es.«
Annette hörte auf zu schluchzen und schwieg.
»Wenn du die Thüre aufmachen kannst, so laß mich herein«, sagte Emilie, »hier ist niemand der dir etwas zu Leide thun wird.«
»Ludovico! o Ludovico!« rief Annette aufs neue.
Emilie verlor nun alle Geduld, und da sie immer mehr fürchtete, gehört zu werden, war sie beinahe im Begrif wieder fortzugehn, als ihr einfiel, daß Annette vielleicht etwas von Madame Montoni wüßte oder sie nach dem Thurm zurecht weisen könnte. Endlich erhielt sie eine, zwar sehr unbefriedigende Antwort: denn Annette wußte nichts von Madame Montoni und beschwur Emilien nur ihr zu sagen, was aus Ludovico geworden wäre. Sie wußte nichts von ihm und fragte Annetten aufs neue, wer sie hier eingeschlossen hätte.
»Ludovico«, sagte das arme Mädchen, »Ludovico schloß mich ein; als ich heute aus der Garderobe weglief, wußte ich gar nicht wo ich hin sollte, um Sicherheit zu finden, und traf hier im Gange Ludovico, der mich in dieses Zimmer trieb, und mich einsperrte, damit ich ausser Gefahr käme. Allein er war selbst in solcher Eile, daß er kaum zehn Worte sprach; er sagte mir blos, daß er, wenn alles ruhig wäre, kommen und mich herauslassen wollte, worauf er den Schlüssel zu sich steckte. Nun sind schon so viele Stunden verstrichen, ohne daß ich ein Wort von ihm gehört habe. Sie haben ihn ermordet; gewiß haben Sie ihn ermordet!«
Emilie erinnerte sich plötzlich an den Verwundeten, den sie in das Bedientenzimmer hatte tragen sehn und zweifelte kaum, daß es Ludovico wäre; doch verschwieg sie Annetten diesen Umstand und bemühte sich sie zu trösten. Voll Verlangen aber, von ihrer Tante zu hören, fragte sie aufs neue um den Weg nach dem Thurm.
»O Sie werden doch nicht dahin gehn wollen, Fräulein«, sagte Annette. »Um Gotteswillen, lassen Sie mich doch hier nicht allein.«
»Du bildest dir doch wohl nicht ein, daß ich die ganze Nacht hier im Gange warten werde«, antwortete Emilie; »sag mir nur, wie ich nach dem Thurm komme, wenn es Tag wird, will ich dich auch zu befreien suchen.«
»O heilige Mutter«, rief Annette, »so soll ich die ganze Nacht hier allein bleiben! ich werde von Sinnen kommen, und Hungers sterben dazu: denn ich habe seit Mittag nichts zu essen gehabt.«
Emilie konnte sich kaum enthalten, über Annettens so verschiedenartige Bedrängnisse zu lächeln, ohngeachtet sie sie aufrichtig beklagte, und alles was sie konnte, zu ihrem Troste hervorsuchte. Endlich erhielt sie etwas, das einer Anweisung nach dem östlichen Thurme ähnlich sah, und verließ die Thüre, von welcher sie nach vielen Verwirrungen und Verlegenheiten die steile Winkeltreppe des Thurms erreichte, an deren Fuße sie aufs neue stillstand, um auszuruhn und durch den Gedanken an ihre Pflicht ihren Muth wieder anzufeuern. Als sie diesen traurigen Ort übersah, entdeckte sie der Winkeltreppe gegenüber eine Thüre und, begierig zu wissen, ob sie zu Madame Montoni führen würde, schob sie die Riegel auf, die sie befestigten. Ein frischeres Lüftchen bließ ihr ins Gesicht, als sie die Thüre aufmachte, die auf den Wall stieß und der plötzliche Zugwind hätte ihr beinahe das Licht ausgeblasen, das sie nun weit von sich abhielt. Sie sah aufs neue auf die dunkle Terrasse hin und entdeckte nur den schwachen Umriß der Mauern und einiger Thürme, während oben schwere Wolken, auf dem Winde getragen, sich unter die Sterne zu mischen und die Nacht in dickere Finsterniß zu hüllen schienen. Indem sie so da stand und den Augenblick der Gewißheit noch weiter hinaus zu schieben wünschte, von der sie nur Bestätigung des Schlimmen erwarten konnte, erinnerte sie ein ferner Fußtritt, daß sie vielleicht von den Leuten auf der Wache bemerkt werden könnte. Ohne sich nun noch weiter aufzuhalten, machte sie eilends die Thüre zu, nahm ihre Lampe und gieng die Winkeltreppe hinauf. Es ergrif sie ein Zittern, als sie durch die Dunkelheit hinaufstieg. Dieser Ort schien ihrer traurigen Phantasie ein Ort des Todes zu seyn, und die tiefe Stille, die daselbst herrschte, bestärkte diese Vorstellung. Ihr Herz erbebte: vielleicht bin ich nur hieher gekommen, sagte sie zu sich selbst, um eine schreckliche Wahrheit zu erfahren, oder ein schreckliches Schauspiel anzusehn — ich fürchte, daß meine Kräfte einen solchen Zusatz von Schrecken nicht überleben würden.
Das Bild ihrer ermordeten, vielleicht von Montoni ermordeten Tante stieg wieder in ihrer Seele auf — sie zitterte, keuchte nach Athem, bereute, daß sie sich hieher gewagt hatte, und hemmte ihre Schritte. Nachdem sie aber einige Minuten still gestanden hatte, kehrte das Bewußtseyn ihrer Pflicht zurück und sie gieng weiter. Alles war noch still — endlich fiel ihr eine Spur von Blut auf der Treppe in die Augen und sie sah sogleich, daß die Wand und noch einige andre Stuffen befleckt waren. Sie stand still, suchte sich aufs neue aufrecht zu halten, und ließ die Lampe aus ihrer zitternden Hand fallen. Noch immer hörte man keinen Laut — kein lebendiges Wesen schien diesen Thurm zu bewohnen. Tausendmal wünschte sie sich wieder in ihr Zimmer zurück, fürchtete weiter zu forschen, fürchtete einem schrecklichen Anblick entgegen zu gehn und konnte sich doch nicht entschließen, jetzt, da sie dem Ende ihrer Bemühung so nahe war, davon abzustehn. Nachdem sie aufs neue Muth gefaßt hatte, weiter zu gehn, und den Thurm halb hinauf gestiegen war, kam sie an eine andre Thüre, stand aber wieder unschlüssig still. Sie horchte, ob sich kein Ton inwendig spüren ließe, raffte dann allen ihren Muth zusammen, machte sie auf und kam in ein Zimmer, das bei den schwachen Stralen, die ihre Lampe durch die Dunkelheit warf, nur von Feuchtigkeit triefende, kahle Wände sehn ließ. Indem sie so da stand, und es mit furchtsamer Erwartung, die Ueberreste ihrer unglücklichen Tante zu entdecken untersuchte, sah sie etwas in einem dunkeln Winkel des Zimmers liegen, und von einer schrecklichen Ahndung ergriffen, verlor sie auf einen Augenblick Bewegung und Gefühl. Dann aber eilte sie mit der Entschlossenheit der Verzweiflung auf den Gegenstand ihres Schreckens zu, fand aber nur einen Haufen Kleidungsstücke, die sie für die alte Uniform eines Soldaten erkannte, und worunter sie einen Haufen von Piken und andern Waffen entdeckte. Sie wagte kaum ihren Augen zu trauen und verließ das Zimmer, so sehr getröstet und mit der Ueberzeugung, daß ihre Tante nicht da war, so sehr beschäftigt, daß sie im Begrif war, den Thurm herab zu steigen, ohne noch weiter zu forschen: indem sie sich aber umdrehte, bemerkte sie auf einigen Stuffen aufs neue Spuren von Blut, und da sie sich erinnerte, daß noch ein Zimmer zu untersuchen wäre, stieg sie noch einmal die krumme Treppe hinauf. So wie sie höher kam, fand sie immer mehr Blut auf der Treppe.
Sie kam wieder an eine Thüre, aber da sie nun der gesuchten Gewißheit so nahe war, fürchtete sie sie noch beinahe mehr als zuvor, und hatte weder Kraft zu reden, noch einen neuen Versuch zu machen, die Thüre zu öfnen.
Nachdem sie vergebens nach einem Laute gehorcht hatte, um ihre Furcht zu bestätigen oder zu vernichten, legte sie endlich die Hand an das Schloß, und da sie es verschlossen fand, rief sie Madame Montoni, allein alles blieb todtenstill.
»Sie ist todt« rief sie, »ermordet! — ihr Blut klebt auf der Treppe!«
Emilie fühlte sich so schwach, daß sie sich kaum länger aufrecht halten konnte, und kaum hatte sie soviel Gegenwart des Geistes, die Lampe niederzustellen und sich auf einen Tritt zu setzen.
Als sie wieder zur Besinnung kam, rief sie aufs neue gegen die Thüre und versuchte aufs neue sie aufzumachen; nachdem sie aber eine Zeitlang gewartet hatte, ohne Antwort zu erhalten, oder einen Laut zu hören, stieg sie den Thurm herunter und suchte mit aller Schnelligkeit, die ihre Schwäche zuließ, ihr Zimmer wieder.
Als sie in den Gang trat, wurde die Thüre eines Zimmers geöfnet, aus dem Montoni hervor kam, Emilie, mehr erschrocken als je, zog sich bald genug wieder zurück, um nicht von ihm bemerkt zu werden, und hörte ihn die Thüre zumachen, die sie für dieselbe erkannte, aus der sie ihn schon einmal kommen sah. Sie blieb stehn, bis sich der schwache Nachhall seiner Schritte in der Ferne verlor, ehe sie sich wieder in ihr Zimmer wagte, wo sie sogleich die Thüre verschloß, sich ins Bette legte, die brennende Lampe aber auf dem Kamin stehn ließ. Allein der Schlaf war von ihrer gequälten Seele geflohn, die sich nur mit Bildern des Schreckens beschäftigte. Sie suchte sich mit aller Gewalt zu überreden, daß Madame Montoni vielleicht nicht nach dem Thurme gebracht worden wäre; wenn sie sich aber an die vorigen Drohungen ihres Mannes und an den schrecklichen Geist der Rache erinnerte, den er kürzlich bei einer gewissen Gelegenheit verrathen hatte; wenn sie an seinen Character überhaupt, an die Blicke der Leute, die Madame Montoni aus ihrem Zimmer gerissen hatten, an die Spuren auf der Treppe des Thurmes dachte, so konnte sie kaum zweifeln, daß ihre Tante in der schrecklichen Absicht, sie zu morden, dahin gebracht worden sey.
Die Morgendämmerung hatte schon lange durch ihr Fenster geschimmert, ehe ihre Augen sich schlossen, und endlich die erschöpfte Natur ihr eine kurze Frist von Leiden vergönnte.
Emilie blieb den andern Morgen in ihrem Zimmer, ohne etwas von Montoni zu erfahren, oder ein menschliches Wesen zu sehn, die bewafneten Männer ausgenommen, die zuweilen auf der Terasse unten hingiengen. Da sie seit dem vergangnen Mittag keinen Bissen zu sich genommen hatte, machte ihre ausserordentliche Schwäche es nothwendig, die Zuflucht ihres Zimmers zu verlassen, um sich eine Erfrischung zu verschaffen; und nicht minder lag es ihr am Herzen, Annetten wieder in Freiheit zu setzen. Sie überlegte nur, ob sie sich an Montoni selbst, oder an das Mitleid einer andern Person wenden sollte, bis endlich ihre peinliche Angst um ihre Tante ihren Abscheu vor seiner Gegenwart überwog, und sie zu ihm zu gehn und ihn zu bitten beschloß, daß er sie Madame Montoni möchte sehn lassen.
Annettens Abwesenheit machte es ihr indessen nur zu gewiß, daß Ludovico ein Unglück zugestoßen und sie noch immer eingesperrt seyn müßte; sie nahm sich also vor, ebenfalls vor das Zimmer zu gehn, wo sie den Abend zuvor mit ihr gesprochen hatte, und wenn sie noch darin wäre, Montoni von ihrer Lage Nachricht zu geben.
Es war beinahe Mittag, ehe sie sich hervor wagte; sie gieng zuerst in die südliche Gallerie, wohin sie kam, ohne jemand anzutreffen, oder nur einen Laut zu hören, ausgenommen von Zeit zu Zeit den Wiederhall eines fernen Fußtritts.
Sie hatte nicht nöthig Annetten zu rufen; denn ihr Klaggeschrei drang ihr schon entgegen, wie sie sich dem Gange näherte; sie bejammerte ihr eignes und Ludovicos Schicksal und sagte Emilien, daß sie gewiß Hungers sterben würde, wenn sie nicht auf der Stelle heraus käme. Emilie antwortete, sie wäre im Begrif zu Montoni zu gehn, und um ihre Erlösung zu bitten, allein die Schrecken des Hungers machten sogleich der Furcht vor dem Signor Platz, und als Emilie fortgieng, bat das arme Mädchen sie flehentlich, Montoni den Ort ihres Aufenthalts nicht zu entdecken.
Als Emilie dem großen Saal nahe kam, erneuten die Töne die sie hörte, und die Leute, die sie im Gange antraf, ihre Unruhe. Diese verhielten sich zwar ruhig und störten sie nicht, ohngeachtet sie sie aufmerksam ansahen, als sie vor ihnen vorbei gieng und zuweilen leise sprachen. Auf ihrem Wege durch den Saal sah sie zerbrochne Stücken von Degen, einige zerrißne mit Blut befleckte Kleider auf der Erde liegen und erwartete beinahe, einen todten Körper unter ihnen zu finden, allein mit diesem Anblick blieb sie wenigstens für jetzt verschont. So wie sie sich dem Zimmer näherte, drang der Ton verschiedner Stimmen von innen hervor, und die Furcht, vor vielen Fremden zu erscheinen sowohl, als Montoni durch ihr Hereintreten aufzubringen, machte daß sie still stand und in ihrem Vorsatz schwankte. Sie sah den langen Saal hinab, um einen Bedienten zu entdecken, der eine Botschaft überbringen könnte; allein niemand erschien. Die Stimmen von innen verriethen keinen Zank, ohngeachtet sie verschiedne von den Gästen des vorigen Tags erkannte, allein noch immer fehlte ihr der Muth, so oft sie an die Thüre klopfen wollte, und sie nahm sich vor, im Saale zu warten, bis jemand käme, der Montoni aus dem Zimmer rufen könnte, als er plötzlich, da sie sich eben von der Thüre umdrehte, sie selbst aufmachte. Emilie zitterte und wurde bestürzt, während er voll Erstaunen zurückfuhr und alle Schrecken seines Gesichtes sich entfalteten. Sie vergaß alles was sie sagen wollte, und fragte weder nach ihrer Tante, noch bat sie für Annetten, sondern stand schweigend und verlegen da.
Er machte die Thüre zu, verwies ihr in harten Ausdrücken eine Niederträchtigkeit, die sie nicht begangen hatte, und fragte sie finster, was sie erhorcht hätte. Diese Beschuldigung brachte sie so weit wieder zur Besinnung, daß sie ihm versicherte, sie sey nicht in der Absicht hieher gekommen, zu horchen, sondern ihn um Mitleid für ihre Tante und Annetten zu flehn. Montoni schien an dieser Behauptung zu zweifeln, denn er betrachtete sie mit forschendem Blick, und es war sichtlich, daß ihm nicht wenig daran lag. Emilie erklärte sich nun näher, und schloß mit der Bitte, daß er ihr den Aufenthalt ihrer Tante entdecken und ihr erlauben möchte, sie zu besuchen: allein er sah sie nur mit einem boshaften Lächeln an, das ihre ärgsten Besorgnisse für ihre Tante bestärkte, und sie hatte in diesem Augenblick nicht mehr das Herz, ihre Bitte zu erneuern.
»Was Annetten betrift«, sagte er, »so können Sie sich an Carlo wenden. Der Narr, der sie einsperrte, ist gestern gestorben.« — Emilie schauderte — »aber meine Tante, Signor«, sagte sie, »o verheelen Sie mir nicht, was aus meiner Tante geworden ist.«
»Es ist für sie gesorgt«, antwortete Montoni hastig: »ich habe nicht Zeit, unnütze Fragen zu beantworten.«
Er wollte fortgehn, aber Emilie beschwur ihn mit einer Stimme so voll Angst, daß es nicht möglich war, ihr ganz zu widerstehn, ihr zu sagen, wo Madame Montoni wäre: während er schwieg und sie ängstlich sein Gesicht beobachtete, erscholl eine Trompete und gleich darauf hörte sie die schweren Thore aufmachen und Pferde im Hofe stampfen nebst dem Gewühl vieler Stimmen. Sie blieb einen Augenblick unschlüssig stehn, ob sie Montoni folgen sollte, der bei dem Trompetenstoß durch den Saal gegangen war, und als sie ihm nachsah erblickte sie durch die Thüre, die hinter einer langen Reihe von Schwibbögen in den Hof stieß, einen Haufen Reuter, die sie, soviel die Entfernung und ihre Angst ihr zuließ, für dieselben erkannte, die sie wenig Tage zuvor hatte abreisen sehn. Allein sie blieb nicht lange stehn um darüber zu grübeln, denn so wie die Trompete zum zweitenmal erscholl, drangen die Ritter aus dem Zimmer hervor, und aus allen Winkeln des Schlosses kamen Leute in den Saal herbei gelaufen. Emilie suchte noch einmal in ihrem Zimmer eine Zuflucht; aber auch dahin folgten ihr Bilder des Schreckens. Sie überlegte aufs neue Montonis Wesen und Worte, als er von seiner Frau sprach, und sie dienten nur, ihren schrecklichsten Verdacht zu bestätigen. Ihre Thränen wollten noch immer zur Lindrung nicht fließen, und sie hatte schon lange in Gedanken versenkt, da gesessen, als ein Klopfen an der Thüre sie aufschreckte. Es war der alte Carlo.
»Liebes junges Fräulein«, sagte er, »ich bin so herumgejagt worden, daß ich erst diesen Augenblick an Sie habe denken können. Ich habe Ihnen Früchte und Wein gebracht und weiß gewiß, daß Sie es sehr bedürftig sind.«
»Ich danke euch, lieber Carlo«, sagte Emilie; »ihr seyd sehr gütig. Hat euch der Signor an mich erinnert?«
»Nein Signora«, erwiederte Carlo, »Seine Gnaden haben alle Hände voll genug zu thun.« Emilie erneuerte nun ihre Nachfragen nach Madame Montoni, allein Carlo war während der Zeit, daß man sie weggebracht hatte, im andern Ende des Schlosses beschäftigt gewesen und hatte seitdem nichts von ihr gehört.
Emilie sah ihm scharf ins Gesicht während er sprach, denn sie war ungewiß, ob er wirklich nichts wußte, oder ob er die Wahrheit nur aus Furcht, seinen Herrn zu beleidigen, verschwieg. Verschiedene Fragen wegen des gestrigen Streites beantwortete er ganz kurz und sagte nur, daß dieser Streit jetzt friedlich beigelegt wäre, und daß der Signor selbst glaubte, in seinem Verdacht gegen seine Gäste geirrt zu haben.
Sie bat ihn darauf, Annetten zu befreien; er versprach es, und war eben im Begrif zu gehen, als es ihr einfiel, ihn zu fragen, wer die eben angekommnen Personen wären. Ihre Vermuthung war ganz richtig gewesen: es war Verezzi mit seiner Gesellschaft.
Diese kurze Unterhaltung mit Carlo hatte sie einigermaaßen beruhigt: denn in ihrer gegenwärtigen Lage war es ihr ein Trost, die Töne des Mitleids zu hören, und dem Blicke der Sympathie zu begegnen.
Es verstrich eine Stunde ehe Annette erschien, endlich kam sie schluchzend und weinend herbei. »O Ludovico! Ludovico!« rief sie.
»Meine arme Annette«, sagte Emilie, und ließ sie niedersetzen.
»Ach Fräulein, wer hätte das gedacht? O trauriger, unglücklicher Tag! daß ich ihn je erleben mußte!«
In diesem Tone seufzte und klagte sie fort, bis Emilie es für nothwendig hielt, dem Uebermaaße ihres Schmerzes Einhalt zu thun.
»Der Todt raubt uns unaufhörlich geliebte Freunde«, sagte sie mit einem Seufzer, der vom Herzen kam. »Wir müssen uns dem Willen des Himmels unterwerfen. Ach unsre Thränen können die Todten nicht wieder ins Leben rufen!«
Annette nahm das Schnupftuch vom Gesicht.
»In einer bessern Welt wirst du Ludovico wiederfinden!« setzte Emilie hinzu.
»Ja, ja Fräulein«, schluchzte Annette; »allein ich hoffe ihn noch in dieser Welt wieder zu sehn, so schwer er auch verwundet ist.«
»Verwundet!« rief Emilie. »Lebt er denn noch?«
»Ja Fräulein, aber er ist erschrecklich verwundet und konnte nicht kommen, um mich herauszulassen. Anfangs hielten sie ihn für todt, und er ist erst jetzt wieder ordentlich zu sich selbst gekommen.«
»Ich freue mich zu hören, daß er noch lebt.«
»Noch lebt! um aller Heiligen willen, ich hoffe auch nicht, daß er sterben wird.«
Emilie sagte, sie hofte es nicht; allein dieser Ausdruck schien Annetten eine gewisse Furcht zu verrathen, und die ihrige nahm in eben dem Maaße zu, wie Emilie ihr Muth einzusprechen suchte. Auf ihre Erkundigung nach Madame Montoni konnte sie keine befriedigende Antwort geben.
»Ich vergaß ganz bei den Bedienten nachzufragen, Fräulein, denn ich konnte an niemand denken als an den armen Ludovico.«
Annettens Schmerz hatte sich nun etwas gelegt, und Emilie schickte sie fort, um sich nach ihrer Herrschaft zu erkundigen, allein sie konnte nichts von ihr erfahren. Verschiedne, die sie befragte, wußten wirklich nichts von ihrem Schicksal und andre hatten wahrscheinlich Befehl erhalten, es zu verschweigen.
Dieser Tag verstrich Emilien in fortdauernder Angst und Bekümmerniß um ihre Tante: doch ließ wenigstens Montoni sie unbelästigt und jetzt, da Annette befreit war, bekam sie wenigstens zu essen, ohne sich einer Gefahr oder Unverschämtheit auszusetzen.
Zwei folgende Tage verstrichen auf eben die Art, ohne daß sich etwas besonders zutrug, ohne daß sie die geringste Nachricht von Madame Montoni erhielt. Am Abend des Zweiten, nachdem sie Annetten fortgeschickt und sich zu Bette gelegt hatte, wurde ihre Seele von den fürchterlichsten Bildern gequält, die nur die lange gefühlte Angst um ihre Tante ihr eingeben konnte: unvermögend, sich nur einen Augenblick zu vergessen, oder die Schattenbilder, die sie quälten zu verbannen, stand sie vom Bett auf und trat in ein Fenster, um frische Luft zu schöpfen.
Aussen war alles still und dunkel, wenn man nicht den schwachen Schimmer der Sterne Licht nennen wollte, der nur undeutlich den Umriß der Berge, die westlichen Thürme des Schlosses und die Wälle unten sehn ließ, wo eine einsame Schildwache auf und ab gieng. Welch ein Bild der Ruhe stellte nicht diese Scene dar! Auch die wilden, furchtbaren Leidenschaften, die so oft in dem Einwohner dieses Schloßes wütheten, schienen jetzt in Schlaf gewiegt: diese geheimnisvollen Kräfte, welche die Elemente der menschlichen Natur zu Stürmen aufschrecken, waren ruhig. Emiliens Herz war es nicht; allein ihr Leiden, so tief es auch war, nahm doch den sanften Character ihrer Seele an. Ihr Schmerz war still, aber anhaltend, nicht der wilde Ausbruch der Leidenschaft, der die Einbildungskraft entflammt, die Schranken der Vernunft niederreißt und in einer selbst geschaffnen Welt des Schreckens lebt.
Die Luft erfrischte sie, und sie blieb im Fenster, auf die schattigte Gegend hinblickend, über welcher die Planeten mit hellerem Lichte zwischen dem tiefen, blauen Aether brannten, indem sie schweigend sich in ihrem bestimmten Kreise drehten. Sie erinnerte sich, wie oft sie mit ihrem theuern Vater sie angestaunt, wie oft er ihre Bahn zwischen den Himmeln ihr gezeigt und ihre Gesetze erläutert hatte; und diese Betrachtungen führten sie zu andern, die beinahe in gleichem Grade ihren Schmerz und Verwundrung erregten.
Sie führten einen Rückblick auf alle die wunderbaren und traurigen Begebenheiten mit sich, die sie seit der Trennung von ihren Eltern erlebt hatte; und dieser Emilie, die mit so viel Zärtlichkeit erzogen, so zärtlich geliebt worden war, die einst nur Güte und Glückseligkeit kannte, mußten diese letzten Verfälle und ihre gegenwärtige Lage in einem fremden Lande, in einem fernen Schlosse, von Laster und Gewaltthätigkeit umgeben, mehr das Spiel einer gestörten Phantasie als Wirklichkeit zu seyn scheinen. Sie weinte bei dem Gedanken, was ihre Eltern würden gelitten haben, wenn sie die Begebenheiten, die damals auf sie warteten, hätten vorher sehn können.
Während sie ihre strömenden Augen zum Himmel aufhob, sah sie denselben Planeten, den sie in der Nacht vor ihres Vaters Tode in Languedoc gesehn hatte, über den östlichen Thürmen des Schlosses aufgehn. Sie erinnerte sich des Gesprächs, das sie über den Zustand der abgeschiednen Seelen geführt hatten; erinnerte sich der feierlichen Musik, die sie gehört, und der damals ihre zarte Besorglichkeit, trotz ihrer Vernunft, eine übernatürliche Deutung gegeben hatte. Bei diesen Erinnerungen weinte sie aufs neue und stand tiefsinnig da, als plötzlich die Töne süßer Musik durch die Luft hinstrichen. Eine heimliche Furcht bemächtigte sich ihrer; sie stand einige Augenblicke in zitternder Erwartung da, und suchte dann ihre Gedanken zu sammlen, und sich Fassung einzusprechen; allein die menschliche Vernunft kann ihre Gesetze nicht über Gegenstände erstrecken, die sich in der Dunkelheit der Einbildungskraft verlieren, eben so wenig als das Auge die Form von Gegenständen bestimmen kann, die nur durch die Dunkelheit der Nacht schimmern.
Ihre Verwundrung, so sanfte und süße Töne zu hören, war wenigstens nicht unnatürlich, denn seit langer langer Zeit hatte sie nichts einer Melodie ähnliches gehört. Die wilde Trompete und grelle Pfeife waren die einzigen Instrumente, die sie seit ihrer Ankunft zu Udolpho gehört hatte.
Sobald sie sich einigermaaßen wieder beruhigt hatte, suchte sie zu entdecken, aus welcher Gegend die Töne kämen und es schien ihr, daß sie von unten hervorgiengen; ob aber aus einem Zimmer des Schlosses, oder unten von der Terrasse konnte sie nicht mit Gewißheit bestimmen. Furcht und Verwundrung wichen jetzt dem Zauber einer Musik, die mit der sanftesten, schwermüthigsten Süßigkeit durch die schweigende Nacht flötete. Auf einmal schien sie sich zu entfernen, zitterte schwach und verlor sich dann ganz.
Sie horchte noch fort, in die angenehme Ruhe versunken, die eine sanfte Musik in der Seele zurück läßt; allein sie kam nicht wieder. Sie dachte lange über diesen sonderbaren Umstand nach, denn sonderbar war es allerdings, um Mitternacht, wenn jeder Bewohner des Schlosses sich längst zur Ruhe begeben hatte, und an einem Orte, wo wahrscheinlich seit vielen Jahren kein musikalischer Laut getönt hatte, Musik zu hören. Langes Leiden hatte sie für alle Eindrücke der Furcht doppelt empfänglich und an übernatürliche Erscheinungen zu glauben geneigt gemacht. Es schien ihr, als wenn ihr verstorbner Vater in dieser Musik mit ihr spräche, um ihr Trost und Zuversicht einzuhauchen. Ihre Vernunft sagte ihr, daß dies nur eine wilde Vermuthung sey, allein mit der Inkonsequenz, die bei einer in Unordnung gebrachten Einbildungskraft so natürlich ist, fiel sie auf eine andre, nicht weniger ungereimte, Vorstellung. Sie erinnerte sich an den sonderbaren Umstand, der dem gegenwärtigen Besitzer dieses Schloß verschafft hatte; an das Verschwinden der Signora Laurentini — und ein kalter Schauer überlief sie. Sie sah furchtsam im dunkeln Zimmer umher, und die Todtenstille, die daselbst herrschte, machte ihr diese Dunkelheit noch fürchterlicher.
Endlich verließ sie das Fenster, allein ihre Schritte wankten, als sie sich dem Bette näherte, und sie stand still und sah umher. Das einzige Licht, das in diesem großen Zimmer brannte, wollte ausgehn; sie fuhr erschrocken vor der Dunkelheit hinter ihr zurück, dann aber, sich einer Schwäche schämend, die sie nicht ganz überwinden konnte, legte sie sich ins Bett, wo die Erquickung des Schlafs lange von ihr entfernt blieb. Sie beschäftigte sich noch immer mit dem, was sie gehört hatte, und nahm sich endlich vor, die folgende Nacht um dieselbe Stunde wieder aufzumerken. Wenn es menschliche Töne waren, sagte sie, so werde ich sie gewiß wieder hören.
Annette kam des andern Morgens beinahe athemlos in Emiliens Zimmer. »O Fräulein«, rief sie mit gebrochnen Worten aus, »was für Neuigkeiten habe ich Ihnen zu sagen. Ich habe ausfindig gemacht, wer der Gefangne ist; allein er war kein Gefangner; rathen Sie nur einmal, es ist jemand den Sie sehr gut kennen.«
»Wie kann ich das errathen?« sagte Emilie verdrieslich.
»Es ist jemand, den Sie oft zu Venedig gesehn haben; ein langer Herr mit einem schmalen Gesicht, der immer so stattlich geht und eine Feder auf dem Hute zu tragen pflegte; der immer zur Erde sieht, wenn die Leute mit ihm sprechen, und so finster unter seinen buschigten Augenbraunen hervor sieht, ich wundere mich nur, was er in diesem einsamen, alten Schlosse fürchtet, daß er sich hier einschließt. Eben jetzt ist er hervorgekommen; denn ich traf ihn diesen Augenblick auf dem Walle an. Ich zitterte als ich ihn sah, denn ich habe mich immer ein wenig vor ihm gefürchtet, allein ich nahm mir vor, es ihn nicht merken zu lassen und gieng mit einer tiefen Verbeugung auf ihn zu. Willkommen im Schlosse Signor Orsino, sagte ich!«
»Es war also Signor Orsino?«
»Ja Fräulein, Signor Orsino selbst, der den venetianischen Edelmann umbringen ließ und seitdem von Ort zu Ort umher geirrt ist.«
»Mein Gott, und der ist nach Udolpho gekommen? Er thut sehr wohl, daß er sich verbirgt. — Aber sag mir, hast du nichts von meiner Tante gehört?«
»Vergangne Nacht träumte mir, ich sähe ihren Geist; allein da niemand etwas von ihr weiß, so ist wohl nicht zu zweifeln, daß sie eben den Weg gegangen ist, als die vorige Dame des Schlosses. —«
Emilie stützte den Kopf auf die Hand und schwieg. Bald aber schickte sie Annetten fort, um ungestört ihren Betrachtungen nachzuhängen.
Annettens Bemerkung hatte einen schrecklichen Verdacht über das Schicksal ihrer Tante in ihr rege gemacht und sie beschloß, noch einmal Herz zu fassen, und sich an Montoni selbst zu wenden, um Gewißheit hierüber zu erlangen.
Nach einigen Stunden kam Annette zurück und sagte Emilien, daß der Thürsteher mit ihr zu sprechen wünschte, weil er ihr etwas wichtiges zu sagen hätte.
»Laß ihn sogleich in den Gang kommen«, antwortete Emilie.
Annette kam bald zurück.
»Barnadino getraut sich nicht in den Gang zu kommen, weil er entdeckt zu werden fürchtete: denn er hat scharfen Befehl erhalten, keinen Augenblick von seinem Posten zu gehn; wenn sie aber durch einen Weg, den er mir beschrieben hat, vors Thor zu ihm kommen wollen, so wird er Ihnen etwas entdecken, worüber Sie erstaunen werden. Allein Sie müssen ja nicht über den Hof gehn, damit der Signor Sie nicht sieht.«
Emilie, der weder diese Umwege, noch die Bitte überhaupt gefielen, schlug es durchaus ab. »Sag ihm nur«, antwortete sie Annetten, »wenn er mir wirklich etwas wichtiges mitzutheilen hätte, so würde er wohl Gelegenheit finden, in den Gang zu kommen.«
Annette blieb lange aus. Endlich kam sie mit der Antwort zurück, daß es nicht angienge, weil Barnardino sich der äussersten Gefahr aussetzte, wenn er jetzt seinen Posten verlassen wollte. »Wenn Sie aber in der Abenddämmerung auf den östlichen Wall kommen wollten«, setzte sie hinzu, »so wird es ihm vielleicht möglich, sich dahin zu schleichen.«
Emilie besann sich eine Weile, weil diese Heimlichkeit sie befremdete, da sie aber glaubte, daß er sie vielleicht vor einer wichtigen Gefahr zu warnen hätte, beschloß sie zu gehn und ließ ihm sagen, daß sie eine Stunde nach Sonnenuntergang auf der Terrasse seyn wollte. »Sag ihm aber, daß er sich ja pünktlich einstellt: denn ich könnte auch von dem Signor Montoni bemerkt werden. Wo ist der Signor? ich möchte ihn gerne sprechen?«
»Er ist in dem schwarzen Zimmer und hält einen großen Rath mit den andern Herren. Es giebt heute ein Gastgeboth, um, wie ich glaube, wieder gut zu machen, was bei dem letzten vorgefallen ist: die Leute sind alle in der Küche sehr geschäftig.«
Emilie trug ihr nun auf, ihr zu sagen, wenn Montoni allein wäre, worauf sie fortgieng, um Barnardino Bescheid zu bringen.
Montoni war den ganzen Tag über so sehr beschäftigt, daß Emilie keine Gelegenheit hatte, sich eine Linderung ihrer schrecklichen Angst wegen ihrer Tante zu verschaffen. So wie die Stunde der Dämmerung näher rückte, nahm ihre Ungeduld zu: endlich gieng die Sonne unter; sie hörte die Schildwache auf ihren Posten gehn und sobald Annette erschien, gieng sie mit ihr auf die Terrasse herunter. Sie fürchtete, Montoni oder einen von seinen Gästen zu treffen, allein Annette sagte ihr, daß sie nichts von ihnen zu besorgen hätte, weil sie alle bei der Flasche säßen, worauf auch Barnardino sich verließe.
Als sie die erste Terrasse erreichten, rief die Schildwache »wer da?« Nachdem Emilie geantwortet hatte, giengen sie weiter nach dem östlichen Wall, wo sie aufs neue angerufen wurden. Zwar ließ man sie ungehindert gehn, aber doch war es Emilien unangenehm, sich der Willkühr solcher Menschen zu einer solchen Stunde auszusetzen, und sie eilte voll Ungeduld, Barnardino zu finden, weiter. Er war noch nicht gekommen und sie lehnte sich tiefsinnig an die Mauer des Walls um auf ihn zu warten. Die Dämmerung hüllte die Gegenstände umher in einen dichten Schleier, und schmolz Thal, Berge und Wälder in sanfter Verwirrung zusammen, während nur ein schwaches Chor ferner Stimmen, aus dem Schlosse durch die Stille drang.
»Was sind das für Stimmen«, sagte Emilie, furchtsam horchend.
»Es ist der Signor. Er zecht mit seinen Gästen«, erwiederte Annette.
Großer Gott, dachte Emilie, kann dieser Mann so fröhlichen Herzens seyn, indeß er ein andres Wesen so elend macht — wenn es anders meiner Tante noch vergönnt ist, ihr Elend zu fühlen. O was auch für Leiden auf mich warten mögen, so soll doch nie mein Herz sich gegen das Leiden andrer verhärten.
Sie sah mit einer Empfindung des Schreckens zu dem östlichen Thurme hinauf, neben welchem sie stand: ein Licht schimmerte durch die Gitter des untern Zimmers, die obern Fenster aber waren dunkel. Indem sah sie jemand mit einer Lampe durch das untere Zimmer gehn, allein dieser Umstand ließ sie nichts hoffen, da sie Madame Montoni vergebens in diesem Zimmer gesucht hatte, welches nur Soldatenkleidungen zu enthalten schien. Doch nahm sie sich vor, sobald Barnardino fortgegangen seyn würde, zu versuchen, ob sie die äussere Thüre des Thurms aufmachen könnte, und wenn es ihr gelänge, noch einen Versuch zu machen, ihre Tante zu entdecken.
Die Augenblicke verstrichen, aber Barnardino erschien noch immer nicht, und Emilie, die unruhig zu werden anfieng, war unschlüssig, ob sie noch länger warten sollte. Sie würde Annetten ans Thor geschickt haben, um ihn anzutreiben; allein sie fürchtete sich, allein zu bleiben, denn es war nun beinahe ganz finster, und ein düstrer rother Streifen, der noch im Westen zögerte, war die einzige Spur des abgeschiednen Tags. Indessen überwog die lebhafte Neugier, die Barnardinos Botschaft in ihr rege gemacht hatte, alle andere Besorgnisse, und hielt sie noch zurück.
Während sie sich mit Annetten darüber besprach, was wohl an seinem langen Ausbleiben schuld seyn könnte; hörten sie ein Thor nahe bei ihnen aufschließen und sahen gleich darauf einen Mann auf sich zukommen. Es war Barnardino. Emilie fragte ihn eilends, was er ihr zu sagen hätte, und bat ihn sie nicht lange aufzuhalten, weil die Abendluft ihr nicht wohl bekäme.
»Sie müssen Ihr Mädchen fortschicken«, sagte der Mann mit einer Stimme, deren tiefer Ton sie erschreckte. »Was ich Ihnen zu sagen habe, geht nur Sie allein an.«
Emilie besann sich und hieß darauf Annetten ein wenig bei Seite gehn.
»Nun Freund«, fieng sie an, »was hat er mir zu sagen?«
Er schwieg einen Augenblick still, als wenn er bei sich selbst überlegte, und antwortete dann.
»Was mir zum wenigsten meinen Platz kosten würde, wenn es zu des Signors Ohren käme. Sie müssen mir versprechen, Fräulein, nie eine Sylbe von dem, was ich Ihnen eröfnen werde, zu sagen. Man hat einmal in dieser Sache ein Vertrauen auf mich gesetzt, und wenn es herauskäme, daß ich es verrathen hätte, so würde ich vielleicht mit dem Leben dafür stehn müssen. Allein ich war um Sie bekümmert, gnädiges Fräulein und beschloß Ihnen zu sagen —« Er hielt inne.
Emilie dankte ihm, versicherte ihn, daß er sich auf ihre Verschwiegenheit verlassen könnte, und bat ihn zu eilen.
»Annette sagte uns wie sehr Sie um Madame Montoni bekümmert wären, und wie sehr Sie zu wissen wünschten, was aus ihr geworden wäre.«
»Ja gewiß«, sagte Emilie lebhaft, »und könnt Ihr mir Nachricht davon geben? Ich beschwöre Euch mir alles, auch das ärgste, ohne Rückhalt zu sagen.«
»Ich kann Ihnen sagen« hub Barnardino an und schwieg wieder.
Emilie hatte keine Kraft, weiter in ihn zu dringen.
»Ich kann Ihnen sagen«, fuhr Barnardino fort — »aber —«
»Nun was?« rief Emilie, indem sie allen ihren Muth zusammen raffte.
»Hier bin ich, Fräulein«, sagte Annette, die Emilien diese Worte mit Heftigkeit aussprechen hörte, und auf sie zugelaufen kam.
»Geht«, sagte Barnardino finster, »niemand verlangt Euch« — da Emilie nichts sagte, gehorchte sie.
»Ich kann Ihnen sagen«, wiederholte der Thürsteher; »allein ich weiß nicht, wie ich es bey Ihnen anbringen soll, Sie waren vorhin so betrübt.« —
»Ich bin auf das ärgste gefaßt mein Freund«, sagte Emilie mit ernster, fester Stimme. »Ich kann jede Gewißheit besser ertragen, als diesen Zweifel.«
»Gut Signora, wenn das der Fall ist, so hören Sie. — Sie wissen vermuthlich, daß der Signor und seine Gemahlin oft in Streit zusammen lebten. Es ist nicht meine Sache, mich um die Ursache zu bekümmern, allein es wird Ihnen bekannt seyn, daß —«
»Gut, gut«, sagte Emilie, »rede er nur weiter —«
»Der Signor ist wie es scheint, kürzlich sehr aufgebracht gegen sie gewesen. Ich sah alles und hörte alles, weit mehr als die Leute glaubten, allein, weil es mich nichts angieng, so sagte ich auch nichts. Vor einigen Tagen ließ der Signor mich rufen. Barnardino sagte er, ich halte Euch für einen — ehrlichen Mann, und denke, daß ich Euch trauen kann. — Ich versicherte Sr. Gnaden, daß Sie sich auf mich verlassen könnten. Gut, sagte er darauf, so viel ich mich besinnen kann, ich habe eine Sache unter Händen, wobei Ihr mir behülflich seyn könnt. — Darauf sagte er mir, was ich zu thun hätte, allein davon werde ich nichts sagen, weil es blos die Signora betraf.«
»O Himmel!« rief Emilie, »was habt Ihr gethan?«
Barnardino stockte und schwieg —
»Welcher böse Feind konnte ihn oder Euch zu einer solchen That verführen«, rief Emilie vor Schrecken erstarrt und kaum ihrer Sinne mächtig.
»Es war ein böser Feind!« sagte Barnardino mit dumpfer Stimme. Beide schwiegen; Emilie hatte nicht den Muth, weiter zu forschen, und Barnardino schien sich zu fürchten, mehr zu sagen. Endlich sagte er, »es ist jetzt nicht mehr Zeit an das Vergangne zu denken; der Signor war grausam genug, allein man mußte ihm gehorchen. Was hätte auch wohl mein Weigern geholfen? Er würde schon andre gefunden haben, die sich kein Bedenken gemacht hätten.«
»Ihr habt sie also ermordet!« — rief Emilie mit hohler, bebender Stimme: »ich spreche mit einem Mörder!« — Barnardino stand verstummt da, während Emilie sich von ihm abwandte, und den Ort zu verlassen suchte.
»Bleiben Sie Fräulein! Sie verdienten wohl, daß ich Sie bei dem Glauben ließe, da Sie mich einer solchen That fähig halten können.«
»Wenn Ihr unschuldig seyd, so redet geschwind«, sagte Emilie mit schwacher Stimme. »Ich fühle, daß ich nicht lange mehr im Stande seyn werde, Euch zu hören.«
»Ich will nichts weiter sagen —« erwiederte er und gieng fort. Emilie hatte nur eben so viel Stärke, ihn bleiben zu heissen und Annetten zu rufen, auf deren Arm sie sich stützte, und langsam mit ihr den Wall hinauf gieng, bis sie Schritte hinter sich hörten. Es war wiederum Barnardino.
»Schicken Sie das Mädchen fort«, sagte er, »so sollen Sie mehr erfahren.«
»Sie darf nicht fort«, sagte Emilie; »was Ihr zu sagen habt, darf sie wohl hören.«
»Darf sie das? So?« antwortete er, »gut so sollen Sie auch nicht mehr erfahren.« — Er gieng langsam fort; Emiliens ängstliche Neugier überwältigte jetzt ihre Furcht und Unwillen, sie rief ihn zurück und hieß Annetten fortgehn.
»Die Signora lebt«, sagte er. »Sie ist meine Gefangne. Der Signor hat sie in dem Zimmer über dem großen Thore eingesperrt, und ich habe die Aufsicht über sie. Ich wollte Ihnen sagen, daß Sie sie sehn könnten, aber nun —«
Emilie, die sich durch diese Rede von einer unaussprechlichen Angst befreit fühlte, bat nun nur Barnardino um Vergebung und beschwur ihn, daß er sie zu ihrer Tante führen möchte.
Er versprach es mit weniger Bedenklichkeit als sie erwartete, und sagte ihr, wenn sie die zukünftige Nacht sobald der Signor sich zur Ruhe gelegt haben würde, an das hinterste Schloßthor kommen wollte, so sollte sie vielleicht Madame Montoni sehn.
Mitten unter aller Dankbarkeit, welche Emilie für diese Willfährigkeit empfand, glaubte sie eine Art von boshafter Schadenfreude auf seinem Gesicht zu entdecken, als er die letzten Worte sagte, allein sie verbannte sogleich diesen Gedanken, und nachdem sie ihm nochmals gedankt hatte, bat sie ihn, gut mit ihrer Tante umzugehn, versprach ihm eine Belohnung und daß sie sich pünktlich einstellen würde. Hierauf sagte sie ihm gute Nacht und kam unbemerkt wieder in ihr Zimmer. Es dauerte lange, ehe der Taumel der Freude, worin Barnardinos unerwartete Nachricht sie versetzt hatte, sie deutlich an die Gefahr denken ließ, worin sie und Madame Montoni sich wirklich befanden. Sie bedachte nun, daß ihre Tante die Gefangne eines Mannes war, der sie leicht seiner Rache oder seinem Geitze aufopfern konnte, und wenn sie sich das wilde Ansehn des Mannes dachte, der ihr zum Aufseher gegeben war, so schien ihr Urtheil bereits unterschrieben: denn Barnardinos Gesicht schien den Stempel des Mordes zu tragen, und als sie ihn zuerst ansah, schien es ihr, daß es keine so schwarze That gäbe, zu deren Ausführung er nicht bereit seyn würde. Diese Betrachtungen erinnerten sie an den Ton, womit er ihr versprochen hatte, sie die Gefangne sehn zu lassen, und sie sann lange unruhig und zweifelhaft darüber nach. Zuweilen schien es sogar bedenklich, sich um die einsame Stunde, die er bestimmt hatte, ihm anzuvertrauen; und einmal, aber einmal nur fiel ihr der Gedanke ein, daß Madame Montoni vielleicht schon ermordet, und daß dieser Mörder bestellt wäre, sie selbst an einen entlegnen Ort zu führen, um auch ihr Leben Montonis Geitze aufzuopfern, der dann ungehindert die streitigen Güter in Languedoc in Besitz nehmen könnte. Allein dieses Verbrechen schien ihr gar zu abscheulich, als daß sie lange daran glauben konnte, nur schwankte sie noch immer zwischen Furcht und Zweifel, wenn sie sich an Barnardinos Wesen erinnerte. Endlich giengen ihre Gedanken von diesem Gegenstande zu andern über; und da der Abend herannahte, erinnerte sie sich mit einer gewissen Bewegung der Musik, die sie am Abend zuvor gehört hatte, und erwartete mit etwas mehr als Neugier sie wiederkommen zu hören.
Sie unterschied bis spät in die Nacht das ferne Zechgeschrei Montonis und seiner Gefährten — die lauten Gespräche, das ausschweifende Gelächter und die Rundgesänge, von denen der Saal wiederhallte. Endlich hörte sie das schwere Thor des Schlosses für die Nacht verschließen, und dann eine tiefe Stille eintreten, die nur durch die leisen Schritte der Personen, die durch die Gallerien nach ihren fernen Zimmern giengen, unterbrochen wurde. Emilie, die nunmehr glaubte, daß es ohngefähr um die Zeit wäre, wo sie am Abend zuvor die Musik gehört hatte, schickte Annetten fort, und öfnete leise das Fenster um auf ihre Rückkehr zu warten. Der Planet, den sie bei der Annäherung der Musik so besonders bemerkt hatte, war noch nicht aufgegangen: allein mit abergläubiger Schwäche hielt sie ihre Augen starr auf die Gegend des Himmels gerichtet, wo sie ihn hatte hervorgehn sehn, und erwartete beinahe, daß, wenn er erschiene, die Töne wiederkehren würden. Endlich gieng er, hellglänzend über den östlichen Thürmen des Schlosses hervor. Ihr Herz zitterte, als sie ihn sah, und sie hatte kaum so viel Stärke, am Fenster zu bleiben, damit nicht die wiederkehrende Musik sie in ihrer Angst bestärken und die wenige Stärke, die ihr noch übrig blieb, zu Boden werfen sollte. Bald darauf schlug die Glocke eins, und da sie wußte, daß dies ohngefähr die Zeit war, wo die Töne sich hören ließen, setzte sie sich in einen Stuhl am Fenster nieder und suchte ihre Lebensgeister zu beruhigen, allein die Angst der Erwartung ließ es ihr nicht zu. Alles blieb indessen still; sie hörte nur die einsamen Schritte einer Schildwache und das leise Rauschen des Waldes unten, und lehnte sich aufs neue aus dem Fenster um gleichsam, als wollte sie Nachricht von ihm erfragen, zu dem Planeten aufblicken, der jetzt hoch über den Thürmen aufgegangen war.
Emilie horchte und horchte, aber keine Musik ließ sich vernehmen. »Gewiß waren es keine sterblichen Töne«, sagte sie, indem sie sich die süße Melodie zurück rief. »Kein Bewohner dieses Schlosses hätte eine solche hervorbringen können, und wo ist das Gefühl, das einen so überirrdischen Ausdruck einhauchen konnte? Wir wissen, daß man zuweilen überirrdische Töne auf Erden gehört hat. Ja, mein theurer Vater selbst sagte einmal, daß er kurz nach meiner Mutter Tode, als ihn der Schmerz nicht schlafen ließ, durch ungewöhnlich süße Töne aus seinem Bette gelockt wurde, und als er das Fenster öfnete, hörte er erhabne Musik durch die mitternächtliche Luft dringen. Es war ihm ein sanfter Trost, sagte er; er blickte mit Vertrauen zum Himmel auf und gab sich seinem Gotte hin.«
Emilie hielt inne und weinte bei dieser Erinnerung; »vielleicht«, fuhr sie fort, »vielleicht wurden diese Töne vom Himmel herabgeschickt, um mich zu trösten, um mir Muth einzusprechen. Nie werde ich die Musik vergessen, die ich einmal um diese Stunde in Languedoc hörte. Vielleicht umschwebt mich mein Vater in diesem Augenblick!« Sie weinte aufs neue in zärtlicher Erinnerung verloren, und so brachte sie wachend und feierlich die Stunde hin; aber kein Ton kehrte wieder, und nachdem sie am Fenster verweilt hatte, bis die lichte Farbe der Dämmerung die Spitzen der Berge färbte, und sich durch die Schatten der Nacht schlich, gab sie die Hofnung auf, sie wieder zu hören, und legte widerstrebend sich zur Ruhe.
Emilie erstaunte den andern Tag nicht wenig, als sie fand, daß Annette sowohl von Madame Montonis Verhaft in dem Zimmer über dem Portal, als von ihrem Vorsatz, die Unglückliche in der folgenden Nacht zu besuchen, unterrichtet war. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß Bernardino ein Geheimnis, das ihm so wichtig schien, einem so unvorsichtigen Geschöpfe sollte gesagt haben, obwohl er ihr eine Bestellung wegen der verabredeten Zusammenkunft aufgetragen hatte. Er verlangte, daß Emilie ganz ohne Begleitung gleich nach Mitternacht zu ihm auf die Terrasse kommen sollte; er versprach sie sodann selbst nach dem bewußten Orte zu führen. Sie erbebte bei diesem Vorschlage. Tausend furchtbare Vorstellungen, gleich den Schreckbildern der vorigen Nacht, denen sie eben so wenig Glauben zu geben, als sie zu verscheuchen im Stande war, drängten sich vor ihre Seele. Es fiel ihr oft ein, daß Bernardino ihr vielleicht die Unwahrheit von Montoni gesagt hätte, daß er wohl gar selbst der Mörder ihrer Tante sey! ja daß er sie auf Montonis Befehl hintergangen hätte, um sie desto leichter zu den abscheulichen Absichten dieses Menschen zu bereden. Der schreckliche Verdacht, daß Madame Montoni nicht mehr lebe, wurde von einem andern nicht minder schrecklichen für sie selbst, begleitet. Wenn er auch sein Verbrechen gegen ihre Tante blos aus Rache, nicht aus Eigennutz begangen hatte, so blieb doch der Zweck der grausamen That unerreicht, so lange die Nichte lebte, der das Vermögen seiner Frau zufallen mußte. Emilie erinnerte sich an die Worte, wodurch sie erfahren hatte, daß die streitigen Güter in Frankreich an sie fallen müßten, wenn Madame Montoni stürbe, ohne sie ihrem Gemahle zu verschreiben; und der hartnäckigste Eigensinn ihrer Tante machte es nur zu wahrscheinlich, daß sie bis auf den letzten Augenblick bei ihrer Weigerung geblieben war. Bernardinos Benehmen in der vergangnen Nacht wurde ihr aufs neue gegenwärtig — sie glaubte nun, was sie damals wähnte, daß es boshafte Schadenfreude ausgedrückt hatte. Sie schauderte bei der Erinnerung, die ihre Furcht bestärkte, und nahm sich vor, nicht zu ihm auf die Terrasse zu gehen. Bald aber fühlte sie sich geneigt, diesen Verdacht für ausschweifende Vorstellungen einer furchtsamen gequälten Seele zu halten, und konnte Montoni einer so vorausbedachten Schändlichkeit, aus einerlei Absicht seine Frau und Nichte zu Grunde zu richten, nicht fähig glauben. Sie schalt sich selbst, daß sie sich durch ihre romantische Einbildungskraft so weit über die Gränzen der Wahrscheinlichkeit hinausführen ließe, und nahm sich ernstlich vor, ihren schnellen Flug im Zaum zu halten, damit er sie nicht einst bis zum Wahnsinn brächte. Doch erschrack sie noch immer vor dem Gedanken, Bernardino um Mitternacht auf der Terrasse zu treffen, und immer wieder machte der Wunsch, aus dieser schrecklichen Ungewisheit wegen ihrer Tante befreit zu seyn, sie zu sehen und ihr Leiden zu mildern, sie unschlüssig, was sie thun sollte.
»Allein wie ist es möglich Annette«, sagte sie indem sie sich zu fassen suchte — »daß ich um diese Stunde auf die Terrasse kommen kann. Die Wache wird mich anhalten, und Signor Montoni wird alles erfahren.«
»O gnädiges Fräulein, daran ist wohl gedacht«, erwiederte Annette, »das hat mir Bernardino voraus gesagt. Er gab mir diesen Schlüssel und sagte daß er die Thüre am Ende der gewölbten Gallerie die auf den östlichen Wall stößt, aufschlösse, so daß sie vor keiner Wache zu passiren nöthig hätten. Er trug mir auch auf Ihnen zu sagen, daß er Sie deswegen bäthe, auf die Terrasse zu kommen, weil er von dort aus mit Ihnen nach dem bewußten Orte gehen konnte, ohne die großen Saalthüren zu öfnen, die so entsetzlich knarren.«
Emilie wurde durch diese Erklärung einigermaßen beruhigt; doch schwankte ihre Seele noch zwischen Furcht und Zweifel und entgegengesetzten Entschlüssen, ob sie zu diesem Menschen gehe, und sich seiner Leitung, sie wußte kaum wohin, überlassen sollte. Mitleid für ihre Tante, und Angst um sich selbst, bestimmten wechselsweiß ihren Entschluß und die Nacht kam heran, ehe sie mit sich selbst einig war. Sie hörte die Schloßglocken eilfe — zwölfe schlagen, — und schwankte noch. Allein der Augenblick war nun gekommen, wo sie nicht länger zögern durfte, das Gefühl für ihre Tante überwältigte jede andere Betrachtung; sie befahl Annetten, ihr bis an die äußre Thür der gewölbten Gallerie zu folgen, und da ihre Zurückkunft zu erwarten. Im Schlosse war alles still, der große Saal, wo sie kürzlich einen schrecklichen Auftritt der Zwietracht sah, hallte jetzt nur die leißen Fußtritte der zwey einsamen Gestalten nach, die sich furchtsam zwischen den Pfeilern hinschlichen, und die dunkle Lampe in ihrer Hand warf nur einen schwachen Schimmer um sie her. Emilie stand oft still, getäuscht durch die langen Schatten der Pfeiler und das zwischen schimmernde Licht, und wähnte eine menschliche Gestalt sich im fernen Dunkel der Aussicht bewegen zu sehen; sie fürchtete sich, aufzublicken, weil sie jeden Augenblick erwartete, eine Figur hinter den breiten Rücken dieser Pfeiler hervorgehn zu sehen. Doch erreichte sie ungehindert die gewölbte Gallerie; mit zitternder Hand schloß sie die äußre Thüre auf, befahl Annetten, sich nicht davon zu entfernen und sie ein wenig offen zu halten, damit sie hören könnte, wenn sie gerufen würde, überließ ihr die Lampe, die sie selbst der Wache wegen sich nicht zu behalten getraute, und betrat allein die dunkle Terrasse. Es war alles so still, daß sie fürchtete, die ferne Schildwache möchte ihre leißen Tritte hören; sie schlich behutsam nach der Stelle, wo sie zuvor Bernardino getroffen hatte, lauschte nach einem Laute und sah unverwand durch die Dunkelheit hin, ob sie nichts von ihm erblickte. Endlich wurde sie durch eine tiefe Stimme neben sich aufgeschreckt; sie stand still, ungewis ob es die seinige sey, und erkannte den dumpfen Ton von Bernardino, der sich pünktlich eingestellt hatte, und auf dem bestimmten Platze an die Mauer des Walls gelehnt stand. Nachdem er ihr einen Verweis wegen ihres langen Zögerns gegeben und ihr gesagt hatte, daß er schon seit einer halben Stunde auf sie wartete, hieß er sie zu der Thüre, durch die er auf die Terrasse gekommen war, ihm zu folgen.
Während er aufschloß, sah sie sich stillschweigend um nach der Thüre, die sie verlassen hatte, und der Schimmer der Lampe der durch eine kleine Oefnung fiel, überzeugte sie, daß Annette noch da war. Allein ihre ferne Gegenwart konnte Emilien wenig helfen, nachdem sie die Terrasse verlassen hatte, und als Bernardino das Thor aufschloß machte der düstre Anblick des Weges unten, da eine auf dem Pflaster brennende Fackel sie sehen ließ, einen so schreckhaften Eindruck auf sie daß sie sich weigerte, ihm alleine zu folgen, woferne nicht Annette sie begleiten sollte. Allein Bernardino verweigerte dieses durchaus, indem er zugleich durch hingeworfene Winke Emiliens Neugier und Mitleid gegen ihre Tante so zu erhöhen wußte, daß sie sich endlich entschloß, ihm allein bis zu dem Portal zu folgen.
Er nahm darauf die Fackel und führte sie durch den Gang, an dessen äussersten Ende er eine andre Thür aufschloß, durch welche sie einige Stuffen hinab in eine Kapelle stiegen. Emilie sah bei dem Scheine der Fackel daß sie gänzlich verfallen war, und erinnerte sich sogleich mit Herzensbeklemmnis an ein vorhergegangenes Gespräch mit Annetten. Sie sah ängstlich auf die beinahe unbekleideten Wände, an denen ein feuchtes Grün hieng, auf die gothischen Formen der Fenster, wo Epheu und Wandkraut lange schon die Stelle des Glases eingenommen hatten, und sich getürmt zwischen den zertrümmerten Hauptpfeilern einiger Säulen hinwandten, die vormahls die Decken unterstützten. Bernardino stolperte auf dem aufgerissenen Pflaster, und sein mürrisches Fluchen hallte in dumpfen Echos wieder, die es noch gräßlicher machten. Emilien sank das Herz, doch folgte sie ihm, bis er den ehemaligen Hauptflügel der Kapelle verließ. »Hier herunter, Fräulein«, sagte er, indem er eine Stuffe hinab stieg, die in das Gewölbe zu führen schien; allein Emilie stand oben still und fragte mit bebender Stimme, wohin er sie führe?
»Zu dem Portal« sagte Bernardino.
»Können wir nicht durch die Kapelle dahin kommen?« fragte Emilie.
»Nein Signora, die stößt auf den innern Vorhof, den ich nicht aufschließen mag. Nur hieher, so werden wir sogleich an Ort und Stelle seyn.«
Emilie zögerte noch; sie fürchtete nicht nur weiter zu gehen, sondern auch, da sie so weit gegangen war, Bernardino durch ihre Weigerung aufzubringen.
»Kommen sie geschwind, Fräulein«, rief er von unten herauf; »ich habe nicht Lust, die ganze Nacht hier zu warten.«
»Aber wohin führt diese Treppe«, fragte Emilie noch immer stillstehend.
»Zu dem Portal«, erwiederte Bernardino aufgebracht, »ich will und mag nicht länger warten.«
Mit diesen Worten gieng er mit dem Lichte weiter, und Emilie, die ihn durch ferners Weigern zu erzürnen fürchtete, folgte widerstrebend. Von der Treppe giengen sie durch einen Gang an den Gewölben hin, von dessen Mauern ein feuchter Dampf herab träufelte, und wo bei jedem Schritte solche Dünste aus der Erde stiegen, daß Emilie jeden Augenblick die Fackel verlöschen zu sehen fürchtete, die so dunkel brannte, daß Bernardino kaum seinen Weg finden konnte. Mit jedem Schritte verdickten sich die Dünste, und Bernardino, der die Fackel im Erlöschen glaubte, stand einen Augenblick still, um sie zu putzen. So wie er sich an ein paar eiserne Thorflügel lehnte, die sich am Gange öfneten, sah Emilie beim schwankenden Schimmer des Lichts das Gewölbe unten und neben ihr Haufen Erde, die ein ofnes Grab zu umgeben schienen. Ein solcher Anblick, in solch einem Aufenthalte, würde sie zu jeder Zeit beunruhigt haben; jetzt aber ergrif sie die schreckliche Ahndung, daß dieses das Grab ihrer unglücklichen Tante sey, und daß der verrätherische Bernardino sie selbst zum Tode führe. Der finstre, schauerliche Ort, wohin er sie gebracht hatte, schien diesen Gedanken zu rechtfertigen; es war ein Ort zum Mord geschaffen; ein Aufbehältnis der Todten, wo eine gräßliche That konnte begangen werden, ohne daß eine Spur sie verrieth. Emilie war so überwältigt von Schrecken, daß sie keinen Gedanken fassen konnte. Sobald sie wieder zu sich selbst kam, überlegte sie, daß jeder Versuch zu entfliehen vergebens seyn würde, weil Bernardino bei ihrer Schwäche, sie auf dem langen verwickelten Wege, aus dessen Krümmungen sie sich nicht zu finden wußte, bald einholen würde, sie fürchtete sogar, ihn durch Entdeckung ihres Verdachts noch mehr zu reitzen, und faßte also den Entschluß, allen Anschein von Furcht so viel sie konnte zu unterdrücken und schweigend zu folgen, wohin er sie führen würde. Bleich von Schrecken und Angst wartete sie still, bis Bernardino die Fackel wieder zurecht gemacht hatte; da aber ihr Blick von neuem auf das Grab fiel, konnte sie sich nicht enthalten ihn zu fragen, für wen es bestimmt sey. Er schlug die Augen von der Fackel auf und heftete sie starr auf ihr Gesicht, ohne zu sprechen. Sie wiederholte mit schwacher Stimme die Frage, allein er schüttelte die Fackel und gieng weiter; sie folgte ihm zitternd bis an eine zweite Treppe, an deren Ende eine Thüre sie in den ersten Vorhof des Schlosses brachte. So wie sie hindurch gingen, fiel das Licht auf die hohen schwarzen Mauern rings umher, mit langem Graß und rankigtem Unkraut eingefaßt, das ein dürftiges Erdreich zwischen den modernden Steinen fand. Sie sah die schwerfälligen Bogen, hier und da mit einem schmalen Gitterfenster durchbrochen, welches einen freiern Durchzug der Luft einließ, die massiven eisernen Thore, die zu dem Schlosse führten, deren spitze Thürme sich in die Höhe drängten, und gegen über den breiten Thurm und die Schwibbögen des Portals selbst. Bernardinos große, vierschrötige Person, die Fackel in der Hand stellte in dieser Scene eine characteristische Figur dar. Er war in einem langen, dunkelblauen Mantel gewickelt, unter welchem die Halbstiefel, die um seine Füsse geschnürt waren, kaum hervor sahen, und der nur die Spitze eines breiten Säbels zeigte, den er gewöhnlich in einem breitem Wehrgehänge trug, das quer über die Schultern hieng. Auf dem Kopfe hatte er eine schwere flache Sammetmütze, mit einer kurzen Feder, die einem Turban glich; das Gesicht unter derselben verrieth starke Züge auf welchen List und zu Gewohnheit gewordener Starrsinn tiefe Furchen eingegraben hatten.
Indessen frischte der Anblick des Hofes Emiliens Muth aufs neue an, und sie begann zu hoffen, daß ihre eigne Furcht und nicht Bernardinos Verrätherei sie betrogen hätte. Sie sah ängstlich nach dem ersten Fenster hinauf, das über den hohen Schwibbogen des Schutzgatters hervorragte; allein es war dunkel und sie fragte, ob es in das Zimmer stieße, worinn Madame Montoni läge. Emilie sprach leise, und vielleicht hörte Bernardino ihre Frage nicht, denn er gab keine Antwort; bald darauf traten sie in die innere Thüre des Thorwegs, die sie an den Fuß einer schmalen Winkeltreppe führte, welche in einen von den Thürmen hinauf gieng.
»Ueber dieser Treppe liegt die Signora«, sagte Bernardino. »Liegt!« wiederholte Emilie mit schwacher Stimme.
»Sie liegt oben auf der Kammer«, sagte Bernardino.
Der Wind, der durch die schmalen Ritzen in der Mauer drang, fachte die Fackel an; sie warf einen stärkern Schein auf Bernardinos erdfarbnes Gesicht und zeigte deutlicher die Veränderung des Ortes, die rauhen steinernen Mauern, die Stuffen der Treppe, die vor Alter schwach waren, und eine alte Rüstung mit eisernem Visir, die an der Wand hieng und Trophäe eines ehemaligen Siegs zu seyn schien.
Nachdem sie einen Ruheplatz erreicht hatten, sagte er. »Sie können hier warten, Fräulein, ich werde indeß herauf gehn, und der Signora sagen, daß Sie kommen.«
»Das ist eine ganz unnütze Weitläuftigkeit«, erwiederte Emilie; »meine Tante wird sich gewis freuen mich zu sehen.«
»Das weiß ich nicht so gewis«, antwortete Bernardino, und zeigte auf ein Zimmer, das er eben aufgeschlossen hatte; »kommen Sie nur hier herein, indeß ich herauf gehe.«
Emilie befremdet und erschreckt, wagte nicht, sich ihm weiter zu widersetzen, doch bat sie ihn, als er mit der Fackel weggieng, sie nicht im Finstern zu lassen. Er sah sich um, und da er eine dreifüßige Lampe auf der Treppe bemerkte, zündete er sie an, und gab sie Emilien, die damit in ein großes altes Zimmer gieng, welches er hinter ihr zuschloß. Sie horchte ängstlich auf seine fernen Tritte, und es schien ihr, daß er statt hinauf die Treppen herunter gieng: allein das Pfeifen des Windes, der um das Thor braußte, liesen sie keinen andern Ton genau unterscheiden. Doch lauschte sie noch immer, und da sie in dem obern Zimmer, wo Madame Montoni sich aufhalten sollte, nichts gehen hörte, stieg ihre Angst, wenn sie gleich dachte, daß der dicke Fußboden in diesem schwerfälligen Gebäude wohl den Ton aufhalten könnte, gleich darauf hörte sie in einer Pause des Windes Bernardinos Schritte im Hofe und glaubte auch seine Stimme zu vernehmen; allein der wieder aufsteigende Wind unterdrückte bald jeden andern Schall, und Emilie schlich sich, um ihrer Sache gewis zu seyn, leise an die Thüre die sie zu ihrer Bestürzung verriegelt fand. Alle schrecklichen Besorgnisse, die sie seither bestürmt hatten, kehrten in diesem Augenblick mit verdoppelter Gewalt zurück, und erschienen ihr jetzt nicht mehr als Hirngespinste eines furchtsamen Geistes, sondern als Warnungen ihres Schutzgeistes. Sie zweifelte nicht mehr, daß Madame Montoni ermordet worden sey, vielleicht in diesem nämlichen Zimmer, und daß man sie selbst zu eben dem Zweck hieher gebracht hatte. Bernardinos Gesicht, sein Betragen, seine abgerissenen Worte wenn er von ihrer Tante sprach, rechtfertigten ihre stärksten Besorgnisse. Sie war einige Augenblicke ganz außer Stand nur zu überlegen, ob ihr noch Mittel zur Flucht übrig blieben. Immer lauschte sie, konnte aber weder auf der Treppe noch in dem Zimmer über ihr, Fustritte hören; doch glaubte sie aufs neue Bernardinos Stimme unten im Hofe zu vernehmen und gieng an ein Gitterfenster, das auf den Hof sties, um weiter zu forschen. Hier unterschied sie deutlich seine rauhen Töne, die sich in den Sturmwind mischten, allein sie verlohren sich so schnell, daß sie den Sinn nicht herausbringen konnte. Jetzt flammte das Licht einer Fackel, die aus dem Portal unten hervorzugehen schien, über den Hof, und der lange Schatten eines Mannes, der unter dem Thorwege stand, wurde an der Mauer sichtbar. Emilie urtheilte nach der Größe dieser plötzlich hervorspringenden Figur, daß es Bernardino sey; allein andre tiefe Töne die durch den Wind drangen, überzeugten sie bald, daß er nicht allein, und daß sein Gefährter kein Mensch sey, bei dem Mitleid Eingang finden dürfte.
Nachdem ihre Lebensgeister sich von dem ersten Stoße erholt hatten, hielt sie die Lampe in die Höhe, um zu untersuchen, ob das Zimmer eine Möglichkeit der Flucht zuließe. Es war ein geräumiger Ort, dessen mit rauhen Eichenholz getäfelten Wände keine Fenster sehen ließen, ausser das gegitterte, das sie verlassen hatte, und keine Thüre, ausser der, durch welche sie hereingekommen war. Doch ließen die schwachen Strahlen der Lampe sie den ganzen Umfang nicht sogleich übersehen; sie wurde keine Möbel gewahr, ausser einen eisernen, in der Mitte des Zimmers befestigten Stuhl, über welchen an einer unter der Decke befestigten Kette, ein eiserner Ring herab hieng. Nachdem sie diese Gegenstände eine Weile mit Verwunderung und Schrecken angestaunt hatte, bemerkte sie erst unten eiserne Ketten, die zu Fusklammern dienen zu sollen schienen; an den Armlehnen des Stuhls befanden sich Ringe von demselben Metall. Sie überzeugte sich, daß es Werkzeuge der Folter wären und fiel auf den schrecklichen Gedanken, daß ein Unglücklicher hier befestigt, und des Hungertodes gestorben sey. Ihr Blut erstarrte, allein welches Graußen überfiel sie, bei der Vorstellung, daß vielleicht ihre Tante eins von diesen Opfern gewesen sey, und daß sie selbst zum zweiten bestimmt wäre! Ein dumpfer Schmerz nahm ihren Kopf ein; sie vermochte kaum die Lampe zu halten, und indem sie sich nach einem Gegenstande umsah, woran sie sich halten konnte, sank sie in den eisernen Stuhl nieder; plötzlich aber sprang sie mit Entsetzen auf und eilte nach einem fernen Winkel des Zimmers; hier sah sie sich wieder nach einem Sitz um, wo sie ausruhen könnte, und wurde einen dunklen Vorhang gewahr, der von der Decke bis auf den Fusboden herab fiel und die ganze Breite des Zimmers bedeckte. So übel sie sich auch befand, fiel ihr der Anblick auf, und sie stand voll Verwunderung still, diesen Vorhang zu betrachten.
Er schien einen verborgenen Winkel des Zimmers zu verheelen; sie wünschte und fürchtete doch, ihn aufzuheben und zu entdecken, was dahinter verborgen war. Zweimal hielt die Erinnerung an den schrecklichen Anblick, den ihre verwegne Hand einmal in einem Zimmer des Schlosses enthüllt hatte, sie zurück, bis ihr plötzlich einfiel, daß hier der Körper ihrer gemordeten Tante läge. Sie ergrif ihn in einer Art von Verzweifelung und zog ihn bei Seite. Sie erblickte einen Leichnam auf einem niedrigen Lager ausgestreckt, der von Blute gefärbt war. Die vom Tode entstellten Züge waren geisterblaß und schrecklich; und mehr als eine schwarz unterlaufene Wunde erschien auf dem Gesichte. Emilie bog sich über den Leichnam, und starrte einen Augenblick mit wildem Blick darauf hin; gleich darauf aber entfiel ihr die Lampe und sie sank sinnlos zu Boden.
Als sie wieder zu sich selbst kam, sah sie sich von Bernardino und andern Menschen umgeben; die sie von der Erde aufhoben und durchs Zimmer trugen. Sie war sich bewußt, was mit ihr vorgieng, allein ihre ausnehmende Schwäche ließ ihr nicht zu weiter zu sprechen, noch sich zu bewegen, ja nicht einmal eine bestimmte Furcht zu fühlen. Sie trugen sie die Treppe herab, durch die sie herauf gekommen war, als sie aber die Wölbung erreichten, standen sie still; einer von den Leuten nahm Bernardino die Fackel ab, und als er eine kleine Thüre die in das große Thor gehauen war, öfnete, sah sie bei dem Lichte verschiedene Leute zu Pferde warten. Ob die frische Luft Emilien wieder belebte, oder ob die Gegenstände, die sie nun sah, ihre Unruhe aufs neue rege machten, genug sie fieng plötzlich an zu sprechen und machte einen fruchtlosen Versuch sich von den Männern, die sie hielten, los zu machen.
Bernardino rief indessen laut nach der Fackel; ferne Stimmen antworteten, verschiedene Personen näherten sich und in demselben Augenblick flammte ein Licht auf dem Schloßhofe. Er rief aufs neue nach der Fackel, und die Männer schleppten Emilien durch das Thor. Nicht weit davon an der Schloßmauer sah sie den Menschen, der dem Thürsteher das Licht abgenommen hatte, einem Manne leuchten, der sehr geschäftig war, den Sattel eines Pferdes zu verändern; ringsherum hielten verschiedene Reuter, deren rauhe Züge hell von der Fackel beschienen wurden, während die Mauern gegen über, mit dem dichten Gesträuch das über sie her ragte, und einem mit Zinnen umgebenen Wachtthurm oben, von dem Schimmer geröthet wurden, der allmählig hinweg schmolz und die fernen Wälle und Wälder unten in der Dunkelheit der Nacht ließ.
»Was hältst du dich doch unnütz dort auf«, rief Bernardino mit einem Fluch, als er den Reutern nahe kam. »Eile doch, eile!«
»Der Sattel wird gleich in Ordnung seyn«, erwiederte der Mann, der ihn befestigte. Bernardino fluchte aufs neue über seine Nachläßigkeit und Emilie, die schwach um Hülfe rief, wurde zu den Pferden geschleppt, während die Kerls stritten, auf welches sie gesetzt werden sollte, da das für sie bestimmte noch nicht fertig war. In diesem Augenblick drang eine helle Beleuchtung aus dem großen Thore hervor, und sie hörte sogleich Annettens helle Stimme noch mehrere Personen, die heran naheten, überschreien. Sie erkannte Montoni und Cavigni, denen eine Menge Kerle von abscheulichen Ansehn folgte, die sie aber nicht mehr mit Schrecken sondern mit Hofnung betrachtete, denn in diesem Augenblick fürchtete sie keine Gefahr mehr, die innerhalb des Schlosses auf sie warten konnte, aus dem sie noch so kürzlich und ängstlich zu entfliehen wünschte. Die Gefahren, welche ihr von aussen drohten, hatten alle andre Furcht verschlungen.
Es erfolgte ein kurzer Streit zwischen beiden Partheien, die des Montoni trug jedoch für diesesmal den Sieg davon, und die Reuter, die entweder wahrnahmen, daß die Zahl ihnen überlegen war, oder nicht sehr bei der Sache interessirt seyn mochten, sprengten davon. Bernardino war weit genug gelaufen, um sich in der Dunkelheit zu verlieren und Emilie wurde ins Schloß zurückgebracht. Als sie über den Hof zurück kam, drang die Erinnerung an den Anblick im Zimmer mit allen Schrecknissen in ihre Seele; und als sie bald darauf das Thor zumachen hörte, das sie aufs neue in diese Mauern einschloß, schauderte sie vor sich selbst und die Gefahr, der sie entgangen war, beinahe vergessend, konnte sie kaum glauben, daß es jenseits derselben etwas anders als Einheit und Frieden gäbe.
Montoni hieß Emilien in dem Sprachzimmer auf ihn warten; er erschien bald und befragte sie mit finsterm Gesicht wegen dieser geheimnisvollen Begebenheit. Wiewohl sie ihn jetzt als den Mörder ihrer Tante mit Schrecken betrachtete, und kaum wußte, was sie auf seine ungeduldigen Fragen antwortete, so überzeugten ihn doch ihre Antworten und ganzes Benehmen, daß sie keinen freiwilligen Antheil an dem ganzen Plane genommen hatte, und er schickte sie beim Eintritt seiner Bedienten fort, denen er auftrug, weiter in die Sache zu forschen und die Mitschuldigen an den Tag zu bringen.
Emilie hatte schon eine lange Zeit in ihrem Zimmer zugebracht, bevor der Aufruhr ihrer Seele ihr zuließ, sich das Geschehene zurückzurufen. Dann aber trat aufs neue die todte Gestalt hinter dem Vorhange vor ihre Einbildungskraft, und sie stieß einen Schrei aus, der Annetten um so mehr erschreckte, da Emilie sich enthielt ihre Neugier über die Ursache zu befriedigen; denn sie fürchtete, ihrer Unvorsichtigkeit ein so schreckliches Geheimniß anzuvertrauen, dessen Entdeckung Montonis schleunigste Rache auf sie selbst bringen konnte.
Also gezwungen alle Schrecken des Geheimnisses das sie zu Boden drückte, in sich selbst zu verschließen, schien ihre Vernunft unter dem unleidlichen Gewicht zu schwanken. Sie heftete oft einen wilden, unstärten Blick auf Annetten, hörte entweder gar nicht, was sie sprach, oder gab verkehrte Antworten. Lange Anfälle von Abwesenheit folgten hierauf; Annette sprach zu wiederholtenmalen, allein ihre Stimme schien keinen Eindruck auf die Sinne der lange gequälten Emilie zu machen; sie saß starr und schweigend, ausser daß sie von Zeit zu Zeit einen schweren Seufzer, aber ohne Thränen ausstieß.
Voll Angst über ihren Zustand verließ Annette endlich das Zimmer um Montoni Nachricht zu geben. Die wilde Beschreibung, die ihm das Mädchen von Emilien machte, bewegte ihn, ihr sogleich in ihr Zimmer zu folgen.
Bei dem Ton seiner Stimme schlug Emilie die Augen auf, und ein Strahl von Erinnerung schien durch ihre Seele zu dringen; sie stand sogleich von ihrem Stuhle auf und schlich in eine ferne Ecke des Zimmers. Er milderte die gewöhnliche Härte seines Tons indem er mit ihr sprach; allein sie sah ihn mit halb forschendem, halb erschrocknem Blick an, und antwortete nur ein unvernehmliches ja auf alles was er sagte. In ihrer Seele schien noch immer ein andrer Eindruck als Furcht zu herrschen.
Annette konnte keine Erklärung dieses Zufalls geben; nachdem Montoni lange vergebens gesucht hatte, sie zum Reden zu bringen, zog er sich zurück und trug Annetten auf, die Nacht bei ihr zu bleiben und ihm früh Morgens Nachricht von ihrem Zustande zu geben.
Sobald er fort war, kam Emilie wieder hervor und fragte, wer der fremde Mensch gewesen wäre. Annette sagte: es war der Signor, Signor Montoni; Emilie wiederholte den Namen verschiedenemal als wenn sie sich nicht besinnen könnte; plötzlich aber schrie sie laut auf und verfiel wieder in Tiefsinn.
Annette brachte sie mit Mühe ins Bette; Emilie untersuchte es mit forschendem, verstörtem Blick, ehe sie sich hineinlegte, zeigte mit dem Finger darauf und drehte sich dann mit einem Schauder um zu Annetten, die nun aufs höchste erschreckt, nach der Thüre eilte, um noch eine Person zur Wache zu rufen. Als Emilie sie fortgehn sah, rief sie ihren Namen und bat sie mit dem natürlichen, sanft klagenden Ton ihrer Stimme, sie nicht auch zu verlassen: — denn ach! seit mein Vater starb, setzte sie seufzend hinzu, verläßt mich alles! —
»Ihr Vater, Fräulein, war längst gestorben, ehe Sie mich kannten«, sagte Annette.
»Ach ja! er war es«, erwiederte Emilie und ihre Thränen fiengen an zu fließen. Sie weinte nun still und lange, worauf sie ruhig wurde und endlich in Schlaf fiel. Annette war behutsam genug, sie nicht in ihren Thränen zu stören. Dies Mädgen, eben so zärtlich als sie einfältig war, verlor in diesen Augenblicken alle Furcht, im Zimmer zu bleiben, und wachte bei Emilien ganz allein die lange Nacht.
Ein wohlthätiger Schlaf erquickte Emiliens Lebensgeister. Als sie am andern Morgen erwachte, sah sie Annetten mit Verwunderung an, die schlafend in einem Stuhl neben dem Bette sas, und suchte dann sich zu besinnen: allein die Begebenheiten der vorigen Nacht waren aus ihrem Gedächtnisse verwischt, welches keine Spur von dem Vergangnen zu behalten schien, und sie betrachtete Annetten noch immer, als diese erwachte.
»O mein theures Fräulein, kennen Sie mich?« rief sie.
»Warum sollte ich dich nicht kennen? Du bist ja Annette, aber warum sitzest du so bey mir?«
»O Sie sind sehr krank gewesen, theuerstes Fräulein, in der That sehr krank; ich dachte wahrhaftig —«
»Das ist doch seltsam«, sagte Emilie, indem sie sich noch immer zu besinnen suchte; »allein mich dünkt, daß meine Phantasie von schrecklichen Träumen gequält wurde. Gütiger Gott«, fuhr sie plötzlich auffahrend fort; »es kann doch nichts weiter als ein Traum gewesen seyn!«
Sie heftete einen erschrockenen Blick auf Annetten, die in der Absicht sie zu beruhigen, in die Worte ausbrach, »ja Fräulein, es war mehr als ein Traum; allein nun ist alles vorüber.«
»Sie ist also ermordet!« sagte Emilie in sich gekehrt, und schauderte zusammen. Annette schrie, denn da sie nicht wußte, worauf sich Emiliens Worte bezogen, glaubte sie ihren Verstand aufs neue zerrüttet. Sobald sie aber erklärt hatte, was sie eigentlich meinte, besann sich Emilie, daß man sie hatte entführen wollen, und fragte, ob der Anstifter dieses Bubenstücks entdeckt sey. Annette antwortete, nein, wiewohl man ihn leicht errathen könnte, und sagte Emilien, daß sie ihr ihre Befreiung zu danken hätte. Diese suchte die Bewegung, welche bei der Erinnerung an ihre Tante in ihr entstand, zu unterdrücken, und schien Annetten ruhig anzuhören, ob sie gleich in der That kaum ein Wort vernahm.
»Und so gnädiges Fräulein«, fuhr Annette fort — »nahm ich mir vor Bernardinos Geheimnis zu belauschen, weil er sich geweigert hatte, es mir zu sagen: ich beobachtete sie auf der Terrasse, und sobald er die andere Thüre aufgemacht hatte, schlich ich mich aus dem Schlosse, um Ihnen zu folgen: denn, dachte ich bei mir selbst, etwas gutes kann unmöglich im Werke seyn, warum sollte er sonst so geheim thun. Er hatte die Thüre hinter sich nicht verriegelt, und als ich sie aufmachte, sah ich bei dem Schimmer der Fackel am andern Ende des Ganges, welchen Weg sie nahmen. Ich folgte dem Lichte in einiger Entfernung, bis Sie an das Gewölbe von der Capelle kamen: denn hier fürchtete ich mich weiter zu gehn wegen der seltsamen Dinge, die ich von diesem Gewölbe gehört hatte. Aber nun mochte ich eben so wenig in der Dunkelheit alleine weiter zurückgehn; ich entschloß mich aber doch Ihnen zu folgen und schlich Ihnen nach, bis sie an den großen Hof kamen, denn hier fürchtete ich, möchte er mich gewahr werden. Ich blieb wieder an der Thüre stehn, und wartete bis Sie am Thore waren, und so wie sie die Treppe hinauf stiegen, schlich ich hinter her. Als ich aber unter den Thorweg kam, hörte ich aussen Pferde stampfen, und verschiedne Stimmen reden. Man fluchte, daß Bernardino Sie nicht herausbrächte, und in dem Augenblick hätte er mich packen können, denn er kam die Treppe weiter herunter, und ich behielt kaum Zeit, mich davon zu machen. Allein ich hatte nun genug gehört, und beschloß ihm Gleiches mit Gleichem zu vergelten und Sie, gnädiges Fräulein zu retten: denn ich rieth gleich, daß es so ein Stückchen von dem Graf Morano seyn möchte, ohngeachtet er das Schloß verlassen hatte. Ich lief in das Schloß, allein ich hatte Mühe mich durch alle die Gänge zu finden. Allein was sonderbar ist; ich vergas ganz, mich nach den Geistern umzusehn, die in dem Gewölbe seyn sollen, obgleich ich um der ganzen Welt willen nicht wieder hin gehen möchte. Zu gutem Glück waren der Signor und Signor Cavigni noch auf, und so brachten wir geschwind genug einen Zug auf die Beine, der groß genug war, den Herrn Bernardino und alle seine Spitzbuben in die Flucht zu jagen.«
Annette hörte auf zu sprechen, allein Emilie schien noch immer zu hören. Endlich sagte sie plötzlich; »ich denke ich will selbst zu ihm gehn! wo ist er?«
Annette fragte, wen sie meinte.
»Den Signor Montoni« erwiederte Emilie. »Ich will mit ihm sprechen.«
Annette, die sich an den Befehl erinnerte, den der Signor ihr die vorige Nacht wegen Emilien gegeben hatte, stand auf und sagte, daß sie ihn aufsuchen wollte.
Des ehrlichen Mädchens Verdacht auf den Graf Morano war vollkommen richtig; auch Emilie hielt ihn für den Urheber, sobald sie darüber nachdachte; und Montoni, der gar nicht daran zweifelte, kam nunmehr auf den Gedanken, daß jener Wein wohl auf Anstiften des Grafen vergiftet worden wäre.
Die Versicherungen von Reue, die Morano Emilien unter dem Schmerz seiner Wunde ablegte, waren in diesem Augenblick aufrichtig: allein er irrte sich in dem Gegenstande seines Kummers, denn indem er die Grausamkeit seiner gehabten Absicht zu verkennen glaubte, beklagte er nur das Leiden, das sie ihm zugezogen hatte. So wie dieses Leiden sich verminderte, lebten seine vorigen Absichten wieder auf, bis er sich nach gänzlich hergestellter Gesundheit aufs neue fähig zu einer kühnen Unternehmung glaubte. Der Thürsteher, der ihm zuvor gedient hatte, ließ sich willig zum zweitenmal bestechen, und nachdem er die Art und Weise, Emilien ans Thor zu locken, mit ihm beredet hatte, verließ er öffentlich das Dorf, wohin er nach dem Duel gebracht wurde und verbarg sich mit seinen Leuten in einem andern etwas weiter entlegnen Orte. Von da schickte er in der Nacht, die Bernardino ihm bestimmte, seine Leute nach dem Schlosse zurück, während er selbst Emiliens Ankunft in dem Dorfe erwartete, von wo er sie unverzüglich nach Venedig bringen wollte. Wie dieser zweite Plan vereitelt wurde, haben wir bereits erfahren, allein die Wuth und Leidenschaft dieses italienischen Liebhabers übersteigt alle Beschreibung.
Nachdem Annette ihren Bericht von Emiliens Befinden und von ihrem Wunsche ihn zu sehn, an Montoni abgestattet hatte, antwortete er, daß sie in einer Stunde in das Sprachzimmer zu ihm kommen möchte. Emilie wollte über den Gegenstand, der ihr so schwer auf dem Herzen lag, mit ihm sprechen; doch wußte sie selbst nicht, ob sie etwas Gutes dadurch bewürken würde, und oft bebte sie sogar voll Schrecken vor dem Gedanken, in seine Gegenwart zu treten, zurück. Sie wünschte auch ihn zu bitten, wiewohl sie beinahe an der Erfüllung ihrer Bitte verzweifelte — daß er ihr, da ihre Tante nicht mehr lebte, erlauben möchte, in ihr Vaterland zurückzukehren.
Während ihre Gedanken hin und her irrten, kam eine Botschaft, daß Montoni sie erst den andern Tag sehn könnte, und sie fühlte sich für diesen Augenblick wie von einer großen Last befreit. Annette sagte, sie glaubte, daß die Ritter sich aufs neue zum Kriege rüsteten: denn der ganze Hof wäre voll Pferde und Reuter und sie hätte gehört, daß die übrigen, die schon im voraus gegangen wären, wieder auf dem Schlosse erwartet würden.
Annette hätte lange fortreden können, ohne von Emilien unterbrochen zu werden, die schweigend, und unaufmerksam in Gedanken vertieft da sas, und den ganzen Tag in einer feierlichen Ruhe hinbrachte, die oft auf eine übermäßige Anstrengung unsrer Seelenkräfte durch Leiden zu folgen pflegt.
So wie die Nacht heran kam, erinnerte sich Emilie an die geheimnisvolle Musik, die sie oft mit einer ihr selbst unerklärlichen Bewegung gehört hatte, und wünschte, daß diese sanften Töne wiederkehren möchten. Die Gewalt des Aberglaubens bemeisterte sich der Schwäche ihrer lange gequälten Seele. Sie blickte mit schwärmerischer Erwartung zu dem Schutzgeist ihres Vaters hinauf und beschloß, Annetten fortzuschicken, um allein auf die Wiederkehr dieser Töne zu warten. Allein es war noch nicht um die Zeit, wo sich die Musik hören ließ, und bemüht, ihre Gedanken von qualvollen Gegenständen abzuziehn, setzte sie sich mit einem der wenigen Bücher, die sie aus Frankreich mitgebracht hatte, nieder. Ihre Seele aber wollte sich nicht zwingen lassen; sie blieb bewegt und unruhig und gieng oft ans Fenster, um nach einem Tone zu lauschen. Einmal glaubte sie eine Stimme zu hören, als aber alles ausser dem Fenster still blieb, schloß sie, daß ihre Phantasie sie getäuscht hätte.
So verstrich die Zeit bis es zwölfe schlug, worauf die fernen Töne, die durch das Schloß summten aufhörten, und tiefer Schlaf über das Ganze zu herrschen schien. Emilie setzte sich ans Fenster, wo sie bald durch sehr ungewöhnliche Töne, welche nicht einer Musik sondern den leisen Klagen einer Person in Schmerzen glichen aus ihrer Träumerei geweckt wurde. Ihr Herz schlug immer heftiger, und sie wurde überzeugt, daß diese Töne mehr als eingebildet waren. Immer hörte sie von Zeit zu Zeit schwache Klagen und suchte zu entdecken, woher sie kämen. Unter ihr lagen noch verschiedne, lange verschlossen gewesene Zimmer, die an den Wall stießen, und da der Ton aus einem derselben zu kommen schien, lehnte sie sich aus dem Fenster, um zu sehn, ob ein Licht zu bemerken wäre. So viel sie sehn konnte, waren die Zimmer ganz dunkel, allein in einiger Entfernung unten auf dem Wall, schien sich etwas zu bewegen.
Der schwache Schimmer, den die Sterne verbreiteten, setzte sie nicht in Stand, den Gegenstand zu erkennen, doch hielt sie es für eine Schildwache und stellte ihr Licht in eine ferne Ecke des Zimmers, um nicht bei ihren fernern Beobachtungen bemerkt zu werden.
Sie sah immer denselben Gegenstand. Jetzt schlich es am Walle hin, nach ihrem Fenster zu, und sie glaubte, nun eine menschliche Gestalt zu unterscheiden, allein die Stille, womit es sich bewegte, überzeugte sie, daß es keine Schildwache war. So wie es näher kam, war sie unschlüssig ob sie sich zurückziehn sollte; eine brennende Neugier machte sie geneigt zu bleiben, eine Furcht aber vor einem unbekannten Etwas warnte sie, sich zurückzuziehn.
Indem kam die Gestalt ihrem Fenster gegen über und blieb unbeweglich stehen. Alles blieb still; sie hatte nicht einmal einen Fuß rauschen gehört, und das Feierliche dieses Schweigens, mit der geheimnisvollen Gestalt vor ihr, zusammengenommen, machte einen solchen Eindruck auf sie, daß sie das Fenster verlassen wollte, als sie plötzlich die Gestalt zusammenfahren und den Wall hinunter gleiten sah, worauf sie sich bald in der Dunkelheit der Nacht verlor. Emilie sah noch eine Weile unverwandt auf den Weg, den sie gekommen war, und zog sich dann voll Nachdenken über diese seltsame Erscheinung, in ihr Zimmer zurück. Sie konnte kaum zweifeln, daß sie etwas übernatürliches gesehn hätte.
Als sie wieder mehr zu sich selbst gekommen war, suchte sie eine andre Erklärung herauszubringen. Sie erinnerte sich an verschiednes, was man von Montonis kühnen Unternehmungen ihr gesagt hatte, und es fiel ihr ein, daß dieses vielleicht ein Unglücklicher gewesen wäre, den seine Banditen geplündert und hieher gebracht hätten, und daß vielleicht auch die Musik, die sie zuvor gehört hatte, von ihm käme. Doch war es unwahrscheinlich, daß sie ihn aufs Schloß bringen sollten, wenn sie ihn geplündert hatten; es war den Sitten der Banditen angemessner, die Beraubten zu ermorden, als zu Gefangnen zu machen, zudem wußte sie auch, daß man einen Gefangnen nicht ohne Wache auf der Terrasse würde herumgehn lassen.
Dann glaubte sie wieder, daß der Graf Morano sich Eingang ins Schloß verschaft hätte; allein ausser den Gefahren und Schwierigkeiten, die einem solchen Unternehmen entgegen stehn mußten, war es nicht wahrscheinlich, daß er sich begnügt haben würde, um Mitternacht einsam und schweigend vor ihrem Fenster zu erscheinen, da ihm ein näherer Weg zu ihrem Zimmer bekannt war.
Ein andermal dachte sie wieder, daß es vielleicht eine Person sey, die Absichten auf das Schloß habe; allein die klagenden Töne widersprachen auch diesem. Sie konnte auf keine Weise herausbringen, wer oder was für ein Wesen es seyn möchte, das in dieser einsamen Stunde umher schlich und in solchen wehmüthigen Tönen seine Klagen aushauchte (denn sie konnte sich von dem Gedanken nicht losmachen, daß die Musik, welche sie so oft gehört, mit dieser Erscheinung zusammen hienge). Die Einbildungskraft trat wieder in ihre Rechte und rief den Glauben an das Uebernatürliche hervor.
Indessen nahm sie sich vor, die folgende Nacht zu wachen, um vielleicht Aufklärung ihrer Zweifel zu finden; sie war beinahe entschlossen, die Gestalt anzureden, wenn sie sich wieder zeigen würde.
Den folgenden Tag ließ sich Montoni wiederum bei Emilien entschuldigen, die dieses nicht wenig befremdete. Das ist doch sonderbar, sagte sie, sein Gewissen sagt ihm die Absicht meines Besuchs und er verschiebt ihn, um einer Erklärung auszuweichen. Sie war nunmehr beinahe entschlossen, sich ihm in den Weg zu werfen, doch hielt eine gewisse Furcht sie ab, und dieser Tag verstrich, wie der vorhergehende, außer daß eine schauerliche Erwartung der kommenden Nacht von Zeit zu Zeit die todtengleiche Ruhe unterbrach, die sich ihrer Seele bemeistert hatte.
Gegen Abend kam die zweite Parthie der irrenden Ritter nach dem Schlosse zurück. Emilie hörte bis in ihr entlegnes Zimmer das laute Jauchzen und Jubelgeschrei, das dem wilden Geschrei der Furien glich, wenn sie ein scheusliches Opferfest feiern. Sie fürchtete sogar, daß sie mit irgend einer barbarischen That umgiengen; allein Annette sagte ihr, daß sie nur über den mitgebrachten Raub triumphirten. Dieser Umstand bestärkte sie in dem Glauben, daß Montoni würklich der Hauptmann einer Räuberbande geworden sey, und seine zertrümmerten Glücksumstände durch Beraubung der Reisenden wieder herstellen wollte.
So natürlich auch diese Vermuthung für sie seyn mochte, irrte sie doch zum Theil, denn sie kannte weder den Zustand dieses Landes, noch die Art, wie die häufigen Kriege in demselben geführt wurden. Da die Einkünfte der vielen kleinen Staaten in Italien nicht hinreichten, stehende Armeen selbst in den kurzen Zwischenzeiten der Ruhe zu unterhalten, so entstand eine Klasse von Menschen, die man in unsern Zeiten nicht kennt, und welche die Geschichte ihrer eignen nur schwach beschrieben hat. Nur wenige von den Soldaten, die am Ende jedes Kriegs abgedankt wurden, kehrten zu den sichern, aber nicht einträglichen Beschäftigungen des Friedens zurück. Zu Zeiten giengen sie in andre Länder und mischten sich unter die Armeen, die immer im Felde standen. Oft aber errichteten sie selbst Räuberbanden und nahmen entlegne Festungen ein, wo ihre wilde Tapferkeit, die Schwäche der Regierungen, und die Gewisheit, daß sie zu den Armeen konnten zurückberufen werden, sobald ihre Gegenwart weiter erforderlich war, sie vor den Verfolgungen der Gerechtigkeit schützte. Zu Zeiten begaben sie sich unter die Fahne eines beliebten Anführers, der sie in die Dienste irgend eines Staates brachte, wenn er wegen des Preises, den ihre Tapferkeit verdiente, überein gekommen war. Daher entstand der Name Condottieri, der in jenem Zeitpunkt, der mit dem Ende des sechszehnten Jahrhunderts schloß, dessen Anfang aber nicht so genau zu bestimmen ist, in ganz Italien gefürchtet wurde. Ihr Character erlangte in den kleinen Kriegen, wo gewöhnlich Plünderung dem Siege zu folgen pflegte, eine Mischung von Zügellosigkeit und unerschrocknen Muth, wodurch sie selbst denjenigen, unter welche sie dienten, furchtbar wurden.
Wenn sie nicht auf diese Art beschäftigt waren, so hielten sie sich meistens auf eine Festung, oder in der Nachbarschaft ihres Anführers auf, wo sie eine ihnen selbst lästige Ruhe genossen. Wenn sie auch von Zeit zu Zeit ihre Bedürfnisse von dem Eigenthume der Einwohner befriedigten, so theilten sie zu andern Zeiten ihre gemachte Beute wiederum so verschwenderisch aus, daß sie ihren Wirthen nicht zur Last fielen, und gewöhnlich nahmen die Bauern aus diesen Gegenden etwas von dem Character ihrer kriegerischen Gäste an. Die benachbarten Regierungen machten oft Miene, aber bemühten sich in der That selten, diese militairischen Gemeinheiten zu unterdrücken; dieses war zum Theil schwer, und theils auch sicherte ein verstellter Schutz dieser Menschen den Fürsten eine Anzahl Truppen zu ihren Kriegen, die sie auf keine andere Art so wohlfeil haben, oder so brauchbar finden konnten. Die Anführer verließen sich oftmals so sehr auf diese Politik der verschiedenen Mächte, daß sie kühn genug waren, ihre Hauptstädte zu besuchen. Montoni lernte sie in den öffentlichen Häusern von Venedig und Padua kennen, und fand Gefallen an ihrem Umgange, ehe der Verfall seiner Glücksumstände ihn in die Nothwendigkeit setzte, ihre Gebräuche anzunehmen. Nachher hatten seine mitternächtlichen Zusammenkünfte zu Venedig, wobei Orsino und verschiedne andre Mitglieder der jetzt errichteten Gesellschaft gegenwärtig waren, die Verabredung eines Plans zum Grunde, den sie seitdem mit dem Schiffbruch ihres gescheiterten Vermögens ausgeführt hatten.
Mit Rückkehr der Nacht nahm Emilie ihren Platz am Fenster wiederum ein. Der Mond stieg heute hinter den dicken Wäldern auf; sein bleiches Licht ließ sie die einsame Terrasse und die umliegenden Gegenstände deutlicher sehn, als bei der Dämmerung der Sterne, und Emilie versprach sich einen glücklichern Erfolg ihrer Beobachtungen, wenn die geheimnisvolle Gestalt wieder erschiene. Nur war sie aufs neue unschlüssig, ob sie es wagen sollte, sie anzureden, sie fühlte einen unwiderstehlichen Trieb dazu, doch hielt zu gleicher Zeit eine gewisse bange Furcht sie zurück.
Wenn es jemand wäre, der Absichten auf das Schloß hätte, sagte sie, so könnte meine Neugier mir üble Folgen zuziehn, allein die geheimnisvolle Musik und die klagenden Töne, die offenbar von niemand andern herrühren, beweisen daß er nicht mein Feind seyn kann.
Sie dachte darauf an ihre unglückliche Tante, und schaudernd vor Schmerz und Schrecken ergriffen die Bilder ihrer Einbildungskraft ihre Seele mit aller Stärke der Wahrheit und sie glaubte, daß die Gestalt ein Geist gewesen sey. Sie zitterte, konnte kaum Athem holen, eine Eißkälte ergoß sich über ihre Wangen und ihre Furcht überwältigte auf eine Weile ihren Verstand. Ihre Entschlossenheit verließ sie, und sie dachte nun nicht länger daran, die Gestalt, wenn sie erschiene, anzureden.
So verstrich die Zeit, die sie am Fenster sas, geschreckt durch Erwartung und durch die Dunkelheit und Stille der Mitternacht. Sie sah nur verworren im Mondenlicht Berge und Wälder, einen Haufen Thürme, die den westlichen Flügel des Schlosses bezeichneten und die Terrasse unten, sie hörte keinen Laut ausser von Zeit zu Zeit die Parole der ablösenden Schildwache. Es war spät, sie fühlte sich müde vom Wachen und fieng an die Würklichkeit der nächtlichen Erscheinung zu bezweifeln; doch war ein so lebhafter Eindruck in ihrer Seele zurückgeblieben, daß sie sich vornahm, die folgende Nacht wieder zu wachen.
Montoni ließ den andern Tag nichts von sich hören; Emilie aber, die mehr als je ihn zu sprechen wünschte, ließ ihn durch Annetten fragen, um welche Stunde er sie vorlassen wollte. Er bestimmte eilf Uhr, und Emilie stellte sich pünktlich ein. Er befand sich mit verschiedenen seiner Officire in dem Sprachzimmer; sie war betroffen und wurde es noch mehr, als er ohne sie zu bemerken, das Gespräch mit seinen Freunden fortsetzte, bis einer von ihnen sich umsah, Emilien erblickte und in einen lauten Ausruf ausbrach. Sie wollte zurückgehn als Montonis Stimme sie aufhielte. »Ich wünschte mit Ihnen zu reden, Signor, wenn Sie bequemere Zeit haben«, war alles was sie mit stammelnder Stimme herausbringen konnte.
»Dies sind Freunde von mir«, erwiederte er, »sie können alles hören, was Sie mir zu sagen haben.«
Emilie wandte sich ohne zu antworten von dem rauhen Blicke der Ritter ab und Montoni folgte ihr durch den Saal in ein kleines Zimmer, dessen Thüre er mit Heftigkeit zuschlug. Wenn sie in sein finstres Gesicht sah, glaubte sie aufs neue den Mörder ihrer Tante vor sich zu sehn, und Entsetzen bemächtigte sich ihrer so sehr, daß sie nicht Sammlung genug behielt, die Ursache ihres Besuchs zu sagen; ja sie getraute sich nicht einmal Madam Montonis Namen zu nennen.
Montoni fragte sie endlich voll Ungeduld, was sie von ihm verlangte.
Sie sagte ihm nun, daß sie wünschte nach Frankreich zurückzukehren, und um seine Erlaubnis bäthe. Als er sie aber befremdet ansah und nach der Ursache ihrer Bitte fragte, stammelte sie, wurde bleicher, fieng an zu zittern, und wäre beinahe zu seinen Füßen nieder gesunken. Er sah ihre Bewegung mit anscheinender Gleichgültigkeit und unterbrach das Stillschweigen blos damit, daß er sagte er müsse gehn. Sie wiederholte ihre Bitte noch einmal, und als er sie durchaus abschlug, erweckte Unwillen ihre schlummernden Kräfte, »mein Herr!«
»Ich kann nicht länger mit Anstand hier bleiben«, sagte sie, »und ich möchte wohl fragen, mit welchem Rechte Sie mich zurückhalten.«
»Es ist mein Wille, daß Sie hier bleiben«, sagte Montoni und legte die Hand an die Thüre um zu gehen, »lassen Sie sich das genug seyn.«
Emilie bedachte, daß sie von seinem Willen nicht appelliren konnte, und machte einen schwachen Versuch ihn zu bereden, gerecht zu seyn. »Solange meine Tante lebte, Signor«, sagte sie mit zitternder Stimme, »war mein Aufenthalt nicht unschicklich, jetzt aber, da sie nicht mehr ist, wäre es doch wohl billig, mich abreisen zu lassen.«
»Wer hat Ihnen gesagt, daß Madame Montoni todt ist?« fragte Er mit forschendem Blick. Emilie besann sich, denn niemand hatte es ihr gesagt und sie wagte nicht des Anblicks in dem Zimmer zu erwähnen, der sie davon überzeugt hatte.
»Wer hat es Ihnen gesagt«, wiederholte er noch finsterer. »Ach ich weiß es nur zu gut«, erwiederte Emilie, »erlassen Sie mir die schreckliche Erläuterung.«
Sie setzte sich auf eine Bank nieder, um sich aufrecht zu halten. »Wenn Sie wünschen, sie zu sehen, so steht es Ihnen frei. Sie liegt in dem östlichen Thurm.«
Er gieng fort, ohne ihre Antwort zu erwarten und kehrte wieder zu seinen Gefährten zurück, die über die gemachte Entdeckung scherzen wollten: allein Montoni schien keinen Gefallen an diesem Spaße zu finden und sie veränderten sogleich das Gespräch.
Montoni gieng mit dem schlauen Orsino über den Plan eines Ausfalls für den nächsten Tag zu Rathe. Dieser rieth, daß sie im Hinterhalt den Feind erwarten wollten, allein Varezzo widersprach mit Ungestüm, warf Orsino Feigheit vor und schwur, wenn Montoni ihm fünfzig Leute geben wollte, so machte er sich anheischig, alles zu überwinden, was sich ihm entgegensetzte.
Orsino lächelte verächtlich. Montoni lächelte auch, doch hörte er ihn an. Varezzo ergoß sich in heftigen Ausdrücken und Betheurungen bis Orsino ihm ein Argument entgegensetzte, das er nur durch eine Schmähung zu beantworten wußte. Sein stolzer Geist verachtete Orsinos schlaue Vorsicht; er widersprach ihm stets und hatte längst seinen geheimen aber giftigen Haß auf sich gezogen. Montoni blieb ein ruhiger Beobachter von beiden. Er kannte ihre verschiednen Charactere und wußte sie zur Ausführung seiner eignen Absichten zu gebrauchen. Auch jetzt gelang es ihm, sie aus einander zu bringen; er verließ das Zimmer mit Orsino, und hatte ein langes geheimes Gespräch mit ihm.
Emilie war durch Montonis letzte Worte so betäubt worden, daß sie gar nicht an seine Erklärung, sie im Schlosse zurück zu behalten, sondern nur an ihre unglückliche Tante dachte, die im östlichen Thurme liegen sollte. Die Ueberreste seiner Frau so lange unbegraben zu lassen, verrieth eine Fühllosigkeit, deren sie selbst Montoni kaum fähig geglaubt hätte.
Nach einem langen Kampfe beschloß sie, sich seiner Erlaubnis in den Thurm zu gehn, zu bedienen und einen letzten Scheideblick auf die Ueberreste ihrer unglücklichen Tante zu werfen. Mit diesem Vorsatz gieng sie auf ihr Zimmer zurück, und während sie auf Annetten wartete, suchte sie Fassung für den bevorstehenden Anblick zu sammlen. Obgleich sie davor erbebte, fühlte sie doch, daß es ihr in der Folge zur Beruhigung gereichen würde, diese letzte Pflicht erfüllt zu haben.
Annette erschien und da alle ihre Versuche, Emilien von ihrem Vorsatze abzubringen, fruchtlos blieben, ließ sie sich mit vieler Mühe bereden, sie in den Thurm zu begleiten. Nichts auf der Welt aber konnte sie dahin bringen zu versprechen, daß sie mit in das Zimmer des Todes gehn wollte.
Sie verließen nun den Corridor, als sie eben den Fuß der Wendeltreppe erreichten, weigerte sich Annette mit zu kommen, und Emilie gieng alleine weiter. Als sie die Spuren von Blut sah, die sie schon jenesmal bemerkt hatte, erstarben ihre Lebensgeister; sie mußte sich auf den Stuffen niederlassen, und beschloß beinahe, nicht weiter zu gehen. Nach wenig Augenblicken kehrte ihr Muth zurück, und sie verfolgte ihren Weg.
Als sie den Vorsaal erreichte, an welchen das Zimmer stieß, erinnerte sie sich, daß die Thüre verschlossen gewesen war, und fürchtete, es wieder so zu finden; allein sie hatte diesmal geirrt; die Thüre öfnete sich auf einmal in ein dunkles, stilles Zimmer, wo sie sich furchtsam umhersah und dann langsam hinein gieng, als eine dumpfe Stimme sich hören ließ. Emilie, die weder zu sprechen, noch sich von der Stelle zu bewegen vermochte, gab keinen Laut von sich. Die Stimme sprach wieder, es schien ihr als wenn es die Stimme ihrer verstorbenen Tante wäre; sie stürzte halb ausser sich auf ein Bette zu, das in einer fernen Ecke stand und zog die Vorhänge auf. Sie sah ein bleiches, abgezehrtes Gesicht. Sie starrte zurück, trat wieder heran und schauderte als sie eine abgezehrte Hand aufnahm, die auf der Decke ausgestreckt lag. Sie ließ sie fallen und sah wieder mit langen, sinnlosen Staunen das Gesicht an. Es war würklich Madame Montoni, aber so entstellt durch Krankheit, daß man kaum noch eine Aehnlichkeit wahrnahm. Sie lebte noch und schlug ihre schweren Augen zu ihrer Nichte auf.
»Wo sind Sie so lange gewesen«, sagte sie dumpf; »ich dachte, Sie hätten mich verlassen?«
»Leben Sie würklich?« rief Emilie endlich, »oder ist dies nur eine schreckliche Erscheinung?« — Sie erhielt keine Antwort und ergrif wieder die Hand. »Dies ist würklich Substanz«, rief sie, »aber es ist kalt wie Marmor. O wenn Sie würklich leben«, rief sie in einer Art von Verzweiflung, indem sie die Hand fallen ließ, »so reden Sie — reden Sie, damit ich nicht meine Sinne verliere, sagen Sie, daß Sie mich kennen.«
»Ich lebe«, erwiederte Madame Montoni — »ich erkenne Sie für meine Nichte, aber ich fühle, daß ich im Begrif bin zu sterben.«
Emilie ergrif heftig ihre Hand und weinte laut. Beide schwiegen einige Augenblicke. Emilie bemühte sich dann, sie zu trösten und fragte, was sie in diesen kläglichen Zustand gebracht hätte.
Als Montoni sie auf den unwahrscheinlichen Verdacht, ihr nach den Leben getrachtet zu haben, in den Thurm bringen ließ, befahl er seinen Leuten das strengste Geheimnis an. Er hatte dabei den doppelten Bewegungsgrund, ihr den Trost von Emiliens Besuchen abzuschneiden, und sich eine Gelegenheit zu sichern, sie insgeheim aus der Welt zu schaffen, wenn sein Argwohn sich bestätigte — er behielt sie unter strenger Wache in dem Thurm eingesperrt, und hatte ohne Mitleid und Gewissensbisse in einem heftigen Fieber sie fühllos und verwaist da liegen lassen, bis sie in diesen Zustand gerathen war.
Die Spuren von Blut, die Emilie auf der Treppe fand, rührten von der unverbundnen Wunde eines der Menschen her, die Madame Montoni den Thurm herauftrugen. In der Nacht hatten sie sich begnügt, die Thüre zuzumachen und von der Wache zu gehn; und deswegen hatte Emilie bei ihrer ersten Nachsuchung den Thurm so still und verödet gefunden.
Als sie damals versuchte, die Thüre aufzumachen, schlief ihre Tante, und sie schloß aus der tiefen Stille, daß sie nicht mehr lebe. Der Anblick in dem Zimmer über dem Thore war der Leichnam eines Mannes, der in dem letzten Gefecht geblieben war; der nämliche, den man in des Bedienten Zimmer trug, als sie dort Zuflucht vor dem Lärmen suchte. Dieser Mann hatte einige Tage an seinen Wunden gelegen, und bald nach seinem Tode wurde sein Körper von dem Lager, worauf er starb, hinweggebracht, um in dem Gewölbe unter der Kapelle, durch welche Emilie und Bernardino nach dem Zimmer giengen, begraben zu werden.
Nachdem Emilie tausend Fragen an ihre Tante gethan hatte, gieng sie von ihr um Montoni aufzusuchen. Der Zustand ihrer Tante lag ihr jetzt zu sehr am Herzen, als daß sie an die üble Behandlung, die sie sich selbst zuziehn konnte, und an die Unwahrscheinlichkeit, daß er ihre Bitte gewähren würde, hätte denken sollen.
»Madame Montoni ist dem Tode nahe, Signor!« sagte sie, sobald sie ihn sah. »Ihre Rache wird sie doch nicht bis zum letzten Augenblicke verfolgen! Vergönnen Sie, daß man sie aus diesem wüsten Aufenthalte in ihr eigenes Zimmer bringt, und ihr die nothwendige Hülfe leistet.«
»Wozu kann das helfen, wenn sie dem Tode so nahe ist«, sagte Montoni mit anscheinender Gleichgültigkeit.
»Dazu wenigstens, um Ihr Gewissen von einem kleinen Theile der Qualen zu befreien, die Sie in ähnlicher Lage einst dulden werden«, sagte Emilie in unvorsichtiger Hitze, die ihr Montoni sogleich dadurch fühlbar machte, daß er ihr befahl, ihm aus den Augen zu gehen. Sie vergaß alle Empfindlichkeit! Mitleid mit dem kläglichen Zustande ihrer Tante, die ohne alle Hülfe sterbend da lag, verschlang alles andere Gefühl und sie sparte nicht das demüthigste Flehen, um ihn zum Erbarmen gegen seine Frau zu bewegen.
Er blieb lange verhärtet gegen alles was sie sagte; endlich aber schien das göttliche Gefühl des Mitleids, das aus Emiliens Augen strahlte, sein Herz zu rühren. Sich seiner bessern Gefühle schämend, wandte er sich halb mürrisch, halb erweicht von ihr weg, endlich aber willigte er ein, daß seine Frau in ihr eignes Zimmer gebracht werden, und daß Emilie sie verpflegen sollte. Emilie die eben so sehr fürchtete, daß diese Hülfe zu spät kommen, als daß Montoni seine Erlaubnis zurücknehmen möchte, nahm sich kaum die Zeit ihm zu danken; sie machte eilig mit Annetten das Bette für Madame Montoni zurechte, und brachte ihr eine Herzstärkung, damit ihr schwacher Körper die Bewegung in ein andres Zimmer aushalten könnte.
Sie war kaum in ihr Zimmer gebracht, als ihr Mann den Befehl schickte, sie im Thurme zu lassen; allein Emilie, dankbar froh, daß sie so geeilt hatte, meldete ihm, daß sein Befehl zu spät käme, und daß sie eine zweyte Veränderung nicht überleben würde.
Emilie wich den ganzen Tag nicht von ihrer Tante Seite, außer um ihr die nothwendigen Stärkungen zu bereiten; Madame Montoni nahm sie mit stiller Ergebung an, wiewohl sie zu fühlen schien, daß es zu spät war, sie zu retten, sie schien auch das Leben nicht mehr zu wünschen. Emilie wartete ihrer mit der zärtlichsten Sorgfalt; sie sah in dem armen Geschöpfe vor ihr nicht mehr die gebietherische Tante, sondern die Schwester ihres geliebten Vaters in einer Lage, die all ihr Mitleid und Güte aufrief. Sie wollte auch die Nacht bey ihr bleiben, allein die Tante verbot dieses durchaus, und bestand darauf, daß sie sich zur Ruhe legen und Annetten bei ihr lassen sollte. Emilie bedurfte würklich Ruhe, da ihr Körper und Geist so sehr angegriffen waren, doch wollte sie Madam Montoni nicht eher bis nach Mitternacht verlassen, ein Zeitpunkt, den die Aerzte für sehr critisch halten.
Bald nach zwölfe sagte sie ihr traurig gute Nacht und band Annetten ein, ja sorgsam zu wachen und sie zu rufen, wenn es schlimmer würde. Sie war niedergeschlagner als je über den kläglichen Zustand ihrer Tante, deren Genesung sie kaum zu hoffen wagte. Auch für ihr eignes Unglück sah sie kein Ende; eingesperrt in ein entlegenes Schloß, unerreichbar ihren Freunden — wenn sie noch Freunde besas — ja selbst unerreichbar dem Mitleiden fremder Menschen, und gänzlich in der Gewalt eines Mannes, der zu jeder Handlung fähig war, die Eigennutz oder Ehrgeitz eingeben konnten.
Mit diesen melancholischen Betrachtungen und eben so traurigen Vorahndungen beschäftigt, legte sie sich nicht gleich zur Ruhe, sondern lehnte sich gedankenvoll ans ofne Fenster. Die Scene vor ihr von Wäldern und Bergen, die im Mondenlichte ruhten, machten einen traurigen Contrast mit dem Zustande ihrer Seele; allein das einsame Rauschen dieser Wälder, und die Ansicht auf die schlafende Landschaft milderte nach und nach die Heftigkeit ihrer Empfindung und stimmte sie zu sanften Thränen.
Sie weinte eine Zeitlang fort, verloren für alles ausser für ein sanftes Gefühl ihres Unglücks. Als sie endlich das Schnupftuch von den Augen nahm, sah sie auf der Terrasse unten die Gestalt, starr und unbeweglich ihrem Fenster gegen über stehen. Sie fuhr zurück, und der Schrecken überwältigte eine Zeitlang die Neugier. Endlich gieng sie wieder ans Fenster; noch stand die Gestalt da; sie zwang sich, sie zu betrachten, war aber unvermögend zu sprechen; der Mond schien helle, und vielleicht verhinderte sie nur die Bewegung ihrer Seele, das Wesen vor ihr genau zu erkennen. Es stand noch unbeweglich und sie fieng an zu zweifeln, ob es würklich lebendig wäre.
Ihre irrenden Gedanken kehrten nun so weit zurück, sie zu erinnern, daß ihr Licht sie der Bemerkung aussetzte; sie wollte zurückgehen, um es weg zu stellen, als sie die Gestalt sich bewegen, und ihr mit der Hand winken sah. Während sie voll Angst hin staunte wiederholte es die Bewegung. Sie versuchte nun zu sprechen; allein die Worte erstarben ihr auf den Lippen und sie gieng würklich vom Fenster weg. Indem hörte sie aussen einen tiefen Seufzer. Sie lauschte aufmerksam, ob sie gleich nicht weiter hinaus zu sehen wagte, und der Seufzer wurde wiederholt.
»Großer Gott«, rief sie, »was bedeutet das?«
Sie horchte aufs neue, aber der Ton ließ sich nicht weiter hören, und sie faßte endlich Muth, wieder ans Fenster zu gehen. Sie sah dieselbe Erscheinung; es winkte aufs neue und sties wieder einen tiefen Seufzer aus.
Der Seufzer kam gewiß von einem Menschen, sagte sie. Ich will sprechen. »Wer«, fragte sie mit schwacher Stimme, »wer wandert hier in dieser späten Stunde?«
Das unbekannte Wesen richtete den Kopf in die Höhe, starrte aber plötzlich hinweg und glitt die Terrasse herab. Sie beobachtete es lange Zeit, wie es schnell im Mondenlicht hinschwand, hörte aber keinen Fustritt, bis eine Schildwache von der andern Seite des Walls langsam daher schlich. Der Soldat blieb unter ihrem Fenster stehn, sah herauf und rief sie bei Namen. Sie wollte sich eilig zurückziehn, allein ein zweites Rufen bewegte sie zu antworten, und der Soldat fragte sie ehrerbietig, ob sie etwas hätte vorübergehn sehn. Auf ihre bejahende Antwort sagte er nichts weiter, sondern gieng die Terrasse herunter; Emilie verfolgte ihn mit den Augen bis er sich in der Ferne verlor. Sie wußte, daß er von der Wache nicht über den Wall hinaus gehn durfte, und beschloß also, seine Zurückkunft zu erwarten.
Bald darauf hörte sie seine Stimme in der Ferne laut rufen; eine noch fernere Stimme antwortete; in demselben Augenblick wurde die Wache abgelöst und passirte die Terrasse. Da die Soldaten mit Eile unter dem Fenster herliefen, rief sie heraus, was vorgefallen wäre, allein sie giengen vorbei, ohne auf sie zu achten.
Emiliens Gedanken kehrten zu der Gestalt zurück. Es kann kein Mensch seyn, der Absichten auf das Schloß hat, dachte sie, sonst würde er sich ganz anders benehmen. Er würde sich nicht so nahe an die Wache wagen, noch sich dem Fenster gegen über stellen, wo er bemerkt werden muß; noch weniger würde er winken, oder einen Laut von sich geben. Aber es kann auch kein Gefangner seyn, wie würde er sonst Freiheit haben, umher zu gehen.
Wenn sie mehr Eitelkeit besessen hätte, so würde sie vermuthet haben, es sey ein Bewohner des Schlosses, der in der Hofnung sie zu sehen und ihr seine Bewunderung zu erklären unter ihrem Fenster hinschliche; allein ein solcher Gedanke fiel Emilien nie bei, und hätte sie ihn gehabt, so würde sie ihn als unwahrscheinlich verworfen haben, weil die Gestalt die Gelegenheit zu sprechen, unbenutzt vorüber ließ, und sich sogar in dem Augenblick, wo sie redete, schnell entfernte.
Indem sie so nachsann, kommen zwei Schildwachen in eifrigem Gespräch den Wall herauf gegangen. Sie verstand aus einigen Worten, daß einer ihrer Kameraden sinnlos zur Erde gefallen war. Bald darauf kamen drei andere Soldaten langsam von unten die Terrasse herauf, aber sie hörte nur von Zeit zu Zeit eine tiefe Stimme. So wie sie näher kommen fand sie, daß es die Stimme von dem war, der in der Mitte gieng, und wie es schien von seinen Kameraden unterstützt wurde. Sie rief ihnen aufs neue zu und fragte, was geschehen wäre. Sie standen still, als sie ihre Stimme hörten und sahen herauf. Sie wiederholte ihre Frage und erhielt zur Antwort, daß Robert, ihr Kamerad ohnmächtig geworden sey, und daß sein Geschrei im Fallen einen falschen Lärm verursacht hätte.
»Hat er oft solche Anfälle?« sagte Emilie.
»Ja Signora«, erwiederte Robert, »aber bei dem was ich sah, hätte wohl der Pabst selbst in Ohnmacht fallen sollen.«
»Was war es denn?« fragte Emilie zitternd.
»Ich kann nicht sagen, was es war, oder was ich sah, oder wie es verschwand«, erwiederte der Soldat, dem bei der Erinnerung zu grauen schien.
»Habt ihr euch über die Person erschrocken, der ihr den Wall herunter nachgiengt« fragte Emilie, die ihr eignes Schrecken zu verbergen suchte.
»Person!« — rief Robert. »Es war der Teufel selbst, und dies ist nicht das erstemal, das ich ihn gesehn habe.«
»Wann habt ihr ihn denn schon gesehen«, sagte Emilie halb lächelnd. Sie fühlte einen zu nahen Antheil an dem Gespräch um es abzubrechen, so abgeschmackt es auch zu werden schien.
»Es mag ungefähr eine Woche her seyn, daß es auch hier anf dem Wall herum spukte.«
»Setztet ihr ihm denn nicht nach, als es floh?«
»Nein Signora«, fieng ein andrer an. »Sebastian und ich waren zusammen auf der Wache, und es war alles so still, daß man hätte ein Mäuschen hören können, als plötzlich Sebastian rief: siehst du nichts? ich sehe mich um und mich dünkte, daß sich etwas bei den Kanonen bewegte, weil aber nur Sternenlicht war, konnte ich es nicht unterscheiden. Wir standen ganz still um es zu belauschen, und sahen gleich darauf etwas längs der Schloßmauer aus gerade gegen über hinschleichen.«
»Warum ergriffet ihr es denn nicht?« rief ein Soldat, der bis jetzt noch nicht gesprochen hatte.
»Ja warum hieltet ihr es denn nicht fest«, fragte Robert.
»Schade, daß du nicht da warest«, antwortete Sebastian. »Du hättest es gewis bei der Kehle ergriffen, wenn es auch der Teufel selbst gewesen wäre. Wir mochten uns nicht solche Freiheit nehmen, weil wir nicht so genau mit ihm bekannt sind als du. Aber wie gesagt, es schlich sich so schnell vorüber, daß wir von unserer Bestürzung nicht zu uns selbst kommen konnten, ehe es fort war; und denn war es umsonst zu folgen. Wir hielten die ganze Nacht beständig Wache, sahen es aber nicht mehr. Den andern Morgen erzählten wirs unsern Kameraden, was wir gesehn hatten; allein sie wußten von nichts und lachten uns aus. Wir haben seitdem immer aufgepaßt, haben es aber nicht wieder erblickt, bis diese Nacht.«
»Wo verlort ihr es doch aus den Augen Freund?«
»Als ich auf die östliche Terrasse kam, sah ich etwas gleich einem Schatten in einiger Enfernung vor mir schweben. Als ich an die Ecke des Thurms kam, wo ich es den Augenblick zuvor gesehen hatte, war es verschwunden. Indem ich noch so da stand, hörte ich plötzlich einen Laut; — es war ein Laut, den ich nicht beschreiben kann. Es war weder ein Seufzer, noch ein Schrei noch etwas, das ich in meinem Leben gehört habe. Was nachher mit mir vorgegangen ist, weiß ich nicht, bis ich mich hier unter meinen Kameraden fand.«
»Kommt« sagte Sebastian, »laßt uns auf unsern Posten eilen — der Mond geht schon unter. Gute Nacht Fräulein.« »Die heilige Mutter nehme euch in ihren Schutz«, sagte Emilie, indem sie das Fenster zumachte. Ihre Einbildungskraft war erhitzt, ohne daß ihr Urtheil berichtigt war, und die Schrecken des Aberglaubens bemächtigten sich ihrer aufs neue.
Den andern Morgen fand Emilie Madame Montoni beinahe in demselben Zustande als den Abend zuvor. Sie hatte wenig geschlafen und der kurze Schlummer hatte sie nicht erfrischt: sie lächelte ihre Nichte an, und schien sich über ihre Gegenwart zu freuen, sprach aber nur wenig und vermied Montoni zu nennen. Er kam bald nachher ins Zimmer, allein seine Frau schien sehr unruhig zu werden, als sie hörte, daß er da wäre. Sie beobachtete ein tiefes Stillschweigen bis Emilie von dem Stuhle an ihrem Bette aufstand, worauf sie mit schwacher Stimme bat, sie nicht zu verlassen.
Montoni kam nicht um seine sterbende Frau zu besänftigen, zu trösten, oder um Verzeihung zu bitten, sondern um noch einen letzten Versuch zu machen, sie zu der Unterschrift zu bewegen, wodurch ihre Güter in Languedoc nach ihrem Tode auf ihn und nicht auf Emilien fallen sollten. Es war ein Auftritt, der von seiner Seite seine gewöhnliche Unmenschlichkeit und von Seiten der Madame Montoni einen hartnäckigen Geist, mit einem schwachen Körper kämpfend, zeigte. Emilie erklärte zu wiederholtenmalen ihre Bereitwilligkeit, lieber alle Ansprüche auf diese Güter aufzugeben, als die letzten Stunden ihrer Tante beunruhigen zu lassen. Montoni verließ indessen das Zimmer nicht eher, bis seine Frau, durch den hartnäckigen Streit erschöpft, in Ohnmacht sank. Sie lag so lang fühllos, daß Emilie zu fürchten anfieng, der Funken des Lebens möchte erloschen seyn. Endlich erwachte sie wieder, richtete einen matten Blick auf ihre Nichte, deren Thränen auf sie herabfielen und versuchte zu sprechen, allein ihre Worte waren unverständlich, und Emilie fürchtete wieder, sie sterben zu sehn. Sie bekam indeß die Sprache wieder, und nachdem sie sich durch einen Trank gestärkt hatte, sprach sie deutlich und bestimmt über ihre Güter in Frankreich. Sie sagte ihrer Nichte, wo sie einige Papiere, die sie bisher vor Montoni versteckt hatte, finden könnte, und schärfte ihr ernstlich ein, diese Papiere nie aus den Händen zu geben.
Bald nach diesem Gespräch sank sie in einen Schlummer, worin sie bis Abends blieb, und dann sichtlich gestärkt erwachte. Emilie verließ sie keinen Augenblick bis lange nach Mitternacht, und würde auch dann das Zimmer nicht verlassen haben, wenn ihre Tante nicht ausdrücklich darauf bestanden hätte, daß sie sich zur Ruhe legen sollte. Sie gehorchte um so williger, da ihre Kranke sich besser zu befinden schien; sie hinterließ Annetten denselben Auftrag als den Abend zuvor, und zog sich in ihr Zimmer zurück. Aber ihre Lebensgeister waren wach und rege, und da sie es unmöglich fand, zu schlafen, beschloß sie noch einmal, auf die geheimnisvolle Erscheinung zu warten, die sie so sehr beschäftigte und beunruhigte.
Es war um die zweite Nachtwache, um dieselbe Zeit, wo die Gestalt zu erscheinen pflegte. Emilie hörte die Soldaten einander ablösen und als alles wiederum still war, nahm sie ihren Platz am Fenster ein, und stellte das Licht bey Seite, um nicht von aussen bemerkt zu werden. Der Mond schien nur schwach und oft trat eine Wolke vor, die alles in Dunkelheit setzte. In einem dieser finstern Augenblicke sah sie eine kleine Flamme in einiger Entfernung auf der Terrasse sich hin und her bewegen. Indem sie hinsah, verschwand das Flämmchen und da der Mond wider hinter den schweren Gewitterwolken hervorgieng, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Himmel, wo blaue Blitze von Wolke zu Wolke drangen und still auf die Wälder unten flammten. Zuzeiten öfnete eine Wolke ihr Licht auf einen fernen Berg, und während der plötzliche Glanz alle Spalten der Wälder und Berge erhellte, lag die übrige Gegend in tiefen Schatten gehüllt: Dann wieder erschien das Schloß mit all' seinen Thürmen, dicken Mauern und hohen Fenstern, und verschwand in demselben Augenblick.
Emilie sah wieder auf den Wall, und erblickte von neuem das Flämmchen; es bewegte sich inwärts und bald darauf glaubte sie einen Fußtritt zu hören. Plötzlich aber fieng der Donner an zwischen den Bergen zu grunzen, die immer dicker sich thürmenden Wolken verbargen den Mond und ihre röthliche Schwefelfarbe schien ein heftiges Gewitter zu verkündigen. Mit einem male erschütterte ein heftiger Schlag das ganze Schloß bis in seine Festen; mitten unter dem Aufruhr des Sturms hörte sie eine Stimme; die Thüre ihres Zimmers wurde aufgerissen und Annette trat mit wildem Gesicht herein.
»Die Signora stirbt!« rief sie.
Emilie sprang auf und eilte in Madame Montonis Zimmer. Ihre Tante schien in Ohnmacht zu liegen, sie war still und fühllos. Emilie wandte mit einer Stärke der Seele, die dem Schmerz allen Eingang verschloß, solange eine höhere Pflicht ihre Thätigkeit aufrief, alle Mittel an, sie wieder ins Leben zu rufen. Allein der letzte Kampf war vorüber; sie war für immer dahin!
Als Emilie fand, daß alle Bemühungen vergebens waren, befragte sie die erstorbne Annette, und hörte, daß Madame Montoni gleich nach ihrem Fortgehn in einen Schlummer gefallen war, worin sie bis wenig Minuten vor ihrem Tode blieb.
»Ich konnte nicht begreifen«, sagte Annette, »warum die Signora sich gar nicht über den Donner zu erschrecken schien, und gieng oft ans Bette um mit ihr zu sprechen; allein sie schien zu schlafen, bis ich sie auf einmal röcheln hörte.«
Emilie vergos Thränen bei dieser Erzählung. Sie zweifelte nicht, daß die heftige Veränderung in der Luft diese traurige Catastrophe beschleunigt hätte.
Nach einiger Ueberlegung beschloß sie Montoni von diesem Vorfall erst am andern Morgen Nachricht zu geben; sie fürchtete, daß er vielleicht einige fühllose Ausdrücke äussern möchte, die sie in der gegenwärtigen Meinung ihres Gemüths nicht würde tragen können. Sie verrichtete mit Annetten allein, die sie durch ihr Beispiel ermunterte, einige der letzten feierlichen Pflichten für die Todte, und zwang sich, die Nacht über bei dem Körper der Verstorbenen zu wachen. In diesen schauerlichen Stunden, noch schauerlicher gemacht durch den furchtbaren Sturm, der die Luft erschütterte, richtete sie oft ihre Gebethe um Schutz und Unterstützung zum Himmel, und gewiß fand ihr frommes Flehn Erhörung bei dem Gott der Liebe und des Trostes.
Als Montoni den Tod seiner Frau erfuhr und bedachte, daß sie aus der Welt gegangen war, ohne die zur Erfüllung seiner Wünsche so nöthige Unterschrift zu geben, konnte kein Gefühl von Anstand die Ausbrüche seiner Empfindlichkeit im Zaume halten. Emilie vermied ängstlich seine Gegenwart und wachte zwei Tage und Nächte lang beinahe ununterbrochen bei der Leiche ihrer Tante. Das unglückliche Schicksal dieser Armen machte einen tiefen Eindruck auf ihr Herz; sie vergas alle ihre Fehler, ihr ungerechtes, herschsüchtiges Betragen gegen sie selbst, und erinnerte sich nur mit zärtlichem Mitleid ihrer Leiden.
Montoni störte ihre frommen Sorgen nicht; er vermied nicht nur das Zimmer, wo die Ueberreste seines Weibes lagen, sondern auch den ganzen Flügel des Schlosses, gleichsam als hätte er Ansteckung im Tode gefürchtet. Er schien keine Veranstaltung wegen der Leiche zu treffen, und Emilie fürchtete, daß er dem Gedächtnis ihrer Tante eine neue Schmach zufügen wollte, als am Abend des zweiten Tags Annette ihr sagte, daß das Begräbnis die folgende Nacht vor sich gehn würde.
Sie konnte sicher darauf rechnen, daß Montoni die Leiche nicht begleiten würde, und es war ihr so schmerzhaft zu denken, daß die Ueberreste ihrer unglücklichen Tante, ohne Freund oder Verwandten in das Grab hinab gleiten sollten, daß sie beschloß, sich durch keine Rücksicht abhalten zu lassen, ihr selbst diese letzte traurige Pflicht zu leisten. Gewis wäre sie sonst zurückgeschaudert vor dem Gedanken, in das kalte Gewölbe zu folgen, wohin die Leiche um die stille Stunde der Mitternacht durch Menschen sollte getragen werden, die ihr Gesicht und Betragen zu Mördern stempelte.
Schauernd von Regungen des Schmerzes und Schreckens legte Emilie mit Annetten den Körper zum Begräbnis zurechte. Sie hüllten die Todte in Leinewand, bedeckten sie mit einem Todtenkittel und wachten bis nach Mitternacht, wo sie die Fustritte der Männer herannahen hörten, die sie in ihr Bett von Erde legen sollten. Emilie konnte kaum ihre Bewegung unterdrücken, als die Thüre aufgerissen wurde und sie beim Schimmer der Fackeln, die sie trugen, ihre düstern Gesichter sah. Zwei von ihnen nahmen ohne zu sprechen den Leichnam auf die Schultern, während die andern mit dem Lichte voran giengen, und stiegen durch das Schloß zu dem Grabe hinab, das im untern Gewölbe der Kapelle innerhalb der Schloßmauern lag.
Sie mußten zwei Höfe nach dem östlichen Flügel des Schlosses durchkreuzen, der an die Kapelle sties und eben so verfallen war als diese; allein die Stille und Dunkelheit dieser Höfe machte jetzt wenig Eindruck auf Emiliens Seele, die mit noch traurigern Vorstellungen erfüllt war. Sie hörte kaum das tiefe, Unheil verkündende Gekrächze der Nachtvögel, die zwischen den mit Epheu bewachsenen Zinnen der Ruinen hausten, und nahm kaum das Flattern der Fledermäuse wahr, die häufig über ihren Weg kreuzten. Als sie aber die Kapelle betreten hatte, und zwischen den modernden Pfeilern der Säulen hingeschlichen war, standen die Träger bei einer Treppe still, die zu einer tief gewölbten Thüre führte, und nachdem der eine herabgestiegen war, sie zu öfnen, sah sie den dunkeln Abgrund unten — sah den Leichnam ihrer Tante die Stufen herabtragen und unten die Gestalt des Banditen ähnlichen Menschen, der mit einer Fackel da stand, sie zu empfangen — alle ihre Stärke verschwand im Gefühl unnennbaren Schmerzens und Entsetzens. Sie stützte sich auf Annetten, die kalt und zitternd neben ihr stand, und weilte solange auf den obern Stuffen der Treppe, daß der Schimmer der Fackel vor den Pfeilern der Kapelle schwand, und sie die Männer beinahe aus dem Gesichte verlor. Dann erweckte die Dunkelheit um sie her andre Besorgnisse, das Gefühl von dem, was sie für Pflicht hielt, überwand ihren Widerwillen, und sie stieg in das Gewölbe herab, indem sie dem Echo der Fustritte und den schwachen Strahlen folgte, die durch die Dunkelheit drangen, bis das Knarren einer fernen Thüre, die geöfnet wurde um den Körper zu empfangen, sie aufs neue schreckte.
Endlich betrat sie das Gewölbe, sah zwischen den Bogen in einiger Entfernung den Leichnam neben einem ofnen Sarge niederlegen, wo ein Priester stand, den sie nicht eher bemerkte bis er den Leichensermon anfieng. Sie schlug die Augen auf, und erblickte die ehrwürdige Gestalt des Mönchs, und hörte ihn mit tiefer Stimme, eben so feierlich als rührend, die Messe für den Todten lesen.
Die Scene, wie sie den todten Körper in die Gruft senkten, könnte nur der dunkle Pinsel eines Dommenichino darstellen. In sanftem Abstich gegen die rauhen Züge und wilde Kleidung der Condottieri, die ihre Fackeln über das Grab senkten, stand die ehrwürdige Gestalt des Mönches, in ein langes schwarzes Gewand gehüllt; seine Caputze von dem bleichen Gesicht zurückgeschlagen, auf welchem das schimmernde Licht die Züge tiefen Kummers durch Mitleid gesänftigt, und die wenigen grauen Locken zeigte, welche die Zeit noch auf seinen Schläfen verschont hatte. Neben ihm stand Emiliens sanfte Gestalt, auf Annetten gelehnt; ihr Gesicht halb abgewandt, und von einem dünnen Schleier beschattet, der über die Schultern herabfiel; ihr sanftes, schönes Gesicht in starren Schmerz, welcher keine Thränen zuließ, versunken, während sie so frühzeitig ihre letzte Verwandte und Freundin in die Erde senken sah. Der Schimmer, der zwischen die Bogen des Gewölbes fiel, wo der aufgerissene Grund die Stellen bezeichnete, wo kürzlich andre Leichen begraben waren, und die Dunkelheit, die das Ganze einhüllte, konnten allein schon die Einbildungskraft des Zuschauers auf noch schrecklichere Gegenstände leiten, als die Scene war, die das Begräbnis der unglücklichen irre geleiteten Madame Montoni darstellte.
Nach geendigtem Sermon betrachtete der Mönch Emilien mit aufmerksamer Befremdung und sah sie an, als wünschte er mit ihr zu sprechen; allein die Gegenwart der Condottieri, hielt ihn zurück. Sie ergoßen sich in Scherzen über seinen heiligen Orden, die Emilien mit Abscheu und Unwillen erfüllten, die er aber stillschweigend ertrug, und nur bat, daß man ihn sicher nach seinem Kloster zurückführen mögte. Als sie den Hof erreichten, gab ihr der Mönch seinen Segen und wandte sich mit einem lange auf ihrem Gesichte verweilenden Blicke des Mitleids hinweg nach dem Portal, wohin einer der Männer ihm leuchtete. Annette nahm einem andern die Fackel ab und gieng vor Emilien her in ihr Zimmer. Die Erscheinung des Mönchs und der Ausdruck zärtlichen Mitleids, womit er sie betrachtet hatte, ließ einen tiefen Eindruck bei Emilien zurück; allein sie kannte ihn nicht, und auch Annette konnte nichts weiter von ihm sagen, als daß er zu einem Kloster, einige Meilen weit zwischen den Bergen gehöre.
Emilie brachte einige Tage in gänzlicher Abgeschiedenheit und in einem Zustande der Angst für sich selbst und des Schmerzens um ihre Tante hin. Endlich beschloß sie noch einen Versuch zu machen Montoni zur Einwilligung in ihre Rückkehr nach Frankreich zu bewegen. Sie konnte nicht begreifen, warum er sie zurückzuhalten suchte; allein es war nur zu gewis, daß er es that, und die durchaus abschlägige Antwort, die er ihr vorhin ertheilt hatte, ließ ihr wenig Hofnung, daß er nunmehr einwilligen würde. Sie verschob aus Furcht vor seiner Gegenwart die Erwähnung ihrer Bitte von Tage zu Tage und mußte erst durch eine Botschaft von ihm aus ihrer Unthätigkeit geweckt werden. Sie fieng an zu hoffen, daß er jetzt, da ihre Tante nicht mehr lebte, ihr die Freiheit wieder geben wollte, bis sie sich besann, daß die Güter, die so viel Unheil veranlaßt hatten, jetzt ihr gehörten; sie fürchtete nun, daß er irgend einen listigen Plan im Schilde führte, und daß er sie gefangen halten würde, bis es ihm gelänge. Dieser Gedanke statt sie niederzudrücken, weckte ihre schlummernde Stärke auf und sie beschloß, das Vermögen, welches sie willig würde hingegeben haben, um ihrer Tante Ruhe zu sichern, sich jetzt durch keine Gewalt abdringen zu lassen. Auch um Valancourts willen beschloß sie diese Güter zu bewahren, da sie ihnen ein gemächliches Auskommen für die Zukunft sichern mußten. Bei diesen Gedanken brach sie in Thränen der Rührung aus und genos im voraus das Entzücken des Augenblicks, wo sie mit zärtlicher Hingebung ihm sagen konnte daß sie die seinige sey. Sie sah das Lächeln, das seine Züge erhellte, den zärtlichen Dank, der aus seinen Blicken sprach, und glaubte in diesem Augenblick allem Leiden Troz bieten zu können, das Montonis Bosheit ihr zu bereiten im Stande war. Sie erinnerte sich nun zum erstenmal nach ihrer Tante Tode an die Papiere über die bestrittenen Güter, und nahm sich vor, sie zu suchen, so bald sie von Montoni zurückkommen würde.
Sie fand Orsino mit noch einem andern Officier bei ihm; beide standen um einen Tisch voll Papiere, die er zu untersuchen schien.
»Ich ließ sie holen, Emilie«, sagte Montoni, indem er den Kopf aufrichtete, »damit Sie als Zeugin, bei einem Geschäfte, das ich mit meinem Freund Orsino abzumachen habe, gegenwärtig seyn sollten. Ich verlange weiter nichts von Ihnen als daß Sie Ihren Namen unter dies Papier schreiben.« Er nahm hierauf ein Papier in die Hand, überlaß unverständlich einige Zeilen, und reichte ihr eine Feder hin. Sie nahm sie und war im Begrif zu schreiben, als Montonis Absicht ihr wie ein Blitz durch die Seele fuhr. Sie zitterte, ließ die Feder fallen und weigerte sich zu unterschreiben, was sie nicht gelesen hätte. Montoni that als lachte er über ihre Bedenklichkeiten, nahm das Papier wieder hin und stellte sich aufs neue als wenn er läse: allein Emilie die ihre Gefahr einsah und erstaunte daß ihre Leichtgläubigkeit sie beinahe in die Falle gestürzt hätte, weigerte sich durchaus irgend ein Papier zu unterschreiben. Montoni fuhr noch eine Weile fort, sie zu verspotten, als er aber aus ihrer standhaften Weigerung sah, daß sie seine Absicht merkte, stimmte er einen andern Ton an und bat sie, ihm in ein anderes Zimmer zu folgen. Hier sagte er ihr daß er gewünscht hätte, sich selbst so wohl als ihr einen unnützen Streit über eine Sache zu ersparen, wo sein Wille rechtmäßig wäre, und Gebot für sie seyn sollte; er hätte deswegen gesucht, sie lieber zur Erfüllung ihrer Schuldigkeit zu überreden als zu zwingen.
»Als Gemahl der verstorbenen Signora Montoni«, setzte er hinzu, »bin ich der Erbe von allem was sie besitzt; folglich können die Güter, die sie mir zu ihren Lebzeiten verweigerte, mir jetzt nicht länger entzogen werden; ich wollte Sie um ihrer selbst willen, wegen einer thörigten Rede, die sie einmal in Ihrer Gegenwart führte, daß nämlich diese Güter Ihnen zufielen, wenn sie stürbe, ohne sie mir zu verschreiben, aus dem Irrthum ziehn. Ich weiß daß Sie mehr Verstand besitzen, als die meisten ihres Geschlechts und zweifle also nicht, daß Sie freiwillig nachgeben werden, da Widerstand nichts helfen würde. Sie sind gewiß über eitlen Hang nach weltlichen Gütern, und über Eigennutz hinaus, als daß Sie nach etwas streben sollten, worauf Sie kein Recht haben. — Indeß«, fuhr er fort, als er sah daß sie stille schwieg — »muß ich Ihnen doch kund thun, welche Wahl Sie haben. Wenn Sie sich in dieser Sache betragen, wie es recht und vernünftig ist, so werde ich Sie in kurzem sicher nach Frankreich zurückschicken; sollten Sie aber auf dem irrigen Wahne der Signora bestehn, so bleiben Sie meine Gefangne, bis Sie sich eines bessern besinnen.«
Emilie antwortete ruhig.
»Ich bin nicht so unerfahren in den Rechten, Signor, daß ich mich durch irgend eine Behauptung sollte irre machen lassen. Das Gesetz spricht mir in dem gegenwärtigen Falle die Güter meiner Tante zu, und meine eigne Hand soll mich nie darum bringen.«
»Ich habe mich in meiner Meinung von Ihnen geirrt«, erwiederte Montoni mürrisch. »Sie sprechen dreist und zuversichtlich über eine Sache die Sie nicht verstehn. Wenn Sie auf diesem Tone beharren, so haben Sie alles von meiner Gerechtigkeit zu fürchten.«
»Von Ihrer Gerechtigkeit Signor«, erwiederte Emilie, »kann ich nichts zu fürchten, sondern nur zu hoffen haben.«
Montoni sah sie verdrießlich an, und schien zu überlegen was er sagen wollte. »Ich sehe, daß Sie schwach genug sind«, fieng er wieder an — »den Reden Ihrer Tante Glauben beizumessen. Es thut mir um Ihrentwillen leid; für mich hat es wenig zu bedeuten; Ihre Leichtgläubigkeit kann nur üble Folgen für Sie selbst haben, und ich bedaure daß Sie mich zwingen, hart mit Ihnen zu verfahren.«
»Sie werden vielleicht finden, Signor«, sagte Emilie mit sanfter Würde, »daß die Stärke meiner Seele der Gerechtigkeit meiner Sache gleich ist, und daß ich mit Standhaftigkeit dulden kann.«
»Sie sprechen wie eine Heldin«, sagte Montoni; »wir werden sehn, ob Sie auch als eine Heldin leiden können.«
Emilie schwieg und verließ das Zimmer.
Bey dem Gedanken, daß sie um Valancourts willen diesen Widerstand geleistet hatte, lächelte sie zufrieden über das angedrohte Leiden. Sie gieng nach dem Orte, den ihre Tante ihr bezeichnet hatte, und fand würklich die Papiere daselbst. Weil sie aber keinen beßern Ort sie aufzubewahren wußte, legte sie sie wieder hin, ohne den Inhalt zu untersuchen, denn sie fürchtete, beim Durchlesen überrascht zu werden.
Sie gieng noch einmal in ihr einsames Zimmer zurück, und dachte aufs neue an ihr Gespräch mit Montoni und an das Leiden, das ihr vielleicht bevor stehen könnte. Allein seine Gewalt schien ihrer Einbildungskraft nicht so furchtbar als sonst; ein heiliger Stolz war in ihrem Herzen und lehrte sie, sich gegen den Druck der Ungerechtigkeit zu empören; sie fand beinahe einen Ruhm darinn um Valancourts willen zu leiden. Zum erstenmal fühlte sie ihr ganzes Uebergewicht über Montoni, und verachtete die Gewalt, die sie bis dahin nur gefürchtet hatte.
Indem sie so nachsinnend da sas, erschallte ein Gelächter von der Terrasse, sie gieng ans Fenster und sah zu ihrem unaussprechlichen Erstaunen drei Damen nach Venedischer Art geputzt, mit verschiednen Herren unten gehen. Sie vergas sich so sehr, daß sie ohne darauf zu achten, ob man sie bemerkte, am Fenster blieb, bis der Zug näher kam. Eine von den Fremden sah herauf und sie erkannte die Züge der Signora Livona, deren Betragen sie in Venedig so sehr bezaubert hatte. Diese Entdeckung verursachte ihr doppelte Freude; es war kein geringer Trost für sie eine Person von so sanften Sitten, und gutem Character in ihrer Nähe zu wissen; doch hatte ihre Erscheinung in diesem Schlosse unter den jetzigen Umständen etwas so sonderbares — und daß sie aus freiem Willen hier war, beweis ihre Munterkeit — daß ein sehr peinlicher Zweifel wegen ihres Characters, in Emilien aufstieg. Allein der Gedanke war ihr so unangenehm und schien ihr so unwarscheinlich, wenn sie sich an das liebenswürdige Betragen der Signora erinnerte, daß sie ihn gleich wieder aufgab.
So bald Annette erschien, erkundigte sie sich näher, und erfuhr, daß die Damen so eben mit zwei Herren von Venedig angekommen wären.
»Vielleicht hat man sie gefangen genommen?« fragte Emilie. »Gefangen«, rief Annette — »Gott behüte, sie sind lustig und guter Dinge. Ich erinnere mich ihrer noch recht gut von Venedig her. Die Signora Livona kam ein paarmal zu uns, wie Sie noch wissen werden, und es hies damals, daß der Signor sich mehr aus ihr machte als er sollte. Warum brauchte er sie auch sonst zu meiner gnädigen Frau zu bringen.«
Emilie trug ihr auf, sich ein wenig auf Kundschaft wegen dieser Damen zu legen, und suchte nun das Gefühl ihres eignen Kummers in den idealischen Welten des Dichters zu vergessen; allein sie fand wiederum Ursach, den unwiderstehlichen Einfluß der Umstände auf den Geschmack und die Kräfte der Seele zu beklagen; sie fand, daß selbst zu einem reinen geistigen Genusse ein ruhiger Geist erfodert wird. Die Begeisterung des Genies mit allen gemalten Gegenständen, schien ihr jetzt kalt und trübe. Sie rief unwillkührlich aus, indem sie das Buch betrachtete: sind dies würklich noch dieselben Stellen, die mich so oft entzückten. Wo lag der Zauber? In meiner Seele oder in der Einbildungskraft des Dichters? — Er herrschte in beiden, fuhr sie fort: aber das Feuer des Dichters ist umsonst, wenn die Seele seines Lesers, steht sie auch an Kräften unter ihm, nicht wenigstens der seinigen gleich gestimmt ist.
Emilie würde diese Reihe von Gedanken noch lange fortgesetzt haben, weil sie dadurch von schmerzhaften Betrachtungen abgelenkt wurde; allein sie fand aufs neue, daß die Gedanken sich nicht zwingen lassen — die ihrigen kehrten wieder zu ihrer eigenen Lage zurück.
Da sie sich des Abends nicht auf dem Wall herunter zu gehen traute, um nicht dem Angaffen von Montonis rohen Gefährten ausgesetzt zu seyn, so pflegte sie um Luft zu schöpfen, in der Gallerie an ihrem Zimmer auf und abzugehn. Sie hörte hier in der Ferne Töne der Fröhlichkeit und des Gelächters. Es war mehr ein wilder Lärm als gesellige Fröhlichkeit und schien aus der Gegend des Schlosses zu kommen, die Montoni bewohnte. Eine solche Ausgelassenheit, wenige Tage nach dem Tode ihrer Tante, machte einen verhaßten Eindruck auf sie, so wenig es sie auch von Montoni befremden konnte.
Sie glaubte weibliche Stimmen in dem Gelächter zu erkennen, und ihre ärgsten Vermutungen über die Signora Livona und ihre Gefährten, wurden dadurch bestätigt. Es war sichtlich, daß sie nicht aus Zwang gekommen waren, und sie sah sich in den fernen Wildnissen der Apenninen, von Männern, die sie für nichts bessers als Banditen halten konnte, und ihren nicht minder abscheulichen Gefährtinnen umgeben zwischen Scenen des Lasters, wovor ihre Seele zurückbebte. In diesem Augenblicke, wo die Scenen der Gegenwart und Zukunft vor ihre Einbildungskraft traten, verlor Valancourts Bild seinen Einfluß und ihr Entschluß wurde aufs neue erschüttert. Sie glaubte alle Schrecknisse zu sehn, die Montoni ihr bereitete, und schauderte zurück vor der Rache, die er ohne Gewissensbisse, zu nehmen im Stande war. Sie beschloß beinahe, wenn er sie noch einmal auffodern sollte, die streitigen Güter ohne Widerstand heraus zu geben, um Freiheit und Sicherheit wieder zu gewinnen; dann aber schlich sich die Erinnerung an Valancourt wieder herbei und stürzte sie in Verwirrung und Zweifel.
Sie blieb in der Gallerie bis der Abend sein melancholisches Zweilicht durch die gemalten Fenster warf, und die Dunkelheit des eichnen Tafelwerks um sie her vertiefte — die ferne Aussicht auf den Corridor war schon so verdunkelt, daß sie nur noch das schimmernde Fenster am Ende desselben sah.
Durch die gewölbten Hallen und Gänge unten ertönte von Zeit zu Zeit der Nachklang eines schallenden Gelächters, und machte die darauf folgende Stille nur noch schauerlicher. Doch schritt Emilie, die nicht gerne in ihr einsames Zimmer zurückgehn wollte, ehe Annette wieder gekommen war, noch immer die Gallerie auf und ab. Indem sie die Thüre des Zimmers vorbei gieng, wo sie einmal den Schleier, der einen so schrecklichen Anblick verbarg, aufzuheben gewagt hatte, wurde ihr diese Erinnerung aufs neue gegenwärtig. Sie wurde ihr noch schrecklicher, wenn sie an Montonis letztes Betragen dachte, und sie eilte die Gallerie zu verlassen, so lange sie noch Kraft dazu hatte, als sie eilig etwas hinter sich herkommen hörte. — Sie konnte es für Annetten halten, allein indem sie halb furchtsam sich umsah, erblickte sie durch die Dunkelheit eine lange Gestalt hinter sich und alle Schrecken jenes Zimmers drangen vor ihre Seele. Gleich darauf fand sie sich von jemands Armen umschlossen und hörte eine tiefe Stimme in ihr Ohr murmeln.
So bald sie zu sprechen oder artikulirte Töne zu unterscheiden im Stande war, fragte sie, wer sie aufhielte.
»Ich bin es«, erwiederte die Stimme. »Warum erschrecken Sie sich?«
Sie sah dem Unbekannten ins Gesicht, konnte aber bei dem schwachen Licht seine Züge nicht erkennen.
»Wer Sie auch sind«, sagte Emilie, mit zitternder Stimme, »um des Himmels willen lassen Sie mich gehn.«
»Meine reitzende Emilie, warum wollen Sie sich in diesem finstern Winkel einschließen, da unten alles voll Lust und Freude ist? Kommen Sie mit mir in den Saal, wo Sie die schönste Zierde der Gesellschaft seyn werden. Sie sollen den Tausch gewis nicht bereuen.«
Emilie verachtete, zu antworten und suchte stillschweigend sich loszumachen.
»Versprechen Sie mir zu kommen«, fuhr er fort, »so will ich Sie sogleich loslassen, aber erst müssen Sie mir meine Belohnung geben.«
»Wer sind Sie«, fragte Emilie mit einem Tone, worinn sich Furcht und Unwillen mischten, »wer sind Sie, daß Sie meiner so grausam spotten!«
»Warum nennen Sie mich grausam? Ich wollte Sie aus dieser traurigen Einsamkeit zu einem fröhlichen Orte führen. Kennen Sie mich nicht?«
Emilie erinnerte sich nun an einen von den Officieren, die bei Montoni waren, als sie eines Morgens zu ihm kam. »Ich danke Ihnen für Ihre gütige Absicht«, sagte sie, ohne zu thun, als wenn sie ihn verstände, »aber ich wünsche nichts mehr als daß Sie mich mir selbst überlassen.«
»Reitzende Emilie«, sagte er, »lassen Sie diese thörigste Grille der Einsamkeit fahren, und kommen Sie mit mir zu der Gesellschaft, wo Sie die andern Schönheiten verdunkeln werden. Sie, nur Sie allein sind meiner Liebe werth!«
Er wollte ihr die Hand küssen, allein ihr Unwille machte sie stark genug, sich loszureißen und nach ihrem Zimmer zu fliehn. Sie machte die Thüre hinter sich zu, ehe er sie erreichte, und sank ermattet in einen Stuhl, ohne daß sie die Kraft hatte, sich aufzurichten, als sie seine Stimme und seine Versuche die Thüre zu öfnen hörte. Endlich merkte sie daß er fortgieng, und faßte wieder Muth als ihr plötzlich beifiel, daß er vielleicht durch die Thüre zu der geheimen Wendeltreppe, die nur von aussen verriegelt war, herein kommen könnte. Sie gab sich alle Mühe, diese Thüre so wie ehemals zu verwahren. Es schien ihr, daß Montoni seinen Plan der Rache schon angefangen hätte, da er ihr seinen Schutz entzog, und sie bereute ihre Unbesonnenheit, der Macht eines solchen Mannes getrotzt zu haben. Es schien ihr nun durchaus unmöglich, sich im Besitz der Güter zu erhalten, und sie beschloß zur Rettung ihres Lebens, ja vielleicht ihrer Ehre, wenn sie nur diese Nacht glücklich überstände, alle Ansprüche auf das Vermögen ihrer Tante aufzugeben, um nur aus diesem Schlosse fortzukommen.
Nachdem sie diesen Entschluß gefaßt hatte, wurde sie ruhiger, obwohl sie noch immer ängstlich lauschte, und oft bei einem eingebildeten Geräusch zusammenfuhr.
Sie hatte schon einige Stunden im Finstern gesessen; Annette erschien noch immer nicht und sie fieng an, ernstlich für das Mädchen zu fürchten; da sie sich aber nicht in das Schloß herunter wagte, mußte sie in ihrer Ungewisheit bleiben. Oft schlich sie sich an die Thüre der Wendeltreppe um zu horchen, ob kein Fustritt heran nahete; alles blieb still, doch beschloß sie, die Nacht über zu wachen und warf sich noch einmal auf ihr dunkles einsames Lager, daß sie mit ihren unschuldigen Thränen badete. Sie dachte an ihre abgeschiedene Verwandte, an den abwesenden Valancourt und rief sie oft bei Namen — die tiefe Stille um sie her, begünstigte ihre schwermüthigen Träumereien.
Indem sie so da lag, drangen plötzlich die Töne ferner Musik in ihr Ohr; sie horchte aufmerksam und da sie dasselbe Instrument zu erkennen glaubte, das sie vormals um Mitternacht gehört hatte, stand sie auf und schlich leise ans Fenster, zu welchen die Töne aus einem tiefen Zimmer herauf zu dringen schienen.
Nach wenig Minuten wurde die sanfte Melodie von einer innig bewegten Stimme begleitet, die mehr als eingebildete Leiden zu klagen schien. Es däuchte sie, den süßen, ausgezeichneten Klang schon einmal gehört zu haben, doch war dieß, wenn nicht Phantasie, gewis nur schwache Erinnerung. Es schlich sich bei der gegenwärtigen Quaal ihrer Seele, wie eine Himmelsmelodie in ihr geängstetes Herz.
Aber in welche Bewegung gerieth sie, als sie mit dem Geschmack und der Einfachheit wahren Gefühls eine von den Volksmelodien ihres Vaterlandes erkannte — auf die sie als Kind so oft mit Entzücken gehorcht, die sie so oft von ihrem Vater wiederholen hörte! — Ihr Herz schmolz bei diesen wohlbekannten Tönen, die sie ausserhalb ihrem Lande zum erstenmal wieder vernahm, das Gedächtnis vergangener Zeiten kehrte wehmütig zurück. Die anmuthigen, friedlichen Gefilde Gasconiens, die Güte und Zärtlichkeit ihrer Eltern, die Einfalt ihres frühern Lebens — alle diese Vorstellungen traten vor ihre Seele, und bildeten ein so süßes, glühendes Gemälde, so verschieden von den Gegenständen, Characteren und Gefahren, die sie jetzt umringten, daß sie den Rückblick nicht tragen konnte, und unter der Bitterkeit ihres Leidens erlag.
Ihre Seufzer wurden tief und krampfhaft; sie vermochte die Melodie nicht länger zu hören, die sie so oft in süße Ruhe gewiegt hatte, und zog sich vom Fenster in einen fernen Winkel des Zimmers zurück. Allein auch hierher drang die Musik; sie hörte das Zeitmaas verändern und die folgende Arie lockte sie wieder ans Fenster, denn sie erkannte sie sogleich für die nähmliche, die sie einmal in dem Fischerhäuschen in Gasconien hörte. Diese Arie, deren Urheber ihr damals ein Geheimniß war, hatte einen so tiefen Eindruck zurückgelassen, daß sie nie ganz aus ihrem Gedächtniß geschwunden war; und die Art des Vortrags machte es ihr gewis, so unerklärlich das auch schien, daß es die nämliche Stimme sey. Ihre Verwundrung machte bald andern Regungen Platz; wie ein Blitzstrahl schoß ein Gedanke in ihr Herz, der ein Gefolge von Hofnungen mit führte, die alle ihre Lebensgeister neu beseelten. Doch waren diese Hofnungen so neu, so unerwartet, so kühn, daß sie ihnen nicht zu trauen wagte, wiewohl sie eben so wenig den Muth hatte, sie fahren zu lassen. Athemlos, überwältigt von abwechselnden Regungen der Hofnung und Furcht, setzte sie sich am Fenster nieder, stand wieder auf, bog sich heraus, um den Ton näher zu haschen, horchte, zweifelte und glaubte, rief leise den Namen Valancourt und sank wieder in den Stuhl zurück.
Freude, Furcht und Zärtlichkeit kämpften in ihrem Herzen — sie wurde nicht müde, auf die Töne zu lauschen, aber auf einmal verstummten Stimme und Instrument.
Sie gieng einen Augenblick mit sich selbst zu Rathe, ob sie es wagen sollte zu sprechen; zu ängstlich, um seinen Namen zu nennen, und doch zu sehr interessirt um die Gelegenheit zu verscherzen, fragte sie nur aus dem Fenster. »Ist das ein Gesang aus Gasconien?« Ihr begieriges Warten wurde durch keine Antwort gelohnt, alles blieb still. Ihre Ungeduld stieg mit ihrer Furcht; sie wiederholte die Frage, hörte aber keinen Laut ausser dem Pfeifen des Windes zwischen den Zinnen der Thürme. Sie suchte sich mit dem Gedanken zu trösten daß der Fremde, wer er auch sey, fortgegangen wäre, ehe er ihre Stimme gehört hätte; doch war es möglich, daß er aus Klugheit sich zurückhielt. Diese Betrachtung veränderte auf einmal ihre Hofnung und Freude in Schrecken und Schmerz. Denn nur zu wahrscheinlich war Valancourt, wenn er es war, als Gefangner hier. Vielleicht war er mit einigen seiner Landsleute, die in den Kriegen des Landes dienten, auf einem Versuche zu ihr zu dringen, ergriffen worden. Hätte er auch Emiliens Stimme erkannt, so mußte er doch unter diesen Umständen, vielleicht von seinen Wächtern umgeben, sich scheuen ihr zu antworten.
Sie fürchtete nun, was sie vor kurzem so heiß gewünscht hatte; fürchtete zu wissen, daß Valancourt ihr nahe wäre, und war sich selbst nicht bewußt, daß heimlich eine Hofnung ihn bald zu sehn, mit der Besorgnis für ihn, in ihrem Herzen kämpfte.
Sie blieb im Fenster liegen, bis die Luft kühler wurde und ein hoher Berg im Osten von der Morgenröthe schimmerte: dann legte sie sich vor Angst ermüdet aufs Bette nieder, allein Freude, Zärtlichkeit, Furcht und Zweifel ließen sie die ganze Nacht nicht schlafen. Bald stand sie vom Bette auf und öfnete das Fenster, um von neuem zu horchen, bald maß sie mit hastigen Schritten das Zimmer und legte sich endlich aus Ungeduld wieder nieder. Noch nie waren ihr die Stunden so schwerfällig verstrichen, als in dieser ängstlichen Nacht; sie hofte, daß endlich Annette erscheinen und sie aus ihrer quälenden Ungewisheit reissen würde.
Den andern Morgen in aller Frühe erschien Annette.
»Diese Nacht sind schöne Dinge im Schlafe vorgegangen«, rief sie, so wie sie ins Zimmer trat, »in der That schöne Geschichte. Sind Sie nicht angst um mich gewesen, gnädiges Fräulein?«
»Ich war in Angst um deinet und meinetwillen«, erwiederte Emilie, »was hielt dich denn ab, zu kommen?« —
Sie brachte aus Annettens verworrner Erzählung so viel heraus, daß Ludovico, um sie vor den Anfällen der betrunkenen Ritter sicher zu stellen, sie mit Catharinen in ein Zimmer eingesperrt hätte, wo sie sich erst mit Anbruch des Morgens, als die saubre Gesellschaft in Schlaf gefallen war, wieder hervor wagten. Was die Signora Livona betraf, so hatte Annette erfahren, daß sie jetzt zum Range einer förmlichen Maitresse des Montoni erhoben war. »Die beiden andern sind die Maitressen des Signor Verazzi, und Signor Bertolini«, fuhr Annette fort, »und der Signor Montoni hat sie alle hieher eingeladen. Er gab gestern ein großes Fest zu ihrem Willkommen, und sie haben Tokaier und Champagner gezecht und gelacht und gesungen, bis das ganze Schloß mit ihnen umlief. Mir schienen es klägliche Töne zu seyn, zumal so bald nach meiner armen Signora Tode: ich dachte, was sie wohl würde gesagt haben, wenn sie es hätte hören können — aber sie hört es jetzt nicht mehr, die arme Signora, dachte ich!«
Emilie wandte sich ab, um ihre Bewegung zu verbergen, und trug Annetten auf, sich behutsam zu erkundigen, was wohl für Gefangne im Schlosse wären.
»Nun ich recht daran denke, gnädiges Fräulein, glaube ich würklich, daß Gefangne hier sind: denn ich hörte gestern einen von des Signors Leuten in der Bedientenstube von Ranzion sprechen. Er sagte, es wäre eine schöne Sache für Se. Excellenz, Leute aufzufangen, denn sie wären so gut als Beute wegen der Ranzion. Der andre aber brummte und sagte, es wäre wohl recht schön für den Signor, aber nicht so schön für seine Soldaten, weil die nichts davon bekämen.
Diese Nachricht erhöhte Emiliens Ungeduld mehr zu wissen, und Annette begab sich sogleich auf den Weg, um sich auf Kundschaft zu legen.
Emiliens zuletzt gefaßter Entschluß, ihre Güter an Montoni abzutreten, machte nun andern Betrachtungen Platz: die Möglichkeit, daß Valancourt ihr nahe seyn könnte, belebte ihren Muth, und sie nahm sich vor, der angedrohten Rache wenigstens so lange zu trotzen, bis sie wüßte, ob er sich würklich im Schlosse befände. In dieser Stimmung schickte Montoni zu ihr und bat sie zu ihm in den Saal zu kommen; sie folgte zitternd und bemühte sich auf dem Wege dahin ihren Muth durch den Gedanken an Valancourt zu beleben.
Sie fand Montoni allein. »Ich habe Sie rufen lassen«, sagte er, »um Ihnen nochmals Gelegenheit zu geben, Ihre irrige Aeußerungen wegen der Languedocschen Güter zurückzunehmen. Ich lasse mich herab, Ihnen zu rathen, wo ich befehlen könnte. Wenn Sie würklich in der irrigen Meinung stehn, daß Sie ein Recht auf diese Güter haben, so beharren Sie wenigstens nicht darauf. Sie dürften vielleicht zu spät die unglücklichen Folgen dieses Irrthums für Sie erfahren. Reitzen Sie meine Empfindlichkeit nicht länger, und unterzeichnen Sie die Papiere.«
»Wenn ich kein Recht auf diese Güter habe«, erwiederte Emilie, »wozu kann es Ihnen denn helfen, daß ich Papiere, die sich darauf beziehn, unterzeichne? Wenn das Recht sie Ihnen zuspricht, so muß Ihnen ohne meine Einmischung oder Einwilligung der Besitz davon werden.«
»Ich will keine Gründe mehr hören«, sagte Montoni mit einem Blicke, der sie zittern machte. »Ich konnte wohl nichts bessers erwarten, als ich mich mit einem Gänschen einließ. Aber ich will nicht länger spaßen. Lassen Sie sich die Erinnerung an das, was Ihre Tante für Ihre Thorheit und Hartnäckigkeit büßen mußte, genug seyn. Unterzeichnen Sie die Papiere.«
Emiliens Entschluß war für einen Augenblick erschüttert. Sie erschrack vor der Erinnerung, die er rege machte, vor der Rache, die er drohte. Dann aber drang das Bild von Valancourt, der sie so lange geliebt hatte, ihr vielleicht so nahe war, auf sie ein, und flößte ihr zusammenwürkend mit dem Unwillen, den ihr von Kindheit auf jede Ungerechtigkeit eingeflößt hatte, einen edlen wiewohl unbesonnenen Muth ein.
»Unterzeichnen Sie die Papiere!« sagte Montoni ungeduldiger als zuvor.
»Nimmermehr, Signor! diese Zumuthung würde mir die Ungerechtigkeit Ihrer Forderung beweisen, wenn ich je an meinem Rechte gezweifelt hätte.«
Montoni erblaßte vor Aerger; seine bebenden Lippen und flammende Augen ließen sie beinahe die Kühnheit ihrer Rede bereuen.
»So falle denn meine ganze Rache auf Sie!« rief er mit einem schrecklichen Fluche; »und denken Sie nicht, daß sie verzögert werden soll. Weder die Güter in Languedoc noch in Gasconien sollen Ihnen werden; Sie haben gewagt mein Recht in Zweifel zu ziehn; wagen Sie einmal, meine Macht zu bestreiten! Ich weiß eine Strafe, woran Sie nicht denken! Sie wird schrecklich seyn. Diese Nacht — ja eben diese Nacht! — «
»Diese Nacht!« wiederholte langsam eine andre Stimme. Montoni stutzte und sah sich um, schien sich aber zu fassen und fuhr leise fort.
»Sie haben vor kurzem ein schreckliches Beispiel an Hartnäckigkeit und Unverstand gesehn, doch scheint dies nicht genug gewesen zu seyn, Sie abzuschrecken. Ich könnte Ihnen andre Beispiele sagen — ich könnte Sie zittern machen bei der blossen Erwähnung!«
Ein Stöhnen, welches unter dem Zimmer hervorzudringen schien, unterbrach ihn. Er warf einen Blick rund umher. Wuth und Ungeduld flammten aus seinen Augen, doch schien etwas gleich einem Schatten von Furcht über seinen Zügen zu schweben. Emilie setzte sich in einen Stuhl neben der Thüre, denn die verschiedenen Bewegungen die sie gefühlt hatte, überwältigten sie beinahe; allein Montoni schwieg kaum einen Augenblick, er suchte seine Züge in Ordnung zu bringen und fuhr leise aber noch finstrer fort.
»Ich sage, daß ich Ihnen noch andre Beweise von meiner Macht und meiner Denkungsart geben könnte, die Sie noch nicht zu kennen scheinen. Ich könnte Ihnen sagen, daß wenn ich einmal einen Entschluß gefaßt habe — allein ich vergesse, daß ich mit einem Kinde spreche: Zudem könnte es Ihnen nicht helfen, wenn ich auch noch so schreckliche Beispiele meiner Rache anführte: Denn wenn Sie gleich auf der Stelle ihre thörigte Widersetzlichkeit bereuten, so würde das jetzt meinen Umwillen nicht verringern. Ich will Rache sowohl als Gerechtigkeit haben.«
Ein neues Stöhnen füllte die Pause seiner Rede. —
»Gehn sie aus dem Zimmer«, sagte er, ohne diesen sonderbaren Umstand bemerken zu wollen. Sie wollte aufstehn, konnte sich aber nicht auf den Füßen halten. Furcht und Schrecken überwältigten sie und sie sank aufs neue in den Stuhl zurück.
»Gehen Sie mir aus den Augen«, rief Montoni. »Diese angenommene Furchtsamkeit kleidet der Heldin schlecht, die meinem Unwillen Trotz bieten wollte.«
»Haben Sie nichts gehört, Signor?« sagte Emilie zitternd und noch immer unfähig, das Zimmer zu verlassen.
»Ich habe meine eigne Stimme gehört«, erwiederte Montoni finster.
»Und weiter nichts?« wiederholte Emilie, die kaum sprechen konnte. »Schon wieder! Hörten Sie jetzt nichts?«
»Thun Sie, was ich Ihnen sage«, wiederholte Montoni — »und was diese Narrenstreiche betrift, so werde ich bald den Urheber herausbringen.«
Emilie stand wieder auf und that sich die äußerste Gewalt an, das Zimmer zu verlassen. Montoni folgte ihr, allein anstatt seine Leute zu rufen, um das Zimmer zu durchsuchen, wie er bei einer ähnlichen Gelegenheit einmal gethan hatte, gieng er auf den Wall.
Emilie blieb auf ihrem Wege nach dem Corridor einen Augenblick an einem ofnen Fenster stehn. Sie sah einen Haufen von Montonis Leuten einen fernen Berg herabkommen, und würde kaum darauf gemerkt haben, wenn sie nicht dabei an die unglücklichen Gefangenen gedacht hätte, die sie vielleicht nach dem Schlosse brachten. Endlich erreichte sie ihr Zimmer und warf sich aufs Bette nieder, von den neuen Schrecknissen ihrer Lage zu Boden gedrückt. Ihre Gedanken verwirrten sich; sie konnte ihr Betragen weder bereuen noch billigen; sie konnte sich nun erinnern, daß sie in der Gewalt eines Mannes war, der keinen Grundsatz kannte als seinen Willen, und die Schrecknisse des Aberglaubens, die für einen Augenblick sich ihrer so sehr bemächtigt hatten, wichen jetzt den Besorgnissen der Vernunft.
Endlich wurde sie durch ein Getöse ferner Stimmen und das Stampfen von Pferden aus ihrer Träumerei aufgeschreckt. Eine plötzliche Hofnung, daß etwas Gutes auf dem Wege sey, stieg in ihr auf, bis sie sich an den Haufen erinnerte, den sie am Fenster gesehn hatte, und nun vermuthete, daß dieß die Krieger wären, die man, wie Annette sagte, im Schlosse erwartete.
Bald darauf hörte sie Stimmen auf dem Gange erschallen, und horchte ängstlich, ob nicht Annette käme; allein es war alles wieder still, bis auf einmal das ganze Schloß in Verwirrung und Aufruhr zu seyn schien. Sie trat ans Fenster und sah Montoni mit einigen seiner Offiziere von der Mauer herab auf etwas hindeuten. Am andern Ende des Walls standen verschiedene Soldaten um eine Canone her. Sie blieb beobachtend stehn, ohne sich um das Fortlaufen der Zeit zu kümmern.
Endlich erschien Annette, brachte aber keine Nachricht von den Gefangenen: »niemand«, sagte sie, »hätte davon wissen wollen. Aber hier sind andre schöne Dinge vorgegangen«, sagte sie, »die übrigen von der Parthey sind eben angekommen; sie ritten stampfend einher, als wollten sie den Hals brechen; man wußte nicht, ob der Reuter oder das Pferd zuerst ins Thor kam. Sie haben Neuigkeiten mitgebracht; aber was für Neuigkeiten! daß eine Parthey des Feindes, wie sie es nennen, auf unser Schloß zukommt. So werden also, wie es scheint, alle Diener der Gerechtigkeit uns belagern.«
»Gott sey ewig gedankt«, rief Emilie, »so bleibt mir doch noch eine Hofnung übrig!«
»Wie Fräulein, Sie wünschen doch nicht in die Hände dieser Leute zu fallen. Ach um Gottes willen, wenn nur eine Minute das große Thor öfnen könnte, so sollten mich diese Mauern nie wieder sehn.«
Emilie fieng diese Worte auf: »Ja wenn du es einen Augenblick öfnen könntest«, rief sie, »so könnte auch ich noch gerettet werden!«
Sie dachte an die kommende Nacht, indem sie dies sagte, und ihr wilder Blick erschreckte Annetten mehr als ihre Worte. Sie beschwur ihre Herrschaft, sich deutlicher zu erklären, und es fiel Emilien ein, daß Ludovico vielleicht zu ihrer Flucht behülflich seyn könnte. Sie erzählte Annetten den Hauptinhalt ihres Gesprächs mit Montoni, beschwur sie aber, gegen niemand ausser Ludovico etwas davon zu erwähnen. »Geh zu ihm, Annette, sag ihm, was ich fürchten muß und was ich bereits gelitten habe; aber binde ihm auf die Seele, geheim zu verfahren und keine Zeit zu verlieren. Versprich ihm eine reichliche Belohnung; aber sey schnell, Annette, und vor allem sey vorsichtig — ich werde deine Zurückkunft mit Ungeduld hier erwarten.«
Das Mädchen, dessen redliches Herz durch die Erzählung tief bewegt wurde, gehorchte mit äußerster Bereitwilligkeit. Emilie wurde immer bestürzter, je mehr sie über Annettens Nachricht dachte. »Ach«, sagte sie, »was können die Gerichtsdiener gegen eine Festung ausrichten!« Doch vermuthete sie nach reiferer Ueberlegung, daß Montonis Bande das Land umher geplündert hätte, daß die Einwohner zu den Waffen geschritten wären, und mit den Gerichtsdienern und einem Haufen Soldaten heranrückten, um mit Gewalt ins Schloß zu dringen. »Allein«, sagte sie, »sie kennen seine Stärke und die Größe der Besatzung nicht. Ach ausser der Flucht habe ich nichts zu hoffen.«
Obgleich Montoni nicht eigentlich war, wofür Emilie ihn hielt, ein Hauptmann der Banditen, so hatte er doch seine Truppen zu nicht minder kühnen oder barbarischen Unternehmungen angeführt. Sie hatten nicht nur, so oft sich die Gelegenheit darbot, den hülflosen Reisenden angefallen, sondern auch die Landgüter verschiedner Personen geplündert, die so entfernt zwischen den einsamen Gebürgen lagen, daß sie keinen Wiederstand leisten konnten. Bey solchen Expeditionen ließen sich die Anführer niemals erblicken und ihre Leute, die sich zum Theil verkappten, wurden oft für gemeine Räuber, oft für streitende Partheyen des Feindes gehalten, der damals das Land verheerte. Ohngeachtet sie aber bereits verschiedene Wohnungen geplündert und ansehnliche Schätze nach Hause gebracht hatten, wagten sie doch nur einmal ein Schloß anzugreifen, wo sie aber herzhaft zurückgeschlagen und von einem Trupp des fremden Feindes, der mit den Belagerten in Bündniß stand, in die Flucht gejagt wurden. Montonis Truppen flohen eilends nach Udolpho, wurden aber so dicht verfolgt, daß sie von einer Anhöhe in der Nachbarschaft des Schlosses den Feind nur eine kleine Strecke weit hinter sich zwischen den Klippen unten erblickten. Bei dieser Entdeckung eilten sie mit verdoppelter Schnelligkeit um Montoni auf den feindlichen Empfang vorzubereiten, und ihre Ankunft hatte das Schloß in solche Verwirrung und Aufruhr gebracht.
Als Emilie ängstlich einige Nachricht von unten erwartete, sah sie aus dem Fenster einen Haufen Truppen über die benachbarten Anhöhen sprengen, und obwohl Annette kaum fortgegangen war, und einen schweren gefahrvollen Auftrag auszurichten hatte, stieg doch ihre Ungeduld aufs peinlichste. Sie horchte, öfnete die Thüre und gieng oft auf den Gang heraus ihr entgegen.
Endlich hörte sie kommen, sah aber, als sie die Thüre aufmachte, nicht Annetten, sondern den alten Carlo! Eine neue Furcht bemächtigte sich ihrer. Er sagte ihr, daß der Signor ihm aufgetragen hätte, sie zu benachrichtigen, daß sie sich anschicken müßte, unverzüglich von Udolpho abzureisen; das Schloß stände in Gefahr, belagert zu werden und es wären Maulesel bereit, sie und ihre Führer nach einem sichern Orte zu bringen.
»Nach einem sichern Orte!« rief Emilie unbedachtsam. »Hat denn der Signor so viele Sorgfalt für mich!«
Carlo sah vor sich nieder, ohne Antwort zu geben. Tausend entgegengesetzte Gefühle kämpften in Emilien. Freude, Schmerz, Mistrauen und Besorgnis erschienen und verschwanden mit Blitzes Schnelligkeit in ihrem Innern. In einem Augenblick schien es ihr unmöglich, daß Montoni diesen Schritt blos um ihrer Erhaltung willen thun sollte; und es war überhaupt so seltsam, daß er sie aus dem Schlosse schickte, daß sie es nur der Absicht zuschreiben konnte, den neuen Plan der Rache, die er angedroht hatte, auszuführen. Dann aber schien es ihr wiederum so wünschenswerth, das Schloß zu verlassen, auf welche Art es auch sey, daß sie sich nur über die Aussicht dazu freuen konnte, bis ihr einfiel, daß vielleicht Valancourt hier seyn könnte. Schmerz und Wehmuth bemächtigten sich nun ihrer und sie wünschte heisser als je, daß sie nicht seine Stimme möchte gehört haben.
Carlo erinnerte sie, daß sie keine Zeit zu verlieren hätte, denn der Feind stände dicht vor dem Schlosse. Emilie bat ihn dringend, ihr zu sagen, wohin sie gebracht würde; er schwieg; auf ihre wiederholte Bitte aber sagte er, er glaube, daß sie nach Toscanien gebracht werden sollte.
»Nach Toscanien!« rief Emilie, »und warum dahin?«
Carlo antwortete, er wisse weiter nichts, als daß sie in einer Hütte an den Gränzen von Toscanien am Fuße der Apenninischen Gebürge sich aufhalten sollte. »Es ist kaum eine Tagereise von hier«, setzte er hinzu.
Emilie sagte ihm Lebewohl; er küßte ihr mit Rührung die Hand, und sie packte nun zitternd ihr kleines Reisebündel zusammen. Annette unterbrach sie: »O Fräulein«, rief sie, »es kann nichts geschehen. Der neue Thürsteher, sagte Ludovico, ist noch wachsamer, als Bernardino selbst, und es wäre eben so gut möglich, vor einem Drachen vorüber zu kommen. Ludovico ist eben so niedergeschlagen als Sie; er ist so besorgt um mich, der gute Junge! ach ich werde gewiß das Canonenfeuer nicht überleben.«
Sie fieng bitterlich an zu weinen, erholte sich aber wieder, als sie hörte, was vorgefallen war, und bat Emilien, sie mitzunehmen.
»Herzlich gerne, wenn der Signor es erlaubt«, erwiederte diese. Annette lief fort ohne zu antworten und suchte sogleich Montoni auf, den sie auf der Terrasse unter seinen Offizieren fand, wo sie ihre Bitte anbrachte. Er befahl ihr scharf ins Schloß zu gehn, und schlug ihre Bitte durchaus ab. Annette fuhr indessen fort, nicht nur für sich sondern auch für Ludovico zu bitten, und Montoni mußte sie mit Gewalt zurücktreiben lassen.
Sie kam voll Verzweiflung zu Emilien zurück, die aus dieser abschlägigen Antwort wenig Gutes für sich selbst weissagte. Bald darauf wurde sie in den großen Hof gerufen, wo die Maulthiere mit den Führern auf sie warteten. Emilie versuchte umsonst, die weinende Annette zu trösten; sie blieb dabei, daß sie ihr liebes Fräulein nicht wieder sehn würde. Diese hielt insgeheim ihre Furcht nur für zu gegründet, verbarg aber ihre Empfindung und sagte mit möglichster Fassung dem treuen Mädgen Lebewohl. Annette ließ sich nicht abhalten, ihr bis auf den Hof zu folgen, der mit Menschen, die sich zum Empfang des Feindes rüsteten, angefüllt war. Als sie Emilien auf das Maulthier steigen und mit ihren Begleitern durch das Thor reiten sah, gieng sie ins Schloß zurück und weinte bitterlich.
Emilie fühlte indessen, wenn sie auf die dunkle Schloßhöhe zurückblickte, und keine Mauern mehr um sich sah, die ihre Schritte versperrten, trotz ihrer Ahndung die plötzliche Freude eines Gefangnen, der sich unerwartet in Freiheit sieht. Dieses Gefühl ließ ihr nicht zu, unpartheyisch an die Gefahren zu denken, die aussen auf sie warteten, sie konnte sich in diesen Augenblicken nur freuen, aus diesen Mauern befreit zu seyn, die sie mit so bangen Ahndungen betreten hatte.
Wenn sie mit solchen Empfindungen auf die Thürme des Schlosses zurückblickte, die hoch über die Wälder empor stiegen, zwischen welchen sie sich hinwand, so fiel ihr der Fremde, den sie daselbst verhaftet glaubte, aufs neue ein und Angst und Besorgnis, daß es Valancourt seyn könnte, zog sich wie eine Wolke um ihre Freude. Vielleicht hätte sie von ihren Führern etwas hierüber erfahren können, allein sie getraute sich nicht, sie zu befragen, und wollte lieber eine Gelegenheit abwarten, wo sie mit einem von ihnen allein sprechen könnte.
Bald darauf erscholl eine Trompete schwach in der Ferne. Die Führer standen still und da der dicke Wald alle Aussicht verschloß, so ritt einer von ihnen auf eine Anhöhe um zu sehen, wie nahe der Feind wäre. Der andre blieb bei Emilien und sie nutzte diese Zeit, um ihm einige Fragen wegen der Gefangnen zu Udolpho vorzulegen. Ugo sagte, es wären verschiedne Gefangne im Schlosse, aber er erinnerte sich weder ihrer Person noch der Zeit ihrer Ankunft genau. Er hatte etwas so saures in seinem Wesen, daß sie glaubte, er würde schwerlich ihre Fragen beantwortet haben, wenn er es auch im Stande gewesen wäre.
Da Bertrand, der andre Mann, jetzt wieder zurückkam, fragte Emilie nicht weiter, und sie ritten in tiefen Stillschweigen fort. Als sie aus dem Walde kamen, wandten sie sich längs dem Thale hin, und Emilie hatte nun den vollen Anblick des Schlosses mit seinen grauen Mauern, Thürmen und Terrassen, die hoch über die Gebürge und dunkeln Wälder hervorragten und von den Waffen der Condottieri schimmerten, wenn die Sonnenstrahlen durch eine Herbstwolke auf einen Theil der Gebäude fielen, dessen andre Seiten in verdunkelter Majestät da standen. Sie sah durch ihre Thränen auf die Mauern hin, die vielleicht Valancourt einschlossen. Endlich verschlossen die sich krümmenden Berge die Aussicht auf Udolpho, und sie wandte sich mit bangen Widerstreben zu andern Gegenständen. Das melancholische Seufzen des Windes zwischen den Fichten, die hoch über die Stuffen wehten, und das ferne Brausen des Stroms mit der wilden Gegend umher, verbreitete eine feierliche Stimmung über ihre Seele, die aber bald durch das ferne Krachen einer Canone, das zwischen den Bergen wiederhallte, unterbrochen wurde. Die Töne rollten auf dem Winde hin und wurden immer schwächer und schwächer zurückgegeben, bis sie in dumpfes Murmeln versanken. Dies war ein Zeichen, daß der Feind das Schloß erreicht hatte, und Angst um Valancourt quälte sie aufs neue. Sie sah mit ängstlichen Blicken nach der Gegend des Schlosses hin, allein die zwischen liegenden Höhen verbargen es vor ihrem Blick — doch sah sie noch die schmale Spitze eines Bergs, der vor ihrem ehemaligen Fenster lag, und richtete ihre Augen dahin, als könnte er ihr sagen, was in der Gegend unter ihm vorgienge. Die Führer erinnerten sie zweimal, daß sie Zeit verlöre, und daß sie noch weit zu reisen hätten, ehe sie ihre Augen von diesem Gegenstande abziehn konnte, und selbst als sie weiter ritten, schickte sie oft einen Blick zurück, bis nur noch seine blaue Spitze in einem Sonnenstrahl glänzend über die andern Berge hervor sah.
Das Krachen der Kanonen machte auf Ugo ungefähr einen solchen Eindruck, als der Schall der Trompete auf das kriegerische Pferd. Sein ganzes Feuer wurde hervorgelockt, er wünschte sich in der Mitte des Streits und fluchte über Montoni, der ihn soweit verschickt hätte. Sein Kamerad schien ganz das Gegentheil zu fühlen und mehr zu den Grausamkeiten als zu den Gefahren des Kriegs gemacht zu seyn.
Emilie fragte sie oft wegen des Orts ihrer Bestimmung, konnte aber nur erfahren, was sie schon wußte, daß sie nach einer Hütte in Toscanien gienge; so oft sie von diesem Gegenstande anfieng, glaubte sie auf dem Gesicht dieser Leute einen Ausdruck von Bosheit und List zu sehn, der sie beunruhigte.
Sie waren um Nachmittag aus dem Schlosse gereist. Der Weg führte einige Stunden weit durch entlegene Gegenden, wo kein Blöcken des Schaafs, kein Bellen des Wachthundes die Stille unterbrach; sie waren jetzt zu weit entfernt, um nur den schwachen Donner der Kanonen zu hören. Gegen Abend wandten sie sich zwischen kleinen Bergen, von Cypressen, Fichten und Cederwäldchen verdunkelt, in ein wildes und abgesondertes Thal hinab, das zum Wohnsitz der Einsamkeit wenn sie je einen solchen hatte, erkohren schien. Emilien däuchte es ein Ort, ganz zum verborgenen Aufenthalt von Banditen gemacht, und sie bildete sich schon ein, sie unter einem hervorragenden Felsen lauern zu sehn, wo ihr Schatten, von der Sonne verlängert, sich über den Weg hinstreckte, und den Reisenden vor der Gefahr warnte. Sie schauderte bei dem Gedanken, und da sie ihre Führer anblickte, um zu sehn, ob sie bewafnet wären, glaubte sie in ihnen die Banditen zu erkennen, die sie fürchtete.
Ihre Führer schlugen vor, in diesem Thale abzusteigen, denn die Nacht wird bald einbrechen, sagte Ugo, und denn dürften es die Wölfe gefährlich machen. Dies war eine Ursache zu neuer Unruhe für Emilien, doch weit geringer, als was sie bei dem Gedanken litt, um Mitternacht in diesen Wildnissen mit zwei solchen Leuten als ihre Begleiter waren, allein zu bleiben. Dunkle und schreckliche Ahndungen, was Montonis Absicht gewesen seyn konnte, sie dahin zu schicken, ergriffen sie. Sie suchte die Leute zu bereden, nicht still zu halten, und fragte ängstlich, wie weit sie noch zu reisen hätten?
»Noch viele Meilen«, erwiederte Bertrand. »Was Sie betrift, Signora Sie können es mit dem Essen halten, wie sie für gut finden, wir aber wollen eine tapfere Mahlzeit zu uns nehmen, so lange wir noch können. Ich denke wohl wir werden es nöthig haben, ehe wir die Reise zu Ende bringen. Die Sonne geht schnell unter. Laßt uns unter jenem Felsen dort absteigen.«
Sein Kamerad war es zufrieden. Sie lenkten die Maulesel vom Wege ab, und giengen auf eine von Cedern beschattete Klippe zu, wohin Emilie ihnen in zitterndem Schweigen folgte. Sie huben sie von ihrem Maulthiere herab, und nachdem sie sich aufs Gras am Fuße des Felsen niedergelassen hatten, zogen sie ein kleines Mahl aus einem Schnapsacke, wovon Emilie etwas zu essen versuchte, um ihre Furcht desto besser zu verheelen.
Die Sonne war nun hinter die hohen Berge im Westen gesunken, aus welchen ein purpurner Hauch sich auszugießen und eine schattige Dämmerung über die umliegenden Gegenstände zu verbreiten begann. Sie hörte nicht länger mit Wohlgefallen auf das tiefe Sausen des Windes, der zwischen den Wäldern hinstreifte; er vereinte sich nur mit dem Wilden der Gegend und der Abendstunde, ihre Lebensgeister niederzudrücken.
Die Ungewisheit hatte ihre Angst über den Gefangenen zu Udolpho so sehr erhöht, daß, da sie es unthunlich fand, mit Bertrand allein darüber zu sprechen, sie ihre Fragen in Ugos Gegenwart erneuerte: allein er gab vor, oder wußte würklich nichts von dem Fremden. Doch fieng er mit Ugo ein anderes Gespräch über den Signor Orsino und die Ursache seiner Verbannung aus Venedig an, wonach Emilie ebenfalls einige Fragen gethan hatte. Ugo schien mit den Umständen dieses traurigen Vorfalls sehr genau bekannt zu seyn, und erzählte einige Dinge, die sie überraschten und stutzig machten, es schien ihr sehr sonderbar, daß jemand um diese Dinge wissen könne, der nicht bei dem Morde selbst gegenwärtig gewesen war.
»Ja, wie gesagt«, fuhr Bertrand fort, »der Signor Orsino ist einer von denen, die sich gerne selbst Gerechtigkeit nehmen. Ich erinnere mich noch, daß er vor ohngefähr zehn Jahren einmal einen Streit mit einem Kavalier zu Mailand hatte. Die Geschichte wurde mir damals erzählt, und ist mir noch frisch im Gedächtnis. Sie stritten über eine Dame, die dem Signor sehr wohl gefiel; allein sie war so verkehrt, den Mailänder vorzuziehn, und trieb es gar so weit, ihn zu heurathen. Dies brachte den Signor aufs höchste auf, er schwur ihr Rache und brauchte nicht lange auf die Gelegenheit zu warten. Bald nach der Hochzeit machten sie eine Reise nach Padua, ohne zu vermuthen, was ihrer unterweges wartete. Der Kavalier mochte wohl glauben, er würde nicht zur Rechenschaft gefodert werden, und könnte mit seiner Beute so im Triumph davon ziehn, allein es wurde ihm anders gelohnt. Der Weg gieng über einige öde Berge so wie diese, und das war dem Signor gerade recht zu seiner Absicht. Er paßte auf, wenn sie abreisten und schickte seine Leute mit dem Auftrage, was sie zu thun hatten, nach. Sie hielten sich in der Ferne bis sie ihren Zeitpunkt absahen, und das geschah erst am zweiten Tage der Reise. Der Kavalier schickte seine Leute voraus in die nächste Stadt, um Pferde zu bestellen, des Signors Leute beschleunigten ihren Schritt und holten den Wagen in einem hohlen Wege ein, wo die Bäume verhinderten, daß die Leute nicht sehn konnten, was vorgieng, ob sie gleich nicht weit waren. So wie wir ihnen nahe kamen, schossen wir los, fehlten aber.«
Emilie erblaßte bei diesen Worten, doch hielt sie an sich, und er fuhr fort —
»Der Kavalier gab den Schuß zurück; allein er mußte bald vom Pferde herunter, und indem er sich umkehrte, seine Leute zu rufen, wurde er getroffen. In meinem Leben habe ich nicht so was gesehn; er wurde in den Rücken mit drei Dolchen zugleich gestochen. Er fiel und war in einer Minute dahin; die Dame aber entkam, denn die Bedienten hatten das Schiessen gehört, und kamen herbei, ehe sie abgefertigt werden konnte. Bertrand, sagte der Signor nachher —«
»Bertrand!« rief Emilie von Schrecken erblassend; sie hatte kein Wort von der Erzählung verlohren —
»Sagte ich Bertrand«, versetzte er etwas bestürzt. »Nicht doch, Giovanni — aber ich habe vergessen, wo ich stehn blieb — ja — Bertrand, sagte der Signor —«
Bertrand fluchte — »es thut ja nichts zur Sache, wie er den Menschen nannte, Bertrand, oder Johann oder Peter, das ist ja gleichviel — Sie haben mich ganz aus dem Concept gebracht. Bertrand, sagte der Signor, wenn die andern ihre Pflicht so gut gethan hätten, als du, so würde mir die Dame nicht entgangen seyn. Da nimm, ehrlicher Bursche und laß es dir wohl gehn. Er gab ihm eine Börse Gold — freilich wenig genug für den Dienst, den er ihm geleistet hatte« —
»Ja wohl«, sagte Ugo, »wenig genug — wenig genug.« — Emilie athmete kaum. Gleich vom Anfang an hatte der Anblick dieser Leute und ihre Verbindung mit Montoni ihr Mißtrauen eingeflößt: aber als nun der Eine sich gar als einen Mörder verrieth, als sie sich bei anbrechender Nacht unter seine Leitung zwischen wilden, einsamen Bergen sah und kaum wußte, wohin sie gebracht werden sollte, ergrif sie das entsetzlichste Schrecken, das noch unerträglicher war, weil sie es sorgfältig vor ihren Begleitern verbergen mußte. Wenn sie an Montonis Character und an seine Drohungen dachte, so schien es nur zu glaubhaft, daß er sie diesen Menschen übergeben hatte, um sie aus der Welt zu schaffen und sich so ohne weitern Verzug in Besitz der Güter zu setzen, die sie ihm so hartnäckig bestritt. Allein wenn dies seine Absicht war, warum sollte er sie denn so weit vom Schlosse wegschicken? wenn er aus Furcht entdeckt zu werden, die That nicht daselbst begehn wollte, so wäre ein näherer Ort hinreichend gewesen. Diese Betrachtungen fielen indessen Emilien nicht sogleich ein, zu viele Umstände versetzten sie in einen Schrecken, dem sie nicht Macht hatte zu widerstehen. Sie wagte nicht mit ihren Begleitern zu sprechen; sie zitterte beim Laut ihrer Stimme, und so oft ein Abendstrahl ihre Gesichter erhellte, sah sie mit jedem Blick ihre Furcht bestätigt.
Die Sonne war schon eine Zeitlang untergegangen. Schwere Wolken, deren tiefer Saum mit schweflichten Karmin gefärbt war, zögerten in Westen und warfen einen röthlichten Schimmer auf die Fichtenwälder, durch die der Abendwind feierlich hinrauschte. Das dumpfe Sausen drang Emilien ins Herz und machte alle Gegenstände um sie her noch dunkler und schauerlicher. Ihre gegenwärtige Lage schien ihr selbst so unglaublich, wenn sie die Ruhe und Süßigkeit ihrer frühern Tage damit verglich, daß es Augenblicke gab, wo sie sich beinahe für das Opfer schrecklicher Erscheinungen einer zerstörten Phantasie hielt.
Es war nun so dunkel geworden, daß die Reisenden, die mit langsamen Schritten weiter ritten, kaum ihren Weg unterscheiden konnten. Die Wolken, die von Donner geschwängert schienen, strichen langsam am Himmel hin und ließen von Zeit zu Zeit die zitternden Sterne sehen.
»Wo ist die Fackel«, sagte Ugo, »es wird dunkel.« »Noch nicht so dunkel, daß wir nicht unsern Weg finden könnten«; erwiederte Bertrand, »es ist besser, sie nicht anzustecken, so lange es noch geht: denn wir könnten uns dadurch verrathen, wenn eine feindliche Parthey in der Nähe ist.«
Ugo murmelte etwas, das Emilie nicht verstand; sie ritten im dunkeln weiter, während sie beinahe wünschte, daß der Feind sie entdecken möchte: sie konnte von einer Veränderung doch etwas hoffen, da sie sich kaum eine schrecklichere Lage als die gegenwärtige zu denken wußte.
Sie sahen sich endlich genöthigt, die Fackel anzustecken. Sie stiegen ab, halfen Emilien herunter und führten die Maulthiere nach dem Walde, der zur Linken das Thal einfaßte, so wie sie sich diesem Walde nahten, fühlte sie ihre Gefahr nur schärfer. Die tiefe Stille, ausser wenn der Wind durch die Zweige strich, die undurchdringliche Finsterniß, die durch den Schimmer der Fackel und durch das plötzliche Leuchten des Blitzes nur sichtbar gemacht wurde, erneuerten ihre Angst. Sie glaubte in diesem Augenblick eine mehr als gewöhnliche Wildheit auf den Gesichtern ihrer Führer zu sehn — ihre erschreckte Phantasie gab ihr ein, daß man sie in diesen Wald führte, um Montonis Willen zu vollbringen. Sie sties unwillkührlich einen Seufzer aus, der ihre Begleiter aufmerksam machte. Sie drehten sich schnell nach ihr um, und sie fragte wohin sie sie führten und warum sie nicht in dem ofnen Thale blieben, wo es bei dem Gewitter weniger gefährlich wäre als im Walde.
»Nicht doch«, sagte Bertrand, »wir wissen besser, wo die Gefahr liegt. Sehn Sie, wie sich die Wolken über uns öfnen? Auch laufen wir hier weniger Gefahr gesehn zu werden, wenn einer vom Feinde diesen Weg käme.«
»Was fürchtest du dich vor dem Feinde«, sagte Ugo verächtlich. »Laßt sie kommen, wenn ihrer auch noch so viele wären, als des Signors Schloß halten kann; ich wollte ihnen zeigen, was Fechten ist; dich aber wollte ich in den trocknen Graben werfen, wo du zusehn könntest, wenn ich sie in die Flucht schlüge. Wer wird von Furcht sprechen?«
Bertrand erwiederte mit einem schrecklichen Fluche, daß er solche Scherze nicht liebte, und es erfolgte ein heftiger Streit, der endlich durch den in der Ferne brüllenden Donner gestillt wurde. Die Grundfesten der Erde schienen zu krachen, zwischen den Oefnungen der Bäume zitterte der blaue Blitz über die Erde hin und die Berge jenseits schienen in gelbe Flammen getaucht. Emilie fühlte in diesen Augenblicken vielleicht weniger Furcht vor dem Gewitter als ihre Begleiter, denn andre Schrecken hielten ihre Seele gefangen.
»Ich wollte, wir wären noch im Schlosse«, sagte Bertrand. »Ich weiß nicht, warum der Signor uns auf diese Reise geschickt hat. Horch wie es über uns rasselt — ich möchte wohl bethen, hast du keinen Rosenkranz, Ugo?«
»Das überlasse ich Leuten deiner Art«, versetzte Ugo, »ich führe ein Schwerdt.«
»Ja es wird dir viel helfen, gegen den Sturm zu fechten«, sagte Bertrand.
Ein neuer Donnerschlag, der in zitternden Echos zwischen den Bergen wiederhallte, brachte sie zum Schweigen. Wie er vorüber rollte, schlug Ugo vor, weiter zu gehn. »Wir verlieren hier nur Zeit«, sagte er; »die dicken Zweige des Waldes werden uns eben so gut schützen, als dieser Nußbaum.«
Sie führten die Maulthiere wieder weiter zwischen den Bäumen hin über unbetretnes Gras, das ihre knotigten Wurzeln bedeckte. Man hörte nun den aufsteigenden Wind mit dem Donner kämpfen, wie er wüthend zwischen den Zweigen über ihnen hinrollte, und die rothe Flamme der Fackel erhöhte, die ein stärkeres Licht auf die Wälder warf, und ihre dunklen Höhlen als angemessene Wohnungen für die Wölfe sehen ließ, deren Ugo anfangs erwähnt hatte.
Endlich schien der Wind den Sturm fortzutreiben, der Donner rollte in der Ferne hin und war nur schwach zu hören. Die Elemente schienen sich zur Ruhe zu legen, sie stiegen allmählig höher und fanden sich bald auf der ofnen Spitze eines Berges, eine weite Ebne, die sich im feuchten Mondenlichte ausdehnte, lag zu ihren Füßen; über ihnen der blaue Himmel, der durch die wenigen dünnen Wolken hindurch zitterte, die noch nach dem Sturme verweilten und langsam am Saume des Horizonts hinab sanken.
Emiliens Geister lebten wieder auf, nun sie den Wald verlassen hatte; sie überlegte, daß diese Leute, wenn sie den Auftrag gehabt hätten, sie umzubringen, ihren barbarischen Vorsatz in der einsamen Wildnis, wo der Thäter jedem menschlichen Auge verborgen bleiben konnte, ausgeführt haben würden. Durch diese Betrachtung und durch das ruhige Betragen ihrer Führer aufgerichtet, konnte Emilie die schlummernde Schönheit des Thales, in welches sie hinabstiegen, nicht ohne Regung von Wohlgefallen ansehn. Es wechselte mit Wäldern, Weiden und kleinen Hügeln und wurde nach Norden und Osten von einem Amphitheater der Apenninen umschlossen, deren Umrisse sich im Horizont hie und da in schönen Formen brachen; nach Westen und Süden streckte sich die Landschaft unmerklich in die Toscanischen Ebnen.
»Dort liegt die See«, sagte Bertrand, als hätte er gewußt, daß Emilie die dämmernde Aussicht betrachtete, »weiter nach Westen, wir können sie noch nicht sehn.«
Emilie spürte bereits eine Veränderung des Klimas von dem wilden Bergstrich, den sie verlassen hatte; die Luft duftete von tausend namenlosen Blumen im Grase, die der Regen hervorgelockt hatte. Die Gegend um sie her war so schön und so auffallend verschieden von der dunkeln Größe der Gegenstände, wo sie so lange verhaftet war, daß sie sich beinahe wieder in La Vallée zu seyn träumte, und sich verwunderte, daß Montoni sie hiehergeschickt hätte. Sie konnte kaum glauben, daß er einen so bezaubernden Ort zu einem grausamen Vorhaben könnte gewählt haben. Indessen hatte wahrscheinlich nicht der Ort, sondern die Personen, die ihn bewohnten, und denen er sicher die Ausführung seines Plans, was der auch seyn mochte, anvertrauen konnte, seine Wahl bestimmt.
Sie wagte nun wieder zu fragen, ob sie dem Orte ihrer Bestimmung nahe wären, und Ugo antwortete, daß sie nicht weit mehr hätten. »Nur noch bis zu jenem Nußwalde dort«, sagte er; »dort bei dem Bach, der im Mondschein funkelt. Ich wollte wünschen, daß ich mich nur einmal mit einer Flasche guten Weins und einem Stücke Toskaner Schinken da ausruhen könnte.«
Emilie faßte neuen Muth, als sie hörte, daß die Reise ihrem Ende so nahe war; sie sah den Wald von Wallnußbäumen in einer ofnen Gegend des Thales am Rande des Stroms.
Sie erreichten in kurzem den Eingang des Waldes und wurden zwischen dem schimmernden Laube ein Licht gewahr, das durch ein fernes Fenster einer Hütte schien. Sie schritten längs dem Saume des Bachs fort, wo die überhängenden Bäume die Mondstrahlen ausschlossen, allein ein langer Lichtstrahl fiel aus der Hütte auf seine zitternde dunkle Oberfläche. Bertrand stand zuerst still und Emilie hörte ihn laut an der Thüre klopfen und rufen. So wie sie näher kamen, öfnete ein Mann das kleine Fenster, durch welches das Licht fiel und nachdem er gefragt hatte, was sie wollten, kam er sogleich herunter, führte sie in eine reinliche Bauerhütte und rief seine Frau, um den Reisenden Erfrischungen vorzusetzen. Während dieser Mann leise mit Bertrand sprach, betrachtete ihn Emilie forschend. Es war ein schlanker aber nicht stark gebauter Bauersmann, der eine gelbe Gesichtsfarbe und einen schlauen, verschlagnen Blick hatte. Sein Gesicht war nicht von der Art, das Vertrauen der Jugend zu gewinnen, und es lag nichts in seinem Betragen, was einen Fremden für ihn hätte einnehmen können.
Ugo verlangte ungeduldig und mit einen Tone, als wüßte er, daß sein Ansehn hier ganz unbezweifelt sey, ein Abendessen. »Ich erwartete euch zwei Stunden früher«, sagte der Bauer, »denn ich habe des Signor Montonis Brief erst Abends spät erhalten; meine Frau und ich dachten nicht mehr, daß ihr kommen würdet, und legten uns zu Bette. Wie seyd ihr denn durch den Sturm gekommen?«
»Schlecht genug«, erwiederte Ugo, »und hier wird es uns nicht besser gehn, wenn ihr nicht fortmacht. Holt uns noch Wein und laßt uns sehn, was ihr zu essen habt.«
Der Bauer trug ihnen auf was seine Hütte vermochte — Schinken, Wein, Feigen und Trauben von einer Größe und Wohlgeschmack, wie sie Emilie noch selten gegessen hatte.
Die Frau des Bauern führte sie darauf in ihr kleines Schlafzimmer, wo Emilie verschiedne Fragen wegen Montoni an sie that. Die Frau, die Dorina hieß, gab sehr zurückhaltende Antworten, und gab vor, daß sie von Sr. Herrlichkeit Absicht, Emilien hieher zu schicken, nichts gewußt hätte: doch gestand sie ein, daß ihr Mann davon wäre benachrichtigt worden. Da Emilie sah, daß sie nichts über ihre Bestimmung von ihr herausbringen konnte, schickte sie Dorina fort, und legte sich zur Ruhe; allein alle Scenen der Vergangenheit und der auf sie wartenden Zukunft traten vor ihre geängstete Seele und verbannten mit dem Ungewohnten ihrer neuen Lage zusammen genommen, den Schlaf.
Als Emilie am andern Morgen ihr Fenster öfnete, wurde sie nicht wenig überrascht durch die Schönheiten, die es umgaben. Die Hütte lag beinahe wie in einer Laube. Zwischen den dunkeln Zweigen der Cypresse und Wallnußbäume traten nach Norden und Osten die waldigten Apenninen hervor, nicht, wie sonst, von schwachen Fichten bekleidet; sondern ihre hohen Gipfel mit alten Wäldern von Wallnüssen, Eichen und orientalischen Gewächsen gekrönt, die jetzt in den reichen Farben des Sommers prangten und sich ununterbrochen ins Thal herab senkten, ausser wo ein kühnes, felsigtes Vorgebürge zwischen der Laube hervorragte und den durchstreifenden Strahl auffieng. Weinberge streckten sich längs dem Fuße der Berge, wo die eleganten Villas des Toscanischen Adels oft die Scene schmückten und über Hügel, mit Wäldchen von Oliven, Maulbeeren, Orangen und Limonien bekleidet, herabhiengen. Das Thal, in welches sie sich hinabsenkten, war mit allem Reichthum des Fleisses geschmückt, dessen Schattirungen harmonisch in den Sonnenglanz schmolzen. Weinstöcke, deren Purpurtrauben sich zwischen der bräunlichen Laube rötheten, hiengen in üppigen Kränzen von den Zweigen des geraden Feigenbaums und der schlanken Kirschbäume herab, während Wiesen von einem Grün, wie Emilie es selten in Italien gesehn hatte, die Ufer eines Stromes schmückten, der sich die Berge herab längs der Landschaft hinzog, die er in einem Meerbusen zurückspiegelte. Dort tief im Westen, nahm das Wasser, das in den Wolken verschwand, einen schwachen Purpurglanz an, und die Scheidungslinie zwischen beiden war nur durch das Fortschweben eines Stengels zu erkennen, das im Sonnenstrahle längs dem Horizont glänzte.
Die Hütte, welche der Wald vor den heissen Strahlen der Sonne schützte, und die nur ihrem Abendlicht offen lag, war gänzlich mit Weinstöcken, Feigenbäumen und Jasmin bedeckt, deren Blüthe an Größe und Wohlgeruch alles übertraf, was Emilie gesehn hatte. Diese Blüthen und reifenden Trauben hiengen rings um ihr kleines Fenster; der Rasen unter den Bäumen schimmerte von einer Menge wilder Blumen und wohlriechender Kräuter, und jenseits, am Rande des kühlen Baches erhub sich ein Wäldchen von Citronen und Orangenbäumen. Dies Wäldchen, obgleich Emiliens Fenster beinahe gegenüber, unterbrach die Aussicht nicht, sondern erhöhte vielmehr durch sein dunkles Grün die Würkung der Perspektive. Für sie war dieser Fleck eine Sommerlaube voll süßer Wohlgerüche, deren Anmuth unmerklich Heiterkeit über ihre Seele ausgos.
Sie wurde bald von des Bauern Tochter zum Frühstück herunter gerufen. Mit Vergnügen sah sie das angenehme Gesicht dieses jungen Mädgens, das noch von den reinen Eindrücken der Natur belebt schien, da hingegen die Gesichter der andern Personen mehr oder weniger die schlimmsten Eigenschaften, Grausamkeit, Wildheit, List und Falschheit verriethen; zu der letztern Art von Gesichtern gehörten vorzüglich der Bauer und sein Weib. Maddelina sprach wenig, aber dies wenige mit einem sanften Tone und mit einer bescheidnen gefälligen Miene, die Emilien einnahm. Sie frühstückte an einem besondern Tische mit Dorina, während Ugo und Bertrand ein Mahl von Toscanischem Schinken und Wein mit ihrem Wirthe vor der Thüre verzehrten. Ugo stand eilends auf, fragte nach seinem Maulesel und Emilie hörte, daß er nach Udolpho zurückkehrte, während Bertrand in der Hütte blieb — Dieser Umstand beängstigte sie, wiewohl es ihr nicht unerwartet war.
Als Ugo fort war, wollte Emilie in dem Wäldchen spatziren gehn; da sie aber hörte, daß sie ohne Bertrands Begleitung die Hütte nicht verlassen dürfte, zog sie sich in ihr Zimmer zurück, dessen Einsamkeit sie der Gesellschaft der Menschen unten im Hause vorzog. Sie aß auch oben und Maddelina durfte ihr aufwarten. Sie erfuhr aus dem unbefangenen Gespräch dieses Mädgens, daß der Bauer und seine Frau alte Bewohner dieser Hütte waren, die Montoni ihnen zur Belohnung für einen Dienst, den Marco, des alten Carlos Vetter, ihm vor mehrern Jahren geleistet, gekauft hatte. »Dies ist schon so viele Jahre her, Signora«, setzte Maddelina hinzu, »daß ich nichts mehr davon weiß, allein mein Vater muß wohl dem Signor einen sehr wichtigen Dienst geleistet haben: denn die Mutter hat oft gesagt, daß diese Hütte das wenigste war, womit er ihn belohnen konnte.«
Emilie hörte mit einer quälenden Aufmerksamkeit diese Erzählung an, die ein ungünstiges Licht auf Marcos Character zu werfen schien; denn sie konnte kaum zweifeln, daß der Dienst, den Montoni so belohnt hatte, sträflich gewesen sey; und wenn dem so war, so hatte sie nur zu viel Ursache zu glauben, daß man sie aus übler Absicht in seine Hände gegeben hatte. »Hast du niemals gehört, wie lange es her ist« — fragte Emilie, die an Signora Laurentinis Verschwinden aus dem Schlosse dachte, »daß dein Vater dem Signor den Dienst leistete, wovon du sprachst?«
»Es war kurz zuvor, ehe er hieher zog, Signora«, erwiederte Maddelina, »und das mögen nun achtzehn Jahre seyn.«
Dies war ohngefähr die Zeit, wo die Signora Laurentini verschwunden seyn sollte, und es fiel Emilien ein, daß Marco vielleicht dabei geholfen hätte, vielleicht gar zu einem Morde gebraucht worden sey. Dieser schreckliche Gedanke versetzte sie in so tiefes Nachdenken, daß Maddelina von ihr unbemerkt, das Zimmer verließ, und sie sich lange keines Gegenstandes um sie her, bewußt war. Endlich kamen ihr Thränen zu Hülfe; ihr Gemüth wurde ruhiger; sie hörte auf, vor Uebeln zu zittern, die vielleicht nie eintreten würden und gewann Fassung genug, ihre Gedanken von sich selbst abzuziehn. Sie erinnerte sich an die wenigen Bücher, die sie bei ihrer eiligen Abreise aus Udolpho eingepackt hatte, und setzte sich mit einem davon an ihr anmuthiges Fenster, wo ihre Augen oft vom Blatte weg auf die Landschaft wanderten, deren Schönheit ihre Seele allmählig in sanfte Melancholie wiegte.
Sie blieb allein bis gegen Abend und sah die Sonne den westlichen Himmel hinabsteigen, ihre ganze Pracht von Licht und Schatten auf die Berge werfen, und den fernen Ozean mit seinen steuernden Seegeln bestrahlen, indem sie in die Wellen sank. Jetzt, in der melancholischen Stunde der Dämmerung kehrten ihre sanftern Gedanken zu Valancourt hin; sie erinnerte sich aufs neue jedes Umstandes bei der mitternächtlichen Musik, wurde immer fester überzeugt, daß sie seine Stimme gehört hätte und sah mit Empfindungen des Schmerzes und einer wehmüthigen Sehnsucht nach jener dunkeln Wohnung zurück.
Erfrischt durch die kühle, balsamische Luft verweilte sie bis lange nach Sonnenuntergang im Fenster. Um nicht die rauhen Gesichter des Bauern und seiner Frau zu sehn, blieb sie ohne Abendessen, und weinte aufs neue über ihre unglückliche gefahrvolle Lage, bei deren Betrachtung der kleine Ueberrest ihrer Stärke ganz verschwand. Sie wünschte, von der schweren Bürde des Lebens entbunden zu seyn, die sie so lange niedergedrückt hatte, und flehte den Himmel an, sie aus Barmherzigkeit zu ihren Eltern zu nehmen.
Müde von Weinen legte sie sich endlich auf ihre Matratze nieder, und sank in Schlaf; bald aber wurde sie durch ein Klopfen an ihrer Kammerthüre aufgeweckt, und hörte sich bei Namen rufen. Bertrands Bild, mit dem Dolch in der Hand, erschien vor ihrer erschreckten Phantasie; sie öfnete weder die Thüre, noch antwortete sie, sondern horchte in tiefen Stillschweigen, bis die Stimme nochmal leise ihren Namen wiederholte. Sie fragte, wer da wäre? — »ich bin es, Signora« erwiederte die Stimme, die sie nun für Maddelina's erkannte, »wachen Sie doch auf. Erschrecken Sie nur nicht; ich bin es.«
»Und was bringt dich so spät hieher, Maddelina?« sagte Emilie. —
»Stille, Signora, ums Himmels willen stille; wenn man uns hörte, so würde es mir übel gehn. Mein Vater und Mutter und Bertrand sind alle zu Bette gegangen«, fuhr Maddelina fort, indem sie leise die Thüre zumachte, und näher schlich; »und ich habe Ihnen etwas zu essen gebracht, weil Sie nicht zu Tisch herunter gekommen sind. Hier sind einige Feigen und Trauben und ein halber Becher Wein.« Emilie dankte ihr, äusserte aber ihre Besorgnis, daß diese Güte ihr Dorinas Unwillen zuziehn würde, wenn sie merkte, daß die Früchte fort wären. »Nimm sie zürück, liebe Maddelina«, setzte sie hinzu, »es wird mir weniger leid thun, sie zu entbehren, als es mir leid thun würde, wenn dir deine Gutherzigkeit Verdruß zuzöge.«
»O Signora, das dürfen Sie nicht fürchten«, erwiederte Maddelina, »ich legte die Früchte von meiner eigenen Mahlzeit zurück, und es wird mich sehr betrüben, wenn Sie sie nicht annehmen wollen.« Emilie wurde durch diesen Beweis von Güte so sehr gerührt, daß sie nicht antworten konnte. Maddelina betrachtete sie stillschweigend; sie misdeutete die Ursache ihrer Thränen und suchte sie zu trösten. »Weinen Sie nicht so sehr, liebe Signora. Es ist wahr, meine Mutter ist zu Zeiten etwas schlimm, aber es geht bald vorüber, und so ziehn Sie sichs nicht so sehr zu Herzen. Sie schilt mich oft, aber ich habe gelernt, es stillschweigend zu ertragen, und wenn sie ausgescholten hat, schleiche ich mich in den Wald und vergesse alles, wenn ich mein Liedchen singen kann.«
Emilie lächelte durch ihre Thränen, nannte Maddelina ein gutes Mädchen und nahm ihr dargebrachtes an. Sie hätte gerne gewußt, ob Bertrand und Dorina von Montoni oder von seinen Absichten mit ihr gesprochen hätten, allein sie mochte das unschuldige Mädgen nicht zu der Niederträchtigkeit verführen, das geheime Gespräch ihrer Eltern zu verrathen. Als sie fortgieng, bat sie Emilie, so oft sie dürfte zu ihr herauf zu kommen, Maddelina versprach es und schlich sich leise in ihr Kämmerchen zurück.
Mehrere Tage verstrichen Emilien auf diese Art in ihrem Zimmer; sie sah Maddelina nur bei Tisch, und das sanfte Gesicht und Wesen dieses Mädgens war ihr ein süßerer Trost, als sie seit vielen Monden gekannt hatte. Es gefiel ihr immer mehr auf ihrem angenehmen umlaubten Zimmer, und sie fieng an, das Gefühl von Sicherheit darin zu schmecken, das uns an unsre Heimath zu binden pflegt. Ihre Seele, die durch keine neue Ursachen zur Unruhe geschreckt wurde, erlangte Heiterkeit genug wieder, um sich an ihren Büchern zu ergötzen, unter welchen sie einige unvollendete Entwürfe von Landschaften, einige weisse Bogen Papier, nebst ihrem Zeichengeräth fand. Sie war auf solche Art im Stande sich mit der Auswahl einiger angenehmer Aussichten ihres Fensters zu unterhalten und sie zu Scenen zu verbinden, welchen ihre geschmackvolle Phantasie eine erhöhte Anmuth gab. Sie pflegte in diese kleinen Skitzen interessante Gruppen zu mischen und stellte oft mit Genauigkeit eine einfache rührende Geschichte dar, wobei sie, wenn eine Thräne auf die Leiden fiel, die ihre Einbildungskraft in Gemählden entwarf, auf einen Augenblick ihren würklichen Kummer vergas. So brachte sie unschuldsvoll die schweren Stunden des Unglücks hin und erwartete mit sanfter Geduld die Begebenheiten der Zukunft.
Ein schöner Abend, der auf einen schwülen Tag folgte, bewegte Emilien endlich, spatzieren zu gehen, so unangenehm ihr auch Bertrands Begleitung war. Sie verließ mit Maddelinen die Hütte, und Bertrand, der ihnen nachfolgte, ließ sie ihren Weg wählen. Der Abend war kühl und still und sie konnte nicht ohne Entzücken die Gegend umher betrachten. Wie lieblich schien ihr das glänzende Blau, das die ganze obere Region der Luft färbte, und dann tiefer hinwelkend sich im Saffranglanz verlor. Emilie folgte dem Laufe des Stroms bis an die See, die den reinen Glanz der untergehenden Sonne zurückstrahlte, während die Klippen die über das Ufer ragten, in die letzten Strahlen getaucht waren. Ein hohes Gebürge schloß zur Rechten das Thal, dessen Gipfel mit einem verfallnen Thurm gekrönt war, der jetzt zur Warte diente; die zertrümmerten Zinnen und ausgebreiteten Schwingen der Seevögel, die umher schwirrten, wurden noch beleuchtet von den aufsteigenden Sonnenstrahlen, ohngeachtet ihre Scheibe schon unter den Horizont sank, während der erste Schatten der Dämmerung sich schon über den untern Theil der Ruinen, über die Klippe, worauf der Thurm stand und über die Wellen an seinem Fuße verbreitete.
Die See schien in ungestörter Ruhe zu schlummern; ihre Wellen, die murmelnd am Ufer erstarben, flossen mit der sanftesten Bewegung, während die glatte Fläche in gemilderter Schönheit den Rosenhauch des Westen zurückstralte. Emilie dachte, auf den Ozean hinblickend, an Frankreich und an vergangne Zeiten, und wünschte, o wie sehnsuchtsvoll und vergebens! daß seine Wellen sie nach ihrer fernen Heimath tragen möchten.
»Ach! Dieses Schiff«, sagte sie, »welches so stattlich mit seinen schlanken Seegeln dahin gleitet, geht vielleicht nach Frankreich! Glückliches, glückliches Fahrzeug!« — Sie sah mit warmer Empfindung darauf hin, bis das Grau der Dämmerung die Entfernung verdunkelte, und es vor ihrem Blick verschleierte. Das melancholische Geräusch der Wellen zu ihren Füßen nährte die Zärtlichkeit, die ihr Thränen entlockte; es war das einzige Geräusch, was sie hörte, bis ein Chor von Stimmen durch die Luft drang. Sie stand still, wünschte mehr zu hören, fürchtete aber bemerkt zu werden, und sah sich zum erstenmal nach ihrem Beschützer Bertrand um, der in kurzer Entfernung in Gesellschaft eines andern ihnen folgte. Durch diese Bemerkung aufgemuntert, gieng sie den Tönen näher, die hinter einer Klippe, die über das Ufer hervorragte, aufzusteigen schienen. Die Musik machte eine plötzliche Pause und gleich darauf sang eine weibliche Stimme eine Art von Gesang. Emilie beschleunigte ihre Schritte, und sah hinter dem Felsen zwei Gruppen von Bauern. Die eine saß unter dem Schatten, die andre stand am Rande der See um das Mädgen, das singend einen Blumenkranz in der Hand hielt, den sie ins Wasser werfen zu wollen schien.
Emilie hörte mit aufmerksamer Verwunderung ein Lied an die Nymphe des See, in einer reinen schönen Toscanischen Mundart gesungen und von einigen ländlichen Instrumenten begleitet. Die Herumstehenden wiederholten die letzten Worte, der Blumenkranz wurde ins Wasser geworfen und das Chor verstummte.
»Was bedeutet dies, Maddelina«, sagte Emilie, von dem süßen Taumel erwachend, worin die Musik sie gewiegt hatte. »Es ist heute Festabend«, erwiederte Maddelina, »wo die Bauern sich mit allerlei Zeitvertreiben zu belustigen pflegen.«
»Aber es war die Rede von einer Seenymphe. Was haben diese guten Leute mit Seenymphen zu thun?«
»O Signora«, versetzte Maddelina, die Emiliens Verwundrung unrecht verstand, »niemand glaubt an solche Dinge, aber unsre alten Lieder singen davon, und wenn wir fröhlich sind, bringen wir den Nymphen Lieder und werfen Kränze in die See.«
Emilien hatte frühzeitig gelernt, Florenz als den Sitz der Litteratur und schönen Künste zu verehren, allein es überraschte sie, und erregte ihre Bewundrung, daß der Geschmack an klassischer Geschichte sich bis auf die Bauern erstreckte. Das arkadische Ansehn der Mädgen zog zunächst ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie trugen einen kurzen Rock von hellgrüner Farbe, mit einer Borte von weisser Seide: die weiten Ermeln waren auf den Schultern mit Bändern und Blumen aufgebunden. Auch ihr Haar, das in Locken um den Nacken fiel, war mit Blumen durchflochten, und ein kleiner Strohhut, etwas hinterwärts und auf eine Seite gesetzt, gab der ganzen Gestalt ein muntres, schalkhaftes Ansehn. Nachdem das Lied zu Ende war, näherten sich verschiedne Mädgen Emilien, luden sie ein, sich zu ihnen zu setzen und boten ihr und Maddelinan, die sie kannten, Trauben und Feigen an.
Emilie nahm ihre Höflichkeit an, und fand Gefallen an der Anmuth und Grazie, die in ihrem Wesen herrschte und ihnen ganz natürlich zu seyn schien. Bertrand näherte sich bald darauf und wollte sie eilig wegführen, allein ein Bauer reichte ihm eine Flasche und foderte ihn auf zu trinken; eine Versuchung, der Bertrand selten widerstehn konnte.
»Laßt die jungen Frauenzimmer tanzen, mein Freund«, sagte der Bauer, »indeß wir die Flasche leeren. Sie wollen eben anfangen. Spielt lustig Bursche! rührt die Trommeln und Pfeifen.«
Sie spielten lustig auf und die jüngern Bauern stellten sich in einen Kreis, zu welchem Emilie sich gern gesellt haben würde, wenn ihre Kräfte ihrer Neigung gleich gewesen wären. Maddelina trippelte mit leichten Schritten und Emilie vergas ihr eignes Leiden, indem sie der Fröhlichkeit andrer zusah.
Bertrand befand sich so wohl bei seiner ersten Flasche, daß er sich gerne gefallen ließ, noch die zweite anzubrechen, und es war spät, ehe Emilie nicht ohne Besorgnis nach der Hütte zurückkehrte.
Nach diesem Abend gieng sie öfter mit Maddelinen aus, aber nie ohne Bertrands Begleitung, und ihre Seele wurde nach und nach so ruhig als ihre Lage es zuließ. Die Ruhe, worin man sie leben ließ, machte ihr Hofnung, daß man sie nicht aus übler Absicht hieher geschickt hätte, und hätte sie nicht den Gedanken gehegt, daß Valancourt vielleicht jetzt ein Einwohner des Schlosses wäre, so würde sie gewünscht haben, in dieser Hütte zu bleiben, bis sich eine Gelegenheit darböte, in ihr Vaterland zurückzukehren. Nur blieb ihr die Ursache, warum Montoni sie nach Toscanien geschickt hatte, ein Räthsel, sie konnte sich nicht einbilden, daß er diesen Schritt aus Rücksicht für sie gethan hätte.
Sie hatte schon eine ganze Zeit in der Hütte gelebt, ehe ihr einfiel, daß sie bey ihrer plötzlichen Abreise aus Udolpho die Papiere ihrer verstorbnen Tante vergessen hatte; allein sie suchte sich mit der Hofnung zu beruhigen, daß Montoni diese Papiere an dem finstern Orte, wo sie lagen, nicht finden würde.
Wir kehren nun auf einen Augenblick nach Venedig zurück, wo der Graf Morano unter gehäuften Unglück litt. Kurz nach seiner Ankunft in diese Stadt war er auf Befehl des Senats verhaftet worden, und sah sich ohne zu wissen, weswegen man ihn in Verhaft hatte, an einen Ort gebracht, wo die ämsigsten Nachforschungen seiner Freunde ihn nicht ausfinden konnten. Er konnte den Feind, der ihn in dies Unglück gestürzt hatte, nicht errathen, wenn es nicht Montoni war. Auf diesen fiel sein Verdacht nicht nur mit Wahrscheinlichkeit, sondern mit Recht.
Montoni hatte bei Gelegenheit des vergifteten Bechers den Grafen in Verdacht gezogen; da er aber den nothwendigen Beweis nicht herbeischaffen konnte, so nahm er seine Zuflucht zu andern Mitteln der Rache. Er ließ durch eine Person, auf die er sich verlassen zu können glaubte, einen Anklagebrief in die Denunzie secrete, oder Löwen Rachen werfen, die in einer Gallerie von des Dogen Pallaste als Aufbehältnis für anonyme Anklagen gegen Uebelgesinnte angebracht sind. Da bei solchen Gelegenheiten der Ankläger nie mit dem Angeklagten confrontirt wird, so kann man ohne Strafe oder Entdeckung zu fürchten seinen Feind fälschlich anklagen und eine ungerechte Rache befriedigen. Daß Montoni zu einem so teuflischen Mittel seine Zuflucht nahm, um einen Mann zu Grunde zu richten, den er in Verdacht hatte, ihm nach dem Leben getrachtet zu haben, kann nicht befremdend seyn. Er beschuldigte den Grafen in dem Briefe, den er zum Werkzeuge seiner Rache brauchte, übler Absichten gegen den Staat, die er mit aller möglichen Glaubhaftigkeit darzustellen wußte. Der Senat, bei dem damals ein Verdacht beinahe für Beweis galt, verhaftete den Grafen auf diese Anklage und warf ihn, ohne ihm nur einen Wink wegen seines Verbrechens zu geben, in eines der geheimen Gefängnisse, die das Schrecken der Venetianer waren, und in welchen oft Menschen schmachteten und starben, ohne von ihren Freunden entdeckt zu werden.
Morano hatte mehrere Mitglieder des Senats persönlich beleidigt; einigen hatte seine Lebensart, andern wieder sein Ehrgeitz ihn verhaßt gemacht; und es war nicht zu erwarten, daß Nachsicht die Strenge eines Gesetzes mildern sollte, wovon nur seine Feinde dispensiren konnten.
Montoni war indessen Gefahren von anderer Art ausgesetzt. Sein Schloß war von Truppen belagert, die um den Sieg zu erlangen, alles wagen zu wollen schienen. Die Festung aber war ihrem Angrif zu stark, und die tapfre Vertheidigung der Besatzung sowohl als die kärgliche Nahrung in diesen wilden Gebürgen setzte sie bald in die Nothwendigkeit, die Belagerung aufzuheben.
So bald Montoni sich wieder im ruhigen Besitz von Udolpho sah, schickte er Ugo nach Toscanien, um Emilien zu holen, die er in dieser Hütte sichrer geglaubt hatte, als in einem Schlosse, das damals in Gefahr stand, vom Feinde eingenommen zu werden. So wie es auf Udolpho wieder ruhig war, wünschte er, sie wieder unter seinem Schutze zu sehn, und gab Ugo den Auftrag, sie mit Bertrand zurück zu bringen. Emilie sagte der guten Maddelina ungern Lebewohl und sah sich nach einem vierzehntägigen Aufenthalt in Toscanien — wo sie eine Zwischenzeit der Ruhe genossen hatte, die ihr durchaus nothwendig war, um ihre lange gequälten Lebensgeister aufrecht zu halten, noch einmal auf den Apenninen, von deren Höhe sie einen langen traurigen Scheideblick aus das schöne Land warf, das sich zu ihren Füßen hinstreckte.
Sie verließen gegen Mittag die Hütte, und es war schon lange Abend, ehe sie die Gegend von Udolpho erreichten. Es war Mondschein, aber er ließ sich nur zu Zeiten sehn, denn der Himmel war unwölket, und sie ritten bei dem Scheine der Fackel, die Ugo trug, schweigend fort. Emilie dachte über ihre Lage nach und Bertrand und Ugo genossen im voraus die Annehmlichkeit einer Flasche Weins und eines guten Feuers, denn sie hatten seit einiger Zeit die Verschiedenheit zwischen den warmen Himmelsstrich von Toscanien und der scharfen Luft dieser höhern Regionen empfunden. Emilie wurde endlich durch den fernen Klang der Schloßglocke die sie nicht ohne einen gewissen Schauder hörte, aus ihrer Träumerei geweckt. Noch ein Schlag und noch einer folgte, und starb in dumpfen Nachhall zwischen den Gebürgen. Ihrer trauernden Einbildungskraft kam es als das Schlagen einer Todtenglocke vor, die eine wichtige Periode für sie abmaas.
Sie ritten das Thal hinab, und bald sah sie die alten Mauern und vom Monde beleuchteten Thürme über den Wald hervorragen. Hofnung und Schrecken stritten in ihrem Herzen: es war Montonis Aufenthalt, allein vielleicht umschlos er auch Valancourt; und sie konnte sich diesen Gedanken nicht denken; ohne daß Freude und Hofnung in ihrem Herzen auflebten.
Die Schloßglocke schlug zwölfe, und es erscholl eine Trompete. »Was bedeutet diese Trompete«, fragte Emilie, »das ist eine neue Gewohnheit.« — »Es ist nur eine alte, Fräulein, die wir wieder eingeführt haben; man bedient sich ihrer immer in Kriegszeiten. Wir haben sie seit der Belagerung alle Nacht erschallen lassen.«
Sie waren nun ans Thor gekommen, wo Bertrand ein Licht durch ein kleines Fenster schimmern sah. Er rief laut und der Soldat der heraus sah, fragte, wer da! »Ich bringe euch hier einen Gefangnen«, sagte Ugo, »macht das Thor auf und laßt uns herein.«
»Hah! seyd ihr es«, rief der Soldat! — »Ich werde sogleich bey euch seyn.« Emilie hörte ihn die Treppen herunter kommen und die schwere Kette fallen, er riegelte eine kleine Thüre auf und hielt die Lampe niedrig um ihnen den Weg nach dem Thore zu zeigen: sie sah sich noch einmal unter dem dunkeln Bogen und hörte die Thüre zumachen, die sie auf immer von der Welt abzuschließen schien. Sie waren nun über den zweiten Hof gegangen und erreichten die Thüre der Halle, als der Soldat ihnen gute Nacht wünschte, und zu seinem Posten zurückeilte. Emilie überlegte bei sich, wie sie wohl Montoni zu sehn, vermeiden und sich unbemerkt in ihr altes Zimmer schleichen könnte, denn sie schauderte vor dem Gedanken, ihn oder jemand von seiner Parthey um diese Stunde zu treffen. Es war ein solcher Lärm im Schlosse, daß Ugo einigemal an die Thüre der Halle klopfte, ohne gehört zu werden.
Endlich erschien Carlo; Emilie bat ihn, ihr sogleich Annetten mit einem Lichte auf die große Gallerie zu schicken, wo sie auf sie warten wollte, und gieng dann mit eiligen Schritten nach der Wendeltreppe zu, während Bertrand und Ugo, die mit Ungeduld nach einem Abendessen und einem warmen Kaminfeuer verlangten, mit der Fackel dem alten Carlo in das Bedientenzimmer folgten. Emilie suchte bei dem schwachen Strahl, der von der oben hängenden Lampe auf die Bogengänge dieses großen Saals herabfiel, ihren Weg nach der Wendeltreppe zu finden. Einmal schien es ihr, als wenn sie einen tiefen Ton aus dem dunkeln Gange hinter ihr hörte; sie drehte sich um und glaubte etwas glänzendes sich bewegen zu sehn; es war in diesem Augenblicke unmöglich sich von ihrer Furcht loszumachen, und sie schlich leise einige Stuffen weiter herunter.
Da Annette noch nicht erschien, glaubte Emilie, daß sie zu Bette gegangen wäre, und daß niemand sie aufwecken wollte: die Aussicht, die sie nun vor sich hatte, die Nacht im dunkeln an diesem oder einem andern eben so verwaisten Orte zuzubringen, denn sie wußte, daß es unmöglich war, sich im Dunkeln durch alle die Winkelgänge nach ihrem Zimmer zu finden, preßte ihr Thränen aus.
Indem sie so da sas, glaubte sie aufs neue einen seltsamen Ton aus der Gallerie zu hören; sie horchte und wagte kaum zu athmen, allein das immer stärker werdende Geräusch von unten verschlang jeden andern Laut. Bald darauf hörte sie Montoni und seine Gefährten in den Saal stürzen; sie schienen sehr betrunken zu seyn und ihren Schritt nach der Wendeltreppe zu richten. Es fiel ihr nun ein, daß sie diesen Weg nehmen mußten; sie vergas alle Schrecknisse der Gallerie, stürzte eilig hinein, um sich in einen Winkel zu verbergen, bis die Herren fort seyn würden.
Sie tappte mit ausgestreckten Händen in dem Gange hin, und hörte noch immer die Stimmen von Personen, die unten an der Treppe im Gespräch zu seyn schienen. »Ach!« sagte sie zu sich selbst, »sie wissen bereits um meine Ankunft und Montoni ist selbst gekommen, mich aufzusuchen. In dem Zustande worin er jetzt ist, kann er nur eine entsetzliche Absicht haben.« Sie erinnerte sich an den Auftritt im Corridor, am Abend vor ihrer Abreise aus dem Schlosse. »O Valancourt!« rief sie, »ich muß dich also für immer aufgeben. Montonis Ungerechtigkeit noch länger Trotz zu bieten, würde nicht Stärke sondern Unbesonnenheit seyn!« Die Stimmen unten wurden immer lauter: sie unterschied Verazzi und Bartolini unter den übrigen, allein die wenigen Worte die sie auffieng, machten sie nur noch ängstlicher. Das Gespräch schien sie selbst anzugehn; sie horchte und fand, daß man über sie stritt; jeder schien auf ein vorhergegangenes Versprechen von Montoni zu pochen, der anfangs sie beruhigen und überreden zu wollen schien, zu ihrem Wein zurückzukehren. Endlich wurde er des Streits müde, sagte ihnen, sie müsten sich vergleichen, so gut sie könnten und wollte mit den übrigen wieder in das Zimmer, das sie verlassen hatten, zurückgehen. Verazzi hielt ihn auf: »wo ist sie, Signor«, rief er ungeduldig — »sagen sie uns, wo sie ist.« »Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich es nicht weiß«, erwiederte Montoni, der etwas betrunken zu seyn schien; »wahrscheinlich ist sie in ihr Zimmer gegangen« — Verazzi und Bartolini ließen nun von ihren Fragen ab, und liefen mit einander nach der Wendeltreppe, während Emilie, die bei ihrem Gespräch so stark gezittert hatte, daß sie sich kaum aufrecht halten konnte, mit neuen Kräften begeistert schien, so wie sie ihre Schritte hörte. Sie lief mit der Schnelligkeit eines Rehes durch die dunkle Gallerie; aber ehe sie noch das Ende erreicht hatte, sah sie schon das Licht welches Bartolini trug, an der Wand flammen. Beide erschienen und verfolgten sogleich Emilien. In diesem Augenblick strauchelte Bartolini, den seine Ungeduld unvorsichtig machte, und fiel der Länge nach hin. Die Lampe fiel mit hin, und verlosch sogleich; Verazzi ohne sich um die Lampe zu bekümmern, bediente sich dieses Vortheils, den ihm der Zufall über seinen Nebenbuhler gab, und folgte Emilien; dieser aber hatte das Licht einen von den Seitengängen der Gallerie gezeigt, und sie eilte sogleich hinein. Verazzi konnte nur eben den Weg, den sie genommen hatte, erkennen, und folgte ihr nach; allein der Laut ihrer Tritte verschwand bald in der Ferne; da er weniger in diesen Gängen bekannt war, mußte er sehr behutsam gehen, um nicht eine von den Treppen herunter zu fallen, die in den Gängen dieses alten Schlosses so häufig waren. Dieser Seitengang führte Emilien endlich in den Corridor, der an ihr Zimmer sties, und da sie keinen Fußtritt mehr hinter sich hörte, stand sie still, um Athem zu schöpfen, und zu überlegen, was sie thun sollte; Sie hatte diesen Weg nur genommen, weil es der erste war, der ihr in die Augen fiel, und nun sie das Ende erreicht hatte, war sie eben so verlegen, als zuvor. Sie wußte nicht wohin sie gehn, oder wie sie ihren Weg im dunkeln weiter finden sollte; nur das sah sie ein, daß sie nicht in ihr Zimmer gehn durfte, weil man sie da gewis zuerst suchen würde, und ihre Gefahr wurde mit jedem Augenblick größer, da sie in der Nähe desselben verweilte. Doch war sie so sehr erschöpft und athemlos, daß sie einige Minuten stehn bleiben mußte. Indem sie so da stand, sah sie ein Licht durch eine Thüre an der Gallerie schimmern, und errieth aus der Lage, daß es die Thüre zu dem geheimnisvollen Zimmer war, wo sie die Entdeckung gemacht hatte, deren sie sich noch immer nicht ohne Entsetzen erinnerte. Es befremdete sie sehr, in diesem Zimmer und um diese Stunde ein Licht zu sehn, und sie fühlte ein plötzliches Entsetzen, das ihr nicht zuließ, ihre Augen wieder dahin zu richten. Sie erwartete beinahe, die Thüre langsam öfnen und einen schrecklichen Gegenstand erscheinen zu sehn. Längs dem Gange war nichts zu sehn und zu hören, und sie vermutete, daß Verazzi zurückgegangen wäre, um Licht zu holen. Er mußte in kurzem wieder kommen, und sie überlegte von neuem, welchen Weg sie nehmen oder vielmehr, welchen Weg sie im Dunkeln finden könnte.
Ein schwacher Strahl schimmerte noch immer durch die Thüre, aber ihr Graußen vor jenem Zimmer war so groß, daß sie nicht über sich vermogt haben würde, sich in seine Geheimnisse zu wagen, wenn sie auch versichert gewesen wäre, ein Licht darin zu finden. Sie holte noch immer schwer Athem und stand an die Wand gelehnt, als sie eine Stimme ganz nahe hörte. Sie hatte Gegenwart des Geistes genug, an sich zu halten und erkannte im nächsten Augenblick daß es Verazzis Stimme war, der mit sich selbst zu sprechen schien, ohne zu wissen, daß sie da wäre. »Die Luft ist frischer hier«, sagte er, »dies muß der Corridor seyn.« Vielleicht gehörte er zu den Helden, die muthiger einem Feinde als der Dunkelheit entgegen gehn, und suchte seinen Muth durch den Ton seiner eignen Stimme zu stärken. Genug, er wandte sich zur Rechten und schlich vorsichtig nach Emiliens Zimmer; er schien zu vergessen, daß sie im Finstern selbst in ihrem Zimmer ihm leicht ausweichen konnte, und blieb wie ein Betrunkner, hartnäckig auf der Idee, die sich einmal seiner Einbildungskraft bemeistert hatte.
Sobald sie ihn fortgehen hörte, verließ sie ihren Platz und schlich leise nach dem andern Ende des Ganges, entschlossen, sich dem Zufall zu überlassen, und den ersten Ausgang den sie finden könnte, zu nehmen; allein ehe sie noch dazu kam, fiel ein Licht auf die Wand der Gallerie, und sie sah Verazzi nach ihrem Zimmer vorüber gehn. Sie machte sich geschwind in einen Gang zur linken, ohne wie sie glaubte bemerkt zu werden, gleich nachher aber schimmerte ein anderes Licht am fernern Ende des Gangs und setzte sie in neues Schrecken. Unschlüssig was sie machen sollte, erblickte sie zu ihrer großen Freude Annetten, und eilte ihr entgegen: allein ihre Unvorsichtigkeit beunruhigte Emilien aufs neue — so bald sie ihre Herrschaft erblickte, sties sie ein Freudengeschrei aus, und es vergiengen einige Minuten, ehe sie dahin gebracht werden konnte, zu schweigen, oder Emilien loszulassen, die sie feurig in ihre Arme schloß. Als es Emilien endlich gelang ihr ihre Gefahr begreiflich zu machen, eilten sie nach Annettens Zimmer, das in einem andern Flügel des Schlosses lag. Keine Furcht konnte indessen Annetten zum Schweigen bringen. »O theures Fräulein«, rief sie, »was habe ich unterdes ausgestanden! ich glaubte, ich würde sie in meinem Leben nicht wieder sehn!« »Still«, sagte Emilie, die wieder ein Geräusch zu hören glaubte, »um Gottes willen sey stille, bis wir in deinem Zimmer sind.« Sie erreichten es endlich; Annette verriegelte die Thüre, und erzählte nun Emilien, die sich aufs Bette gesetzt hatte, nach ihrer langweiligen Art alles was indessen vorgegangen war. Indem sich Emilie auf die Matratze niederlegen wollte, glaubte sie wieder ein Geräusch auf dem Gange zu hören. Annette suchte sie zu überreden, daß es nur der Wind wäre, als sie deutlich Fußtritte an der Thüre unterschieden. Annette sprang auf, allein Emilien bat sie dringend, zu bleiben und horchte in ängstlicher Erwartung — endlich rief es Annetten bei Namen, — »heilige Jungfrau«, rief sie, »es ist Ludovico!« — Sie stand auf um die Thüre zu öfnen, allein Emilie hielt sie zurück, bis sie gewiß seyn würde, ob er allein wäre. Endlich sprach Annette durch die Thüre mit ihm, und hörte, daß er gekommen wäre, um nach ihr zu sehn, und sie wieder einzuschließen. Emilie fürchtete gehört zu werden, wenn sie länger durch die Thüre spräche; sie ließ Annetten aufmachen und sah einen jungen Mann hereintreten, dessen ofne Gesichtsbildung die günstige Meinung bestätigte, die seine Sorgfalt für Annetten ihr bereits beigebracht hatte. Sie bat ihn um seinen Schutz, wofern Verazzi dies nöthig machen sollte, und Ludovico erbot sich die Nacht in einem alten Zimmer, nicht weit von dem ihrigen, zuzubringen und sobald es nöthig wäre, ihr zu Hülfe zu kommen.
Emilie wurde durch dieses Anerbieten sehr beruhigt, und Ludovico gieng auf seinen Posten, während sie noch einmal auf ihrem Lager zu ruhen versuchte. Allein ein Heer von Vorstellungen drang auf sie ein, und verscheuchte den Schlaf.
Den andern Morgen hatte Emilie ein langes Gespräch mit Ludovico; sie erfuhr verschiedne Umstände wegen des Schlosses und erhielt Winke von Montonis Absichten, die ihre Unruhe sehr vermehrten. Sie äusserte Ludovico ihre Verwunderung, daß er selbst im Schlosse bliebe, da er doch die Gefahr seiner Lage einzusehn schien, und er antwortete, daß es auch nicht seine Absicht wäre, noch lange zu verweilen. Sie wagte hierauf ihn zu fragen, ob er ihr nicht zur Flucht aus dem Schlosse behülflich sehn könnte. Er versicherte sie seiner Bereitwilligkeit, stellte ihr aber die Schwierigkeit des Unternehmens und ihre Gefahr vor, wenn Montoni sie einholte, ehe sie über die Berge wären. Doch versprach er, aufmerksam auf jeden Umstand zu seyn, und auf einen Plan zu denken.
Emilie vertraute ihm nun Valancourts Namen an, und trug ihm auf, sich zu erkundigen, ob sich ein Gefangner dieses Namens im Schlosse befände. Kaum war er fort, als Montoni, der sich nun von dem Rausch der vergangnen Nacht erholt hatte, sie rufen ließ. Sie gieng sogleich zu ihm und fand ihn allein. »Sie sind die vergangne Nacht nicht in ihrem Zimmer gewesen«, sagte er, »wo waren Sie denn?« Emilie sagte ihm die Ursache und bat ihn, sie in Zukunft vor ähnlichen Auftritten zu schützen. »Sie kennen die Bedingungen meines Schutzes«, sagte er, »wenn Ihnen würklich daran liegt, so werden Sie ihn sich zu erhalten wissen.«
Diese ofne Erklärung, daß er sie nur unter gewissen Bedingungen beschützen wollte, während sie als Gefangne im Schlosse bliebe, ließ Emilien fühlen, wie nothwendig es war, ihm unverzüglich zu willfahren: doch fragte sie erst, ob er sie ohne Aufschub wollte abreisen lassen, wenn sie ihre Ansprüche auf die Güter fahren ließe. Er versprach es aufs feierlichste und legte ihr sogleich ein Papier zur Unterschrift vor.
Sie war eine Zeitlang unvermögend zu unterschreiben; ihr Herz wurde von kämpfenden Regungen zerrissen, denn sie war im Begrif das ganze Glück ihrer Zukunft aufzugeben — die Hofnung hinzugeben, die sie in so vielen Stunden der Widerwärtigkeit aufrecht gehalten hatte.
Montoni wiederholte sein Versprechen, sagte, daß seine Zeit edel wäre, und — sie unterschrieb. Sobald es geschehn war, fiel sie in ihren Stuhl zurück, erholte sich aber bald, und bat ihn, die nöthigen Befehle zu ihrer Abreise zu geben, und ihr Annettens Begleitung zu erlauben. Montoni lächelte. »Sie sollen reisen, aber es braucht nicht jetzt gleich zu geschehn. Erst muß ich im Besitz der Güter seyn, dann mögen Sie in Gottes Namen nach Frankreich zurückgehn.«
Die überlegte Niederträchtigkeit, womit er sein feierliches Versprechen brach, traf Emilien eben so empfindlich, als die Ueberzeugung, daß sie ein fruchtloses Opfer gebracht hatte. Sie fand keine Worte, um auszudrücken, was sie fühlte, und wußte auch, daß es vergebens seyn würde. Sie sah Montoni verächtlich an; er drehte sich um und bat sie, sich in ihr Zimmer zu begeben; allein sie sank kraftlos in einen Stuhl und seufzte, ohne Worte oder Thränen zu finden.
»Warum hängen Sie diesem kindischen Schmerz nach?« sagte er. »Suchen Sie sich zu fassen und geduldig zu ertragen, was nicht zu ändern ist: Sie haben kein wirkliches Uebel zu beklagen; seyn Sie geduldig; Sie werden schon nach Frankreich kommen. Jetzt aber gehn Sie auf ihr Zimmer.«
»Ich getraue mir nicht an einen Ort zu gehn«, sagte sie, »wo ich vor einem Ueberfall des Signor Varezzi nicht sicher bin.« »Habe ich nicht versprochen, Sie zu schützen?«, sagte Montoni. — »Freilich haben Sie es versprochen«, erwiederte Emilie stockend. — »Und ist mein Versprechen nicht genug«, setzte er finster hinzu. — »Wenn Sie sich an Ihr voriges Versprechen erinnern, Signor!« sagte Emilie zitternd, »so werden Sie selbst bestimmen, ob ich mich auf dieses verlassen kann.« »Wollen Sie mich also dahin bringen zu erklären, daß ich Sie nicht beschützen will?« sagte Montoni mit stolzem Unwillen. »Wenn Sie das befriedigen kann, so will ich sogleich Ihnen willfahren. — Gehn Sie auf Ihr Zimmer, ehe ich mein Versprechen zurücknehme: Sie brauchen dort nichts zu fürchten.«
Emilie verließ das Zimmer und gieng langsam in den Vorsaal. Hier beflügelte die Furcht, Varezzi oder Bertolini zu treffen, ihre Schritte, und sie erreichte, so schwach sie auch war, noch einmal ihr Zimmer. Nachdem sie sich furchtsam umgesehn hatte, verriegelte sie die Thüre und setzte sich ans Fenster. Sie suchte sich zu überreden, daß Montoni würklich die Absicht hätte, sie nach Frankreich zurück zu schicken, sobald er ihr Vermögen gesichert haben würde; doch setzte sie ihre vorzüglichste Hofnung auf Ludovico, dem sie zutraute, daß er sich ihrer Sache eifrig annehmen würde, so wenig er sich auch von dem Ausgange zu versprechen schien. Eins aber freute sie. Sie war mehrmals im Begrif gewesen, Valancourts zu erwähnen, und seine Befreiung, wenn er würklich hier gefangen wäre, zur Bedingung ihrer Unterschrift zu machen. Hätte sie es gethan, so würde Montoni ihn wahrscheinlich mit neuer Härte behandelt, und um sichrer zu seyn, ihn lebenslang in Gefangenschaft behalten haben.
So verstrich der traurige Tag, wie sie schon mehrere zugebracht hatte. Als die Nacht heran kam, würde sie sich nach Annettens Zimmer begeben haben, wenn nicht ein besondres Gefühl sie trotz ihrer Furcht in diesem Zimmer zurückgehalten hätte. — Die Nacht war stürmisch. Die Zinnen des Schlosses schienen im Winde zu wanken, und dumpfe Töne, die oft das schwermüthige Herz in Gewittern und unter Scenen der Verheerung täuschen, schienen durch die Luft zu dringen. Emilie hörte, wie sonst, die Schildwache auf ihren Posten gehn; sie sah aus dem Fenster und bemerkte, daß die Wache verdoppelt war; eine Vorsicht, die ihr nothwendig genug schien, wenn sie den verfallnen Zustand der Wälle betrachtete. Die wohl bekannten Schritte der Soldaten, der Ton ihrer fernen Stimmen, die mit dem Winde kamen und wieder verschwanden, riefen ihr die Empfindungen zurück, womit sie vormals diese Töne hörte, und veranlaßten eine Vergleichung zwischen ihrer gegenwärtigen und vergangnen Lage. — Sie suchte die Thüre der Wendeltreppe wie gewöhnlich mit Möbeln aus dem Zimmer zu verwahren; allein diese kleine Verschanzung schien ihr jetzt nicht hinlänglich gegen Verazzi, und sie betrachtete mehrmals einen großen, schweren Kasten der in einer Ecke stand, mit dem Wunsche, daß sie und Annette stark genug seyn möchten, ihn fortzurücken. Unwillig, daß das Mädgen so lange ausblieb, schürte sie ihr Caminfeuer an, um das Zimmer etwas freundlicher zu machen, und setzte sich mit einem Buche nieder, das ihre Augen durchliefen, während ihre Gedanken sich mit Valancourt und mit ihrem eignen Unglück beschäftigten. Indem sie so da sas, glaubte sie in einer Pause des Windes Musik zu hören; sie eilte ans Fenster, aber das Brausen des Windes unterdrückte jeden andern Laut. Als der Wind sich legte, unterschied sie in der tiefen Stille, die darauf folgte, deutlich die süße Berührung einer Laute. Zitternd vor Hofnung und Furcht bog sie sich heraus — in den Zimmern herrschte eine athemlose Stille, die sie von unten die zärtlichen Töne der Laute vernehmen ließ, die sie schon vormals gehört hatte, und mit ihnen eine klagende Stimme, die aber bald im Winde verschwand, der so heftig blies, daß er die Bäume bis zu den Wurzeln herab bog. Emilie horchte in ängstlicher Erwartung und wiederum erschollen die Töne der Laute und dieselbe feierlich athmende Stimme. Ueberzeugt, daß diese Töne aus einem Zimmer unter der Erde kommen müßten, lehnte sie sich heraus, um zu sehn, ob Licht da wäre, allein die Fenster lagen so tief in den dicken Mauern des Schlosses, daß sie nicht einmal den schwachen Strahl sehn konnte, der wahrscheinlich durch die Gitter schimmerte. Sie wagte zu rufen, allein der Wind trug ihre Stimme an das andere Ende der Terrasse und gleich darauf hörte sie wieder die Musik in einer Pause des Sturms. Plötzlich glaubte sie ein Geräusch in ihrer Kammer zu vernehmen; sie zog sich in die Ecke des Fensters zurück, da sie aber gleich darauf Annettens Stimme an der Thüre hörte, vermuthete sie, daß es diese gewesen wäre und ließ sie herein. »Komm leise zu mir ans Fenster, Annette«, sagte sie »und höre; die Musik ist wieder da.« Sie lauschten still, bis die Melodie sich veränderte. »Heilige Mutter«, rief Annette, »das Lied kenne ich nur zu gut! es ist eine französische Arie, eins von den Lieblingsliedern meines Landes. O es ist ein Franzose, der da singt, es kann kein andrer als Herr Valancourt seyn.« — »Still Annette, sprich nicht so laut — man könnte uns hören«, sagte Emilie. »Wer sollte es hören, doch nicht der Chevalier?« erwiederte Annette. »Ach nein!« erwiederte Emilie traurig, »der wohl nicht, aber doch sonst jemand, der uns dem Signor verrathen könnte. Aber warum glaubst du Annette, daß es Valancourt ist? Horch! Die Stimme wird lauter — erinnerst du dich dieser Töne? ich wage nicht, meinem eignen Urtheil zu trauen.« »Ich habe den Chevalier niemals singen hören«, antwortete Annette, die (wie Emilie mit großem Misvergnügen merkte,) keine bessern Gründe hatte, zu glauben, daß es Valancourt sey, als daß der Musikus ein Franzos seyn müsse. Bald darauf hörte sie das Lied aus dem Fischerhäuschem und vernahm ihren eignen Namen, der so deutlich wiederholt wurde, daß auch Annette ihn verstand. Sie zitterte, sank in einen Stuhl am Fenster, und Annette rief laut. »Herr Valancourt! Herr Valancourt!« — Emilie suchte sie zum Schweigen zu bringen, allein sie rief lauter als zuvor, und Stimme und Instrument verstummten plötzlich. Emilie horchte eine Zeitlang in ängstlicher Ungewißheit, aber es kam keine Antwort. »Das hat nichts zu bedeuten, Fräulein«, erwiederte Annette, »es ist der Chevalier und ich will mit ihm sprechen.« »Nicht doch«, sagte Emilie; »ich will selbst mit ihm sprechen; wenn er es ist, so wird er meine Stimme erkennen und beantworten.« »Wer ist derjenige«, sagte sie, »der um diese späte Stunde singt?«
Es erfolgte ein langes Stillschweigen; sie wiederholte die Frage und vernahm einige schwache Töne, die sich in den Sturmwind mischten, allein die Töne waren so fern und verstrichen so plötzlich, daß sie kaum den Schall hören, geschweige denn die Worte unterscheiden, oder die Stimme erkennen konnte. Nach einem Weilchen rief Emilie wieder und hörte wieder eine Stimme, aber eben so schwach als zuvor: Die Tiefe der Fenster trug mehr als die Entfernung bei, das Verstehen der Worte zu verhindern, wenn man gleich den Ton im Allgemeinen vernahm. Doch schloß Emilie aus dem Umstande, daß die Stimme nur ihr allein geantwortet hatte, es müsse Valancourt seyn und er müsse sie kennen — sie überließ sich einer gränzenlosen Freude. Annette blieb nicht stumm. Sie erneute ihr Rufen; erhielt aber keine Antwort, und da Emilie fürchtete, daß sie sich der Gefahr von der Wache gehört zu werden, aussetzen könnten, ohne Befriedigung ihres Forschens zu erhalten, so bestand sie darauf, daß Annette alles weitere Untersuchen für diese Nacht einstellen sollte. Sie selbst aber nahm sich vor, Ludovico den andern Morgen dringender als bisher zu befragen. Sie war nun im Stande ihm zu sagen, daß der Fremde noch würklich im Schlosse wäre und ihm die Gegend, wo er eingesperrt war, zu bezeichnen.
Emilie verweilte mit Annetten noch eine Zeitlang am Fenster, allein alles blieb still; sie hörten weder Laute noch Stimme, Emilie fühlte sich nun eben so überwältigt von unruhiger Freude als zuvor durch das Gefühl ihres Unglücks. Sie lief mit hastigen Schritten im Zimmer auf und ab, nannte bald Valancourts Namen, bald stand sie wieder still, trat ans Fenster und horchte, hörte aber nichts als das feierliche Rauschen der Wälder. Endlich fiel ihr Signor Verazzi ein, und sie ängstigte sich aufs neue, daß er durch die Wendeltreppenthüre hereinkommen möchte. Sie hatte bis diesen Augenblick vergessen, daß ein solcher Mensch in der Welt war, und daß noch irgend eine Gefahr ihr drohen könnte; jetzt aber erwachte ihre Unruhe; sie erinnerte sich an den alten Kasten, womit sie die Thüre verrammeln wollte, allein er war so schwer, daß sie beide ihn nicht aufheben konnten. »Was kann wohl so schweres in diesem alten Kasten seyn?«, sagte Annette. Emilie antwortete ihr, daß sie ihn vorgefunden und nie untersucht hätte, was darin seyn möchte. »So will ich es untersuchen, Fräulein«, sagte Annette, und versuchte den Deckel aufzumachen; allein er war durch ein Schloß befestigt, wozu sie keinen Schlüssel hatte, und sie mußte von dem Versuch abstehn. Der Morgen schimmerte jetzt durch die Fenster und der Wind hatte sich gelegt. Emilie sah heraus auf die dunkeln Wälder und hervordämmernden Berge — die ganze Gegend lag in tiefer Stille nach dem Sturm; die Wälder standen ruhig da, und die Wolken, durch welche die Dämmerung zitterte, schienen sich kaum am Himmel zu bewegen. Ein Soldat gieng die Terrasse auf und ab, und zwei andre waren von der Nachtwache ermüdet, in Schlaf auf die Mauern gesunken. Nachdem sie noch ein Weilchen den Duft der Kräuter, der nach dem Regen aufstieg und die reine Luft eingeathmet hatte, machte sie endlich das Fenster zu, und legte sich zur Ruhe.
Verschiedene Tage verstrichen in Ungewißheit, denn Ludovico konnte nur soviel von den Soldaten herausbringen, daß ein Gefangner sich in dem von Emilien bezeichneten Zimmer befände, und daß er ein Franzoß sey, den sie in einem Scharmützel mit einer Parthey von seinen Landsleuten gefangen hätten. Emilie blieb in dieser Zeit wenigstens vor Bertolinis und Verazzis Verfolgungen dadurch gesichert, daß sie sich in ihrem Zimmer hielt; nur des Abends wagte sie sich zu Zeiten in den anstoßenden Corridor. Montoni schien sein letztes Versprechen in Ehren zu halten, ohngeachtet er das erste verletzt hatte: denn nur seinem Schutze konnte sie es zuschreiben, daß man sie nicht beunruhigte. Sie fühlte sich in diesem Schutze so sicher, daß sie das Schloß nicht zu verlassen wünschte, ehe sie einige Gewißheit über Valancourt erhalten hätte. Sie opferte auch eigentlich nichts dabei auf, da unterdessen ein Umstand eingetreten war, der ihre Flucht hätte beschleunigen können.
Am vierten Tage gab ihr Ludovico Nachricht, daß er Hofnung hätte, zu dem Gefangnen zu kommen; denn es hätte gerade ein Soldat die Wache, den er sehr gut kennte. Er wurde in seiner Erwartung nicht betrogen; es gelang ihm, unter dem Vorwande, einen Krug Wasser zu tragen, ins Gefängniß zu kommen, obgleich seine Klugheit, die ihn abgehalten hatte, der Schildwache den wahren Bewegungsgrund seines Besuchs zu sagen, ihn in die Nothwendigkeit setzte, sein Gespräch mit dem Gefangnen sehr abzukürzen.
Emilie erwartete seinen Bericht mit Ungeduld. Er hatte versprochen, Annetten in den Corridor zu begleiten, und erschien würklich, nachdem Emilie einige Stunden mit zitterndem Verlangen auf ihn geharrt hatte. »Der Chevalier wollte mir seinen Namen nicht anvertrauen, Signora«, sagte Ludovico, »als ich aber den Ihrigen nannte, schien er vor Freuden ausser sich zu seyn, obgleich es ihn nicht so überraschte, als ich gedacht hatte.« — »Kannte er mich denn?« fragte Emilie.
»Allerdings muß er Sie kennen; ich darf wohl sagen, daß er eine sehr große Achtung für Sie zu haben scheint, ich war so dreist ihm zu sagen, daß auch Sie viel Antheil an ihm nähmen. Er fragte mich darauf wie Sie ins Schloß gekommen wären, und ob Sie mir aufgetragen hätten, mit ihm zu reden. Die erste Frage konnte ich nicht beantworten, wohl aber die zweite, und er brach darüber in neues Entzücken aus. Seine Freude war so groß, daß ich fürchtete, er möchte sich der Schildwache an der Thüre verrathen.«
»Aber wie sieht er aus, Ludovico?« unterbrach Emilie, »ist er nicht ganz melancholisch und krank bei so langer Gefangenschaft? —« »Von Melancholie habe ich wohl kein Zeichen bei ihm erblickt, Signora; so lange ich bei ihm war: er schien mir in der fröhlichsten Stimmung zu seyn, die ich je bei einem Menschen sah. Sein ganzes Gesicht schwamm in Freude, und darnach zu schließen, müßte er sich sehr wohl befinden; gefragt aber habe ich ihn nicht.«
»Hat er nichts an mich bestellt«, fragte Emilie. — »O ja, Signora, und noch ausserdem —« antwortete er, indem er in den Taschen suchte. »Ich habe es doch nicht verloren!« fuhr er fort. »Der Chevalier sagte, er würde gerne schreiben, wenn er Dinte und Feder hätte; so aber war er im Begrif, mir eine lange Bestellung aufzutragen, als die Wache ins Zimmer trat. Doch hatte er mir vorher dieses gegeben.« Ludovico zog ein Miniaturgemälde hervor, das Emilie mit zitternder Hand empfieng; es war ihr eignes Bildnis, dasselbe, welches ihre Mutter auf so sonderbare Art in der Fischerhütte zu La Vallée verlor.
Thränen der Freude und Zärtlichkeit drangen ihr in die Augen, während Ludovico fortfuhr. »Sagen Sie Ihrem Fräulein, sagte der Chevalier, als er mir das Gemälde gab, daß dies mein Gefährte und Trost bei allem Unglück gewesen ist. Sagen Sie ihr, daß ich es an meinem Herzen getragen habe, und es ihr als Pfand einer Zärtlichkeit schicke, die nie ersterben kann — daß ich es nicht um den Reichthum von Welten aus den Händen geben würde, ausser an sie — und daß ich mich jetzt nur in der Hofnung davon trenne, es bald wieder aus ihren Händen zu empfangen. Sagen Sie ihr — in diesem Augenblick, Signora, trat die Schildwache herein, und er konnte nichts weiter sagen. Vorher aber hatte er mich gefragt, ob ich ihm nicht eine Zusammenkunft mit Ihnen verschaffen könnte. Ich antwortete ihm, daß ich die Schildwache wohl schwerlich dazu bewegen würde; allein er meinte, das hätte nicht so viel zu bedeuten, als ich wohl glaubte; ich möchte ihm nur erst ihre Antwort bringen, so würde er mir mehr darüber sagen.«
»Ludovico, wie kann ich Sie doch für Ihre Mühe belohnen!« sagte Emilie, »aber ich bin jetzt so unvermögend! Wann können Sie den Chevalier wieder sprechen?« »Das ist ungewis, Signora; es hängt davon ab, wer zunächst die Wache hat. Es sind nur zwei unter den Soldaten, die ich um Eingang in das Gefangenzimmer zu bitten mir getraue.«
»Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, Ludovico«, fuhr Emilie fort, »wie viel mir daran liegt, daß Sie den Chevalier bald wieder sehen. Sagen Sie ihm, ich hätte das Gemälde mit solchen Empfindungen als er es wünschen könnte, empfangen. Sagen Sie ihm, ich hätte viel gelitten, und litte noch immer.« — Sie hielt inne. — »Aber darf ich ihm sagen, daß Sie ihn zu sehn wünschen, Signora?« — »Allerdings!« — »Aber wann, Signora und wo?« — »Das muß von Umständen abhängen«, erwiederte Emilie. »Zeit und Ort müssen sich nach der Gelegenheit richten!« —
»Was den Ort betrift, Fräulein«, erwiederte Annette, »so wäre wohl kein andrer im Schlosse, wo wir ihn mit Sicherheit sehn könnten, als der Corridor, und es müßte zu einer Stunde seyn, wo alle die Herren schlafen, wenn das je geschieht!« — »Sie können diese Umstände gegen den Chevalier erwähnen«, sagte Emilie, die Annettens Geschwätzigkeit zu hemmen suchte, »und es seinem Urtheil und der Gelegenheit überlassen. Sagen Sie ihm, daß mein Herz unverändert ist; aber vor allen Dingen suchen Sie so bald es möglich ist, zu ihm zu kommen.« Ludovico versprach es und wünschte ihr gute Nacht. Emilie legte sich nieder, aber nicht um zu schlafen. Die Freude erhielt sie jetzt eben so wach, als vormals der Schmerz. Montoni und sein Schloß waren aus ihrem Gedächtnisse verschwunden und ihre Phantasie wanderte noch einmal in Gefilden ungetrübter Glückseligkeit.
Es verstrich eine Woche, ehe Ludovico das Gefängnis wieder besuchte: die Wache traf diese Zeit über Leute, denen er nicht traute, und er fürchtete, Aufsehn zu erregen, wenn er den Gefangnen zu sehn verlangte. Endlich benachrichtigte er sie, daß er den Chevalier wieder besucht, und daß dieser ihm gesagt hätte, er könnte sich sicher auf eine Schildwache verlassen, die ihm schon mehr Gefälligkeit erzeigt und ihm versprochen hätte, ihn die folgende Nacht, wenn Montoni und seine Ritter bei ihrem Gelage im Schlosse säßen, auf eine halbe Stunde heraus zu lassen. »Sebastian weiß wohl, daß er keine Gefahr dabei läuft«, setzte Ludovico hinzu, »denn der Chevalier müßte es wunderlich anfangen, wenn er durch die eisernen Gitter und Thore des Schlosses kommen wollte. Der Chevalier bat mich inständig, sogleich zu Ihnen zu gehn, Signora, und Sie zu beschwören, daß Sie ihm erlauben möchten, Sie diese Nacht zu sehn, wenn es auch nur auf einen Augenblick wäre. Die Stunde, sagte er, könne er nicht bestimmen; es müsse von Umständen abhängen; (wie Sie selbst auch gesagt haben) den Ort aber möchten Sie selbst anzeigen, da sie wüßten, welcher der sicherste für sie wäre.«
Die nahe Aussicht, Valancourt zu sprechen, setzte Emilien in solche Bewegung, daß sie anfangs unvermögend war, zu sprechen, oder den Ort der Zusammenkunft zu überlegen. Der Corridor war indessen der einzige Ort, den sie zu besuchen wagte, weil sie an jedem andern Montonis Gäste zu treffen fürchtete, und es wurde also ausgemacht, daß der Chevalier sie um die Stunde, welche Ludovico am sichersten finden würde, daselbst treffen sollte. Emilie brachte die Zeit bis dahin in einem Aufruhr von Hofnung und Freude, Angst und Ungeduld hin. Noch nie, seit ihrem Aufenthalte im Schlosse, hatte sie mit solchem Vergnügen die Sonne hinter die Berge sinken, die Dämmerung anbrechen und Dunkelheit die Gegend einhüllen sehn. Sie zählte die Schläge der großen Glocke und horchte auf die Schritte der Schildwache, wenn sie sich ablöste, nur um sich zu freuen, daß wieder eine Stunde vorüber war. »O Valancourt!« rief sie, »ist es denn wahr, daß ich nach allem, was ich gelitten habe, nach unsrer langen, langen Trennung, nachdem ich schon geglaubt hatte, dich nie wieder zu sehn, dir jetzt so nahe bin! — O ich habe Schmerz, Angst und Schrecken ertragen. Laß mich jetzt, gütiger Himmel! nicht unter der Freude erliegen!«
Endlich schlug die Glocke zwölf. Sie öfnete die Thüre um zu hören, ob sich etwas im Schlosse rührte, allein nur der ferne Schall von Gelächter und Ausgelassenheit hallte schwach durch den Gang wieder. Sie vermuthete, daß der Signor und seine Gäste beim Gelage säßen. »Sie sitzen nun gewiß fest für die Nacht, und Valancourt wird bald hier seyn.« Sie machte leise die Thüre zu, gieng oft ans Fenster und horchte, allein es blieb alles still. Annette war geschwätzig, wie immer; allein Emilie hörte kaum was sie sagte — mit einemmal ertönte die Laute, die Stimme sang zärtliche Töne der Liebe und gieng dann zu einer feierlichen Melodie über.
Emilie weinte Thränen der Freude und Zärtlichkeit. Sie hielt das Verstummen der Töne für ein Signal, daß Valancourt im Begrif war, das Gefängnis zu verlassen. Bald darauf hörte sie Fußtritte im Corridor — es war der leise, schnelle Schritt der Hofnung. Sie konnte sich kaum aufrecht halten — als sie aber die Thüre öfnete, um Valancourt entgegen zu gehn, sank sie in die Arme eines Fremden. Seine Stimme, sein Gesicht überzeugten sie sogleich und sie sank ohnmächtig dahin.
Als sie wieder erwachte, fand sie sich von dem Fremden unterstützt, der mit einem Gesicht voll unaussprechlicher Zärtlichkeit und Angst über sie hieng. Sie hatte nicht den Muth, zu antworten, oder zu fragen — sie brach nur in stumme Thränen aus und machte sich aus seinen Armen los. Der Ausdruck seines Gesichts verwandelte sich in Bestürzung und Unmuth und er wandte sich fragend zu Ludovico. Annette gab bald die Nachricht, die Ludovico nicht geben konnte. »O mein Herr«, rief sie schluchzend, »Sie sind nicht der andre Chevalier. Wir erwarteten Herrn Valancourt zu sehn, aber das sind Sie nicht. O Ludovico, wie konntest du uns so hintergehn! mein armes Fräulein wird sich nie wieder zufrieden geben!« — Der Fremde gerieth in die äusserste Bewegung; er wollte sprechen, aber die Worte fehlten ihm; er schlug mit der Hand vor die Stirne, als in einem plötzlichen Anfall von Verzweiflung und gieng schnell an das andre Ende des Ganges.
Plötzlich trocknete Annette ihre Thränen und sprach mit Ludovico. »Aber vielleicht«, sagte sie, »da dies nicht der andre Chevalier ist, so ist vielleicht der Chevalier Valancourt noch unten.« Emilie richtete sich auf. — »Nein«, erwiederte Ludovico, »Herr Valancourt ist nicht unten und war niemals unten, wenn nicht dieser Herr es ist. Wenn Sie die Güte gehabt hätten —« sagte er zu dem Fremden, »mir Ihren Namen anzuvertrauen, so würde dies Misverständnis nicht entstanden seyn.« »Freilich nicht!« erwiederte der Fremde in gebrochnem italienisch und mit niedergeschlagnem Wesen, »allein es war mir von äusserster Wichtigkeit, daß mein Name vor Montoni verborgen blieb. Madame«, setzte er hinzu, indem er Emilien französisch anredete, »wollen Sie mir erlauben mich zu entschuldigen wegen des Schmerzes, den ich Ihnen verursacht habe? darf ich Ihnen allein meinen Namen und den Umstand, der mich zu diesem Irrthum verleitet hat, sagen? Ich bin aus Frankreich! — ich bin Ihr Landsmann! Wir treffen uns in fremden Lande!« — Emilie suchte sich zu fassen, doch stand sie bei sich an. Endlich bat sie Ludovico, ein wenig bei Seite zu gehn, behielt aber Annetten da, und sagte dem Fremden, daß ihr Mädgen nur wenig italienisch verstände, und daß sie ihn ersuchte, sich in dieser Sprache auszudrücken. — Er sagte mit einem tiefen Seufzer, »Sie sind mir nicht fremd, Madame, obgleich ich das Unglück habe, Ihnen unbekannt zu seyn. Mein Name ist Dúpont; ich bin ein Franzose, aus Gasconien, Ihrem Geburtslande, und habe Sie lange bewundert — warum soll ich es verheelen — habe Sie lange geliebt.« Er hielt einen Augenblick inne. »Meine Familie ist Ihnen wahrscheinlich nicht unbekannt, wir wohnten nur wenige Meilen von La Vallée und ich habe zuweilen das Glück gehabt, Sie auf Ihren Besuchen in der Nachbarschaft zu sehn. Ich will Sie nicht mit der Wiederholung beleidigen, welchen Eindruck Sie auf mich machten; wie gerne ich in den Gegenden gieng, die Sie zu besuchen pflegten; wie oft ich in Ihrem Fischerhäuschen verweilte, und den Umstand betrauerte, der mich damals abhielt, meine Liebe zu erklären. Ich will nicht erzählen, wie ich der Versuchung unterlag und mich eines Schatzes bemächtigte, der mir unaussprechlich werth war — ein Schatz, den ich vor wenig Tagen Ihrem Boten mit ganz andren Erwartungen als meine jetzigen, anvertraute. Ich schweige von allen diesen Dingen, denn ich weiß, daß sie mir nichts helfen können — lassen Sie mich nur um Ihre Vergebung und um das Gemälde flehn, das ich so unbesonnen zurückgab. Mein Verbrechen ist meine Strafe gewesen, denn das Gemälde, welches ich entwandte, hat nur beigetragen, eine Leidenschaft zu nähren, welche die Quaal meines Lebens ausmachen wird.«
Emilie unterbrach ihn. »Ich überlasse es Ihrer eignen Rechtschaffenheit, mein Herr, zu bestimmen, ob ich nach dem, was Sie von Herrn Valancourt gehört haben, Ihnen das Gemälde zurück geben darf. Ich denke, Sie werden eingestehn, das dies nicht Grosmuth, ja, erlauben Sie mir hinzuzusetzen, daß es Ungerechtigkeit gegen mich selbst seyn würde. Ihre gute Meinung von mir, muß mir schmeichelhaft seyn, aber — das Misverständnis dieses Abends macht es unnöthig mehr hinzuzusetzen. —«
»Ja wohl Madame; — ach ja wohl!« sagte der Fremde — und fuhr nach einer langen Pause fort. — »Erlauben Sie mir wenigstens, Ihnen meine Uneigennützigkeit zu beweisen, da ich Ihnen meine Liebe nicht beweisen darf. Würdigen Sie mich, meine Dienste anzunehmen. Aber ach! Was für Dienste kann ich Ihnen anbieten! ein Gefangner, ein Leidender wie Sie! Aber so theuer mir auch meine Freiheit ist, möchte ich doch nicht halb die Gefahren darum wagen, denen ich gerne entgegen gehn will, um Sie aus diesem Abgrunde des Lasters zu befreien. Nehmen Sie die dargebotnen Dienste eines Freundes an; verweigern Sie mir nicht die Befriedigung, wenigstens versucht zu haben, Ihren Dank zu verdienen.«
»Sie verdienen ihn schon jetzt«, sagte Emilie. »Der Wunsch verdient meinen wärmsten Dank. Aber verzeihen Sie mir, daß ich Sie an die Gefahr erinnere, die mit der Verlängerung dieses Gesprächs für Sie selbst verbunden ist. Ihre freundschaftlichen Bemühungen mögen gelingen oder nicht, so wird mir doch der Gedanke ein grosser Trost seyn, daß ich einen Landsmann habe, der mich so grosmüthig beschützen wollte.« —
Herr Dúpont ergrif ihre Hand, die sie nur schwach zurückzog, und drückte sie ehrerbietig an seine Lippen. »Vergönnen Sie mir, noch einen warmen Wunsch für Ihr Wohl zu thun, und auf eine Empfindung stolz zu seyn, die ich nicht unterdrücken kann. —« Bei diesen Worten hörte Emilie ein Geräusch auf ihrem Zimmer und sah die Thür der Wendeltreppe offen und einen Mann hereindringen. »Ich will dich lehren, sie zu unterdrücken«, rief der Fremde, indem er in den Gang trat und einen Dolch zog, womit er nach Dúpont zielte. Dieser war unbewafnet, er bog sich zurück um dem Stoß auszuweichen, und sprang dann auf Verazzi zu, (denn dieser war es) dem er den Dolch aus der Hand wand. Während sie mit einander rangen, lief Emilie, der Annette folgte, weiter in den Gang, um Ludovico zu rufen; allein er war die Treppe herunter gegangen, und indem sie, unschlüssig was sie thun sollte, weiter gieng, erinnerte ein Geräusch das aus dem Saal zu kommen schien, sie an ihre Gefahr. Sie ließ Annetten weiter gehn, und kehrte nach der Stelle zurück, wo Dúpont und Verazzi noch um den Sieg kämpften. Des erstern Rache war zugleich ihre eigene, allein auch ohne diese Rücksicht, würde sein Betragen sie für ihn interessirt haben, wenn sie auch nicht Verazzi gehaßt und gefürchtet hätte. Sie warf sich auf einen Stuhl und beschwur die Kämpfenden, keine weitere Gewalt zu gebrauchen, bis endlich Dúpont den Verazzi auf die Erde warf, wo er von der Heftigkeit seines Falls betäubt, liegen blieb. Sie bat nun Dúpont sich aus dem Zimmer zu retten, ehe Montoni oder seine Parthey heran käme; allein er weigerte sich, sie unbeschützt zu lassen, und während Emilie, mehr für ihn, als für sich selbst besorgt, fortfuhr ihn zu bitten, hörten sie jemand die geheime Wendeltreppe herauf kommen.
»O Sie sind verloren«, rief sie, »das sind Montonis Leute!« — Dúpont antwortete nicht, sondern unterstützte Emilien, während er mit festem Blick die Erscheinung der kommenden erwartete, aber im nächsten Augenblick kam Ludovico ganz allein zum Vorschein. Er sah sich schnell im Zimmer um. — »Folgen Sie mir«, sagte er, »wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist; wir haben keinen Augenblick zu verlieren.«
Emilie fragte, was geschehen wäre, und wohin sie gehn sollte.
»Ich kann mich jetzt unmöglich mit der Erzählung aufhalten, Signora«, erwiederte Ludovico, »fliehn Sie! fliehn Sie!«
Sie folgte ihm, von Herrn Dúpont begleitet, die Treppe herunter, längs einem gewölbten Gange, als ihr plötzlich Annette einfiel. »Sie erwartet uns unten, Signora«, sagte Ludovico, beinahe athemlos vor Eile: »die Thore waren den Augenblick offen, weil eben eine Parthey von den Bergen herab kam, allein ich fürchte, sie werden wieder zugemacht seyn, ehe wir sie erreichen. Durch diese Thüre Signora«, sagte er, indem er die Lampe niedrig hielt — »nehmen Sie sich in Acht, hier sind zwei Stuffen.«
Emilie folgte ihm, noch heftiger zitternd, als zuvor, da sie jetzt gehört hatte, daß ihre Flucht aus dem Schlosse von dem gegenwärtigen Augenblicke abhienge. Dúpont unterstützte sie und suchte ihr Muth einzusprechen.
»Leise, Signora«, sagte Ludovico, »diese Gänge hallen durchs ganze Schloss wieder.«
»Nehmen sie sich in Acht mit dem Licht«, sagte Emilie, »Sie gehn so schnell, daß der Wind es auslöschen wird.«
Ludovico öfnete nun eine andere Thüre, wo sie Annette fanden, und sie stiegen nun zusammen ein paar Stuffen herab in einen Gang, der, wie Ludovico sagte, rings um den innern Schloßhof in den äussern führte. So wie sie weiter kamen, wurde Emilie durch einen verwornen Lärm beunruhigt, der aus dem innern Hofe zu kommen schien. »Nicht doch; Signora«, sagte Ludovico, »unsre einzige Hofnung ruht auf diesen Lärm, während daß Signors Leute mit den neu angekommenen Menschen beschäftigt sind, können wir vielleicht unbemerkt durchs Thor kommen. Aber still«, fuhr er fort, als sie sich der kleinen Thüre näherten, die in den äussern Hof führte, »wenn Sie einen Augenblick hier verweilen wollen, so werde ich zusehn, ob das Thor offen und der Weg sicher ist. Löschen Sie doch das Licht aus, Signor, wenn Sie mich reden hören«, sagte er zu Dúpont, dem er die Lampe hingab, »und halten Sie sich ganz still.«
Er gieng leise auf den Hof, und sie warteten ängstlich an der Thüre. Keine Stimme ließ sich in dem Hofe hören, wo er gieng, obgleich viele Stimmen aus dem innern Hofe erschallten. »Wir werden bald jenseits der Mauern seyn«, sagte Dúpont leise zu Emilien; »halten Sie sich nur noch ein Weilchen Madame, es wird alles gut gehen.«
Bald aber hörten Sie Ludovico laut sprechen, und noch eine andere Stimme mit ihm. Dúpont löschte auf der Stelle die Lampe aus. »Ach es ist zu spät«, rief Emilie, »was wird aus uns werden!« Sie horchten weiter, und wurden gewahr, daß Ludovico mit einer Schildwache sprach; Emiliens Hündchen, das ihr nachgelaufen war, hörte auch die Stimmen, und fieng laut an zu bellen. »Der Hund wird uns verrathen«, sagte Dúpont, »ich will ihn halten.« — »Ich fürchte er hat uns schon verrathen«, erwiederte Emilie. Dúpont nahm ihn dennoch; sie merkten wiederum auf, was aussen vorgieng, und hörten Ludovico sagen: »Ich will indessen das Thor bewachen!«
»Warte nur noch eine Minute«, erwiederte die Schildwache, »so kannst du die Mühe ersparen: die Pferde werden nur dort herum nach den Ställen aussen gebracht, und dann werden die Thore zugemacht und ich kann von meinem Posten gehen.« »Die kleine Mühe macht mir nichts aus Kamerade«, sagte Ludovico, »du wirst mir ein andresmal wieder einen Gefallen thun. Geh, geh und hole den Wein, die Schurken werden ihn sonst aussaufen.«
Der Soldat besann sich und rief den Leuten im zweiten Hofe laut zu, warum sie die Pferde nicht schickten, damit die Thore könnten zugemacht werden: allein sie waren zu sehr beschäftigt, um auf ihn zu achten, wenn sie ihn auch gehört hätten.
»Ja, ja«, sagte Ludovico, »die verstehn das Ding besser — sie theilen den Wein unter sich, wenn du warten willst, bis die Pferde herauskommen, so kannst du nur warten, bis der Wein getrunken ist. Ich habe mein Theil schon gehabt, aber da du dich so wenig darum bekümmerst, so will ich gehn, und deines dazu trinken.«
»Halt! halt! nicht so geschwind«, rief der Soldat, »so warte denn einen Augenblick, ich werde gleich wieder da seyn.«
»Uebereile dich nur nicht«, sagte Ludovico kalt, »ich habe schon öfter Wache gestanden.«
Der Soldat gab ihm das Gewehr und lief in den Hof — Ludovico eilte nach der Thür, wo Emilie vor Angst während des langen Gesprächs beinahe zu Boden gesunken war. Sie folgte ihm ohne Verzug ans Thor, und er bemächtigte sich zweier Pferde, die aus dem innern Hofe herbei gekommen waren, um ein dürftiges Futter von dem Grase zu suchen, das zwischen der Mauer hervor wuchs.
Sie kamen ungehindert durch die Schreckenspforten und nahmen den Weg, der zwischen dem Walde herab führte, Emilie, Herr Dúpont und Annette zu Fuß und Ludovico auf dem einen Pferde, während er das andre am Zaume führte. So bald sie zusammen trafen, wurden Emilie und Annette hinter ihre zwei Beschützer aufs Pferd gehoben, Ludovico führte den Weg an, und sie sprengten so schnell davon, als die aufgerissene Strasse und das schwache Mondlicht es zuließ.
Emilie war durch diese plötzliche Abreise in solches Erstaunen gesetzt, daß sie kaum wußte, ob sie wachte: sie zweifelte noch immer, ob sie davon kommen würden, denn ehe sie noch den Wald verließen, hörten sie rufen und sahen Lichter flattern. Dúpont peitschte sein Pferd, und brachte es mit Mühe zum schnellern Laufen.
»Das arme Thier«, sagte Ludovico; »es ist müde genug — es ist den ganzen Tag auf den Beinen gewesen; aber wir müssen schnell davon, denn dort kommen die Lichter schon hinter uns her.
Er gab seinem Pferde einen Hieb; sie sprengten in vollem Gallop davon, und als sie wieder zurück sahen, waren die Lichter so ferne, daß man sie kaum unterscheiden konnte, und die Stimmen waren ganz in Stille versunken. Sie mäßigten nun ihren Schritt, und giengen über ihren Weg zu Rathe. Es wurde ausgemacht, daß sie nach Toscanien gehn und das Mittelländische Meer zu erreichen suchen wollten, wo sie sich leicht nach Frankreich einschiffen könnten.
Sie befanden sich nun auf dem Wege, den Emilie mit Ugo und Bertrand gemacht hatte; aber Ludovico war der einzige unter ihnen, der mit der Gegend bekannt war. Er sagte, daß ein kleiner Nebenweg sie mit weniger Beschwerde nach Toscanien bringen würde, und daß sie nur wenig Meilen bis zu einer kleinen Stadt hätten, wo sie sich mit den nothwendigen Bedürfnissen zur Reise versehn könnten.
Der Mond war nun hoch über dem Walde hinter ihnen aufgegangen, und gab ihnen Licht genug um den Weg zu unterscheiden und die losen aufgerissenen Steine zu vermeiden, die häufig vor ihnen lagen. Sie ritten nun langsam und in tiefen Schweigen; denn sie waren kaum von dem Erstaunen wieder zu sich gekommen, worinn dieses plötzliche Entkommen sie versetzt hatte. Emilie vorzüglich war nach den mancherley Regungen, die sie erschütterten, in nachdenkende Träumerei versunken, welche die ruhige Schönheit der Natur um sie her, und das leise Rauschen des Nachtlüftchens zwischen dem Laube über ihr noch mehr begünstigte. Sie dachte mit Hofnung an Valancourt und an Frankreich, und würde mit Freuden daran gedacht haben, wenn nicht die ersten Begebenheiten dieses Abends ihre Lebensgeister zu sehr niedergedrückt hätten, um ihr jetzt ein so lebhaftes Gefühl zuzulassen. Indessen war sie allein der einzige Gegenstand von Dúponts schwermüthigem Nachsinnen; doch mischte sich in seine Traurigkeit ein süßes Bewußtseyn ihrer Gegenwart, ohngeachtet sie kein Wort zusammen sprachen. Annette dachte an ihre wunderbare Flucht, an die Verwirrung, worin Montoni und seine Leute dadurch gerathen würden; an ihr Vaterland, wohin sie bald zurückzukehren hofte und an ihre Heirath mit Ludovico, der sie nun kein Hindernis mehr entgegen stehn sah, denn Armuth hielt sie für keines. Ludovico hingegen wünschte sich Glück, seine Annette und Signora Emilie aus der Gefahr die sie umgab, befreit und sich selbst von Leuten losgemacht zu haben, deren Sitten er längst verabscheut hatte. Er freute sich, Herrn Dúpont die Freiheit verschaft zu haben, dachte an seine Aussicht des Glücks mit dem Gegenstand seiner Liebe, und that sich nicht wenig zu gute auf die Gewandheit, womit er die Schildwache hintergangen und die ganze Sache eingeleitet hatte.
Auf solche Art mit ihren verschiedenen Gedanken beschäftigt, ritten sie über eine Stunde stillschweigend fort; nur von Zeit zu Zeit that Dúpont eine Frage wegen des Weges, oder Annette machte eine Bemerkung über Gegenstände, die sie nur undeutlich in der Dämmerung sahen. Endlich sahen sie Lichter an der Seite eines Berges, und Ludovico zweifelte nicht, daß sie aus dem Städtchen kämen; seine Gefährten, durch diese Versicherung beruhigt, versanken wieder in Stillschweigen. Annette war die erste, die es unterbrach. »Heiliger St. Peter!« rief sie, »wo sollen wir Geld zur Reise bekommen. Ich und mein Fräulein haben keinen Schilling, Dank sey es der Sorgfalt des Signors.«
Diese Bemerkung verursachte eine ernsthafte Ueberlegung und eine eben so ernstliche Verlegenheit. Dúpont war beinahe alles Geldes beraubt worden, als man ihn gefangen nahm, und das übrige hatte er der Schildwache gegeben, die ihn aus dem Gefängnis ließ. Ludovico, dem es seit einiger Zeit schwer wurde, seinen Lohn zu bekommen, hatte kaum so viel, um die Zeche in der nächsten Stadt zu bezahlen.
Es blieb ihnen indessen nichts anders übrig, als weiter zu reisen, und dem Glück zu vertrauen. Sie verfolgten ihren Weg durch einsame Wildnisse und dunkle Thäler, wo das überhängende Laub bald das Mondlicht zuließ, bald es versteckte. Diese Wildnisse schienen kaum von eines Menschen Fus betreten zu seyn. Selbst der Weg, den sie ritten, schien dieser Vermuthung kaum zu widersprechen; das hohe Gras und andre Gewächse zeigten, wie selten der Schritt eines Reisenden sich hieher verirrte.
Endlich hörten sie in der Ferne das schwache Geläut einer Schäferglocke; bald darauf blöckten Heerden, und sie wußten nun, daß sie nahe bei einer menschlichen Wohnung waren. Erheitert durch diese Hofnung, beschleunigten sie ihren Schritt durch den engen Hohlweg und sahen bald ein Apenninisches Thal vor sich, das einem arkadischen Gemählde glich und dessen einfache Schönheit durch die abstechende Größe der mit Schnee bedeckten obern Gebürge erhöht ward.
Das Morgenlicht, das jetzt im Horizont schimmerte, zeigte ihnen schwach in einiger Entfernung am Abhange eines Hügels, der unter den geöfneten Augenliedern des Morgens hervorzublicken schien, die gesuchte Stadt, welche sie bald erreichten. Nicht ohne Mühe fanden sie ein Haus, das ihnen Obdach für sich und ihre Pferde geben konnte; und Emilie wünschte, daß sie nicht länger verweilen möchten, als nöthig war um auszuruhen. Ihr Aufzug erregte einige Verwunderung; sie war ohne Hut: denn sie hatte in der Eile nur ihren Schleier übergeworfen. Sie bedauerte nun doppelt den Mangel des Geldes, ohne welches es unmöglich war, sich dieses nothwendige Stück des Anzugs zu verschaffen.
Ludovico fand bei näherer Untersuchung, daß seine Börse nicht einmal für den Augenblick zureichte: Dúpont wagte endlich, sich dem Wirth, dessen Gesicht offen und ehrlich war, offenherzig anzuvertrauen. Er unterrichtete ihn von ihrer Lage und bat, daß er ihnen zur Fortsetzung ihrer Reise behülflich seyn möchte. Als der Wirth hörte, daß sie aus Montonis Gefangenschaft entwischt waren, den er zu hassen nur zu viel Ursache hatte, war er sehr bereit, ihnen zu willfahren. Allein er konnte nichts weiter thun, als ihnen frische Pferde bis zur nächsten Stadt geben, da er selbst zu arm war, um ihnen Geld vorzuschießen, und sie beklagten aufs neue ihre Armuth, als Ludovico, der seine müden Pferde unter einen Schoppen geführt hatte, ganz ausgelassen für Freude herein trat. Beim Absatteln des einen Pferdes hatte er einen kleinen Mantelsack gefunden, der ohne Zweifel die Beute eines von den Condottieri enthielt, die der Besitzer unter den Sattel versteckt hatte, ohne beim Zechen seines Weins darauf zu achten, daß ihm das Thier auf den andern Hof lief.
Beim Ueberzählen des Geldes fand Dúpont, daß es mehr als hinreichend war, sie alle nach Frankreich zu bringen, wohin er Emilien zu begleiten beschloß; denn soviel Vertrauen er auch in Ludovicos Rechtschaffenheit setzte, konnte er doch den Gedanken nicht ertragen, ihm allein die Sorge für ihre Reise zu überlassen — vielleicht hatte er auch nicht Entschlossenheit genug, sich das gefährliche Vergnügen um sie zu seyn, zu versagen.
Sie giengen nun zu Rathe, nach welchem Seehafen sie ihren Weg richten sollten, und Ludovico, der am besten in der Geographie des Landes bewandert war, sagte, daß Livorno der nächste bedeutende Hafen wäre. Dúpont wußte, daß kein Hafen in ganz Italien besser für ihre Absicht seyn könnte, weil von dortaus beständig Schiffe von allen Nationen auslaufen, und es wurde also beschlossen, sich dahin zu begeben.
Emilie kaufte sich einen kleinen Strohhut, nach Art der Bäuerinnen von Toscanien, und einige andre nothwendige Bedürfnisse für die Reise; sie tauschten ihre müden Pferde mit andern um, und traten ihren frölichen Weg an. Die Sonne gieng eben über die Berge auf, und nachdem sie einige Stunden durch dieses romantische Land geritten waren, stiegen sie in das Thal Arno herab. Emilie sah hier alle Reitze einer schönen Waldgegend und ländlicher Scenen vereinigt; die prächtigen Villas der Florentiner Adlichen schmückten die Landschaft und die mannigfaltigen Reichthümer der Cultur gaben ihr Abwechselung. Wie grünten die Gebüsche an den Hügeln, wie die Wälder, die sich amphitheatralisch längs den Bergen hinstreckten; und vor allen, wie schön waren die Umrisse der Apenninen, die hier die Wildheit ihrer innern Regionen verloren. In der Ferne im Osten, sah Emilie Florenz, dessen Thürme im glänzenden Horizont emporstiegen, und dessen üppige Thäler, sich zu den Füßen der Apenninen hinstreckend, mit Gärten und Lusthäusern gesprenkelt, oder mit Orangen und Citronenwäldchen, mit Wein, Korn und Pflanzungen von Oliven und Maulberen schattirt waren; nach Westen öfnete sich das Thal in die Gewässer des Mittelländischen Meers, das man in der weiten Ferne und durch eine bläulichte Linie, die sich am Horizont zeigte, und durch den leichten Dunst, der nur eben den öbern Aether färbte, erkannte.
Mit vollem Herzen begrüßte Emilie die Wellen, die sie nach ihrem Vaterlande zurücktragen sollten; doch war der Gedanke daran, mit einem gewissen Schmerze begleitet: sie hatte dort keine Heimath mehr, die sie aufnehmen, keine Verwandten, die sie bewillkommen konnten; sie gieng gleich einem verlaßnen Pilgrim, über den traurigen Orte zu weinen, wo er, der ihr Vater war, begraben lag. Auch konnte es ihr Gemüth nicht erheitern, wenn sie bedachte, wie lange es noch dauern würde bis sie Valancourt sähe, der mit seinem Regiment in einer entfernten Gegend von Frankreich stand, und daß sie nur mit ihm zusammen kommen würde, um Montonis gelungene Niederträchtigkeit zu bedauren: doch machte sie schon der Gedanke glücklich, wieder in einem Lande mit Valancourt zu seyn, hätt sie auch gewußt, daß sie ihn nie wieder sehn würde.
Die drückende Mittagshitze nöthigte die Reisenden, sich nach einem schattigten Platze umzusehn, wo sie einige Stunden ruhen könnten; die Gebüsche, die einen Ueberflus an milden Trauben, Himbeeren und Feigen hatten, versprachen ihnen Erfrischungen genug. Der Weg führte bald in ein Wäldchen, dessen dickes Laub die Sonnenstrahlen gänzlich ausschloß, und wo eine aus dem Felsen springende Quelle der Luft Kühlung gab. Nachdem sie abgestiegen waren, und die Pferde ins Gras geführt hatten, liefen Annette und Ludovico, ins Gebüsch um Früchte zu pflücken, und kamen bald mit einer reichlichen Ladung zurück. Die Reisenden setzten sich unter dem Schatten einer Fichte auf dem Rasen nieder, der von Wohlgerüchen duftete, verzehrten ihre kleine Mahlzeit, und sahen mit neuem Entzücken unter dem dunkeln Laube der gigantischen Fichten die glühende Landschaft sich in die See strecken.
Emilie und Dúpont wurden nach und nach still und nachdenkend; Annette aber war ganz Freude und Gesprächigkeit und Ludovico war froh, ohne die ehrerbietige Entfernung, die er seiner Gesellschaft schuldig war, zu vergessen. Nach geendigter Mahlzeit bat Dúpont Emilien, die schwülen Stunden zu verschlafen, auch ihren beiden Leuten rieth er dasselbe an und sagte, er wolle indessen wachen; Ludovico aber wünschte ihm die Mühe zu ersparen, und Emilie und Annette, von der Reise ermüdet, versuchten zu ruhen, während er Wache stand.
Als Emilie durch den Schlummer erfrischt, erwachte, fand sie die Schildwache auf dem Posten eingeschlafen und Dúpont wachend, aber in tiefsinnige Schwermuth versunken. Da die Sonne noch zu hoch stand um weiter zu reisen, und da auch Ludovico nach aller Beschwerde und Ermüdung des Schlafs bedurfte, so ergrif Emilie diese Gelegenheit, den Dúpont zu fragen, durch welchen Zufall er Montonis Gefangner geworden sey. Erfreut, daß sie ihm diese Theilnahme bewies und daß er dadurch Gelegenheit erhielt, von sich selbst zu sprechen, befriedigte er ihre Neugier auf der Stelle.
»Ich kam im Dienst meines Landes nach Italien, Madame«, sagte Dúpont. »Unsre Parthey wurde bei einem kleinen Scharmüzel zwischen den Bergen mit Montonis Leuten in Unordnung gebracht, und ich mit einigen meiner Gefährten gefangen genommen. Als ich erfuhr, wessen Gefangner ich war, fiel mir der Name Montoni auf, ich erinnerte mich, daß Madame Chevon, Ihre Tante, einen Italiener dieses Namens geheirathet hatte, und daß Sie mit nach Italien gegangen waren. Doch erfuhr ich erst einige Zeit nachher mit Gewisheit, daß dieses der nämliche Montoni war, und daß Sie, Madame sich unter einem Dache mit mir befanden. Ich will Sie nicht durch die Beschreibung betrüben, was ich bei dieser Entdeckung empfand. Ein Soldat theilte sie mir mit, den ich soweit für mich gewonnen hatte, daß er mir manche Freiheiten verstattete, worunter eine sehr wichtig für mich, und etwas gefährlich für ihn selbst war. Nur weigerte er sich durchaus einen Brief, oder nur eine Nachricht von mir an Sie zu bringen: denn er fürchtete entdeckt zu werden und Montonis Rache auf sich zu ziehn. Doch setzte er mich in Stand, Sie mehr als einmal zu sehn. Sie scheinen sich darüber zu verwundern, Madame, aber ich werde mich Ihnen erklären. Meine Gesundheit und Lebensgeister litten ausnehmend durch den Mangel an Luft und Bewegung, und ich erhielt endlich so viel von dem Mitleiden oder Geitz dieses Menschen, daß er mir Mittel verschafte, auf der Terrasse spazieren zu gehn.«
Emilie horchte jetzt mit sehr ängstlicher Aufmerksamkeit auf Dúponts Erzählung und er fuhr fort.
»Er wußte wohl, daß er keine Flucht aus dem Schlosse von mir zu befürchten hatte, das streng bewacht wurde, und dessen nächste Terrasse über einem steilen Felsen hieng: er zeigte mir auch«, fuhr Dúpont fort, »eine verborgne Thüre in der Wand des Zimmers, wo ich eingesperrt war, die in einen in der dicken Mauer eingehauenen Gang führte, der sich weit durch das Schloß zog und einen Ausgang in einen dunkeln Winkel des östlichen Walles hatte. Ich habe nachdem erfahren, daß viele solche Gänge in den ungeheuren Mauren dieses Gebäudes angebracht sind, die ohne Zweifel dazu dienen sollen, in Kriegszeiten die Flucht zu erleichtern. Durch diesen Gang schlich ich mich oft im Dunkeln der Nacht auf die Terrasse, wo ich mit äusserster Behutsamkeit gieng, um nicht meine Schritte der weiter entfernt stehenden Schildwache zuverrathen. Auf einer von diesen mitternächtlichen Wanderungen sah ich Licht in einem Fenster, unmittelbar über der Thüre meines Gefängnisses. Es fiel mir ein, daß Sie in diesem Zimmer seyn könnten, und ich stellte mich in der Hofnung Sie zu sehn, Ihrem Fenster gegen über.«
Emilie erinnerte sich an die Gestalt, die vormals auf der Terrasse erschienen war, und ihr soviel Unruhe gemacht hatte. »Sie waren also derjenige Herr Dúpont«, rief sie, »welcher mir soviel Angst verursachte? Meine Lebensgeister waren damals so geschwächt durch langes Leiden, daß sie durch jede Berührung ausser Fassung gebracht wurden.«
»Es dauerte einige Zeit«, fuhr Dúpont fort, »ehe ich Gelegenheit bekam, wieder heraus zu gehn, denn ich konnte mein Gefängnis nur verlassen, wenn mein Vertrauter die Wache hatte, doch erfuhr ich aus einigen Fragen, daß Ihr Zimmer würklich über dem meinigen war. — Ich sah Sie, ohne daß ich wagte zu sprechen. Ich winkte mit der Hand und Sie verschwanden plötzlich — jetzt vergas ich meine Behutsamkeit; ich brach in Klagen aus und Sie erschienen wieder. Sie sprachen; ich hörte den wohlbekannten Laut Ihrer Stimme, und in dem Augenblick würde meine Vorsicht mich wieder verlassen haben, wenn ich nicht zu gleicher Zeit den Schritt eines Soldaten gehört hätte. Ich floh, aber er wurde mich gewahr und kam so dicht hinter mir her, daß ich mich einer seltsamen List bedienen mußte, um mich zu retten. Ich kannte den Aberglauben dieser Leute und stieß ein seltsames Geschrei aus in der Hofnung, daß mein Verfolger es für etwas übernatürliches halten und mir nicht weiter nachsetzen würde. Zu gutem Glück gelang es mir, der Mann war wie es schien, Anfällen von Schwachheit unterworfen und sein Schrecken zog ihm eine Ohnmacht zu, während welcher ich entwischte. Die Gefahr, der ich entgangen war und die verdoppelte Wachsamkeit der Soldaten hielt mich nachher ab, auf die Terrasse zu gehn; allein in der Stille der Nacht bediente ich mich oft einer alten Laute, die mir ein Soldat verschafte und begleitete sie mit meiner Stimme; zuweilen, ich will es nur gestehn, in der Hofnung, von Ihnen gehört zu werden; allein erst vor wenigen Abenden wurde diese Hofnung belohnt. Ich glaubte, eine Stimme im Winde mich rufen zu hören, doch fürchtete ich zu antworten, um nicht von der Wache an der Thüre gehört zu werden. Hatt ich Recht in meiner Vermuthung Madame? Waren Sie es, die sprachen? —«
»Ja«, sagte Emilie, mit einem unwillkührlichen Seufzer, »Sie hatten ganz recht! —«
Dúpont merkte, daß diese Frage eine schmerzhafte Erinnerung in ihr erregte, und veränderte das Gespräch. — »Bei meinen Wanderungen durch die unterirdischen Gänge«, sagte er, »hörte ich einmal eine sehr sonderbare Unterhaltung. Montoni und seine Gefährten schienen in einem Zimmer zu seyn, das nur eine sehr dünne Wand hatte, die noch dazu an einigen Stellen verfallen war, und ich konnte deutlich hören, was sie sagten. Montoni erzählte die seltsame Geschichte der Signora, seiner Vorgängerin im Schlosse. Er erwähnte allerdings einige sehr sonderbare Umstände, sein Gewissen mag entscheiden, ob sie sich würklich so verhalten. Sie haben gewis Madame, die Gerüchte gehört, die er von dem geheimnisvollen Verschwinden dieses Frauenzimmers auszubreiten gesucht hat.« »Allerdings habe ich davon gehört«, erwiederte Emilie, »allein Sie scheinen daran zu zweifeln.«
»Ich habe immer daran gezweifelt« versetzte Dúpont, »allein einige Umstände, deren Montoni erwähnte, dienten sehr zur Bestärkung meines Verdachts. Ich wurde beynahe überzeugt, daß er ein Mörder sey — ich zitterte für sie, und zwar um so mehr, da ich die Gäste Ihres Namens auf eine Art erwähnen hörte, die Ihrer Ruhe drohte. Da ich wußte, daß die ruchlosesten Menschen oft am abergläubigsten sind, versucht ich, ob ich nicht ihr Gewissen rühren, und sie von der Begehung des Verbrechens, das ich fürchtete, zurückschrecken könnte. Ich hörte genau auf Montoni und bei den auffallendsten Stellen seiner Geschichte stimmte ich ein, und wiederholte mit verstellter dumpfer Stimme seine Worte.«
»Aber fürchteten Sie nicht entdeckt zu werden?« sagte Emilie. »Nein, ich wußte, daß Montoni mich nicht in das Zimmer, welches auf den geheimen Gang sties, würde gesperrt haben, wenn er von diesem Gange gewußt hätte. Die Gesellschaft schien eine Zeitlang nicht auf meine Stimme zu achten, gerieth aber endlich in solche Unruhe, daß sie das Zimmer verließ — ein andersmal habe ich — o Gott, mit welcher unaussprechlichen Bewegung! Sie selbst in einem Gespräch mit Montoni belauscht. O Fräulein! wie fühlte ich da meine Ohnmacht, keine andere Waffen für Sie gebrauchen zu können!«
Herr Dúpont und Emilie sprachen noch lange von Montoni, von Frankreich und von dem Plan ihrer Reise. Emilie sagte ihm, daß sie die Absicht hätte, sich in ein Kloster in Languedoc zu begeben, wo sie vormals mit vieler Güte behandelt worden sey, um von dort aus an ihren Vetter Herrn Quesnel zu schreiben, und ihm von ihrer Aufführung Nachricht zu ertheilen. Sie wollte dort bleiben, bis sie wieder im Besitz von La Vallée wäre, wohin sie zurückkehren zu können hofte: denn Dúpont sagte ihr, daß die Güter, um welche Montoni sie zu betriegen gesucht hätte, nicht ganz verloren wären, und wünschte ihr aufs neue Glück zu ihrer Flucht von Montoni, der ohne Zweifel willens gewesen war, sie auf Zeitlebens fest zu halten.
Sie plauderten fort, bis die Sonne im Westen untergieng, Dúpont weckte Ludovico auf und sie begaben sich wieder auf die Reise. Sie erreichten bald den Arno und wanden sich einige Meilen weit an seinem Rande hin, entzückt durch die Gegend um sie her, und durch die Erinnerungen die seine klassischen Wellen erregten. In einiger Ferne hörten sie den fröhlichen Gesang der Bauern zwischen den Weinbergen; sahen die untergehende Sonne die Wellen in gelben Glanz tauchen und die Dämmerung einen neblichten Purpur über die Berge ziehn, die sich endlich in Nacht vertieften.
Sie ließen sich bey Mondenlicht in einer Fähre über den Arno setzen und hörten, daß Pisa nur einige Meilen den Fluß herunter läge: sie wünschten nun in einem Boote dahin zu gehn, weil es aber unmöglich war, sich eines zu verschaffen, so mußten sie sich mit ihren müden Pferden auf den Weg machen. So wie sie der Stadt näher kamen, erweiterte sich das Thal in eine große Ebene, mit Weinbergen, Korn, Oliven und Maulbeerwäldchen geschmückt: allein es war spät, ehe sie die Thore erreichten. Emilie hörte mit Verwunderung geschäftige Tritte und die Töne musikalischer Instrumente; sie sah die Strassen voll lebhafter Gruppen und dünkte sich beinahe wieder in Venedig zu seyn — allein hier war keine vom Monde beleuchtete See, keine bunten Gondeln, die auf den Wellen schwebten, keine Palladischen Palläste, die einen Zauber über die Phantasie warfen, und sie in die Feenwelt versetzten. Der Arno rollte durch die Stadt, aber keine Musik zitterte aus Balcons über seinen Wellen: sie gaben nur das Rufen der Matrosen am Bord aus dem Mittelländischen Meere zurückgekommener Schiffe; das traurige Lichten des Ankers und das grelle Pfeifen der Bootsknechte zurück — Töne, die seitdem aus diesem Hafen verschwunden sind. Damals erinnerte sie Dúpont, daß er vielleicht dort ein Schiff, das nach Frankreich gienge, treffen und sich den Weg nach Livorno ersparen könnte. Allein alles Nachfragen war vergebens, und sie mußten ihrem alten Plane getreu bleiben. Sie legten sich nach der Ermüdung des Tages frühzeitig zur Ruhe und standen den andern Morgen bei guter Zeit auf, ohne sich dabei zu verweilen, die berühmten Alterthümer des Orts, oder das Wunderwerk seines hängenden Thurms in Augenschein zu nehmen. Ihr Weg führte sie in den kühlern Stunden durch ein reitzendes Land, reich von Wein, Korn und Oel. Die Apenninen nicht länger schreckhaft oder groß, senkten sich hier in die Schönheit einer waldigten, und ländlichen Gegend herab, Emilie sah indem sie herab ritten, mit Entzücken auf Livorno und seinen geräumigen Hafen hin, der mit Schiffen angefüllt, und mit diesem schönen Hügeln gekrönet war.
Es überraschte und ergötzte sie nicht weniger, die Stadt mit Menschen in den Trachten aller Nationen angefüllt zu finden. Dieser Anblick erinnerte sie an eine Venedische Maskerade zur Zeit des Carnevals; allein hier war ihr Gemüth ohne Frölichkeit, Lärmen ohne Musik und Eleganz durfte man nur in den wallenden Umrissen der umliegenden Berge suchen.
Herr Dúpont eilte gleich nach ihrer Ankunft nach dem Hafen, wo er von verschiedenen französischen Schiffen hörte; eines sollte in wenig Tagen nach Marseille absegeln, von wo sie sich leicht ein andres Schiff, verschaffen konnten, um über den Schlund von Lyon nach Narbonne zu gehn, an dessen Küste nur wenige Meilen von der Stadt entfernt, das Kloster lag, wohin Emilie sich zurück zu ziehen wünschte. Er beredete sogleich mit dem Kapitain die Ueberfahrt nach Marseille, und Emilie hatte die Freude zu hören, daß ihre Reise nach Frankreich ausgemacht war. Ihre Seele war nun von der Angst vor Verfolgung befreit, und die angenehme Hofnung, ihr Vaterland wieder zu sehn, das Land, welches Valancourt einschloß, gab ihr einen Grad von Heiterkeit, wie sie seit dem Tode ihres Vaters kaum geschmecket hatte. Dúpont erfuhr ebenfalls zu Livorno, daß sein Regiment nach Frankreich eingeschift sey; eine Nachricht, die ihn sehr freute, denn er konnte nun ohne sich Vorwürfe zu machen, oder die Misbilligung seines Commendanten zu fürchten, Emilien dahin begleiten. Er untersagte sich in diesen Tagen aufs strengste sie durch eine Erwähnung seiner Leidenschaft zu belästigen und obgleich sie ihn nicht liebte, konnte sie ihm doch ihre Achtung und ihr Mitleid nicht versagen. Er suchte sie mit den schönen Gegenden um die Stadt zu unterhalten, und sie giengen oft am Seeufer und an den lebhaften Hafen spatzieren, wo Emilie sich mit der Ankunft und dem Abgange der Schiffe amüsirte, an der Freude der Ankommenden Theil nahm, und oft eine sympathetische Thräne des Kummers mit den Scheidenden weinte.
Wir kehren nun wieder nach Languedoc und zu dem Grafen von Villefort zurück, dem das Gut des Marquis de Villeroi, in der Nähe des St. Claren Klosters zufiel. Man wird sich erinnern, daß dieses Schloß unbewohnt war, als St. Aubert mit seiner Tochter in die Gegend kam, und daß der erste in große Bewegung gerieth sich so nahe bei Chateau le Blanc zu sehen, ein Ort, von welchem nachher der gute alte la Voisin einige Winke fallen ließ, die Emiliens Neugier in Bewegung setzten.
Im Jahre 1584, zu dessen Anfange St. Aubert starb, gelangte Franz Beauveau, Graf de Villefort zum Besitz des Gebäudes und der großen Güter von Chateau le Blanc in der Provinz Languedoc am Ufer des Mittelländischen Meeres. Dieses Gut, welches seit einigen Jahrhunderten seiner Familie zugehört hatte, fiel jetzt beim Absterben seines Vetters, des Marquis von Villeroi, auf ihn. Der Marquis war ein Mann von strengen Sitten und zurückhaltendem Wesen, und diese Eigenschaften sowohl als sein Posten, der ihn oft ins Feld rief, hatten alle Vertraulichkeit mit seinem Vetter, dem Grafen von Villefort verhindert. Sie hatten sich mehrere Jahre lang wenig gesehn und der Graf erhielt die erste Nachricht von seinem Absterben zugleich mit den Instrumenten, die ihn in den Besitz von Chateau le Blanc setzten; allein er wollte erst das Jahr darauf dieses Schloß besuchen und den Sommer daselbst zubringen. Die Gegenden um Chateau le Blanc drangen oft mit den erhöhten Farben, welche eine warme Einbildungskraft den Eindrücken jugendlicher Freuden giebt, vor seine Erinnerung: er hatte vor vielen Jahren, noch zu Lebzeiten der Marquise und in dem Alter, wo die Seele den Eindrücken von Freude und Frölichkeit ganz empfänglich ist, diesen Ort besucht: und wiewohl er eine lange Zwischenzeit im Gewühl von Beschäftigungen, die nur zu oft das Herz verderben, und den Geschmack vergiften, zugebracht hatte, so waren doch die Schatten von Languedoc und die Größe seiner fernen Gegenden nie ganz aus seinem Gedächtnisse verschwunden.
Das Schloß war viele Jahre lang vom verstorbenen Marquis ganz verlassen und nur von einem alten Verwalter und seiner Frau bewohnt worden, die es sehr in Verfall gerathen ließen. Es unter seiner Aufsicht wieder ausbessern zu lassen, war eine Hauptsache, warum der Graf die Sommermonathe in Languedoc zubrachte, und weder die Vorstellungen, noch die Thränen der Gräfin, denn bei dringenden Veranlassungen konnte sie weinen, waren im Stande, seinen Entschluß zu erschüttern. Sie machte sich also gefaßt, dem Befehle, den sie nicht hintertreiben konnte, zu gehorchen und die frölichen Gesellschaften von Paris, wo ihre Schönheit allgemein anerkannt wurde und den Beifall erhielt, worauf ihr Verstand nur schwache Ansprüche geben konnte, mit dem dunkeln Kanapee der Wälder, der einsamen Größe der Berge, dem Feierlichen gothischer Hallen und langer Gänge, auf welchen nur der einsame Fußtritt eines Bedienten, oder der abgemessene Klang der großen Glocke wiederhallte, zu vertauschen. Sie suchte diese traurige Aussichten durch den Gedanken an die fröliche Weinlese in den Weinbergen von Languedoc, wovon sie so viel hatte erzählen hören, zu erheitern; aber ach! auch dort bewegten sich keine leichten Sylphengestalten nach der fröhlichen Melodie Parisischer Tänze und der Anblick eines plumpen Bauerfestes konnte einem Herzen wenig Vergnügen machen, in welchem selbst die Gefühle gewöhnlicher Menschenliebe längst unter dem Verderben des Luxus erstickt waren.
Der Graf hatte einen Sohn und eine Tochter, Kinder erster Ehe, die er nach dem südlichen Frankreich mitzunehmen dachte. Heinrich, ein Jüngling von zwanzig Jahren, stand in französischen Diensten, und Blanka, die noch nicht achtzehn Jahr alt war, mußte bisher in einem Kloster leben, wohin sie gleich nach ihres Vaters zweiter Heirath gebracht wurde. Die gegenwärtige Gräfin, die weder Talente noch Neigung besas, der Erziehung Ihrer Schwiegertochter vorzustehn, hatte zu diesem Schritte gerathen, und die Furcht vor ihrer höhern Schönheit machte, daß sie seitdem alles anwandte, um den Zeitpunkt von Blankas Entfernung zu verlängern: es gereichte ihr daher zu großer Kränkung, daß der Graf auch hierin ihr widersprach. Doch tröstete sie sich einigermaßen mit dem Gedanken, daß die Schatten des Landes der Gräfin Blanka Schönheit wenigstens auf eine Zeitlang vor dem Auge des Publikums verbergen würden.
Blankas Herz schlug hoch vor Entzücken bei der Aussicht von Neuheit und Freiheit, die vor ihr lag. Ihre Ungeduld stieg, so wie die Zeit ihrer Abreise näher kam, und die letzte Nacht, in der sie alle Glockenschläge zählte, schien ihr die längste, die sie jemals erlebt hatte. Endlich dämmerte das Morgenlicht: die Frühglocke ertönte; sie hörte die Nonnen aus ihren Zellen herab kommen und sprang von einem schlaflosen Kissen auf, um den Tag zu begrüßen, der sie aus dem strengen Kloster hinaus in eine Welt einführen sollte, wo sie sich die Freude immer lächelnd, die Güte immer gesegnet dachte, wo mit einem Worte nichts als Freude und Wohlwollen regierte! — So wie sie die Glocke am grossen Thore ziehn und gleich darauf Wagenräder rasseln hörte, sprang sie mit klopfendem Herzen an ihr Fenster, und als sie ihres Vaters Wagen im Hofe stehn sah, tanzte sie mit lustigen Schritten durch die Gallerie hin ins Sprachzimmer, wo die Aebtißin sie erwartete. Die Gräfin erschien ihr jetzt als ein Engel, der sie zur Glückseligkeit führen sollte. Die Gefühle aber, womit diese sie ansah, stimmten nicht mit den ihrigen überein. Noch nie hatte Blanka ihr so liebenswürdig geschienen, als in diesem Augenblick, wo ihr Gesicht, von einem Lächeln der Freude beseelt, in der Schönheit glücklicher Unschuld strahlte.
Nach einem kurzen Gespräch von wenig Minuten mit der Aebtißin, stand die Gräfin auf um fortzugehn. Dies war der Augenblick, den Blanka so begierig erwartet hatte; der Gipfel, von welchem sie herab sah auf das Feenland der Glückseligkeit und alle seine Zaubereien überschaute — konnte es also wohl ein Augenblick der Thränen seyn? Und doch war er es. Sie wandte sich mit verändertem und niedergeschlagnem Gesicht zu ihren jungen Gefährtinnen, die weinend gekommen waren, ihr Lebewohl zu sagen. Selbst von der Aebtißin, so stattlich und feierlich sie auch war, nahm sie mit einer Beklemmung Abschied, die sie nur eine Stunde zuvor unmöglich geglaubt hätte zu fühlen. Wir fühlen immer ein gewisses Widerstreben, selbst von unangenehmen Gegenständen zu scheiden, wenn wir wissen, daß es auf immer ist. — Sie küßte die armen Nonnen und folgte der Gräfin mit Thränen von dem Orte, den sie nur mit Lächeln zu verlassen geglaubt hatte.
Bald aber fesselte die Gegenwart ihres Vaters und die Mannigfaltigkeit von Gegenständen unterwegens, ihre Aufmerksamkeit und zerstreute den Schatten, den ein zärtlicher Kummer auf ihre Lebensgeister geworfen hatte. Unaufmerksam auf ein Gespräch zwischen der Gräfin und ihrer Freundin, Mademoiselle Bearn, sah Blanka in holden Träumereien versunken, den Wolken nach, die still über die blaue Fläche hinschwammen, jetzt die Sonne verschleierten und ihre Schatten längs der fernen Gegend hinstreckend, all' ihren Glanz verhüllten. Die Reise gewährte Blankan unaussprechliches Entzücken: neue Scenen der Natur traten jeden Augenblick vor ihre Augen und ihre Phantasie wurde mit lebhaften schönen Bildern bereichert.
Am Abend des siebenten Tags erreichten die Reisenden Chateau le Blanc, dessen romantisch schöne Lage Blanken bezauberte. »Welch ein trauriger Ort!« rief hingegen die Gräfin, als der Wagen in die tiefern Schatten des Waldes vor dem Eingange ins Schloß drang. »Sie werden doch unmöglich die Absicht haben, Graf! den ganzen Sommer in diesem wüsten Aufenthalte zuzubringen! Wenigstens sollte man einen Becher aus Lethe mitbringen, damit nicht die Erinnerung an anmuthigere Gegenden den unangenehmen Eindruck von dieser erhöht.«
»Die Dauer meines Aufenthalts wird von Umständen abhängen, Madame!« erwiederte der Graf! »dieser wüste Ort wurde von meinen Vorfahren bewohnt!«
Der Wagen hielt jetzt vor dem Schlosse, an dessen Thüre der alte Verwalter und die Pariser Bedienten erschienen, die vorausgeschickt waren, um alles zum Empfang ihrer Herrschaft zu bereiten. Lady Blanka sah nun, daß das Haus nicht ganz in gothischem Style gebaut war, sondern daß es Zusätze von neuerer Zeit hatte. Der dunkle große Saal, den sie jetzt betrat, war indessen ganz gothisch, und die reichen Tapeten an der Wand stellten Scenen aus der alten, romantischen Vorzeit dar. Gerne hätte Blanka die schöne Aussicht aus den Fenstern recht lange genossen, allein die Gräfin, der alles, was sie sah, zuwider war, und die sich nach Ruhe und Erfrischungen sehnte, eilte weiter in ein großes Zimmer, dessen mit Cederholz getäfelte Wände, spitze Fenster und mit dunkeln Cypressen eingelegte Decke eine Dunkelheit gaben, welche der hellgrüne, mit verblichnem Golde befrans'te Sammt der Stühle und Sophas ehemals zu beleben bestimmt gewesen schien.
Der Graf gieng mit seinem Sohne um sich weiter im Schlosse umzusehn, Blanka aber mußte zu ihrem Leidwesen bleiben und Zeugin des Unmuths und der übeln Laune ihrer Stiefmutter seyn. Kaum aber hatte die Gräfin sich mit Mademoiselle Bearn in ihr Schlafzimmer begeben, so eilte Blanka in ein ofnes Portico von leichter, zierlicher Bauart, das mit weissen Marmor gepflastert und von Pfeilern getragen ward, die in hohen Schwibbogen aufstiegen. Der Mond gieng eben über der See auf und enthüllte allmählig die Schönheiten der Anhöhe, auf welcher sie stand.
»Und habe ich in dieser prächtigen Welt so lange gelebt«, sagte sie, »und nie bis jetzt einen solchen Anblick gesehn! nie dieses Entzücken erfahren! Jedes Bauermädgen auf meines Vaters Gütern hat von Kindheit auf das Antlitz der Natur gesehn, während ich in einem Kloster von dem Anschaun aller dieser schönen Gegenstände ausgeschlossen blieb, die bestimmt waren, alle Augen zu bezaubern, alle Herzen zu erwecken. Wie können die armen Mönche und Nonnen die volle Gluth der Andacht fühlen, wenn sie nie die Sonne auf oder untergehn sahn? Bis diesen Abend wußte ich nicht, was wahre Andacht ist: denn nie sah ich die Sonne unter die weite Erde sinken. Morgen will ich, zum erstenmal in meinem Leben, sie aufgehn sehn. O wer kann doch in Paris leben wollen, um schwarze Mauer und kothigte Straßen zu sehn, wenn auf dem Lande der blaue Himmel und die ganze grüne Erde vor ihm liegt!«
Die alte Dorothee rief sie zum Abendessen ab, bei welchem der Graf wenig sprach und mit seinen Gedanken abwesend zu seyn schien. Er bemerkte nur, daß der Ort sehr verändert wäre, seit er ihn nicht gesehn.
»Konnte diese Gegend jemals lieblicher seyn als jetzt?« sagte Blanka. — Der Graf sah sie mit schmerzhaften Lächeln an: »Einst sah ich sie mit eben solchem Entzücken als du«, erwiederte er. »Die Landschaft ist noch dieselbe, aber mich hat die Zeit verändert. Die Illusion, welche das Colorit der Natur belebte, schwindet schnell dahin! Wenn du lebst, meine liebe Blanka, um nach vielen Jahren diesen Ort einmal wieder zu besuchen, so wirst du dich vielleicht an die Empfindungen deines Vaters erinnern und sie verstehn.«
Blanka schwieg, durch diese Worte gerächet, sie blickte voraus auf den Zeitpunkt, dessen der Graf erwähnte, und bei dem Gedanken, daß er dann wahrscheinlich nicht mehr seyn würde, füllten sich ihre Augen mit Thränen. Sie reichte ihrem Vater die Hand; er lächelte zärtlich und trat an ein Fenster, um seine Bewegung zu verheelen.
Am andern Morgen erwachte Blanka lange nach der Stunde, auf die sie sich so sehr gefreut hatte. Doch vergas sie ihren Verdrus sogleich, als sie das Fenster öfnete, und auf einer Seite die weite See mit ihren hinschwebenden Seegeln und glänzenden Rudern in den Morgenstrahlen schimmern sah, während auf der andern die frischen Wälder, die sich weit hinstreckenden Thäler und blauen Berge in der Pracht des Tages glühten.
Sie fand die kleine Gesellschaft bereits im Frühstückzimmer versammelt. Die Heiterkeit eines hellen Sonnenscheins hatte die traurigen Schatten des Tiefsinns aus des Grafen Seele vertrieben; ein freundliches Lächeln schwebte auf seinem Gesicht und er sprach aufmunternd mit Blanken, deren Herz die Töne zurückgab. Die schöne Natur schien ihren Einfluß auf alle zu verbreiten. Selbst die Gräfin ließ sich herab, die Höflichkeiten ihres Gemahls mit Gefälligkeit anzunehmen.
Bald nach dem Frühstück zerstreute sich die Gesellschaft; der Graf gieng mit seinem Verwalter ins Arbeitszimmer, um Rechnungen durchzusehn; Heinrich eilte ans Ufer, um ein Boot zu besehn, mit dem sie Abends eine kleine Fahrt machen wollten, und die Gräfin begab sich mit Mademoiselle Bearn in ein Zimmer im neuern Flügel des Schlosses, welches mit äußerster Eleganz aufgeputzt war. Die Fenster stießen auf die See und ersparten ihr den Anblick der Pyrenäen, die ihr abscheulich schienen. Hier legte sie sich auf ein Sopha, warf ihre schmachtenden Augen auf den Ozean, der jenseits der Waldspitzen erschien und überließ sich allem Genuß der Langenweile, während ihre Gesellschafterin ihr einen sentimentalischen Roman über ein modernes System der Philosophie vorlas! denn die Gräfin war selbst ein Stückchen von Philosophin, besonders was den Unglauben betraf, und in einem gewissen Zirkel wartete man mit Ungeduld auf ihre Meinungen und nahm sie als Lehrsätze auf.
Gräfin Blanka eilte indess, in den milden Waldspatziergängen ums Schloß ihrer neuen Begeisterung nachzuhängen; unter den Schatten des Waldes verwandelte sich ihre fröliche Laune allmählig in beschauliches Nachsinnen. Jetzt gieng sie mit feierlichen Schritten unter der Dunkelheit dicht verflochtner Zweige hin, wo noch der frische Thau auf jede Blume schimmerte, die aus dem Grase hervorsah: dann hüpfte sie mit leichten Schritten über einen Pfad, auf welchen die Sonnenstrahlen fielen und das zitternde Laub beleuchteten — wo das zarte Grün der Buche, des Acacien und Eichenbaums sich mit der dunkeln Ceder, Cypresse, und Fichte mischten und einen eben so schönen Contrast im Colorit darstellten, als die majestätische Eiche und orientalische Palme in der Form gegen die Federleichtigkeit des Korkbaums und die wehende Anmuth der Pappelweide.
Die Gesellschaft kam in der besten Laune des Mittags zusammen, die Gräfin ausgenommen, deren leere Seele von der Langenweile des Müssiggangs überwältigt, sie weder selbst glücklich seyn, noch zur Glückseeligkeit andrer beitragen ließ. Mademoiselle Bearn versuchte witzig zu seyn und richtete ihre Badinage gegen Heinrich, der ihr mehr aus Höflichkeit als aus Neigung antwortete: wenn gleich ihre Lebhaftigkeit ihn zuweilen unterhielt, stießen doch ihre Einbildung von sich selbst und ihre Fühllosigkeit ihn öfterer zurück.
Blankas Frölichkeit verschwand als sie den Rand der See erreichten. Sie sah mit Aengstlichkeit die unermeßliche Wasserfläche an, die in der Ferne nur ihr Entzücken und Erstaunen erregte, und es bedurfte eines raschen Entschlusses, ehe sie ihre Furcht so weit überwand, ihrem Vater in das Boot zu folgen.
Wenn sie schweigend den weiten Horizont übersah, der sich rings um den fernen Rand des Ozeans neigte, so unterdrückte eine Regung des erhabensten Entzückens das Gefühl persönlicher Gefahr. Ein leichter Zephyr spielte auf dem Wasser auf dem seidnen Seegel des Boots, und wehte im Laube der zurückweichenden Wälder, die viele Meilen weit die Berge krönten und vom Grafen sowohl mit einem stolzen Gefühl des Besitzes, als mit dem Auge des Geschmacks angesehn wurden.
In einiger Entfernung im Walde stand ein Pavillon, der ehemals der Sitz geselliger Frölichkeit gewesen war, aber noch immer ein Aufenthalt romantischer Schönheit blieb. Der Graf hatte Coffée und andere Erfrischungen dahin bringen lassen, und die kleine Schiffparthie steuerte jetzt darauf zu, indem sie den Krümmungen des Ufers um manches waldigte Vorgebürg folgte, während die traurigen Töne der Hörner und andrer Blasinstrumente, die von dem Gefolge in einem fernen Boote gespielt wurden, zwischen den Lippen wiederhallten und auf den Wellen starben. Blanka hatte nun ihre Furcht besiegt; eine entzückende Ruhe verbreitete sich über ihre Seele und machte sie stumm: sie fühlte sich zu glücklich, um selbst als Vergleich mit ihrer jetzigen Wonne an das Kloster oder an ihr vergangnes Leiden zu denken.
Auch die Gräfin fühlte sich weniger unglücklich, als sie sich noch seit dem Augenblick ihrer Abreise aus Paris gefühlt hatte: ihre Seele war jetzt unter einer Art von Zwang; sie fürchtete ihrer verkehrten Laune nachzuhängen und wünschte sogar, des Grafen gute Meinung wieder zu gewinnen. Er sah mit gemäßigtem Vergnügen und mit wohlwollender Zufriedenheit seine Familie und die umliegende Scene an, während sein Sohn allen Frohsinn der Jugend zeigte, neue Freuden vorausahndete, und die verschwundnen vergas.
Der Pavillon war so gut als es in der kurzen Zeit möglich war, zur Aufnahme der Gäste bereitet; allein die verblichnen Farben der gemahlten Wände und Decke, und die beschädigte Stickerei der einst prächtigen Möbeln, zeigten, wie lange er vernachläßigt und dem Einfluß der Jahrszeiten überlassen geblieben war. Während die Gesellschaft eine Collation von Coffée und Früchten verzehrte, unterbrachen die Hörner, die im Walde gespielt wurden, wo ein Echo ihre melancholischen Töne versüßte und verlängerte, die Stille der Scene. Dieser Ort schien selbst der Gräfin Bewunderung zu erregen; oder vielleicht war es nur um des Vergnügens willen, Möbeln und Verzierungen auszudenken, daß sie so lange bei der Nothwendigkeit, ihn auszubessern und auszuschmücken verweilte. Der Graf, der sich nie glücklicher fühlte, als wenn er ihre Seele mit natürlichen und einfachen Gegenständen beschäftigt sah, stimmte in alle Vorschläge bereitwillig ein. Die Mahlerei an den Wänden und an der Decke sollte nur aufgefrischt, die Sophas und Stühle mit hellgrünem Damast überzogen werden; marmorne Statuen von Waldnymphen, mit Körbchen voll lebendiger Blumen auf den Köpfen sollten den leeren Raum zwischen den Fenstern ausfüllen, die bis auf den Fusboden heruntergiengen und in jedem Theile des achteckigten Zimmers die mannigfaltige Landschaft zuließen. Ein Fenster stieß auf ein romantisches Thal, wo das Auge zwischen Waldklüften umher schwärmte, und die Scene sich nur durch eine verlängerte Pracht kleiner Wäldchen schloß, aus einem andern enthüllten die zurückweichenden Wälder die fernen Spitzen der Pyrenäen; ein drittes gieng auf eine Avenúe, hinter der die grauen Thürme von Chateau le Blanc und ein pittoresker Theil seiner Ruinen zwischen dem Laube hervorblickten, während ein viertes zwischen den Bäumen hindurch einen Schimmer von den grünen Wiesen und Dörfern verrieth, welche die Ufer des Aude schmücken. Das mittelländische Meer mit den kühnen Klippen, die über seine Ufer ragen, waren die großen Gegenstände, die ein fünftes Fenster zeigte; und die andern ließen in verschiednen Gesichtspunkten die wilden Scenen der Wälder sehn.
Erst nach einigen Stunden schifften sie sich wieder ein, und der schöne Abend reizte sie, ihre Fahrt zu verlängern. Eine tiefe Stille war auf das leichte Lüftgen gefolgt, das sie hieher getrieben hatte, und die Leute griffen zu ihren Rudern. Rings umher breitete sich das Wasser in eine weite Fläche von blankem Spiegelglas und stralte die grauen Klippen und befiederten Wälder, den Glanz des westlichen Horizonts und die dunkeln Wolken zurück, die langsam vom Osten kamen. Blanka sah mit Vergnügen zu, wie die untertauchenden Ruder sich ins Wasser drückten und einen Kreis hinterließen, welcher der sich spiegelnden Landschaft eine zitternde Bewegung gab, ohne die Harmonie ihrer Umrisse zu stören.
Jetzt erblickten sie über die dunkeln Wälder hin einige hohe Thürme, in den Glanz der erlöschenden Strahlen getaucht, und bald darauf hörten sie in der Ferne einen Chor von Stimmen anschwellen.
»Was für Stimmen schallen dort durch die Luft«, sagte der Graf, indem er sich umher sah. »Es schien mir eine Vesperhymne zu seyn«, erwiederte Blanka, »die ich oft in meinem Kloster gehört habe.«
»Wir sind also nahe bei dem Kloster«, erwiederte der Graf. Das Boot lenkte um eine hohe Bucht und das St. Clarenkloster trat am Rande der See hervor, wo die plötzlich sinkenden Klippen einen kleinen Meerbusen bildeten, der beinahe von Wäldern umgeben war, und nur einzelne Theile des Gebäudes sehn ließ. Aus den grauen Mauern war Moos hervorgewachsen und um die spitzen Fenster der Kapelle hiengen Epheu und Wintergrün in phantastischen Kränzen. Der Graf ließ das Boot anhalten. Die Mönche sangen eben die Abendvesper, und verschiedne weibliche Stimmen mischten sich in die Melodie, die allmählig sanft aufstieg, bis der hohe Discant und der tiefere Choral in volle und feierliche Harmonie aufschwollen. Blanka seufzte; Thränen zitterten in ihren Augen und ihre Gedanken schienen mit den Tönen zum Himmel empor zu steigen. Während eine Stille des Entzückens im Boote herrschte, kam ein Zug von Mönchen und nachher von weiß verschleierten Nonnen aus dem Kloster hervor, und schwebte unter dem Schatten der Wälder hin nach dem Hauptflügel des Gebäudes.
Die Gräfin unterbrach zuerst das Schweigen.
»Diese traurigen Hymnen und Mönche machen einen ganz melancholisch«, sagte sie; »die Dämmerung bricht ein; lassen Sie uns zurückkehren ehe es dunkel wird.«
Der Graf sah sich um und merkte, daß die Abenddämmerung durch einen herannahenden Sturm beschleunigt war. Im Osten zog sich ein Gewitter zusammen; eine Dunkelheit kam heran und stach gegen den Glanz der untergehenden Sonne ab. Die schreienden Seevögel schwirrten in schnellen Kreisen auf der Oberfläche der See, und tauchten ihre leichten Schwingen in die Wellen, als sie hinweg flogen, um Zuflucht zu suchen. Die Ruderknechte schlugen hart mit den Rudern, allein der Donner, der jetzt in der Ferne grunzte, und die schweren Tropfen, die auf das Wasser herabträufelten, bestimmten den Grafen, zurück zu fahren und Zuflucht im Kloster zu suchen.
Sobald sie das Boot ans Land gebracht hatten, schickte der Graf einen Bedienten ins Kloster um sich anmelden zu lassen. Sie wurden von der Aebtißin sehr höflich empfangen und blieben bis das Gewitter ganz vorüber war. Der Abend war still und schön; es war die erste Mondlichtsfahrt, welche Blanka machte, und es war ihr unangenehm, sich früher als sie glaubte, wieder im Schlosse zu sehn.
Die Gräfin, die mehr Ermüdung vorgab, als sie würklich fühlte, begab sich auf ihr Zimmer, und der Graf gieng mit Heinrich und seiner Tochter in den Saal, wo sie noch nicht lange gewesen waren, als der Sturm sich von neuem aufmachte. Sie hörten bald darauf einige Schüsse fallen, welche der Graf für ein Nothzeichen irgend eines Fahrzeugs hielt. Er gieng an ein Fenster, das auf die See sties, allein sie lag in tiefer Dunkelheit und das laute Heulen des zurückgekehrten Sturms verschlang aufs neue jeden andern Laut. Blanka erinnerte sich an eine Barke, die sie in der Ferne gesehn hatte, und trat mit zitternder Angst zu ihrem Vater. Nach wenig Augenblicken hörten sie aufs neue einen Schuß auf dem Winde herbeigetragen und eben so schnell wieder verweht: ein schrecklicher Donnerschlag folgte, und in dem Blitz, der vorhergieng und über der ganzen Fläche des Wassers zu zittern schien, sahen sie ein Fahrzeug in einiger Entfernung vom Ufer zwischen dem weißen Schaume der Wellen kämpfen. Blanka hieng sich mit Blicken voll Schreckens und Mitleids an ihres Vaters Arm. Sein Herz bedurfte keines Antriebs; er sah mit theilnehmender Betrübnis auf die See hin, und fand, daß es unmöglich war, ein Boot zur Hülfe zu schicken. Doch befahl er seinen Leuten, Fackeln auf die Klippen zu tragen, die dem Schiffe zu einer Art von Leuchte dienen oder wenigstens vor den Felsenklippen warnen könnten. Heinrich gieng mit, um anzuordnen, wo die Lichter erscheinen sollten; Blanka aber blieb mit ihrem Vater am Fenster, und fieng von Zeit zu Zeit einen Schimmer vom Schiffe auf. Bald sah sie mit neu auflebender Hofnung die Fackeln in der Schwärze der Nacht flammen und einen rothen Schimmer auf die tobenden Wellen werfen. So oft ein neuer Schuß fiel, wurden die Fackeln hoch in die Luft geschwenkt, als beantworteten sie das Signal und das Schießen wurde sogleich verdoppelt; ohngeachtet der Wind den Ton hinweg trug, glaubte sie doch bei dem Schein der Fackeln das Fahrzeug dem Ufer näher zu sehn.
Jetzt sah man des Grafen Bedienten ab und zu vom Felsen laufen; einige wagten sich beinahe auf die Spitze der Klippen und reichten ihre an langen Stangen befestigten Fackeln hinaus, während andre den steilen, gefährlichen Pfad bis zum Rande der See hinab stiegen und laut den Matrosen zuriefen, deren helles Pfeifen und schwache Stimmen sich von Zeit zu Zeit mit dem Sturme mischten. Ein plötzliches Geschrei von den Leuten auf den Felsen trieb Blankens Angst aufs höchste; allein ihre Ungewisheit wegen des Schicksals der Seefahrer, hatte bald ein Ende, als Heinrich athemlos ins Zimmer stürzte und meldete, daß das Schiff vor Anker gegangen aber so sehr beschädigt sey, daß man fürchtete, es würde von einander bersten, ehe die Passagiere sich ausschiffen könnten. Der Graf gab sogleich Befehl, daß seine Boote helfen sollten, sie ans Ufer zu bringen, und daß alle Unglücklichen, die im nächsten Dorfe nicht unterkommen könnten, im Schlosse aufgenommen werden sollten. Unter diesen letzten befanden sich Emilie St. Aubert, Herr Dúpont, Ludovico und Annette, die sich zu Livorno eingeschifft, Marseille erreicht hatten und über den Schlund von Lyon gehn wollten, als dieser Sturm sie überraschte. Der Graf nahm sie mit der ihm eignen Güte auf, und ohngeachtet Emilie sogleich nach dem St. Claren Kloster zu gehn wünschte, wollte er ihr nicht erlauben, das Schloß diese Nacht zu verlassen; in der That würden auch die Angst und Ermüdung, die sie ausgestanden hatte, ihr kaum zugelassen haben, weiter zu gehn.
Der Graf erkannte in Herrn Dúpont einen alten Bekannten, und wünschte sich Glück, ihn bei sich zu sehn; auch Emilie wurde unter ihrem Namen der Familie des Grafen vorgestellt, dessen gastfreies Wohlwollen die kleine Verlegenheit, die ihre Lage verursachte, bald zerstreute. Sie setzten sich zum Abendessen nieder, und Blankens ungekünstelte Gutmüthigkeit, die lebhafte Freude, welche sie über die Rettung der Fremden äusserte, heiterte Emilien allmählig auf, und Dúpont, von seiner Angst um sie und um sich selbst befreit, fühlte den ganzen Abstand zwischen seiner eignen Lage auf einem dunkeln stürmischen Meere und seiner gegenwärtigen in einem heitern Zimmer, wo er Ueberfluß, Eleganz und Lächeln des Willkommens um sich sah.
Emilie zog sich bald zurück, um die Ruhe zu suchen, deren sie so sehr bedurfte, aber ihr Kopfkissen verweigerte ihr lange den Schlaf. Zu viele Erinnerungen erwachten bei dieser Rückkehr in ihr Vaterland; alles was sie erfahren, was sie gelitten hatte, seit sie es verließ, trat in langer Folge vor ihre Phantasie und wurde nur durch Valancourts Bild vertrieben. Es machte ihr unaussprechliche Freude sich nach so langer Trennung noch einmal in demselben Lande mit ihm zu wissen, dann aber stiegen Furcht und Besorgnis in ihr auf, wenn sie bedachte, wie lange Zeit verstrichen war, seit sie nichts von ihm gehört hatte, und was sich indessen alles konnte zugetragen haben! Allein der Gedanke, daß Valancourt nicht mehr, oder wenigstens für sie nicht mehr lebte, war ihr so schrecklich, daß sie kaum bei der Möglichkeit verweilen konnte. Sie beschloß, ihn den folgenden Tag von ihrer Ankunft in Frankreich zu benachrichtigen, und die Hofnung, bald zu erfahren, daß er noch unverändert in seiner Zärtlichkeit sey, wiegte sie endlich in Schlaf.
Die Gräfin Blanka war so sehr von Emilien eingenommen, daß sie ihren Vater ersuchte, sie zu bitten, noch eine Zeitlang im Schlosse zu bleiben, ehe sie ihren Aufenthalt im Kloster nähme. »Sie wissen liebster Vater, wie glücklich mich eine solche Gesellschaft machen würde; ich habe gar keine Freundin um mich, mit der ich spatzieren gehn, oder lesen könnte: denn Mademoiselle Bearn hält sich nur zu der Mamma.«
Der Graf lächelte über die jugendliche Einfalt, womit sich seine Tochter den ersten Eindrücken überließ, doch freute er sich im Stillen über das wohlwolIende Herz, das sich so leicht in Vertraulichkeit gegen eine Fremde ergießen konnte. Er hatte Emilien aufmerksam beobachtet, und so sehr viel Gefallen an ihr gefunden, als es nur nach einer so kurzen Bekanntschaft möglich war, doch war er so behutsam in der Wahl einer Freundin für seine Tochter, daß er sich vornahm, die Aebtissinn im St. Claren Kloster zu besuchen, und nur dann, wenn ihre Nachricht von Emilien mit seinem Wunsche überein stimmte, sie einzuladen, eine Weile auf seinem Schloße zu bleiben.
Emilie war noch zu ermüdet, um den folgenden Morgen beim Frühstück zu erscheinen; Herr Dúpont aber war gegenwärtig, und wurde vom Grafen gebeten, als ein bekannter und Sohn eines alten Freundes seinen Aufenthalt im Schloße zu verlängern. Dúpont nahm diese Einladung willig an, weil er dadurch noch länger in Emiliens Nähe blieb; denn ob er gleich keine Hoffnung zu nähren wagte, daß sie jemals seine Liebe erwiedern würde, hatte er doch für den Augenblick nicht Stärke genug, sie zu besiegen.
Als Emilie sich etwas wieder erholt hatte, wanderte sie mit ihrer neuen Freundinn in der Gegend umher, und gerieth dabey in solches Entzücken, als Blanka im Wohlwollen ihres Herzens es gewünscht hatte. Nur schien es Emilien zu ihrer Befremdung, als wenn sie schon ehemals einige dieser Gegenstände gesehn hätte. Sie erinnerte sich an die Gefilde und Wälder, mit dem funkelnden Bach, durch die sie eines Abends bald nach dem Tode ihres Vaters auf ihrem Wege nach der Hütte gekommen war, und erkannte nun dieses Schloß für das nämliche, welches sie damals vermieden, und wovon er einige merkwürdige Winke fallen ließ.
Durch diese Entdeckung mehr betroffen, als sie sich selbst erklären konnte, sann sie einige Zeit stillschweigend nach, und erinnerte sich der Bewegung, welche ihr Vater verrieth, als er sich so nahe bei diesem Gebäude sah, und einiger andern Umstände, die ihr jetzt sehr merkwürdig waren. Auch die Musik, welche sie hier gehört hatte, und wovon La Voisin eine so sonderbare Nachricht gab, fiel ihr ein, und sie wünschte zu wissen, ob sie sich noch hören ließe, und ob der Spieler noch nicht entdeckt sey.
Sie befragte bei ihrer Zuhausekunft die alte Dorothee, mit der sie schon den Abend vorher geplaudert hatte, und hörte, daß die Musik allerdings noch oft zu hören sey, daß man aber den Musikus nie entdeckt hätte. »Hat man denn nie nachgefragt?« fragte Emilie: »Ach gnädiges Fräulein! nachgeforscht genug, aber wer kann einem Geist nachspüren?«
Emilie lächelte, während Blanka sich neugierig erkundigte; doch fühlte sie sich im Stillen geneigt, mehr an das Wunderbare zu glauben, als sie zu gestehen wagte. Eben jetzt fiel ihr der Anblick in einem Zimmer zu Udolpho und durch eine seltsame Ideenverbindung auch die beunruhigenden Worte ein, die sie zufällig in den Papieren las, die sie auf Befehl ihres Vaters verbrannt hatte.
»Diese junge Dame«, fuhr Dorothee fort, »erinnert mich immer an die verstorbene Marquise; sie sah eben so blühend aus und hatte gerade dieses Lächeln. Die arme Dame, wie sie froh und lustig war, als sie zuerst ins Schloß kam!«
»Und war sie es nachher nicht mehr?«, fragte Blanka. Dorothee schüttelte den Kopf und sah traurig vor sich hin. »Ach!« sagte sie nach einer Weile, »ich sehe sie noch auf dem Todtenbette vor mir, ich sehe ihren Blick, und erinnere mich da alles was sie sagte — es war ein schrecklicher Auftritt!«
»Und warum war er so schrecklich?« — fragte Emilie mit Bewegung.
»Ach liebes Fräulein! ist nicht der Tod immer schrecklich?« — erwiederte Dorothee.
Blanka that noch einige Fragen, die Dorothee unbeantwortet ließ; Emilie sah, daß ihr Thränen in den Augen standen, und suchte ihre Aufmerksamkeit auf etwas anders zu ziehen. Sie sahe den Grafen mit der Gräfin und Herrn Dúpont im Garten, und sie giengen sogleich zu ihnen herunter.
Sobald der Graf Emilien sah, kam er ihr entgegen und stellte sie auf eine so freundliche Art der Gräfin vor, daß sie sich lebhaft an ihren verstorbenen Vater erinnerte. Sie fühlte mehr Dankbarkeit gegen ihn als Verlegenheit gegen die Gräfin, die sie indessen mit einem einnehmenden Lächeln empfieng, das ihre Launen ihr zuweilen anzunehmen erlaubten, und das jetzt die Folge eines Gesprächs schien, welches der Graf über Emilien mit ihr geführt hatte. Was auch der Inhalt gewesen seyn, oder was bei seinem Besuche bei der Aebtissin vorgefallen seyn mochte, so waren doch Achtung und Wohlwollen in seinem ganzen Betragen gegen Emilien sichtlich, und sie fühlte die süße Empfindung, die aus dem Bewußtseyn entsteht, den Beyfall der Guten zu besitzen.
Ehe sie noch ihre Danksagung für die genoßene Gastfreyheit zu Ende bringen und ihren Vorsatz, ohne weitern Aufschub ins Kloster zu gehn, äussern konnte, unterbrach sie der Graf durch die Bitte, ihren Aufenthalt bey ihm zu verlängern. Auch die Gräfin stimmte so angelegentlich ein, daß sie ohngeachtet ihres Wunsches, ihre alten Freundinnen im Kloster wieder zu sehn, und noch einmal über ihres Vaters Grab zu weinen, sichs gefallen ließ, einige Tage im Schloße zu verweilen.
Doch schrieb sie nun unverzüglich an die Aebtissin, meldete ihr ihre Ankunft zu Languedoc und ihren Wunsch, als Kostgängerin im Kloster aufgenommen zu werden. Auch schrieb sie an Herrn Quesnel und an Valancourt, die sie blos von ihrer Ankunft in Frankreich benachrichtigte; da sie nicht wußte, an welchem Orte der letzte stand, addressirte sie ihren Brief nach seines Bruders Gute in Gasconien.
Gegen Abend giengen Gräfin Blanka und Herr Dúpont mit Emilien nach La Voisins Hütte, der sie sich jetzt mit einem traurigen Vergnügen näherte: denn die Zeit hatte ihren Schmerz um St. Auberts Verlust gesänftigt, wenn sie ihn gleich nicht vernichten konnte, und sie hieng mit süßer Melancholie den Erinnerungen nach, welche diese Scene zurückrief. La Voisin lebte noch und schien so wie vormals den ruhigen Abend eines untadelhaften Lebens zu genießen. Er saß vor der Thür seiner Hütte, und wartete einige seiner Groskinder, die auf dem Grase vor ihm spielten. Er erkannte Emilien sogleich, und freute sich sehr sie zu sehen, so wie sie sich freute zu hören, daß er seit ihrer Abreise niemand von den seinigen verlohren hatte.
Sie getraute sich nicht das Zimmer, wo St. Aubert gestorben war, zu besuchen, und verließ nach einem Gespräch von einer halben Stunde mit La Voisin und seiner Familie die Hütte wieder.
Sie bemerkte in diesen ersten Tagen ihres Aufenthalts zu Chateau Le Blanc oftmals mit stiller Rührung die stumme aber tiefe Melancholie, die den Dúpont zu Zeiten überfiel. Sie bemitleidete die Selbsttäuschung, die seinen Willen zur Abreise entwafnete, und beschloß, sich zurückzuziehen, sobald ihre Achtung für den Grafen und die Gräfin Villefort es zulassen würde. Die Niedergeschlagenheit seines Freundes beunruhigte auch bald den Grafen, und Dúpont vertraute ihm endlich das Geheimnis seiner hofnungslosen Liebe, der Graf konnte ihm nur sein Mitleiden schenken, ob er sich gleich im stillen vornahm, seiner Bewerbung das Wort zu reden, sobald sich eine Gelegenheit darbieten würde. Da er Dúponts mißliche Lage fühlte, so widersprach er seiner Aeußerung, Chateau Le Blanc den folgenden Tag zu verlassen, nur schwach, lud ihn aber dringend ein, ihn auf längere Zeit zu besuchen, sobald er mit Sicherheit für seine Ruhe zurückkehren könnte. Emilie, die ihm ihre Achtung nicht versagen konnte, trennte sich nicht ohne zärtliche Regungen von Dankbarkeit und Mitleid von ihm, und er nahm mit einem so sprechenden Ausdruck von Liebe und Schmerz auf seinem Gesicht von ihr Abschied, daß der Graf sich nur noch wärmer für ihn interessirt fühlte.
Nach wenig Tagen verließ auch Emilie das Schloß; doch mußte sie vorher dem Grafen und der Gräfin versprechen, ihren Besuch bald zu wiederholen.
Die Aebtissin empfieng sie mit der mütterlichen Zärtlichkeit, die sie ihr schon ehemals bewiesen hatte, und die Nonnen kamen ihr mit allen Beweisen der Achtung und Zuneigung entgegen. Die wohl bekannten Gegenstände im Kloster erweckten ihr viele schwermüthige Erinnerungen, doch vermischten sich andere damit, welche ihr Dankbarkeit einflößten, den vielen Gefahren, die sie verfolget hatten, entgangen zu seyn, und noch soviel gerettet zu haben. Zwar weinte sie noch Thränen zärtlicher Rührung auf ihres Vaters Grab, doch hatte ihr Schmerz vieles von seiner vorigen Bitterkeit verlohren.
Einige Zeit nach ihrer Ankunft im Kloster erhielt sie eine Antwort von Herrn Quesnel. Er schrieb kalt und steif, wie sie erwartete, äusserte weder Bedauern mit ihren gehabten Unfällen noch Vergnügen über ihre Rettung. Auch unterließ er nicht ihr einen Vorwurf über ihr Betragen gegen den Grafen Morano zu machen, den er noch immer als einen Mann von Ehre und Vermögen zu betrachten schien, und heftig auf Montoni zu schimpfen, unter dessen Superiorität er sich doch bis jetzt immer gebeugt hatte. Ueber Emiliens Geldangelegenheiten ließ er sich nicht weitläuftig aus. Er erwähnte nur, daß der Pachtungstermin von La Vallée beinahe verflossen wäre, und setzte ohne sie in sein Haus einzuladen, hinzu, daß ihre Lage ihr auf keine Weise erlaubte daselbst zu wohnen, und daß er ihr wenigstens für jetzt riethe, in dem St. Claren Kloster zu bleiben.
In einer Nachschrift meldete er ihr noch, daß Herr Moteville, in dessen Hände der verstorbene St. Aubert den größten Theil seines Vermögens gelegt hatte, sich mit seinen Gläubigern abfinden, und daß Emilie mehr erhalten würde, als sie vorher erwarten konnte. Er hatte zugleich eine kleine Anweisung auf einen Kaufmann in Narbonne eingelegt.
Die Ruhe des Klosters und die Freiheit zwischen den Wäldern und an den Ufern dieser schönen Provinz spatzieren zu gehen, stellte nach und nach Emiliens Heiterkeit wieder her; nur als die Zeit herannahete, wo es möglich war, einen Brief von Valancourt zu erhalten, schlich sich oft eine gewisse Unruhe in ihre Seele ein.
Gräfin Blanka vermißte indessen schmerzlich die Gesellschaft ihrer neuen Freundin, mit der sie gerne ihre Empfindung über die Schönheiten um sie her getheilt hätte. Sie hatte jetzt niemand, dem sie sich öfnen konnte, und wurde von Tage zu Tage niedergeschlagner und tiefsinniger. Der Graf, der ihre Unzufriedenheit bemerkte, gab gerne ihren Bitten nach, und erinnerte Emilien an ihren versprochenen Besuch, allein ihre Unruhe über Valancourts Stillschweigen machte sie abgeneigt vor jeder Gesellschaft, und sie würde gerne die Einladung abgelehnt haben, wenn sie nicht gefürchtet hätte, durch eine Verweigerung, von der sie keine Gründe angeben konnte, die Freunde zu beleidigen auf deren Achtung sie einen so großen Werth setzte. Der freundschaftliche Empfang des Grafen machte ihr Muth, ihm ihre Lage wegen der Güter ihrer verstorbenen Tante anzuvertrauen, und sich seinen Rath zu erbitten. Er zweifelte nicht, daß das Recht für sie entscheiden würde, und erbot sich, in ihrem Namen an einen Advocaten zu Avignon zu schreiben, auf dessen Einsicht er sich verlassen konnte. Emilie nahm sein gütiges Anerbieten dankbar an, und würde sich bei der Güte und Freundschaft womit sie hier behandelt wurde, vollkommen glücklich gefühlt haben, wenn sie nur von Valancourts Wohl und unveränderter Neigung überzeugt gewesen wäre. So aber wurde ihre Seele so sehr durch die Besorgnis daß Valancourt nicht mehr sey, oder nicht mehr für sie lebe, gequält, daß selbst Blankas Gesellschaft ihr oft unerträglich war; sie saß oft ganze Stunden in ihrem Zimmer allein, wenn die Umstände es ihr ohne Unhöflichkeit zuließen.
In einer dieser einsamen Stunden öfnete sie ein kleines Kästchen, worinn sie Valancourts Briefe nebst einigen Zeichnungen, die sie in Toscanien entworfen hatte, verwahrte. Die letztern hatten keinen Werth mehr für sie, in den Briefen aber hofte sie mit schwermüthigen Vergnügen die Zärtlichkeit wieder zu finden, die sie so oft getröstet und die Entfernung vergessen gemacht hatte, welche sie von dem Verfasser trennte. Allein ihre Würkung war jetzt verändert; die Zärtlichkeit, welche sie ausdrückten, drang so mächtig an ihr Herz, wenn sie dachte, daß vielleicht Zeit und Abwesenheit sie ausgelöscht hätten; selbst der Anblick der Handschrift rief so viele schmerzhafte Gefühle zurück, daß sie den ersten nicht durchzulesen vermochte, und den Kopf auf dem Arme gestützt, mit Thränen in den Augen da saß, als die alte Dorothee herein kam um ihr zu sagen, daß heute eine Stunde früher als sonst würde gegessen werden. Emilie fuhr zusammen, und legte eilends die Papiere weg, als Dorothee etwas aufnahm, das herausgefallen war, und plötzlich ausrief: »Heilige Marie was ist das!« — sie fiel zitternd auf einen Stuhl nieder, ohne auf Emiliens Frage, was sie denn sähe? zu antworten. »Sie ist es selbst«, rief Dorothee aufs neue, »ja sie ist es selbst! gerade so sah sie auch vorher aus, ehe sie starb!«
Emilie erschrack immer mehr und fürchtete, daß Dorothee in einen plötzlichen Wahnsinn gefallen sey; doch drang sie in sie, sich zu erklären.
»Dieses Gemälde, Fräulein, wo haben sie es gefunden? es ist meine seelige Frau!«
Sie legte das Miniaturgemälde auf den Tisch, welches Emilie unter den Papieren ihres Vaters gefunden hatte, und das sie ihn mit so zärtlichen rührenden Thrähnen benetzen sah. Sie erinnerte sich an sein ganzes Betragen bei dieser Gelegenheit und ihre Bewegung stieg auf einen Grad, der sie aller Kraft beraubte, die Fragen zu thun, vor deren Beantwortung sie zitterte; sie konnte nur so viel herausbringen, ob Dorothee auch gewiß sey, daß dies Gemälde die verstorbene Marquise vorstellte.
»Ach Fräulein, wie sollte es mich sonst so erschreckt haben, gleich als ich es sah. Ach ich kenne es nur zu gut: dies sind ihre leibhaften blauen Augen, so sanft, und mild! gerade so sah sie aus, wann sie oft tiefsinnig da saß, und sich endlich Thränen über ihre Wangen schlichen; doch kam nie eine Klage über ihren Mund. Gerade dieser sanfte Blick voll stiller Ergebung brach mir das Herz und hat sie mir so unvergeßlich gemacht.«
»Dorothee«, sagte Emilie feierlich, »die Ursache dieses Schmerzes geht mich vielleicht näher an, als Sie glaubt, und ich bitte Sie inständigst, meine Neugierde nicht länger auf die Folter zu spannen.«
Bei diesen Worten erinnerte sie sich an die Papiere, bei welchen sie das Gemälde fand, und zweifelte kaum, daß sie sich auf die Marquise bezogen hatten, und mit diesen Gedanken stieg ein Zweifel in ihr auf, ob sie weiter nach einer Sache forschen sollte, die ihr Vater so sorgfältig zu verbergen gesucht hatte. So stark auch ihre Neugier war, mehr von der Marquise zu erfahren, würde sie ihr doch gewiß jetzt eben so gut wiederstanden haben, als ehemals bei den Papieren, wenn sie hätte glauben können, daß solche Dinge, als Dorothee erzählen konnte, in ihres Vaters Verbot begriffen gewesen wären. Da aber das, was diese gute Alte wußte, auch mehrern Personen nicht unbekannt und nicht eigentlich Geheimniß seyn konnte, so trug sie nicht länger Bedenken, die Befriedigung ihrer Neugier zu suchen.
»Ach Fräulein«, sagte Dorothee, »es ist eine traurige Geschichte, die ich jetzt nicht erzählen kann, aber was sage ich, nein, ich kann sie nun und nimmermehr erzählen. Viele Jahre sind seitdem verstrichen, und ich habe nie mit jemand von der seeligen Marquise reden mögen, ausser mit meinem Manne. Er lebte damals auch in der Familie und erfuhr manche Dinge von mir, die sonst niemand wußte: ich war in ihrer letzten Krankheit immer um sie, und sah und hörte mehr, als der gnädige Herr selbst. Die liebe Heilige! Wie geduldig sie war! ich dacht, ich müßte mit ihr sterben!«
»Dorothee«, unterbrach sie Emilie, »Sie kann sich sicher darauf verlassen, daß kein Wort von dem, was Sie mir sagen wird, über meine Lippen kommen soll. Ich wiederhole es nochmals, ich habe besondre Ursachen, nach dieser Sache zu fragen, und will mich aufs feierlichste verpflichten, nie etwas davon zu äussern!« —
Dorothee sah sie einige Augenblicke stillschweigend an und sagte: »Junges Fräulein! Dieser Blick spricht mehr für Sie, als Worte: er ist meiner lieben seeligen Herrschaft so ähnlich, daß ich fast glauben möchte, sie vor mir zu sehn. Wenn sie ihre Tochter wären, so könnten Sie mich nicht lebhafter an sie erinnern. Allein das Essen wird aufgetragen seyn, wollen Sie nicht lieber heruntergehn?«
»Wenn Sie mir erst versprochen haben wird, meine Bitte zu gewähren.«
»Aber sollten Sie mir nicht von Rechtswegen erst sagen, wie dieses Gemälde in Ihre Hände kam, und warum Ihnen diese Sache so sehr am Herzen liegt?«
»Nein Dorothee«, erwiederte Emilie ernsthaft, »ich habe auch besondere Ursachen, über diese Dinge ein Stillschweigen zu beobachten, wenigstens bis ich mehr weiß; überhaupt kann ich nicht versprechen, daß ich mich je darüber auslassen werde. Vertraue Sie auf meine Ehre und lasse sie dieses den einzigen Bewegungsgrund seyn, meine Bitte zu erfüllen.«
»Nun dann Fräulein«, erwiederte Dorothee nach einer langen Pause, während welcher sie Emilien starr ansah, »Sie bestehn so sehr darauf, und dies Gemälde und Ihr Gesicht läßt mich glauben, daß Sie Ursach dazu haben — ich will Ihnen trauen und Ihnen Dinge erzählen, die ausser meinem Mann, noch niemand von mir erfahren hat, obgleich viele Leute dergleichen geargwöhnt haben. Ich will Ihnen die Umstände von meiner seeligen Frauen Tode so wohl als auch etwas von meinem eignen Verdacht sagen; allein erst müssen Sie mir bei allen Heiligen versprechen —«
Emilie unterbrach sie, und versprach ihr feierlich, niemals etwas von dem, was sie ihr anvertraute, ohne ihre Einwilligung zu entdecken.
»Aber da wird schon zur Tafel geblasen«, sagte Dorothee, »ich muß gehn.«
»Wenn werde ich Sie wiedersehn?« fragte Emilie.
»Es möchte die Leute neugierig machen, wenn ich am Tage so oft zu Ihnen käme, ich will es also lieber versparen bis auf die Nacht, wenn alles zu Bette ist.«
»Gut«, erwiederte Emilie, »vergesse Sie also nicht, heute Nacht!«
»Ach, ich werde es gewis nicht vergessen, gnädiges Fräulein, nur fürchte ich, daß ich diese Nacht nicht werde kommen können, weil wir die Weinlese feiern, und es lange dauern wird, bis die Leute sich zur Ruhe begeben.«
»Ach! ist heute Weinlese?« sagte Emilie mit einem tiefen Seufzer, weil sie sich erinnerte, daß sie am Abend dieses Festes im vorigen Jahre mit ihrem Vater in der Nachbarschaft von Chateau Le Blanc ankam. Sie schwieg einen Augenblick, durch die Erinnerung überwältigt, und sagte dann: »aber die Leute tanzen ja im ofnen Walde, und Sie wird also nicht vermißt werden, wenn sie zu mir kommt.«
Dorothee erwiederte, daß sie sonst immer dabei gegenwärtig gewesen wäre, doch wollte sie sehn, ob sie sich fortschleichen könnte.
Emilie eilte nun ins Speisezimmer, wo der Graf sie mit der Höflichkeit empfieng, die von wahrer Würde unzertrennlich ist, wozu die Gräfin aber sich selten herabließ, ohngeachtet ihr Betragen gegen Emilien eine Ausnahme von ihrem gewöhnlichen machte.
Gegen Abend gieng der Graf mit seiner ganzen Familie, die Gräfin und Mademoiselle Bearn, welche solche gemeine Vergnügungen verachteten ausgenommen, in den Wald, um dem Feste der Landleute zuzusehn. Der Schauplatz war in einem Thale, wo die sich öfnenden Bäume einen Kreis um dem Rasen bildeten; zwischen ihren Zweigen hiengen Weinreben mit reifen Trauben in bunten Kränzen, und unter ihrem Schatten standen Tische, mit Früchten, Käse, Wein und anderer ländlichen Kost. — Für den Grafen und seine Familie waren Sitze angebracht und in einiger Entfernung standen Bänke für die ältern Bauern: allein wenige von ihnen konnten sich enthalten, dem frölichen Tanze beizutreten, der bald nach Sonnenuntergang anhub, mehrere von sechzig Jahren trippelten eben so munter und leicht als die von sechzehn.
Die Musikanten, die nachlässig unter einem Baume auf der Erde sassen, schienen durch den Ton ihrer eignen Instrumente begeistert zu seyn, die meistens aus Flöten und einer Art von langen Zitter bestanden. Im Hintergrunde stand ein Knabe, der die Trommel rührte, und ein Solo tanzte; zu Zeiten schlug er die Trommel stärker und mischte sich unter die andern Tänzer, wo seine possirlichen Stellungen ein lautes Gelächter hervorlockten, und die ländliche Frölichkeit erhöhten.
Der Graf freute sich innigst über die Glückseeligkeit, von der er Augenzeuge, und die größtentheils sein Werk war, und Blanka gesellte sich mit einem jungen Herrn aus ihres Vaters Gesellschaft zu den Tänzern. Heinrich bat um Emiliens Hand, allein sie war zu niedergeschlagen, um an einem Feste Theil zu nehmen, welches alles, was sie das Jahr zuvor verlohren hatte, wieder in ihr Gedächtnis zurückrief.
Ueberwältigt durch diese Erinnerungen verlies sie endlich den Ort, und gieng langsam in den Wald, wo die leisere Musik, die in der Ferne flötete, die Schwermuth ihrer Seele besänftigte. Der Mond warf ein mildes Licht zwischen das Laub; die Luft war kühl und balsamisch, und Emilie streifte fort, in Gedanken verloren, ohne zu merken wohin, bis sie die Töne weit in der Ferne versinken hörte, und sich allein in einer schauerlichen Stille fand.
Endlich sah sie sich nahe bei der Allee, durch die Michel an jenem Abend einen Weg nach einem Hause zu finden versuchte, sie war noch eben so wild, und verwirrt als damals: denn der Graf war so sehr mit andern Verbesserungen beschäftigt gewesen, daß er sich noch nicht um diese große Allee bekümmert hatte, der Weg war noch eben so uneben, und die Bäume mit ihren üppigen Zweigen beladen.
Indem sie so da stand, und sich an die Empfindungen erinnerte die sie damals gehabt hatte, fiel ihr plötzlich die Gestalt ein, die sie zwischen den Bäumen schleichen sah, und die keine Antwort auf Michels wiederholten Zuruf gab. Sie fühlte etwas von der Furcht, die sie damals befiel, denn es war nicht unwahrscheinlich, daß diese tiefen Wälder oft der Aufenthalt von Räubern seyn mochten. Sie kehrte um, und verfolgte eilends ihren Weg nach den Tänzern, als sie Fußtritte aus der Allee heran nahen hörte, sie war noch weit von den Bauern, auf dem grünen Platze, denn sie konnte weder ihre Stimmen noch ihre Musik hören, und beschleunigte daher ihre Schritte, allein man folgte ihr schnell, und da sie endlich Heinrichs Stimme erkannte, gieng sie langsam bis er ihr nahe kam. Er äusserte seine Verwundrung sie so weit von der Gesellschaft zu finden, und als sie antwortete, daß das angenehme Mondlicht sie verleitet hätte, weiter zu gehn, als sie anfangs gewollt, entfuhr seinem Gefährten ein Ausruf, und sie glaubte Valancourt sprechen zu hören. Er war es würklich! und die Zusammenkunft war so, wie man sie sich zwischen zwei so zärtlichen und so lange getrennten Liebenden denken kann.
In der Wonne dieser Augenblicke, vergas Emilie alles vergangne Leiden, und Valancourt schien vergessen zu haben, daß jemand ausser Emilien lebte, während Heinrich ein stillschweigender und erstaunter Zuschauer der Scene blieb.
Valancourt that tausend Fragen, die sie nicht zu beantworten Zeit hatte; sie erfuhr, daß er ihren Brief erst kürzlich erhalten und sich sogleich nach Languedoc aufgemacht hatte. Als er das St. Claren Kloster erreichte, fand er die Thore bereits verschlossen, und wollte mißmütig in sein kleines Wirtshaus zurückgehn, um ihr von da zu schreiben, als er von Heinrich, den er zu Paris gekannt hatte, eingeholt und zu ihr gebracht wurde.
Emilie kehrte nun mit Heinrich und Valancourt nach dem grünen Platze zurück, wo der letzte dem Grafen vorgestellt, aber wie es ihr vorkam, nicht mit der ihm sonst eignen Freundlichkeit aufgenommen wurde, ohngeachtet sie einander nicht fremd zu seyn schienen. Doch wurde er eingeladen, an dem Vergnügen des Abends Theil zu nehmen, und nach einem kurzen Gespräch mit dem Grafen setzte er sich zu Emilie und sprach ohne Zwang mit ihr. Die Lichter, die zwischen den Bäumen hingen, vergönnten ihr einen vollständigern Anblick des Gesichts, das sie sich in seiner Abwesenheit so oft vorzustellen gesucht hatte; allein sie bemerkte mit einiger Betrübnis, daß es nicht ganz mehr dasselbe war. Es hatte noch allen Geist und Leben, wie vormals, allein es hatte viel von dem Einfachen und etwas von dem ofnen Wohlwollen verloren, wodurch es sich sonst auszeichnete, es war noch immer ein interessantes Gesicht, allein Emilie glaubte zu Zeiten ängstlichen Zwang und Traurigkeit auf seinen Zügen schweben zu sehn. Oft fiel er in ein plötzliches Nachdenken, das er bald wieder zerstreuen zu wollen schien, dann wieder, wenn er seine Blicke auf Emilien heftete, schien eine gewaltsame Bewegung in seinem Innern vorzugehn. Er fand in ihr noch dieselbe Güte und schöne Simplicität, die ihn bei ihrer ersten Bekanntschaft bezaubert hatte. Die Rosen ihres Gesichts waren etwas verblichen, allein es wurde interessanter als je durch den schwachen Ausdruck von Melancholie, der sich zuweilen mit ihren Lächeln vermischte.
Sie erzählte ihm auf seine Bitten die wichtigsten Begebenheiten, die sich seit sie Frankreich verließ, mit ihr zugetragen hatten, und Regungen des Mitleids und Unwillens bemeisterten sich seiner abwechselnd, wenn er hörte, was sie von Montonis Bosheit gelitten hatte. Mehr als einmal, wenn sie von seinem Betragen sprach, das sie eher mit zu gelinden als übertriebenen Farben schilderte, sprang er auf und gieng fort, dem Anscheine nach eben so sehr durch innere Vorwürfe als von Unwillen bewegt. Nur ihrer Leiden gedachte er in einigen Worten, die er an sie richten konnte, ohne auf das, was sie so deutlich als möglich von dem Verlust ihrer Güter sagte, zu achten. Zuletzt blieb er in Gedanken versunken und eine geheime Empfindung schien ihn mit Schmerz zu durchdringen. Er verlies sie aufs neue; als er wieder kam, sah sie, daß er geweint hatte und bat ihn zärtlich, sich zu fassen. »Meine Leiden sind nun vorüber«, sagte sie; »ich bin Montonis Tyranney entgangen, und sehn sie wohl — lassen Sie mich Sie auch zufrieden sehn!«
Valancourt wurde noch heftiger gerührt. »Ich bin Ihrer unwerth Emilie«, rief er, »ich bin Ihrer unwerth!« — Emilie erschrack mehr über die Art, wie er diese Worte aussprach, als über ihren Inhalt. Sie heftete einen traurigen, fragenden Blick auf ihn. »Sehn Sie mich nicht so an«, sagte er, indem er sich wegwandte, und ihre Hand drückte, »ich kann diese Blicke nicht ertragen.«
»Ich möchte Sie gerne«, sagte Emilie mit sanfter aber gerührter Stimme, »um den Sinn Ihrer Worte fragen, allein ich sehe, daß die Frage Sie jetzt beunruhigen würde. Lassen Sie uns von etwas andern sprechen, morgen werden Sie vielleicht ruhiger seyn. Betrachten Sie diese Mondlichtswälder und die Thürme, die dunkel in der Ferne erscheinen. Sie pflegten sonst ein großer Bewundrer schöner Landschaften zu seyn, und ich habe Sie sagen hören, daß die Fähigkeit, unter dem Drucke des Unglücks einen Trost aus solchen erhabenen Gegenständen zu schöpfen, den weder Unterdrückung noch Armuth uns rauben kann, der eigenthümliche Seegen des Unschuldigen sey.«
Valancourt war tief gerührt. »Ja«, antwortete er, »ich hatte einst einen Geschmack für schuldlose und reine Freuden, ich hatte ein unverdorbenes Herz.« Er hielt inne und sezte hinzu; »erinnern Sie sich noch unsrer Reise in die Pyrenäen?«
»Kann ich sie je vergessen?« sagte Emilie.
»O daß ich es könnte! es war die glücklichste Zeit meines Lebens, ich liebte damals mit Feuer alles was würklich groß oder gut war.« Emilie brauchte einige Zeit, um ihre Thränen zu unterdrücken und ihrer Bewegung Herr zu werden. »Wenn Sie diese Reise zu vergessen wünschen«, sagte sie, »so muß es gewiß auch mein Wunsch seyn — aber jetzt ist nicht die Zeit weiter nachzufragen — und doch wie kann ich nur einen Augenblick den Gedanken tragen, daß Sie meiner Achtung weniger verdienen als damals? Ich setze noch immer Vertrauen genug in Ihre Aufrichtigkeit, um zu glauben, daß Sie mir eine Erklärung geben werden, wenn ich Sie darum bitte.« »Ja Emilie«, sagte Valancout, »ich habe meine Aufrichtigkeit noch nicht verlohren; sonst hätte ich meine Bewegung besser verheelen können als ich hörte, was Sie litten, mit welcher Tugend, mit welcher Standhaftigkeit, während ich — aber ich will nichts weiter sagen — ich wollte nicht einmal so viel sagen — O sagen Sie mir Emilie, daß Sie diese Reise nicht vergessen wollen! sagen Sie mir nur das, und ich will ruhig seyn. Um alles in der Welt möchte ich die Erinnerung daran nicht hingeben.«
»Wie widersprechend ist das!« sagte Emilie, »aber man könnte uns hören. Meine Erinnerung an die Reise muß von der Ihrigen abhängen. Ich will sie zu vergessen oder mich daran zu erinnern suchen, nachdem Sie es thun. Lassen Sie uns zum Grafen gehn.« »Sagen Sie mir zuvor«, rief Valancourt, »daß Sie mir die Unruhe, die ich Ihnen verursacht habe, vergeben, und daß Sie mich noch lieben wollen!« — »Ich vergebe Ihnen von ganzem Herzen«, erwiederte Emilie. »Sie müssen am besten wissen, ob ich fortfahren soll, Sie zu lieben, da Sie wissen, ob Sie meine Achtung verdienen. Für jetzt will ichs glauben. Ich brauche wohl nicht zu sagen«, setzte sie hinzu, da sie seine Niedergeschlagenheit bemerkte, »welchen Schmerz es mir verursachen würde, das Gegentheil zu glauben. Aber da kommt Blanka, des Grafen Tochter.«
Valancourt und Emilie gesellten sich nun zu Blanken, und die Gesellschaft setzte sich bald nachher zu einem Mahl, das unter einem kleinen Zelte zwischen den Bäumen ausgebreitet war, nieder. Einige ehrwürdige alte Pächter des Grafen setzten sich zu ihnen, und es war ein festliches Mahl für alle, ausser für Emilien und Valancourt. Der Graf lud den letztern nicht ein, ihn aufs Schloß zu begleiten; er mußte also von Emilien Abschied nehmen, und sich in sein einsames Wirthshäuschen zurückziehn. Emilie gieng sogleich auf ihr Zimmer, wo sie mit tiefer Angst und Bekümmerniß über sein Betragen und über die Art, wie ihn der Graf aufgenommen, nachdachte. Ihre Aufmerksamkeit war so ganz beschäftigt, daß sie Dorotheen ganz vergaß bis der Morgen schon angebrochen war. Sie wußte nun, daß die gute Alte nicht mehr kommen würde, und legte sich auf einige Stunden zur Ruhe nieder.
Am andern Morgen traf der Graf Emilien auf ihrem Spatziergange an, und lenkte bald das Gespräch von dem Feste, des vergangenen Abends auf Valancourt. »Es ist ein junger Mann von Talenten«, sagte er, »ich sehe, daß Sie ihn sonst schon gekannt haben!« Emilie bejahete es. »Er wurde zu Paris in meinem Hause eingeführt«, fuhr der Graf fort, »und er gefiel mir anfangs sehr.« Er hielt inne, und Emilie zitterte zwischen dem Verlangen, mehr zu erfahren, und der Furcht, dem Grafen zu verrathen, daß sie einen nähern Antheil nähme. »Darf ich fragen«, fieng der Graf endlich wieder an, »wie lange Sie Herrn Valancourt schon gekannt haben.« — »Wollen Sie mir vergönnen, Sie um die Ursache dieser Frage zu bitten, so will ich sie auf der Stelle beantworten.« »Das ist nicht mehr als billig«, erwiederte der Graf. »Ich sehe, daß Hr. Valancourt Sie bewundert, und finde das natürlich — nur fürchte ich, daß er ein begünstigter Anbeter ist.«
»Warum fürchten Sie das?« sagte Emilie, die sich vergebens bemühte, ihre Bewegung zu unterdrücken. — »Weil ich ihn Ihrer Gunst unwerth glaube«, sagte der Graf. — Emilie in größter Bewegung bat um eine Erklärung. »Ich will sie Ihnen geben«, sagte er, »wenn Sie mir glauben, daß nur eine aufrichtige Theilnahme an Ihrer Wohlfahrt mich vermögen konnte, diese Behauptung zu äußern.«
»Aber lassen Sie uns unter diese Bäume setzen«, sagte er, da er die Blässe ihres Gesichts bemerkte; »hier ist ein Sitz, Sie sind ermüdet. — Viele junge Frauenzimmer in Ihrer Lage«, fuhr er fort, »würden mein Betragen bei dieser Gelegenheit nach so kurzer Bekanntschaft mehr für Zudringlichkeit als für Freundschaft halten. Nach der Kenntniß, die ich von Ihnen zu haben glaube, fürchte ich eine solche Erniedrigung von Ihnen nicht. Unsre Bekanntschaft ist zwar kurz, aber doch lang genug gewesen, um mir eine herzliche Achtung für Sie und eine lebhafte Theilnahme an Ihrer Glückseligkeit einzuflößen. Sie verdienen, glücklich zu seyn, und ich hoffe, daß Sie es auch seyn werden.« Emilie stutzte leise und neigte sich dankbar. — Der Graf schwieg wieder. — »Ich fühle mich nicht in der angenehmsten Lage«, fuhr er fort, »aber der Gedanke, Ihnen einen wesentlichen Dienst zu leisten, soll jede andre Rücksicht überwiegen. Wollen Sie mir nicht erzählen, wie Sie zuerst mit dem Chevalier Valancourt bekannt wurden, wenn Ihnen der Gegenstand nicht zu empfindlich ist.«
Emilie erzählte ihm nun in aller Kürze, wie sie ihn zuerst auf einer Reise mit ihrem Vater hätte kennen lernen, und bat dann den Grafen inständigst, ihr alles zu sagen, daß er die heftige Bewegung, mit der sie kämpfte, wahrnahm, sie mit einem zärtlichen Blick des Mitleids betrachtete, und mit sich zu Rathe gieng, wie er seine Nachrichten seiner ängstlichen Zuhörerin auf die sanfteste Art beybringen sollte.
»Der Chevalier und mein Sohn«, sagte er, »wurden am Tische eines Officiers mit einander bekannt, wo auch ich ihn kennen lernte und ihn in mein Haus einlud, so oft es ihm Vergnügen machte zu kommen. Ich wußte damals nicht, daß er in Verbindung mit einer Klasse von Menschen stand, die eine Schande ihres Geschlechts sind, die vom Raube leben und ihre Zeit mit unaufhörlichen Ausschweifungen hinbringen. Ich kannte des Chevaliers Familie und hielt das für genug, ihn in der meinigen einzuführen — aber Ihnen wird nicht wohl, ich werde das Gespräch abbrechen.« — »O nein, ich bitte Sie fortzufahren, ich bin nur bekümmert.« — »Nur«, sagte der Graf mit Nachdruck; »doch will ich fortfahren. Ich erfuhr bald, daß diese Gefährten ihn in eine Lebensart verwickelt hatten, wovon sich loszureißen er weder Kraft noch Willen zu haben schien. Er verlohr große Summen am Spieltisch; sein Hang dazu wurde immer größer, und er wurde zu Grunde gerichtet. Ich gab seinen Freunden entfernte Winke, aber sie versicherten mich, daß sie ihm vergebens Vorstellungen gemacht hätten, bis sie es müde geworden wären. Ich erfuhr nachher, daß er sehr viel Talente und Glück im Spiel hatte, wenn er nicht durch Betrüger überlistet wurde, und daß ihn die Gesellschaft aus dieser Rücksicht in die Geheimnisse ihres Gewerbes eingeweiht, und ihm einen Antheil an ihrem Gewinnst ausgesetzt hatte.« — »Unmöglich!« rief Emilie plötzlich — »aber vergeben Sie mir, ich weiß nicht was ich sagte — haben Sie Nachsicht mit der Bekümmerniß meiner Seele. Aber ich muß doch würklich glauben, daß der Chevalier Feinde gehabt hat, die ihn nachtheilig darstellten.« — »Ich möchte es gerne glauben«, erwiederte der Graf, »aber ich kann nicht. Nur bestimmte Gewißheit und meine Rücksicht für Ihr Glück konnten mich dahin bringen, diese unangenehmen Gerüchte zu wiederholen.«
Emilie schwieg. Sie erinnerte sich an Valancourts Worte vom Abend zuvor, welche die Qual innrer Vorwürfe verriethen und alles zu bestätigen schienen, was der Graf erzählt hatte. Doch hatte sie nicht Stärke genug, die Ueberzeugung anzunehmen. Ihr Herz war bei dem bloßen Verdacht seiner Strafbarkeit von Angst durchdrungen, und sie konnte die Ueberzeugung davon nicht ertragen. Nach einem langen Schweigen sagte der Graf: »Ich sehe, daß Sie sich noch nicht überzeugen können, und halte es Ihnen gern zu gut. Es ist nothwendig, daß ich Ihnen einen Beweis meiner Behauptung gebe; allein ich kann es nicht, ohne jemand, der mir sehr theuer ist, in Gefahr zu setzen.« »In welche Gefahr?« sagte Emilie. »Wenn ich sie verhüten kann, so dürfen Sie sich auf meine Ehre verlassen.« — »Auf Ihre Ehre gewiß«, sagte der Graf, »aber auch auf Ihre Stärke? Werden Sie den Bitten eines geliebten Anbeters widerstehen können, wenn er in seiner Betrübniß um den Namen desjenigen fleht, der ihm sein Glück geraubt hat?« »Ich kann einer solchen Versuchung nicht ausgesetzt seyn«, erwiederte Emilie mit bescheidener Würde: »denn ich kann einen Mann nicht länger lieben, den ich nicht mehr achten darf. Doch gebe ich Ihnen gern mein Wort.« Thränen widersprachen zugleich ihrer Behauptung, und sie fühlte, daß nur Zeit und Mühe eine Neigung ausrotten könnten, die auf tugendhafte Achtung zuerst gegründet und durch Gewohnheit und Hindernisse befestigt war.
»Ich will Ihnen trauen«, sagte der Graf: »denn Ueberzeugung ist zu Ihrer Ruhe nothwendig, und die können Sie, wie ich sehe, ohne diese Eröffnung nicht erlangen. Mein eigner Sohn ist nur zu oft ein Augenzeuge von des Chevaliers schlechter Aufführung gewesen; er war nahe dabey, durch ihn verführt zu werden, und hatte sich in der That schon zu manchen Thorheiten verleiten lassen; doch rettete ich ihn von Schuld und Verderben. Urtheilen Sie nun selbst, Fräulein St. Aubert!« fuhr er ernsthafter fort, »ob ein Vater, der seinen einzigen Sohn durch das Beispiel des Chevaliers beynahe verlohren hätte, nicht aus Ueberzeugung diejenigen, die er achtet, warnen muß, ihre Glückseligkeit solchen Händen anzuvertrauen. Ich selbst habe den Chevalier im hohen Spiele mit Leuten getroffen, die mich anzusehn schauderte. Wenn Sie noch zweifeln, so will ich Sie an meinen Sohn verweisen.«
»Ich kann an dem, was Sie selbst gesehn haben, oder was Sie bekräftigen, nicht zweifeln«, erwiederte Emilie schmerzhaft; »allein der Chevalier ist vielleicht nur zu einer vorübergehenden Thorheit verleitet worden, die er nie wiederholen wird. Wenn Sie seine vorigen Grundsätze gekannt hätten, so würden Sie mir meine Ungläubigkeit zu gute halten.«
»Ach!« sagte der Graf, »daß es doch so schwer ist, zu glauben, was uns unglücklich macht! Aber ich darf Ihnen nicht mit falschen Hoffnungen schmeicheln. Wir alle wissen, wie mächtig das Laster des Spiels ist, und welche Mühe es kostet, eine Gewohnheit zu besiegen. Der Chevalier könnte sich vielleicht auf kurze Zeit bessern, aber er würde bald wieder zurückfallen; denn ich fürchte, nicht allein die Macht der Gewohnheit, sondern auch das Verderbniß seiner moralischen Grundsätze. Ich kann Ihnen nicht verhehlen, daß das Spiel nicht sein einziges Laster ist: er scheint einen Hang zu jedem lasterhaften Vergnügen zu haben.«
Der Graf hielt eine Weile unschlüssig inne, während Emilie sich aufrecht zu halten suchte, da sie mit schneidender Unruhe erwartete, was er noch weiter sagen würde. Es erfolgte ein langes Stillschweigen: der Graf selbst war sichtlich bewegt — endlich sagte er: »es würde eine grausame Schonung seyn, wenn ich schweigen wollte. Ich muß Ihnen sagen, daß des Chevaliers Ausschweifung ihn zweimal in die Gefängnisse von Paris gebracht hat, und daß er endlich durch eine wohlbekannte parisische Gräfin befreit wurde, mit der er noch nachher in Verbindung blieb.«
Er hielt wieder inne und sah Emilien an; er merkte, daß sie das Gesicht veränderte, und im Begrif war, von der Bank herunter zu fallen: er fieng sie auf, aber sie war in Ohnmacht gesunken, und er rief laut nach Hülfe. Sie waren zu weit vom Schlosse entfernt, um von seinen Leuten gehört zu werden, und er fürchtete, sie allein zu lassen, bis ihm ein nahe gelegener Brunnen einfiel. Sie lebte endlich auf, und fand sich unterstützt, nicht vom Grafen, sondern von Valancourt, der mit tiefer Bekümmerniß über ihr hieng, und sie mit einer vor Angst zitternden Stimme anredete. Bei dem Tone seiner wohlbekannten Stimme schlug sie die Augen auf, schloß sie aber sogleich wieder von einer neuen Schwäche überwältigt.
Der Graf winkte ihm mit finsterm Blick, sich fortzubegeben, aber Valancourt seufzte tief, und nannte Emiliens Namen, indem er ihr Wasser an den Mund reichte. Als der Graf seinen Wink wiederholte und ihn mit Worten begleitete, antwortete Valancourt mit einem Blicke voll bittern Unwillens, und weigerte sich den Ort zu verlassen, bis sie aufleben würde, oder sie nur auf einen Augenblick der Sorge eines andern anzuvertrauen. Gleich darauf sagte ihm sein Gewissen, was der Inhalt von des Grafen Gespräch mit Emilien gewesen seyn möchte, und Unwille flammte aus seinen Augen: allein dieser Unwille machte bald einem Ausdruck tiefen Schmerzens Platz, der den Grafen so sehr rührte, daß er ihn mehr mit Mitleid als mit Empfindlichkeit betrachtete, und der Emilien, als sie wieder erwachte, so tief durchdrang, daß sie in Thränen ausbrach. Sie unterdrückte sie bald und bot alle Entschlossenheit ihrer Seele auf. Sie dankte dem Grafen und Heinrich, mit denen Valancourt in den Garten gekommen war, für ihre Bemühung, und gieng nach dem Schlosse zu, ohne weiter auf Valancourt zu achten, dem sie blos eine kalte Verbeugung machte. Ihr Betragen schnitt ihm tief ins Herz, und er rief leise aus: »Großer Gott! wie habe ich das verdient? wodurch hat man Sie so gegen mich eingenommen?«
Emilie beschleunigte ihre Schritte, ohne zu antworten, aber mit steigender Bewegung. »Was hat Sie so außer Fassung gebracht, Emilie!« sagte er, indem er noch immer ihr zur Seite gieng. »Vergönnen Sie mir nur eine Unterredung von wenig Augenblicken; ich flehe Sie an — o ich bin sehr unglücklich!«
So leise er dieses auch sagte, hörte ihn doch der Graf, der sogleich das Wort nahm. »Sie sehen, daß Fräulein St. Aubert sich jetzt zu übel befindet, um irgend eine Unterredung zu führen.«
Es würde ihr weniger schmerzhaft gewesen seyn, Valancourt durch den Tod zu verlieren, oder ihn an eine Nebenbuhlerin verheirathet zu sehn, als ihn in einem so unwürdigen Zustande zu wissen, der am Ende ihn selbst elend machen mußte, und ihr sogar das Bild ihrer einsamen Stunden raubte, woran ihr Herz so lange gehangen hatte.
Diese schmerzhaften Betrachtungen wurden auf einen Augenblick durch ein Billet von Valancourt unterbrochen, das in sichtlicher Verzweiflung geschrieben war. Er flehte sie darin an, ihn noch diesen Abend, statt morgen früh, vor sich zu lassen; eine Bitte, die sie in solche Unruhe setzte, daß sie außer Stande war zu antworten. Sie wünschte ihn zu sehen, um aus ihrer Ungewißheit befreyt zu werden; doch schrack sie vor der Zusammenkunft zurück, und unvermögend, selbst einen Entschluß zu fassen, ließ sie dem Grafen um eine kleine Unterredung in seiner Bibliothek bitten, wo sie ihm das Billet zeigte, und ihn um Rath bat. Er meinte, wenn sie sich nur stark genug fühlte, die Zusammenkunft auszuhalten, so würde es zur Erleichterung für beide gereichen, wenn sie noch diesen Abend vor sich gienge.
»Seine Liebe für Sie«, setzte er hinzu, »ist ohne Zweifel sehr aufrichtig, und er scheint so tief betrübt, und auch Sie, meine liebe Freundin, sind so sehr angegriffen, daß es besser ist, wenn die Sache je eher je lieber entschieden wird.«
Emilie antwortete ihm, daß er kommen möchte, und suchte nun Kräfte und Fassung zu sammeln, um den herannahenden Auftritt auszuhalten — sie mußte sich gefaßt machen, den gänzlichen Umsturz aller Aussichten zu ertragen, auf die sie bisher mit Entzücken hingeblickt hatte.
Gegen Abend wurde Emilien endlich gesagt, daß der Graf von Villefort sie zu sehn wünschte. Sie vermuthete, daß Valancourt bei ihm sey, und bot alle Entschlossenheit ihres Geistes auf, um zu ihm zu gehn. Als sie aber des Grafen Thür erreichte, überwältigte ihre Bewegung sie aufs neue so sehr, daß sie sich im Vorsaal niedersetzen mußte, um wieder neue Kräfte zu sammlen.
Sie fand Valancourt bei dem Grafen in der Bibliothek. Sie standen bei ihrem Eintritt auf; allein sie wagte es nicht, Valancourt anzusehn, und der Graf zog sich sogleich zurück, nachdem er sie zu einem Stuhle geführt hatte.
Emilie sah starr zur Erde nieder, und fühlte eine Herzensbeklemmung, die ihr nicht zu sprechen erlaubte; kaum vermochte sie Athem zu schöpfen. Valancourt warf sich in einen Stuhl neben sie, und seufzte tief, ohne ein Wort zu äußern: hätte sie die Augen aufgeschlagen, so würde sie die heftige Bewegung gesehn haben, mit welcher er kämpfte.
Endlich sagte er mit bebender Stimme: »ich habe Sie gebeten, mich diesen Abend zu sehn, um wenigstens von der schrecklichen Qual des Zweifels befreit zu werden, worin mich Ihr verändertes Betragen gestürzt hat. Einige Winke des Grafen haben es mir zum Theil erklärt. Ich sehe, daß ich Feinde habe, Emilie! die mein vergangenes Glück beneideten und geschäftig gewesen sind, es zu Grunde zu richten. Ich sehe ebenfalls, daß Zeit und Entfernung die Neigung geschwächt haben, die Sie einst für mich zu fühlen schienen, und die nun so leicht meiner vergessen kann.«
Seine Zunge stammelte bei den letzten Worten, und Emilie, noch weniger als zuvor fähig zu sprechen, blieb stille.
»O, was ist das für eine Zusammenkunft!« rief Valancourt, der von seinem Stuhle aufstand und mit schnellen Schritten im Zimmer auf und nieder lief — »welch ein Wiedersehn nach so langer, langer Trennung!« — Er setzte sich wieder, und sagte, nachdem er einen Augenblick mit sich selbst gekämpft hatte, in einem festen, aber verzweifelndem Tone: »das ist zu viel; ich kann es nicht ertragen! Emilie, wollen Sie nicht mit mir reden?«
Er bedeckte das Gesicht, um seine Bewegung zu verhehlen, und nahm Emilien bei der Hand, die sie nicht zurückzog. Sie konnte ihre Thrähnen nicht länger zurückhalten. Er schlug die Augen auf, und als er sah, daß sie weinte, kehrte seine ganze Zärtlichkeit zurück; ein Strahl von Hofnung schien durch seine Seele zu dämmern; »o Gott!« rief er, »so fühlen Sie also noch Mitleid, so lieben Sie mich noch? Ja, Sie sinds, Sie sind noch meine Emilie! Lassen Sie mich diesen Thränen trauen!«
Emilie that sich Gewalt an, um ihre Fassung wieder zu erlangen. Sie trocknete schnell die Augen. »Ja«, sagte sie, »ich fühle Mitleid mit Ihnen, ich weine um Sie; aber darf ich mit Zärtlichkeit an Sie denken? Sie werden sich erinnern, daß ich Ihnen noch gestern Abend sagte: ich setzte Vertrauen genug in Ihre Aufrichtigkeit, um zu glauben, daß Sie mir eine Erklärung Ihrer Worte geben würden, wenn ich sie forderte. Diese Erklärung ist nunmehr unnöthig; ich verstehe Ihre Aeußerungen von gestern Abend nur zu gut. Aber beweisen Sie wenigstens, daß Ihre Aufrichtigkeit das Zutrauen verdient, womit ich Sie frage: ob Sie sich bewußt sind, noch derselbe achtungswerthe Valancourt zu seyn, den ich einst liebte?«
»Einst liebte!« rief er, »o derselbe! ewig derselbe!« — Er hielt in äußerster Bewegung inne, und setzte dann mit einer eben so feierlichen als traurigen Stimme hinzu: — »Nein, ich bin nicht mehr derselbe, ich bin verlohren, auf immer verlohren — Ihrer unwerth!« —
Er verbarg aufs neue das Gesicht. Emilie war zu tief bewegt, um sogleich zu antworten; sie kämpfte, um die wehmüthigen Vorbitten ihres Herzens zu überwältigen, und mit der entschiedenen Festigkeit zu handeln, die für ihren künftigen Frieden nothwendig war. Sie fühlte, wie gefährlich Valancourts längere Gegenwart für ihre Entschlossenheit war, und wünschte ängstlich eine Zusammenkunft zu endigen, die sie beide foltern mußte. Wenn sie dann aber wieder bedachte, daß dies wahrscheinlich das letztemal war, so erlag alle ihre Stärke, und sie empfand nur Trauer und zärtliche Wehmuth.
Valancourt in Regungen des Schmerzes und innerer Vorwürfe versunken, die er zu unterdrücken weder Kraft noch Willen hatte, saß beinahe fühllos vor Emilien, sein Gesicht noch immer verhüllt und seine Brust von krampfhaften Seufzern zerrissen.
»Ersparen Sie mir die Nothwendigkeit«, sagte Emilie, indem sie ihre Stärke zusammenrafte, »die Umstände zu berühren, die mich zwingen, unsre Verbindung auf immer abzubrechen. Wir müssen scheiden; ich sehe Sie jetzt zum letztenmale!«
»Unmöglich!« rief Valancourt, aus seinem tiefen Stillschweigen aufgeschreckt. »Sie können das nicht ernstlich meynen! Unmöglich können Sie mich auf immer von sich stoßen wollen!«
»Wir müssen uns trennen«, wiederholte Emilie mit Nachdruck, »und zwar für immer. Ihr eignes Betragen hat diesen Entschluß nothwendig gemacht.«
»Dies ist des Grafen Entschluß und nicht der Ihrige«, antwortete er stolz; »und ich werde ihn fragen, vermöge welcher Gewalt er sich zwischen uns wirft.« — Er stand auf und ging in großer Bewegung im Zimmer auf und ab.
»Lassen Sie mich Sie aus diesem Irrthum reißen«, sagte Emilie nicht weniger erschüttert. »Es ist ganz mein eigner Entschluß, und wenn Sie einen Augenblick über Ihr vergangnes Betragen nachdenken, so werden Sie sehen, daß meine Ruhe ihn erfordert.«
»Ihre Ruhe erfordert, daß wir uns trennen! auf ewig trennen!« sagte Valancourt. »O wie wenig hätte ich das je von Ihnen zu hören erwartet!«
»Und wie wenig hätte ich erwartet, je dieses sagen zu müssen«, versetzte Emilie; ihre Stimme schmolz in Zärtlichkeit und ihre Thränen flossen aufs neue. »O Valancourt! Daß Sie, Sie je aus meiner Achtung sinken mußten!«
Er schwieg einen Augenblick, überwältigt durch das Bewußtseyn, diese Achtung nicht länger zu verdienen, sowohl als durch die Gewißheit, sie verlohren zu haben — und bejammerte dann mit den Ausbrüchen des heftigsten Schmerzes sein vergangenes Betragen und das Elend, worin es ihn gestürzt hatte — bis er endlich, zu tief von der Vergangenheit und Zukunft ergriffen, in Thränen ausbrach, und nur tiefe, gebrochene Seufzer ausstieß.
Emilie konnte seine Qual nicht ungerührt ansehn, und hätte sie nicht alles, was der Graf von Villefort ihr von Valancourts Betragen, von der Gefahr, auf eine durch den Augenblick der Leidenschaft hervorgebrachte Reue zu bauen, gesagt hatte, sich ins Gedächtniß zurückgerufen, so würde sie vielleicht der Zusicherung ihres Herzens getraut, und in der Zärtlichkeit seiner Reue die Fehler seines Betragens vergessen haben.
Valancourt trat wieder zu ihr, und sagte gefaßter: »Es ist wahr, ich bin gefallen, aus meiner eignen Achtung gefallen; aber hätten Sie, Emilie! mich sobald, so plötzlich aufgeben können, wenn Sie nicht schon vorher aufgehört hätten, mich zu lieben, und wenn Sie nicht durch die Absichten, ja ich wage es zu sagen, durch die eigennützigen Absichten eines andern regiert würden? Würden Sie nicht sonst geneigt seyn, meine Besserung zu hoffen, und könnten Sie es wohl sonst ertragen, sich von mir zu entfremden, und mich dem Elende — mich mir selbst zu überlassen?« — Emilie weinte laut. — »Nein Emilie! nein, Sie könnten das nicht, wenn Sie mich noch liebten. Sie würden Ihr eignes Glück darin finden, das meinige zu retten.«
»Dieser Hofnung stehn zu viel Gründe entgegen, als daß ich es vor mir selbst rechtfertigen könnte, ihr die Ruhe meines ganzen Lebens anzuvertrauen. Darf ich nicht auch fragen, ob Sie dieses von mir wünschen könnten, wenn Sie mich wirklich liebten?«
»Sie wirklich liebte!« rief Valancourt, »ist es möglich, daß Sie an meiner Liebe zweifeln können! Doch Sie haben Recht, es zu thun, da Sie sehn, daß ich mehr den Schmerz fürchte, mich von Ihnen zu trennen, als den, Sie mit in mein Verderben zu ziehn. Ja, Emilie, ich bin verlohren, unwiederbringlich verlohren! Ich habe mich in Schulden gestürzt, die ich nie tilgen kann!« Sein wilder Blick bei diesen Worten gieng bald in einen Ausdruck finstrer Verzweiflung über, und Emilie sah, indem sie seiner Aufrichtigkeit ihre Bewunderung nicht versagen konnte, mit unaussprechlichem Schmerz in der Heftigkeit seiner Gefühle und in dem Umfange des Elends, worin sie ihn stürzen konnten, neue Ursachen zu den ängstlichsten Besorgnissen. Nach einigen Minuten schien sie gegen ihren Schmerz zu kämpfen und nach Fassung zu streben, um diese Zusammenkunft zu endigen. »Ich will diese Augenblicke«, sagte sie, »nicht durch ein Gespräch verlängern, das zu keinem guten Ende abzwecken kann. Leben Sie wohl, Valancourt!«
»Nein«, sagte er, sie wild unterbrechend, »Sie werden nicht gehn; Sie werden mich nicht so verlassen — Sie werden mich nicht verlassen, ehe meine Seele eine Möglichkeit gefaßt hat, der letzten Befriedigung meiner Verzweiflung, dem Ertragen meines Verlustes zu entgehen.« Emilie, durch seinen düstern Blick geschreckt, sagte mit besänftigender Stimme: »Sie haben selbst eingestanden, daß unsre Trennung nothwendig ist; wenn ich glauben soll, daß Sie mich lieben, so werden Sie das Eingeständniß wiederholen.« — »Nie — nie —« rief er, »ich war von Sinnen, als ich dies sagte. O Emilie! es ist zu viel. Wenn man Sie auch wegen meines Unwerths nicht hintergangen hat, so muß man Sie doch mit List zu dieser Erbitterung gegen mich gebracht haben. Der Graf ist das Hinderniß, das zwischen uns steht, allein er soll es nicht lange bleiben.«
»Sie sind in der That außer sich«, sagte Emilie. »Der Graf ist nicht Ihr Feind; er ist ein Mann von Ehre und mein Freund; können Sie ihn deswegen als Ihren Feind betrachten?« — »Ihr Freund«, fiel Valancourt hastig ein, »wie lange ist er Ihr Freund gewesen, daß er Sie so leicht dahin bringen kann, Ihren Geliebten zu vergessen? War er es, der den Herrn Dúpont, der, wie Sie sagen, Sie aus Italien begleitete, und wie ich sage, Ihre Neigung gestohlen hat, in Ihre Gunst empfahl? Aber ich habe kein Recht, Sie zu befragen, Sie sind Ihr eigner Herr. Vielleicht wird Dúpont nicht lange über mein zertretenes Glück triumphiren!« Emilie, mehr als zuvor durch Valancourts wilde Blicke geschreckt, sagte mit kaum hörbarer Stimme: »Um's Himmels willen, fassen Sie sich doch! hören Sie doch Gründe an. Herr Dúpont ist eben so wenig Ihr Nebenbuhler, als der Graf sein Vorsprecher. Sie haben weder einen Nebenbuhler, noch einen andern Feind, außer sich selbst. Mein Herz ist von Schmerz zerrissen, der immer wachsen muß, je mehr Ihr verirrtes Betragen mir beweist, daß Sie nicht mehr der Valancourt sind, den ich gewohnt war zu lieben.«
Er antwortete nicht, und saß, den Arm auf den Tisch gestützt, und das Gesicht mit beiden Händen bedeckt, da, während Emilie stumm und zitternd da stand, leidend für sich selbst, und doch voll Furcht ihn in diesem Gemüthszustande zu verlassen.
»O Uebermaaß des Elends!« rief er plötzlich aus, »daß ich nie mein Leiden bejammern kann, ohne mich selbst anzuklagen; nie mich Ihrer erinnern, ohne mich zugleich der Thorheiten zu erinnern, wodurch ich Sie verlohren habe. Warum wurde ich nach Paris getrieben? und warum gab ich Lockungen nach, die mich auf immer verächtlich machen sollten? O! warum kann ich nicht ungestört auf jene Tage der Unschuld und des Friedens, auf die Tage unsrer frühen Liebe zurückblicken!« Die Erinnerung schien sein Herz zu schmelzen, und der Wahnsinn der Verzweiflung löste sich in Thränen auf. Nach einer langen Pause wandte er sich zu ihr, ergrif ihre Hand, und sagte mit sanfter Stimme: »Emilie, kannst Du es tragen, daß wir so scheiden? kannst du Dich entschließen, ein Herz hinzugeben, das Dich wie das meinige liebt? ein Herz, das sich zwar verirrt, sehr verirrt hat; aber von dem rechten Wege nicht auf immer verlohren ist, so wie es seine Liebe zu Dir ewig nicht verliehren kann.« Emilie konnte nur durch Thränen antworten. — »Kannst Du«, fuhr er fort, »kannst Du vergessen alle unsre vorigen Tage des Glücks und des Vertrauens — wo ich nicht einen Gedanken hatte, den ich Dir hätte verhehlen mögen — keinen Geschmack, keine Freuden, außer in Dir.«
»O bringen Sie mir nicht die Erinnerung jener Tage zurück«, sagte Emilie, »wenn Sie mich nicht lehren können, die Gegenwart zu vergessen. Ich will Ihnen keine Vorwürfe machen: könnte ich es, so würden diese Thränen nicht fließen: aber warum erhöhn Sie selbst Ihr gegenwärtiges Leiden dadurch, daß Sie es mit Ihrer ehemaligen Tugend in Vergleichung setzen?«
»Ach, ich könnte vielleicht diese Tugend wieder erlangen«, sagte Valancourt, »wenn Ihre Liebe, die ihr Nahrung gab, noch unverändert wäre; aber ich sehe nur zu deutlich, daß Sie mich nicht mehr lieben können, sonst würden jene glücklichen Stunden meine Vorsprecher seyn, und Sie könnten nicht ungerührt darauf zurückblicken. Doch, warum quäle ich mich mit der Erinnerung, warum verweile ich noch hier? Bin ich nicht zu Grunde gerichtet? wäre es nicht Raserei, Sie in mein Verderben zu ziehn, wenn auch Ihr Herz noch mein wäre? Ich will Sie nicht länger quälen. Aber ehe ich gehe«, setzte er feierlich hinzu, »lassen Sie mich wiederholen, daß ich, was auch mein Geschick sey, was ich auch verdammt seyn mag, zu leiden, Sie stets lieben muß — Sie bis zum Wahnsinn liebe. Ich gehe, Emilie! ich verlasse Sie — verlasse Sie auf immer!« Als er diese letzten Worte sagte, zitterte seine Stimme und er warf sich wieder in den Stuhl, aus dem er aufgestanden war. Emilie war unvermögend, das Zimmer zu verlassen oder ihm Lebewohl zu sagen. Aller Eindruck seiner Vergehungen, seiner Thorheiten selbst war aus ihrer Seele vertilgt, und sie fühlte sich nur von Schmerz und Mitleid durchdrungen.
»Meine Stärke ist dahin«, sagte Valancourt endlich. »Ich kann nicht einmal mehr kämpfen, sie zurückzurufen. Ich kann Sie jetzt nicht verlassen, ich kann Ihnen kein ewiges Lebewohl sagen — versprechen Sie mir wenigstens, mich noch einmal zu sehn.«
Emiliens Herz wurde durch diese Bitte erleichtert, und sie suchte sich zu überreden, daß sie es ihm nicht abschlagen dürfte. Sie konnte in dem Augenblick nicht daran denken, daß sie selbst nur ein Gast in des Grafen Hause war, und daß diesem Valancourts wiederholter Besuch nicht angenehm seyn könnte. Sie gewährte seine Bitte unter der Bedingung, daß er weder an den Grafen als Feind, noch an Dúpont als Nebenbuhler denken wollte. Er verließ sie darauf mit einem durch diese kurze Frist so sehr erleichterten Herzen, daß er beinahe alles vorige Gefühl seines Unglücks verlohr.
Emilie begab sich auf ihr Zimmer, um sich zu sammlen und die Spuren von Thränen zu verwischen, welche die Gräfin und ihre Favorite zu boshaften Anmerkungen leiten und die Neugier der übrigen Familie auf sich ziehn konnten. Doch fand sie es unmöglich, ihr Gemüth zu beruhigen, aus dem sie die Erinnerung an den letzten Auftritt mit Valancourt und den Gedanken, daß sie ihn morgen wiedersehn würde, nicht vertreiben konnte. Jetzt erschien ihr diese Zusammenkunft schrecklicher, als die erste; denn sein aufrichtiges Geständniß seiner begangenen Fehler und seiner zerrütteten Umstände, die Stärke und Zärtlichkeit seiner Neigung, welche dieses Geständniß verrieth, hatten einen tiefen Eindruck auf sie gemacht, und ihre Achtung für ihn fing, trotz allem, was sie zu seinem Nachtheil gehört und geglaubt hatte, wiederum zurückzukehren an. Oft schien es ihr unmöglich, daß er sich wirklich der Vergehungen sollte schuldig gemacht haben, die man ihm zur Last legte, und die, wenn auch nicht mit der leidenschaftlichen Heftigkeit seines Temperaments, doch mit seiner Aufrichtigkeit und mit seinem Gefühl im Widerspruch standen. Was für Vergehungen auch zu den Gerüchten über ihn Anlaß gegeben hatten, so konnte sie doch jetzt sie unmöglich für ganz wahr halten, oder glauben, daß sein Herz den Reizen der Tugend gänzlich verschlossen sey. Sein tiefes Bewußtseyn seiner Fehler schien diese Meinung zu rechtfertigen, und da sie die Unbeständigkeit jugendlicher Neigungen, wenn ihnen Gewohnheit im Wege steht, noch nicht kannte, da sie noch nicht aus Erfahrung wußte, daß Betheuerungen sowohl denjenigen, der sie empfängt, als selbst den, der sie giebt, oft bethören, so würde sie vielleicht den schmeichelhaften Ueberredungen ihres eignen Herzens und Valancourts Bitten nachgegeben haben, wenn nicht des Grafen größere Klugheit sie zurückgehalten hätte. Er stellte ihr in hellem Lichte die Gefahr ihrer Lage dar; die Gefahr, auf Versprechungen der Besserung zu hören, die eine starke Leidenschaft eingab; er zeigte ihr, wie wenig sie auf eine Verbindung bauen konnte, wo die Möglichkeit des Glücks von der Wiederherstellung gescheiterter Glücksumstände und von der Verbesserung böser Gewohnheiten abhieng. Um dieser Gründe willen that es ihm leid, daß Emilie in eine zweite Zusammenkunft gewilligt hatte, denn er sah vorher, wie sehr ihr Entschluß dadurch erschüttert und der Sieg ihr erschwert werden mußte.
Ihre Seele war nun so ganz mit ihren eigenen Herzensangelegenheiten beschäftigt, daß sie die alte Haushälterin und die versprochene Geschichte, die ihre Neugier so sehr erregt hatte, ganz vergaß. Dorotheen schien es nicht sehr um die Erzählung zu thun zu seyn: die Nacht kam heran, die Stunden verstrichen und sie ließ sich nicht bei Emilien sehn. Diese brachte eine traurige, schlaflose Nacht hin; je länger sie ihr Gedächtniß bei den vergangenen Scenen mit Valancourt verweilen ließ, je mehr wankte ihr Entschluß, und sie mußte sich alle Gründe, die der Graf ihr vorgestellt hatte, um ihn zu stärken, und alle Lehren ihres verstorbenen Vaters über die nothwendige Selbstbeherrschung hervorrufen, um bei diesem wichtigsten Vorfall ihres Lebens mit Würde und Klugheit zu handeln. Es gab Augenblicke, wo alle ihre Stärke sie verließ, und wo das Vertrauen voriger Zeiten mit solcher Macht in sie drang, daß es ihr unmöglich schien, Valancourt je zu entsagen. Seine Besserung schien ihr gewiß, die Gründe des Grafen von Villefort wurden vergessen; sie glaubte gern alles, was sie wünschte, und es schien ihr leichter, jedes andre Uebel als eine gänzliche Trennung zu ertragen.
So verstrich die Nacht im ohnmächtigen Kampfe zwischen Neigung und Vernunft, und sie stand am Morgen mit geschwächter, unentschlossener Seele und matten zitternden Körper auf.
Valancourt litt indessen alle Qual der Gewissensbisse und Verzweiflung. Emiliens Anblick hatte alles Feuer seiner ersten Liebe wieder angefacht, das nur durch Abwesenheit und Zerstreuung eines unruhigen Lebens auf kurze Zeit unterdrückt war. Als er beim Empfang ihres Briefes sich nach Languedoc auf den Weg machte, wußte er wohl, daß seine eigne Thorheit ihn ins Verderben gestürzt hatte, und es war keinesweges seine Absicht, dies vor ihr zu verhehlen. Er beklagte nur, daß seine Fehltritte die Verzögerung seiner Heirath verursachen würden, ohne vorherzusehn, daß diese Nachricht sie bewegen könnte, ihre Verbindung für immer aufzuheben. Von der Aussicht auf diese Trennung überwältigt, und von noch mehr geschärften innern Vorwürfen zerrissen, erwartete er die zweite Zusammenkunft in einem Seelenzustande, der nahe an Wahnsinn gränzte. Am andern Morgen ließ er sich erkundigen, um welche Stunde er kommen dürfte; sein Billet traf sie bei dem Grafen an, der aufs neue Gelegenheit gesucht hatte, mit ihr über Valancourt zu sprechen: er merkte, wie sehr ihr Gemüth litt, und fürchtete mehr, als je, daß ihre Stärke sie verlassen würde. In der That konnten auch nur seine wiederholten Gründe sie vor dem Einfluß der Zärtlichkeit, die sie noch immer für Valancourt fühlte, schützen, und sie beschloß, sich gänzlich von ihnen leiten zu lassen.
Die Stunde der Zusammenkunft erschien endlich. Emilie gieng ihr wenigstens mit äußrer Fassung entgegen, Valancourt aber war so sehr außer sich, daß er einige Minuten lang nicht sprechen konnte; Klagen, Bitten und Selbstvorwürfe waren die ersten Worte, die er äußerte. Nachher sagte er: »Emilie, ich habe Sie geliebt, ich liebe Sie mehr als mein Leben; aber ich habe mich selbst zu Grunde gerichtet, und doch wollte ich Sie lieber in eine Verbindung, die Ihr Unglück machen mußte, zu verwickeln suchen, als mich der Strafe, die ich verdiene, Ihrem Verluste unterwerfen. Ich bin im Elende, aber ich will nicht länger ein Bösewicht seyn. Ich will Ihren Entschluß nicht durch die Bitten einer eigennützigen Leidenschaft zu erschüttern suchen. Ich entsage Ihnen, Emilie, und werde Trost in dem Gedanken finden, daß wenigstens Sie glücklich sind, so elend ich auch seyn mag. Zwar darf ich das Verdienst des Opfers mir nicht zuschreiben: denn ich gestehe frei, daß ich nie über mich vermocht haben würde, Sie aufzugeben, wenn nicht Ihre höhere Klugheit es gefordert hätte.«
Er schwieg einen Augenblick, während Emilie die Thränen zu unterdrücken suchte, die ihr in die Augen drangen. Sie wollte reden, vermochte es aber nicht, und er fuhr wieder fort: »Vergeben Sie mir, Emilie, allen Kummer, den ich Ihnen verursacht habe, und wenn Sie ja an den unglücklichen Valancourt denken, so erinnern Sie sich, daß es sein einziger Trost seyn wird, zu glauben, daß Sie nicht länger durch seine Thorheit unglücklich sind.« Thränen überströmten nun ihre Wangen, und er war nahe dabei, wieder in seine vorige Verzweiflung zurückzufallen, als Emilie ihre Stärke aufbot, um eine Unterredung zu endigen, die nur beider Qual vermehren konnte. Da er ihre Thränen sah, und daß sie im Begrif war, zu gehn, kämpfte er noch einmal wider seine eignen Gefühle, um die ihrigen zu besänftigen. »Die Erinnerung an diesen Kummer«, sagte er, »soll ins künftige mein Schutz seyn. O, niemals wird Beispiel oder Versuchung mich wieder zum Bösen hinreissen können, so lange mich der Gedanke erhebt, daß Sie mich würdigen, um mich zu trauern.«
Emilie fühlte sich durch diese Versicherung einigermaßen getröstet. »Wir scheiden nun auf immer«, sagte sie; »aber wenn meine Glückseligkeit Ihnen theuer ist, so erinnern Sie sich stets, daß nichts auf der Welt mehr dazu beitragen kann, als wenn ich glauben darf, daß Sie sich Ihre eigne Achtung wieder erworben haben.« — Valancourt ergrif ihre Hand, seine Augen schwammen in Thränen, und das Lebewohl, das er ihr sagen wollte, erstarb in Seufzern. Nach wenig Augenblicken sagte Emilie, schwer Athem schöpfend und mit gebrochener Stimme: »Leben Sie wohl, Valancourt, möchten Sie glücklich seyn!« Sie wiederholte ihr Lebewohl und wollte ihre Hand zurückziehn, aber er hielt sie fest und badete sie mit Thränen. »Warum wollen wir diese Augenblicke verlängern«, sagte Emilie mit kaum hörbarer Stimme; »sie sind zu schmerzhaft für uns beide.« — »O, es ist zu viel, zu viel!« rief Valancourt, ließ ihre Hand los, und warf sich in einen Stuhl, wo er das Gesicht mit beiden Händen bedeckte, und in lautes Schluchzen ausbrach. Nach einer langen Pause, in welcher Emilie stillschweigend weinte und Valancourt mit seinem Schmerz zu kämpfen schien, stand sie wieder auf, um fortzugehn. Er suchte sich zu fassen. »Ich betrübe Sie aufs neue«, sagte er, »aber lassen Sie den Schmerz, den ich fühle, für mich sprechen.« Er setzte dann mit feierlicher Stimme, die oft von innerer Bewegung bebte, hinzu: »Leben Sie wohl, Emilie! Sie werden stets der einzige Gegenstand meiner Zärtlichkeit seyn. Sie werden zuweilen an den unglücklichen Valancourt denken, wenigstens mit Mitleid, wenn es nicht mit Achtung seyn kann. Ach! was ist mir die ganze Welt ohne Sie — ohne Ihre Achtung! — Aber ich vergesse mich wieder, ich muß gehn, sonst falle ich aufs neue in Verzweiflung zurück.«
Er sagte Emilien noch einmal Lebewohl, drückte ihre Hand an seine Lippen, warf den letzten Blick auf sie und eilte aus dem Zimmer.
Emilie blieb mit einem Herzweh, das ihr kaum zu athmen erlaubte, auf dem Stuhle sitzen, wo er sie verlassen hatte, und horchte auf seine scheidenden Schritte, die immer schwächer und schwächer versanken. Endlich wurde sie durch die Stimme der Gräfin im Garten aufgeschreckt: der erste Gegenstand, der ihr ins Auge fiel, war der Stuhl, auf dem Valancourt gesessen hatte. Die Thränen, die eine Zeit lang durch die Betäubung, worin sein Fortgehn sie versetzte, unterdrückt wurden, erleichterten sie jetzt, und sie faßte sich endlich genug, um wieder auf ihr Zimmer zurückzugehn.
Wir kehren nun zu Montoni zurück, dessen Verdruß und Wuth sich bald in nähern Besorgnissen verloren. Da seine Räubereien alle Gränzen überschritten, so mußte sich endlich der damals kaufmännische Senat von Venedig entschließen, ihm nachdrücklich Einhalt zu thun. Während ein ansehnliches Korps auf dem Punkte stand, nach Udolpho zu marschieren, bat ein junger Offizier, der eine empfindliche Kränkung von Montoni erlitten hatte, um Gehör bei dem Minister, der dieses Unternehmen dirigirte. Er stellte vor, daß Udolpho zu stark befestigt wäre, um nicht einer förmlichen Belagerung zu widerstehn, und daß man in jedem Betracht seinen Zweck leichter erreichen würde, wenn man List mit Gewalt vereinigte. Es wäre vielleicht möglich, Montoni und seine Parthei außerhalb ihrer Mauren zu treffen, und sie dann anzugreifen, oder sich in kleinen Korps der Festung heimlich zu nähern, und eine Gelegenheit abzuwarten, um sie zu überrumpeln.
Man nahm diesen Rath in ernstliche Ueberlegung und gab dem Offizier das Kommando über die Truppen, die er zu diesem Zweck verlangte. Er lauerte in der Nachbarschaft des Schlosses, bis er sich den Beistand verschiedener Condottieris gesichert hatte, die er sehr bereitwillig fand, sich an ihrem despotischen Herrn zu rächen, und sich ihre Verzeihung vom Senate zu sichern. Er erfuhr auch die Anzahl von Montonis Leuten, die sich seit seinen letzten Siegen ansehnlich vermehrt hatte. Sein Plan wurde bald ausgeführt: er ließ sich von seinen Freunden in der Festung die Parole sagen, und überrumpelte Montoni und seine Offiziere mit einem Theil seiner Leute in ihrem Zimmer, während die andern nach einem kleinen Gefecht die ganze Besatzung zur Uebergabe brachten. Unter den Personen, die mit Montoni ergriffen wurden, befand sich auch Orsino, der Meuchelmörder, der sich gleich anfangs zu ihm nach Udolpho geflüchtet hatte, und dessen Verhehlung dem Senate durch den Grafen Morano, nach seinem letzten mislungenen Versuche, Emilien zu entführen, kund gemacht war. Die ganze Expedition war in der That mit um dieses Menschen willen unternommen, der einen aus dem Senate ermordet hatte, und man war mit dem glücklichen Erfolge so sehr zufrieden, daß Morano, ohngeachtet des politischen Verdachts, den Montoni durch seine geheime Anklage auf ihn zu bringen gesucht hatte, auf der Stelle befreit wurde. Die ganze Sache war mit solcher Stille und Schnelligkeit geschehn, daß die öffentlichen Nachrichten nichts davon verbreiteten, und Emilie erfuhr in ihrem Languedoc nichts von der Niederlage und ausgezeichneten Demüthigung ihres Verfolgers.
Ihre Seele war jetzt von einem Leiden überfüllt, wobei die Vernunft nichts zu wirken vermochte. Der Graf von Villefort, der aufrichtig allen Trost der Freundschaft aufbot, vergönnte ihr zuweilen die Einsamkeit, die sie wünschte; oft aber veranstaltete er kleine Parthien zu ihrer Erheiterung, und suchte sie stets, so viel als möglich, vor den forschenden Blicken und Fragen der Gräfin zu schützen. Er lud sie oft ein, kleine Lustreisen mit ihm und seiner Tochter zu machen, und suchte dann das Gespräch auf Gegenstände zu lenken, die ihrem Geschmacke angemessen waren, um nach und nach wieder Interesse für andre Dinge in ihr zu erwecken. Emilie, die ihn als den einsichtsvollen Freund und Beschützer ihrer Jugend betrachtete, fühlte bald für ihn die zärtliche Zuneigung einer Tochter, und ihr Herz ergoß sich schwesterlich gegen ihre junge Freundin Blanka, deren Güte und einfaches Wesen ihr den Mangel glänzender Eigenschaften ersetzten. Es verging eine geraume Zeit, ehe sie ihre Seele so weit von Valancourt abziehn konnte, um auf die von Dorotheen versprochene Geschichte zu hören: allein Dorothee erinnerte sie endlich daran, und Emilie bat sie, die folgende Nacht zu ihr zu kommen.
Ihre Gedanken waren noch immer so sehr mit Gegenständen beschäftigt, die ihre Neugier schwächten, daß Dorotheens Klopfen an der Thüre sie beinahe so sehr überraschte, als wenn sie es nicht erwartet hätte. »Ich bin endlich gekommen, Fräulein«, sagte sie: »ich weiß nicht, warum meine alten Glieder diese Nacht so zittern. Ich dachte ein paarmal, daß ich unterwegs umsinken würde.« Emilie bat sie, sich zu setzen, und sich zu fassen, ehe sie die Erzählung anfienge, die sie hieher gebracht hatte. »Ach«, sagte Dorothee, »ich glaube, daß gerade der Gedanke daran mich so sehr außer mir gebracht hat. Ich kam auf meinem Wege hieher vor dem Zimmer vorbei, wo meine theure Herrschaft starb, und es war alles so still und dunkel um mich, daß ich mir beinahe einbildete, sie zu sehn, wie sie auf dem Todtenbette da lag.«
Emilie rückte ihren Stuhl näher an Dorotheen, und sie fuhr fort: »Es werden nun etwa zwanzig Jahre seyn, seit meine gnädige Marquise als Braut aufs Schloß kam. O, ich erinnre mich noch recht gut, wie sie aussah, als sie in den großen Saal kam, wo wir Bedienten alle versammlet waren, um sie zu empfangen, und wie glücklich der Marquis zu seyn schien. Ach, wer hätte damals denken sollen! — Aber wie gesagt, Fräulein, es däuchte mich doch, daß die Marquise mit allen ihren süßen Blicken im Herzen nicht glücklich war; ich sagte es auch meinem Manne, allein er hielt es für Thorheit, und so sprach ich nicht weiter davon, sondern behielt meine Bemerkungen für mich. Die Marquise war damals ohngefähr von Ihrem Alter, und wie ich schon oft gesagt habe, Ihnen sehr ähnlich. Der Marquis hielt lange Zeit ein ofnes Haus, und es gab solche Feste und Vergnügungen, als man noch nie im Schlosse gesehn hatte. Ich war damals noch jünger, als ich jetzt bin, und machte mit, trotz der jüngsten.« — »Aber was sagte die Marquise dazu?« unterbrach Emilie. —
»Ja die gnädige Marquise schien freilich nicht glücklich dabei; einmal, kurz nach der Heirath, hörte ich sie sogar in ihrem Zimmer weinen, als ich aber herein kam, trocknete sie ihre Thränen ab, und zwang sich zu lächeln. Ich getraute mir nicht, sie um die Ursache zu fragen; das nächstemal aber fragte ich sie, und es schien ihr unangenehm, und so sagte ich nie etwas mehr. Einige Zeit nachher aber machte ich ausfindig, was es war. Ihr Vater hatte ihr, wie es schien, befohlen, den Marquis um seines Geldes willen zu heirathen, und sie mochte wohl einen andern haben, den sie mehr liebte, und der sie auch liebte, und so bilde ich mir ein, daß sie um ihn trauerte, obwohl sie nie etwas sagte. Sie bemühte sich immer, ihre Thränen vor dem Marquis zu verhehlen, denn ich habe sie oft, wenn sie geweint hatte, freundlich und lächelnd gesehn, so wie er herein kam. Plötzlich aber wurde der Herr mürrisch und finster, und gieng oft sehr hart mit ihr um. Dieses betrübte sie sehr, wie ich sah, denn sie klagte nie, und sie war so sanft gegen ihn, und gab sich so viel Mühe, ihm gefällig zu seyn, daß es mir im Herzen wehe that. Er aber blieb hart und gab ihr rauhe Antworten, und wenn sie dann sah, daß alles vergebens war, gieng sie in ihr Zimmer und weinte so kläglich. Ich hörte sie oft im Vorzimmer, die arme Dame, aber ich wagte selten hineinzugehn. Zuweilen dacht ich, der Herr wäre eifersüchtig; sie wurde auch in der That sehr bewundert; allein sie war zu gut, um Argwohn zu verdienen. Unter den vielen Herren, die aufs Schloß kamen, war einer, der mir recht für die gnädige Frau zu passen schien: er war so höflich, und zugleich so lebhaft, und es war etwas so gefälliges in allem was er that und sagte. Ich bemerkte immer, daß, so oft er da gewesen war, der Marquis finstrer und meine gnädige Frau tiefsinniger schien, und es fiel mir ein, daß dies vielleicht der Chevalier wäre, den sie lieber geheirathet hätte; allein ich habe nie etwas Gewisses darüber erfahren.«
»Wie hieß denn der Chevalier?« fragte Emilie.
»Das kann ich selbst Ihnen nicht sagen, Fräulein, denn es könnte ein Unglück daraus entstehn. Ich hörte einmal von jemand, der jetzt nicht mehr lebt, daß die Marquise nicht des Marquis rechtmäßige Frau wäre: daß sie vorher mit dem Herrn, den sie so sehr liebte, heimlich verheirathet gewesen sey, und sich nachher gefürchtet hätte, es ihrem Vater, der ein sehr strenger Mann war, zu gestehn; allein dies kömmt mir sehr unwahrscheinlich vor, und ich habe es auch nie eigentlich geglaubt. Wie gesagt, der Marquis war immer sehr übler Laune, wenn der Chevalier, von dem ich sprach, aufs Schloß kam, und machte zuletzt durch seine harte Behandlung meine Frau ganz unglücklich. Er litt beinahe niemand mehr auf dem Schlosse, und zwang sie, ganz für sich allein zu leben. Ich war stets um sie und sah alles, was sie litt, hörte sie aber nie klagen. Nachdem die Sachen wohl beinahe ein Jahr auf solchen Fuß gestanden hatten, wurde meine gnädige Frau krank, und ich dachte, daß ihr innerlicher Gram daran Schuld wäre — ach aber nachher habe ich gefürchtet, daß es etwas schlimmeres war.«
»Etwas schlimmeres, Dorothee«, fragte Emilie. »Kann etwas schlimmeres seyn?«
»Ich fürchte ja, denn es kamen seltsame Dinge zum Vorschein: doch ich will nur sagen, was wirklich geschah. Mein gnädiger Herr, der Marquis —« »Stille Dorothee, was waren das für Töne?« sagte Emilie. —
Dorothee veränderte das Gesicht, und sie hörten beide in der Stille der Nacht eine ungewöhnlich sanfte Musik.
»Ich habe gewiß diese Stimme schon sonst gehört«, sagte Emilie endlich.
»Ich habe sie oft gehört und um diese nämliche Stunde«, sagte Dorothee feierlich, »und wenn Geister jemals Musik machen, so ist dies gewiß ihr Ton.«
Emilie erkannte die Töne, so wie sie näher kamen, für dieselben, die sie ehemals bei ihres Vaters Tode gehört hatte, und die Erinnerung an diese traurige Begebenheit, oder vielleicht eine andre geheime Furcht wirkten so auf sie, daß sie beinahe in Ohnmacht sank.
»Mich dünkt, ich sagte Ihnen einst, gnädiges Fräulein, daß ich diese Musik zum erstenmal bald nach meiner gnädigen Frauen Tode hörte — ich erinnere mich noch der Nacht.«
»Horch, da kömmt es wieder«, sagte Emilie; »laß uns das Fenster aufmachen und zuhören.«
Sie thaten es, aber die Töne verhallten allmälig in der Ferne, und alles war wieder stille: sie schienen zwischen den Wäldern versunken zu seyn, deren belaubte Spitzen sich im hellen Horizont erhoben, während die andre Gegend in den Schatten der Nacht gehüllt lag.
Indem Emilie sich ans Fenster lehnte und mit einer Art von zitternder Angst auf die Dunkelheit unten und dann auf den wolkenlosen blos durch die Sterne erleuchteten Himmel über ihr sah, fuhr Dorothee mit leiser Stimme in ihrer Erzählung fort.
»Ich sagte, gnädiges Fräulein, daß ich mich noch recht gut erinnere, wann ich die Musik zuerst hörte. Es war eine Nacht, bald nach meiner Frauen Tode, ich war länger als gewöhnlich aufgeblieben, und ich weiß selbst nicht, wie es kam, daß ich so stark an meine arme Herrschaft und an den kläglichen Auftritt, den ich so kürzlich mit angesehn, gedacht hatte. Es war ganz stille im Schlosse, ich war in einem Zimmer weit von den übrigen Bedienten entfernt, und diese Einsamkeit und meine traurigen Gedanken mochten mich wohl so niedergeschlagen machen: ich dachte und dachte, bis ich mich endlich beinahe fürchtete, mich im Zimmer umzusehn: meiner armen Frauen Gesicht trat mir immer vor die Augen, so wie ich sie im Tode gesehn hatte, und einmal glaubte ich, sie wirklich vor mir zu sehn, als ich plötzlich eine so süße Musik hörte. Es schien dicht unter meinem Fenster zu seyn, und ich werde in meinem Leben nicht vergessen, was ich dabei fühlte. Ich hatte nicht die Kraft vom Stuhle aufzustehn, wenn ich aber dachte, daß es meiner liebsten gnädigen Frau ihre Stimme wäre, so mußte ich weinen. Ich hatte sie oft singen gehört, als sie noch lebte, und sie hatte gewiß eine sehr schöne Stimme; ich habe oft weinen müssen, wenn sie so des Abends saß und traurige Lieder in ihre Laute sang. Wie gesagt, Fräulein, als ich zuerst die Musik hörte, dacht ich gewiß, es wäre meine selige Frau; ich habe es auch oft wieder gedacht, wenn sie sich von Zeit zu Zeit hören ließ. Zuweilen sind ganze Monate verstrichen; allein sie ist immer wieder gekommen.«
»Es ist doch ganz seltsam«, sagte Emilie, »daß noch niemand den Musikus entdeckt hat.«
»Eben darum, Fräulein! wenn es etwas irdisches wäre, so würde es längst entdeckt seyn; aber wer wird wohl das Herz haben, einem Geiste zu folgen, und was könnte es auch helfen, denn Geister können bald hie bald da seyn, und jede Gestalt annehmen.«
»Lassen wir das gut seyn«, antwortete Emilie: »sie wollte mir ja von den Umständen bei der Marquise Tode erzählen. Sie sprach eben von dem Marquis, als die Musik uns unterbrach.«
»Ja, Fräulein, der Marquis wurde immer finsterer und finstrer, und die gnädige Frau wurde immer kränker, bis sie in einer Nacht sehr schlecht ward. Ich wurde hereingerufen, und erschrack, als ich ans Bette kam und ihr ins Gesicht sah — es war so verändert. Sie sah mich kläglich an, und bat, ich möchte den Marquis noch einmal rufen — denn er war noch nicht gekommen — und ihm sagen, daß sie ihm etwas besondres zu eröfnen hätte. Er kam endlich, und ich muß so wohl sagen, daß er wirklich sehr betrübt schien, als er sie so sah. Sie sagte ihm, sie fühlte, daß sie sterben würde, und wünschte mit ihm allein zu sprechen; ich ging darauf hinaus, aber ich werde nie seinen Blick vergessen.«
»Als ich wieder kam, wagte ich ihn zu erinnern, nach einem Doktor zu schicken, denn ich glaubte, daß er es vergessen hätte; allein meine gnädige Frau sagte, es wäre zu spät: der Marquis aber war so weit entfernt es zu glauben, daß er vielmehr leicht von der Krankheit zu denken schien — bis sie von solchen erschrecklichen Schmerzen befallen wurde — O ich werde ihr Schreien nie vergessen! Der Marquis schickte nun einen Mann zu Pferde nach dem Doktor und ging in der größten Betrübniß bald im Zimmer, bald im Schlosse auf und ab. Ich blieb bei der lieben Dame und that was ich konnte, um ihr Leiden zu erleichtern. Sie hatte Zwischenzeiten, wo der Schmerz aufhörte, und ließ in einem solchen Augenblick den Herrn aufs neue rufen. Ich wollte fortgehn, als er kam, allein sie bat mich, sie nicht zu verlassen. O, ich werde den Auftritt nie vergessen! Der gnädige Herr war beinahe außer sich, denn die Marquise war so gut, und gab sich solche Mühe ihn zu trösten, daß er von seinem Unrecht überzeugt werden mußte, wenn er ja einen Verdacht gehabt hatte. Er schien in der That durch den Gedanken an sein Betragen gegen sie ganz niedergeworfen zu seyn, und dies rührte sie so sehr, daß sie in Ohnmacht sank.«
»Wir schafften nun den Marquis aus dem Zimmer; er gieng in seine Bibliothek und warf sich auf die Erde und wollte kein Zureden hören. Als meine gnädige Frau wieder zu sich kam, fragte sie nach ihm, dann aber sagte sie, sie könnte seinen Schmerz nicht ansehn, und bat uns, sie ruhig sterben zu lassen. Sie starb in meinen Armen, Fräulein, und ging so ruhig davon, als ein Kind, denn alle Heftigkeit ihrer Schmerzen war vorüber.«
»Als der Doktor kam, und leider kam er zu spät, schien er über ihren Anblick sehr erschrocken: denn bald nach ihrem Tode wurde ihr ganzes Gesicht von einer fürchterlichen Schwärze überzogen. Der Arzt schickte alle die Bedienten aus dem Zimmer, und legte mir einige sonderbare Fragen über die Marquise und besonders über den Anfang ihrer Krankheit vor; er schüttelte oft den Kopf bei meinen Antworten, und schien mehr zu meinen, als er sagen wollte: allein ich verstand ihn nur zu gut. Doch behielt ich meine Gedanken für mich, und sagte sie nur meinem Manne, der mir aber Stillschweigen einband. Einige von den andern Bedienten hatten gleichen Verdacht mit mir, aber niemand wagte etwas davon verlauten zu lassen. Als der Marquis hörte, daß sie todt war, schloß er sich ein und wollte niemand sehen außer den Doktor, der zu ganzen Stunden mit ihm allein war: der Doktor sprach nach der Zeit nie wieder ein Wort mit mir über die gnädige Frau. Als sie in der Kirche des Klosters dort begraben wurde, folgten alle Unterthanen meines Herrn der Leiche nach, und es blieb gewiß kein Auge trocken: denn sie hatte den Armen viel Gutes gethan. Ich habe noch in meinem Leben keinen Menschen so melancholisch gesehn, als der gnädige Herr nachher war; oft hatte er solche Anfälle, daß er den Verstand zu verlieren schien. Er blieb nicht lange im Schlosse, sondern ging zum Regiment und bald darauf erhielten alle Domestiken, außer mir und meinem Manne, den Abschied: denn der Herr zog in den Krieg. Ich habe ihn nachdem nicht wieder gesehn, denn er wollte das Schloß nicht wieder besuchen, so ein schöner Ort es auch ist; er hat auch niemals die schönen Zimmer im westlichen Flügel ausgebaut, und der ganze Flügel ist seitdem verschlossen geblieben, bis der gnädige Herr Graf kam.«
»Der Tod der Marquise ist allerdings sehr sonderbar«, sagte Emilie, die begierig war, mehr zu wissen, als sie sich zu fragen getraute.
»Ja wohl sonderbar«, antwortete Dorothee; »ich habe Ihnen alles gesagt, was ich sah, und Sie können leicht rathen, was ich denke. Sagen darf ich nichts mehr, weil ich keine Gerüchte ausbreiten möchte, die den Herrn Grafen beleidigen könnten.«
»Sie hat recht«, sagte Emilie. »Wo starb doch der Graf?« — »Ich glaube im nördlichen Frankreich, gnädiges Fräulein. Ich freute mich sehr, als ich hörte, daß der Graf kommen würde, denn dies ist viele Jahre lang ein trauriger wüster Ort gewesen, und wir hörten oft nach der gnädigen Frauen Tode ein so seltsames Geräusch, daß wir in eine benachbarte Hütte zogen. Und nun gnädiges Fräulein habe ich Ihnen alles gesagt, was ich weiß, und hoffe, Sie werden sich Ihres Versprechens erinnern und nie etwas davon äußern.« — »Das werde ich gewiß«, sagte Emilie. »Ihre Erzählung hat mich mehr interessirt, als Sie vielleicht glaubt. Ich wünschte nur noch das einzige, daß Sie sich bewegen ließe, mir den Namen des Chevaliers zu sagen, den sie der Marquise für würdig hielt.«
Dorothee schlug es durchaus ab, und kam dann wieder auf das Portrait der Marquise. »Es hängt noch ein andres Gemählde von ihr in den Zimmern, die bisher verschlossen waren. Es wurde, wie ich gehört habe, gemahlt, ehe sie verheirathet war, und sieht Ihnen noch ähnlicher, als das kleine.« Als Emilie ihren Wunsch äußerte, es zu sehn, antwortete Dorothee, daß sie diese Zimmer nicht gern öfnen möchte, doch meinte sie endlich, sie würde sich weniger fürchten hineinzugehn, wenn Emilie mit ihr käme.
Es war diese Nacht schon zu spät und Emilie war auch zu sehr erschüttert durch die Erzählung der Auftritte, die in diesen Zimmern vorgegangen waren, um sie jetzt zu besuchen; allein sie bat Dorotheen, die zukünftige Nacht wieder zu kommen und sie dahin zu führen. Außer ihrem Verlangen nach dem Gemählde fühlte sie auch eine große Begierde, das Zimmer zu sehn, wo die Marquise gestorben war. Dorothee sagte, es wäre mit Bette und Möbeln unverändert geblieben, so wie es war, als die Leiche beerdigt wurde.
Dorothee versprach, die folgende Nacht mit den Schlüsseln wieder zu kommen, und schlich sich leise fort. Emilie saß noch lange in melancholischen Träumereien da, welche die Einsamkeit der Stunde begünstigte; plötzlich aber wurde die Stille durch ein sehr ungewöhnliches Geräusch unterbrochen, das entweder aus dem Zimmer an dem ihrigen oder von unten zu kommen schien. Die schreckliche Catastrophe, die sie eben gehört hatte, schwebte ihr so lebhaft vor, daß sie einen Augenblick unter einer abergläubigen Furcht erlag. Das Geräusch ließ sich nicht wieder hören, und sie legte sich zu Bette, um im Schlafe die traurige Geschichte, die sie gehört hatte, zu vergessen.
Die folgende Nacht um dieselbe Stunde kam Dorothee mit den Schlüsseln der Zimmer, die zum besondern Gebrauch der Marquise bestimmt gewesen waren, zu Emilien. Da aber Emiliens Zimmer am entgegengesetzten Ende des Schlosses lag und sie vor den Schlafzimmern verschiedener andrer Personen aus der Familie vorbeigehn mußten, deren Neugier Dorothee, aus Furcht, dem Grafen misfällig zu seyn, nicht gern erregen mochte; so bat sie Emilien, noch eine halbe Stunde zu warten, ehe sie sich hervorwagten. Sie warteten, bis es Eins geschlagen hatte, und Dorothee ging mit der Lampe voran, aber ihre Hand zitterte so sehr vor Schwäche und Angst, daß Emilie sie ihr abnahm und ihr den Arm bot, um ihre schwachen Schritte zu unterstützen. Sie mußten die große Treppe heruntergehn und einen weiten Weg durchs Schloß nach einer andern Treppe machen, die zu den Zimmern führte. Sie gingen leise durch den Gang, an den die Zimmer des Grafen, der Gräfin und der Gräfin Blanka stießen, und kamen endlich durch das Bedientenzimmer, wo die sterbenden Funken eines erlöschenden Kaminfeuers noch flimmerten, an den Fuß der schwarzen Wendeltreppe. Die alte Dorothee stand still und sah sich rings um. »Lassen Sie uns wohl aufmerken, ob sich nichts rührt. Hören Sie keine Stimme, Fräulein?« »Nein«, sagte Emilie, »es ist gewiss im ganzen Schlosse außer uns niemand mehr auf.« »Das wohl nicht, Fräulein, aber ich bin noch nie um diese Stunde hier gewesen, und nach dem, was ich weiß, ist meine Furcht wohl nicht zu verwundern.« »Was weiß Sie denn?« sagte Emilie. »O, Fräulein, wir haben jetzt nicht Zeit, lange zu reden; lassen Sie uns weiter gehn. Die Thür zur Linken dort müssen wir aufmachen.«
Sie schritten fort, und als sie die oberste Stuffe der Treppe erreicht hatten, steckte Dorothee den Schlüssel ins Schloß. »Ach«, sagte sie, indem sie es umzudrehen versuchte, »es sind so viele Jahre verflossen, seit dies nicht geöffnet ist, daß es sich nicht will umdrehen lassen.« Emilie war glücklicher, und sie traten sogleich in ein geräumiges altes Zimmer.
»Ach«, rief Dorothee, »als ich das letztemal durch diese Thüre ging, folgte ich der Leiche meiner armen gnädigen Frau!«
Die Erwähnung dieses Umstandes und das düstre feierliche Ansehn des Orts machte einen besondern Eindruck auf Emilien, und sie gingen schweigend durch eine lange Reihe Zimmer, bis sie an eins kamen, das geräumiger als die übrigen und reich an Ueberresten verblichener Größe war.
»Lassen Sie uns ein Weilchen hier bleiben, Fräulein«, sagte Dorothee schwach, »wir gehen jetzt in das Zimmer, wo meine Frau starb; diese Thüre führt hinein. Ach, Fräulein, warum überredeten Sie mich, hieher zu kommen? Es ist mir jetzt alles noch als wäre es gestern gewesen. Wie oft habe ich dies Zimmer zu meiner gnädigen Frauen Zeiten erleuchtet gesehn! Es war das schönste im Schlosse und ganz nach meiner gnädigen Frau Geschmack aufgeputzt — alle diese Möblen kamen aus Paris, die großen Spiegel und die reichen Tapeten ausgenommen. Wie die Farben verschossen sind, seit ich sie zuletzt sah!«
»Ich denke, das war vor zwanzig Jahren«, merkte Emilie an.
»Ohngefähr so lange, aber die Zeit zwischen damals und jetzt kommt mir wie nichts vor. Diese Tapeten wurden damals sehr bewundert, weil sie Geschichten aus berühmten Büchern vorstellen.«
Emilie ging näher heran, um sie zu untersuchen und entdeckte aus den Versen, die unter jede Scene gewebt waren, daß es Geschichten aus den berühmtesten alten Romanen waren.
Dorothee hatte sich nun wieder ein wenig ermuntert. Sie stand auf und öfnete die Thür, die in der verstorbenen Marquise Zimmer führte. Emilie trat jetzt in ein hohes, rings mit dunkeln Tapeten behangenes und so großes Gemach, daß man bei der Lampe, die sie in der Hand hielt, den ganzen Umfang nicht sah. Dorothee war auf einen Stuhl niedergesunken, wo sie, tief seufzend, sich in einem für sie so rührenden Aufenthalt, kaum umzusehn getraute. Es dauerte eine Zeitlang, ehe Emilie durch die Dämmerung das Bett erblickte, auf dem die Marquise gestorben seyn sollte; als sie aber weiter im Zimmer hinaufging, entdeckte sie den hohen gewölbten Thronhimmel von dunkelgrünen Damast mit den Vorhängen, die zeltförmig, halb aufgezogen und wie es schien noch so, wie vor zwanzig Jahren, zur Erde herabhingen. Ueber das ganze Bette war eine Decke von schwarzen Sammt gebreitet, die bis auf den Fußboden sties. Emilien schauderte, als sie die Lampe näher hielt und in die dunkeln Vorhänge blickte, wo sie beinahe ein menschliches Gesicht zu sehn erwartete. Sie erinnerte sich plötzlich an ihr Entsetzen, als sie die sterbende Madame Montoni in der Thurmkammer zu Udolpho erblickte: ihre Kräfte schwanden und sie wandte sich von dem Bette ab, als Dorothee, die es erreicht hatte, ausrief: »heilige Jungfrau! mich dünkt, ich sehe meine gnädige Frau auf dem Bette ausgestreckt liegen, so wie ich sie zuletzt sah.«
Emilie, durch diese Worte erschreckt, sah unwillkührlich wieder in die Vorhänge, entdeckte aber nichts, als die schwarze Decke; Dorothee mußte sich aus Schwäche an dem Bette halten, bis ihr Thränen zu Hülfe kamen.
»Ach«, sagte sie, »hier saß ich in jener erschrecklichen Nacht und hielt meiner Frauen Hand und hörte ihre letzten Worte und sah alle ihre Leiden, hier starb sie in meinen Armen.«
»Hänge Sie diesen schmerzhaften Erinnerungen nicht nach, gute Frau«, sagte Emilie: »lasse sie uns gehn, und zeige Sie mir das Gemählde, wovon sie sprach.«
»Es hängt im Kabinett«, sagte Dorothee, und öfnete eine kleine Thür oben am Bette, die an das Kabinett der verstorbenen Marquise stieß.
»Ach, da ist sie, Fräulein«, sagte Dorothee, und zeigte auf das Gemählde einer Dame — »da ist sie leibhaftig, gerade so sah sie aus, als sie zuerst ins Schloß kam. Sie war damals so blühend wie Sie, und mußte so bald davon.«
Emilie betrachtete aufmerksam das Gemählde, das dem kleinen, welches sie besaß, vollkommen glich, nur der Ausdruck des Gesichts war in jedem verschieden; doch glaubte sie auch hier einige Züge der tiefsinnigen Schwermuth wahrzunehmen, die jenes Gemählde auszeichneten.
»Treten Sie doch einmal neben das Gemählde, damit ich sie zusammen vergleichen kann«, sagte Dorothee, die nun aufs neue in Ausrufungen über die Aehnlichkeit ausbrach. Auch Emilien dünkte, daß sie schon irgendwo eine ähnliche Person gesehn hätte, obgleich sie sich nicht genau besinnen konnte, wo.
Es waren in diesem Kabinett noch viele Denkmäler der verstorbenen Marquise vorhanden: ein Rock und verschiedene Stücke ihrer Kleidung lagen auf den Stühlen umher, als wenn sie eben ausgezogen wären. Auf der Erde standen ein paar schwarze attlassene Pantoffeln, und auf dem Nachttisch lagen ein paar Handschuhe und ein langer schwarzer Schleier, der vor Alter in Stücken fiel, als Emilie ihn aufnahm, um ihn zu besehn.
»Ach«, sagte Dorothee, als sie den Schleier sah, »meine Frau hat ihn mit eigner Hand dahingelegt: er ist seitdem nicht wieder angerührt.«
Emilien überfiel ein Schauder und sie legte ihn sogleich wieder hin. »Ich sehe noch, wie sie ihn abnahm«, fuhr Dorothee fort: »es war des Abends vor ihrem Tode, als sie von einem kleinen Spaziergange im Garten, wozu ich sie beredet hatte, zurückkam. Die Luft schien sie sehr erfrischt zu haben; ich sagte ihr, daß sie weit besser aussähe, und erinnere mich noch, daß sie mich mit einem matten Lächeln ansah; ach, sie dachte wohl eben so wenig als ich, daß sie die Nacht sterben sollte!«
Dorothee weinte wieder, nahm dann den Schleier und warf ihn plötzlich über Emilien, die ein Schauer überlief, als sie sich bis auf die Füße darin eingewickelt sah. Dorothee bat sie, ihn einen Augenblick umzubehalten. »Ich dachte«, setzte sie hinzu, »wie ähnlich Sie meiner gnädigen Frau in dem Schleier sehn müßten; möge Ihr Leben glücklicher seyn, als das ihrige war!«
Emilie legte seufzend den Schleier hin und besah das Kabinett, wo jeder Gegenstand, auf den ihr Auge fiel, von der Marquise zu sprechen schien. In einem tiefen Fenster von gemahlten Glas stand ein Tisch mit einem silbernen Crucifix und einem aufgeschlagenen Gebetbuch. Emilie erinnerte sich mit Rührung, daß Dorothee einmal von ihrer Gewohnheit, in diesem Fenster Laute zu spielen, gesprochen hatte, als ihr die Laute selbst ins Auge fiel, die auf einer Ecke des Tisches lag, als wenn die Hand, die sie so oft belebt hatte, sie nachlässig dahin geworfen hätte.
»Dies ist ein trauriger Ort«, sagte Dorothee; »als meine Herrschaft starb«, hatte ich nicht das Herz, darin aufzuräumen, und der gnädige Herr kam nie herein, so, daß alles so blieb, wie es war.«
Dorothee sah mit unverwandten Blicken die Laute an, nahm sie mit zögernder Hand hin, und streifte mit den Fingern über die Saiten. Sie waren verstimmt, gaben aber doch einen tiefen vollen Ton an. Dorothee fuhr zusammen und sagte: »Ach das ist die Laute, die meine arme Frau so lieb hatte. Ich höre noch, wie sie zuletzt darauf spielte; es war in der Nacht, wie sie starb. Ich kam, wie gewöhnlich, sie auszukleiden, als ich sie aber spielen hörte, blieb ich leise an der Thüre stehn — es war so beweglich. Sie saß mit der Laute in der Hand und blickte gen Himmel, die Thränen liefen ihr die Wangen herab, während sie eine so sanfte und rührende Abendhymne sang. Ihre Stimme zitterte gleichsam, sie hielt oft inne und trocknete sich die Thränen ab, und fuhr dann leise fort. O ich hatte ihr oft zugehört, aber nie war es mir so ans Herz gedrungen; ich mußte anfangen zu weinen. Sie hatte vermuthlich gebetet, denn das Buch lag offen auf dem Tisch — ach, ich sehe es liegt noch da — lassen Sie uns herausgehn, Fräulein, es ist ein herzzerschneidender Ort!«
Nachdem sie in das große Zimmer zurückgekommen waren, wollte Emilie noch einmal das Bette sehn, so wie sie aber der ofnen Thüre, die an den Saal stieß, gegenüber kamen, glaubte Emilie in dem Schimmer, den die Lampe darauf warf, etwas an der Wand hin in den dunklern Theil des Zimmers gleiten zu sehn. Dieser Umstand, es mochte nun wirklich oder eingebildet seyn, machte nach allem was sie vorher gesehn hatte, einen doppelten Eindruck auf sie; sie suchte ihre Bewegung vor Dorotheen zu verhehlen; allein diese sah, daß sie das Gesicht veränderte und fragte, ob ihr nicht wohl wäre.
»Lasse Sie uns gehn«, sagte Emilie schwach; »es ist eine ungesunde Luft in diesen Zimmern«; indem aber erinnerte sie sich, daß sie durch das Zimmer gehn mußten, wo sie das Schreckenbild ihrer Phantasie gesehn hatte; ihr Schrecken stieg, und zu schwach, um sich aufrecht zu halten, setzte sie sich neben dem Bette nieder.
Dorothee, welche glaubte, daß nur der Gedanke an die traurige Begebenheit, die in diesem Zimmer geschehn war, sie so sehr angriffe, setzte sich zu ihr aufs Bette und suchte sie durch die Erzählung von allerlei Umständen zu zerstreuen, ohne zu bedenken, daß sie Emilien dadurch nur immer tiefer rühren mußte. »Ach«, sagte sie, »kurz vor ihrem Tode, als die Schmerzen sie verlassen hatten, rief mich die Selige zu sich. Sie reichte mir die Hand, und ich setzte mich gerade da, wo der Vorhang aufs Bette fällt, nieder. Wie lebhaft mir ihr Blick noch vor Augen steht — der Tod war schon darin — mich dünkt fast, ich sehe sie jetzt. Hier lag sie, Fräulein, mit dem Gesicht dort auf dem Kissen. Diese schwarze Decke war damals noch nicht auf dem Bette; sie wurde erst nach der Zeit übergebreitet und sie darauf gelegt.«
Emilie sah in die dunkeln Vorhänge hinein, als hätte sie das Gesicht sehn können, von dem Dorothee sprach. Sie sah nur die Ecke des weissen Kissens über die schwarze Decke hervorragen; als sie aber die Augen auf die Decke selbst warf, schien es ihr, als wenn sie sich bewegte. Ohne zu sprechen, ergriff sie Dorotheen beim Arm, und diese, durch Emiliens Blick erschreckt, wandte sich ebenfalls nach dem Bette, wo sie im nächsten Augenblick die Decke langsam aufheben und wieder fallen sah.
Emilie wollte gehn, allein Dorothee blieb stehen und sah starr aufs Bett; endlich sagte sie: »es ist nur der Wind, der hereinbläst. Wir haben die Thüren offen gelassen: sehn Sie, wie der Wind die Lampe hin und her treibt. Es ist wirklich nichts weiter.«
Kaum hatte sie diese Worte gesprochen, als die Decke stärker als vorher bewegt wurde. Emilie, die sich ihrer Furcht schämte, ging näher herzu, die Decke bewegte sich wieder und gleich darauf ragte ein menschliches Gesicht über ihr hervor.
Sie stießen beide einen lauten Schrei aus, und flohen, so schnell es ihre zitternden Glieder zuließen, ohne irgend eine von den Thüren der Zimmer hinter sich zuzumachen. Als sie an die Wendeltreppe kamen, riß Dorothee eine Kammerthür auf, wo einige von den Mägden schliefen, und sank athemlos auf das Bett, während Emilie, aller Gegenwart des Geistes beraubt, nur einen schwachen Versuch machte, die Veranlassung ihres Schreckens vor den erstaunten Bedienten zu verhehlen. Diese fingen so schnell Feuer, daß sie auch nachher, als Emilie und Dorothee sich faßten und über ihre eigene Furcht zu lachen suchten, nicht zu bewegen waren, selbst den Ueberrest der Nacht in einer Kammer zuzubringen, die so nahe bei diesen Zimmern des Schreckens lag.
Dorothee begleitete Emilien in ihr Zimmer zurück; sie sprachen nun mit etwas mehr Fassung über diese seltsame Erscheinung und Emilie würde beinahe ihrer eigenen Bemerkung mistrauet haben, wenn nicht Dorothee sie bekräftigt hätte. Sie sagte nun auch, was sie im Saal bemerkt hatte, und fragte Dorotheen, ob sie keine Thüre offen gelassen hätte, durch die jemand hätte hereinkommen können; allein Dorothee besann sich ganz genau, daß sie die äußere Thür hinter sich zugeschlossen hatte, und beharrte darauf, daß die Erscheinung, die sie gesehn hatten, nichts menschliches gewesen sey.
Emilie war tief erschüttert. Von welcher Art auch die Erscheinung gewesen seyn mochte, so blieb doch das Schicksal der verstorbenen Marquise eine unbezweifelte Wahrheit, und dieser sonderbare Vorfall gerade an dem Orte ihres Leidens erfüllte Emilien mit einer bangen Furcht.
Dorothee erinnerte sich jetzt, daß sie alle Thüren auf der nördlichen Seite des Schlosses offen gelassen hätte, und da sie sich nicht getraute, allein zurückzugehn, um nur die äußere zu verschließen, erbot sich Emilie endlich, sie bis an den Fuß der schwarzen Wendeltreppe zu begleiten und da zu warten, bis sie wieder zurückkäme.
Kein Laut unterbrach die Stille, als sie durch die Gänge und Sääle giengen. Am Fuße der Treppe aber sank Dorotheen aufs neue der Muth. Sie stand still, um zu lauschen, da sie aber kein Geräusch oben hörte, stieg sie hinauf, wagte kaum einen halben Blick in das erste Zimmer zu werfen, befestigte die Thüre, welche die ganze Reihe von Zimmern schloß, und kehrte zu Emilien zurück.
Als sie über den Gang kamen, der in den großen Vorsaal führte, hörten sie eine klagende Stimme die von innen zu kommen schien. Emilie erkannte sogleich Annetten, die sie auch wirklich mit einem andern Mädchen im Saale und zwar so erschrocken durch die Erzählung der andern fand, daß sie meinte, sie könne nirgends sicher seyn, als bei ihrer Herrschaft. Emiliens Bemühen, ihr ihre Furcht auszureden, war vergebens, und sie erlaubte ihr endlich die übrige Nacht hindurch in ihrem Zimmer zu bleiben.
Emiliens Ermahnungen zum Stillschweigen blieben bei Annetten fruchtlos, und die Begebenheiten der vorigen Nacht verbreiteten solchen Lärm unter den Bedienten, die nunmehr alle behaupteten, ein unerklärliches Geräusch im Schlosse gehört zu haben, daß ein Gerücht von den Spükereien in der nördlichen Seite des Schlosses bald bis zu dem Grafen kam. Anfangs behandelte er es mit Spott, da er aber sah, welche Verwirrung es in seinem Haushalt hervorbrachte, verbot er, daß bei harter Strafe niemand darüber reden sollte.
Die Ankunft einer Gesellschaft von Freunden zog seine Gedanken bald gänzlich von diesem Gegenstande ab, und auch seine Leute hatten wenig Zeit mehr, sich damit zu beschäftigen, außer wenn sie des Abends nach Tische sich im großen Saale versammelten. Bei diesen Conferenzen, wo alle Geister und Gespenstergeschichten zum Vorschein gebracht wurden, spielte Annette keine unbedeutende Rolle.
Unter den Besuchen auf dem Schlosse befand sich der Baron de Saint Foix, ein alter Freund des Grafen und sein Sohn, der Chevalier St. Foix, ein gescheuter, liebenswürdiger junger Mann, der im vorigen Jahre Gräfin Blanka zu Paris gesehn und sich zu ihrem eifrigen Bewunderer erklärt hatte. Die Freundschaft, worin der Graf seit langer Zeit mit dem Vater gelebt hatte, und die Gleichheit ihrer Glückslage machte, daß er im Stillen diese Verbindung wünschte: nur hielt er seine Tochter noch für zu jung, um schon eine Wahl fürs Leben zu treffen, und da er auch die Aufrichtigkeit und Stärke der Liebe des Chevaliers zu prüfen wünschte, lehnte er seinen Antrag damals ab, ohne ihm Hofnung für die Zukunft zu verbieten. Dieser junge Mann kam nun mit dem Baron seinem Vater, um den Lohn einer standhaften Liebe zu fordern; eine Forderung, die der Graf gültig fand und die Blanka nicht verwarf.
So lange diese Gäste im Schlosse waren, herrschte nichts als Glanz und Fröhlichkeit. Der Pavillon im Walde wurde ausgeschmückt und an schönen Abenden zum Eßzimmer benutzt, wo gewöhnlich ein Concert den Beschluß machte. Der Graf und die Gräfin waren sehr musikalisch, und Heinrich und St. Foix nebst Blanken und Emilien ersetzten durch ihre schönen Stimmen und durch ihren Geschmack den Mangel größerer Fertigkeit. Verschiedene von des Grafen Leuten spielten Hörner und andere Instrumente, die in kleinerer Entfernung zwischen den Wäldern angebracht, in süßem Klange die Harmonie beantworteten, die aus dem Pavillon hervorging.
Zu jeder andern Zeit würden diese Parthien Emilien entzückt haben, jetzt aber waren ihre Lebensgeister von einer Schwermuth niedergedrückt, die durch kein Vergnügen irgend einer Art zerstreut werden konnte, vielmehr wurde sie durch die zärtliche und oft rührende Melodie dieser Concerte auf einen sehr peinlichen Grad erhöht.
Ihre größte Freude war noch, in den Wäldern umher zu gehn, die von einem Berge der See überhingen. Ihr dunkler Schatten that ihrem schwermüthigen Herzen wohl und in den Aussichten, die sie an machen Stellen auf das mittelländische Meer mit seinen schlangenförmigen Ufern und vorüberstreichenden Segeln gaben, war ruhige Schönheit mit Größe vereinigt. Die Wege waren uneben und oft mit Gesträuch überwachsen; allein der geschmackvolle Besitzer ließ ihnen nicht gerne etwas anhaben, und mochte kaum einen Zweig von den ehrwürdigen Bäumen abhauen lassen. Auf einem Hügel in einer der eingeschlossensten Gegenden dieser Wälder war ein ländlicher Sitz aus dem Stamme einer alten Eiche gehauen, die vormals majestätisch prangte, und noch einige hohe grüne Zweige behalten hatte, die sich mit Buchen und Fichten vereinigten, den Ort zu überwölben. Unter ihren tiefen Schatten blickte das Auge über die Spitzen anderer Wälder hinweg auf das mittelländische Meer und zur Linken sah man durch eine Oefnung einen verfallenen Wachtthurm auf einer Felsenspitze nahe an der See stehn und sich zwischen dem dichten Laubwerke emporheben.
Hieher kam Emilie oft in der Stille des Abends und saß, eingewiegt durch die schöne Gegend und durch das schwache Murmeln, das aus den Wellen aufstieg, bis die Dunkelheit sie nöthigte, ins Schloß zurückzugehn. Oft besuchte sie auch den Wachtthurm, der die ganze Aussicht beherrschte, und ließ sich wohl nicht träumen, wenn sie sich an die zerfallenen Mauren lehnte und an Valancourt dachte, daß er seit seiner Verbannung aus dem Schlosse diesen Ort eben so oft als sie zu seinem Aufenthalt gewählt hatte.
Eines Abends verweilte sie hier bis zu einer sehr späten Stunde. Sie hatte sich auf die Stuffen des Gebäudes gesetzt und beobachtete in stiller Melancholie wie sich allmälig der Abend über die weite Aussicht breitete, bis nur noch das graue Wasser des mittelländischen Meers und die dicken Wälder sichtbar waren. Der Mond stieg jetzt aus der See empor. Sie sah, wie er immer größer hervorging, wie der glänzende Kreis, den er aufs Wasser warf, sich immer erweiterte, und die Spitzen der Wälder und die Zinnen des Wachtthurms, an dessen Fuße sie saß, sich in die Strahlen tauchten. Ihre Geister standen im Einklang mit dieser Scene. Indem sie so sinnend da saß, schlichen sich Töne durch die Luft zu ihr heran, die sie sogleich für die Musik und Stimme, die sie schon oft um Mitternacht gehört, erkannte. In den Schauer, der sie durchdrang, mischte sich Angst und Schrecken, wenn sie an ihre entfernte, einsame Lage dachte. Die Töne kamen näher — sie würde aufgestanden seyn, um den Ort zu verlassen; allein sie schienen aus dem Wege, den sie nach dem Schlosse nehmen mußte, zu kommen, und sie wartete zitternd den Ausgang ab. Es näherte sich immer mehr und hörte dann gänzlich auf. Emilie saß noch lauschend und unfähig, sich zu bewegen da, als sie eine Gestalt aus dem Schatten der Wälder hervorgehn und nicht weit von ihr, längs dem Ufer hingleiten sah. Es schwand so schnell, und sie war so von Angst betäubt, daß sie es zwar sah, aber nicht genau zu betrachten Herz hatte.
Sie verließ den Ort mit dem Vorsatze, ihn nie wieder so spät und allein zu besuchen, und als sie sich dem Schlosse näherte, hörte sie laut ihren Namen von mehrern Stimmen rufen. Es waren des Grafen Bediente, die er nach ihr ausgeschickt hatte; als sie in den Eßsaal trat, wo er mit Heinrich und Blanken saß, gab er ihr einen sanft verweisenden Blick, den sie verdient zu haben erröthete.
Dieser Vorfall hatte einen so tiefen Eindruck auf sie gemacht, und ihr die Dinge, die sie vor einigen Nächten erlebte, so lebhaft ins Gedächtnis gebracht, daß sie kaum Muth hatte, allein zu bleiben. Sie blieb lange auf, als aber kein Ton ihre Furcht erneuerte, legte sie sich endlich zu Ruhe. Allein diese war nicht von langer Dauer. Ein lauter ungewöhnlicher Lärm, der aus dem Gange an ihrem Zimmer zu kommen schien, störte sie. Man hörte deutlich stöhnen und gleich darauf fiel etwas schweres mit einer solchen Gewalt gegen ihre Thüre, daß es sie zu sprengen drohte. Sie rief laut, wer da? erhielt aber keine Antwort, obgleich sie zu Zeiten etwas leise ächzen hörte. Die Furcht raubte ihr die Kraft, aufzustehn; bald darauf hörte sie Fußtritte im fernen Ende des Gangs; so wie sie herannahten, rief sie lauter als zuvor, bis sie an ihrer Thür still standen. Sie erkannte nun die Stimme einiger Bedienten, die aber mit dem, was außen vorging, zu beschäftigt schienen, um auf ihr Rufen zu achten. Bald darauf aber trat Annette herein, um Wasser für ein Mädchen zu holen, das ohnmächtig geworden war. Emilie ließ das Mädchen hereinbringen, und als sie wieder zu sich selbst gekommen war, sagte sie, daß sie im Heraufgehn der schwarzen Wendeltreppe auf dem zweiten Vorsaal eine Erscheinung gesehn hätte. Es hätte einen Augenblick in einem Winkel still gestanden, wäre dann weiter gehuscht und an der Thüre des Zimmers, die kürzlich einmal aufgemacht worden, verschwunden. Nachher hätte sie nur einen dumpfen Ton gehört.
»So muß der Teufel sich einen Schlüssel zu dem Zimmer verschaft haben«, sagte Dorothee; »denn jemand anders kann es nicht seyn; ich habe die Thüre selbst zugeschlossen.«
Das Mädchen war die Treppen herabgestürzt und schreiend bis in den Gang gelaufen, wo sie ohnmächtig an Emiliens Thüre niederfiel.
Emilie gab ihr einen sanften Verweis, und suchte sie wegen ihrer Furcht zu beschämen; allein das Mädchen behauptete steif und fest, sie hätte eine Erscheinung gesehn, und ging in Begleitung aller Bedienten auf ihre Kammer, die einzige Dorothee ausgenommen, die auf Emiliens Bitten die Nacht bei ihr blieb. Emilie wurde noch verlegner, als Dorothee ihr jetzt vertraute, daß sie einmal auf eben der Stelle gerade eine solche Erscheinung gesehn hätte, und daß sie aus dieser Ursache sich jenesmal so sehr gescheut hätte, die nördlichen Zimmer zu öfnen.
Von dieser Nacht an stieg die Furcht des ganzen Gesindes bis zu einem solchen Grade, daß verschiedene ihren Abschied von dem Grafen foderten, der vergebens alles anwandte, um ihnen das Thörigte ihrer Einbildung zu benehmen. Sie nahmen keine Gründe an, und jetzt fand Ludovico, den der Graf gleich anfangs in seine Dienste nahm, Gelegenheit, zugleich seinen Muth und seine Dankbarkeit zu beweisen. Er erbot sich, eine Nacht in den verschrieenen Zimmern zu wachen; er fürchtete keine Geister, sagte er, und wenn ein Wesen menschlicher Art erschiene, so wollte er beweisen, daß er es eben so wenig scheute.
Der Graf besann sich einen Augenblick, während die Bedienten, die den Vorschlag hörten, sich mit Zweifel und Erstaunen ansahen, und Annette, für ihres Geliebten Sicherheit besorgt, Thränen und Bitten anwandte, um ihn von seinem Vorsatze abzubringen.
»Du bist ein kühner Bursche«, sagte der Graf lächelnd. »Bedenke wohl, was du unternimmst, ehe du dich entschließest. Doch wenn du auf deinem Vorsatze beharrst, so will ich dein Erbieten annehmen und deine Unerschrockenheit soll nicht unbelohnt bleiben.«
»Ich verlange keine andre Belohnung, als Ew. Excellenz Beifall«, erwiederte Ludovico; »Sie haben mir bereits Güte genug erzeigt; nur wünschte ich Waffen zu haben, um mich mit meinem Feinde messen zu können, wenn er erscheint.«
»Gut«, sagte der Graf, »du sollst ein Schwerdt und auch gute Speise und Trank haben; ich denke, deine tapfern Kameraden hier werden Muth genug haben, noch eine Nacht im Schlosse zu bleiben, da du für diese Nacht wenigstens die Angriffe des Geistes auf dich allein nehmen wirst.«
Emilie war verwundert und bekümmert, als sie Ludovico's Entschluß hörte, und war oft geneigt, zu erwähnen, was sie in den nördlichen Zimmern des Grafen gesehn hatte: denn sie konnte sich einer ängstlichen Besorgniß für Ludovico nicht gänzlich erwehren. Doch schwieg sie, um ihr Versprechen gegen Dorothee nicht zu verletzen, und suchte Annetten zu beruhigen, die Ludovico's Verderben für gewis hielt, und auf die Emiliens Tröstungen weit weniger Eindruck machten, als das Benehmen der alten Dorothee, die, so oft sie Ludovico's Namen aussprach, einen tiefen Seufzer ausstieß und die Augen gen Himmel schlug.
Der Graf gab Befehl, daß die nördlichen Zimmer aufgemacht und gelüftet werden sollten; allein Dorothee fürchtete sich, zu gehorchen, und da auch von den andern Bedienten sich keiner dahin getraute, so blieben sie verschlossen, bis Ludovico in der Abendstunde, die das ganze Haus mit Ungeduld erwartete, sein Abendtheuer antrat.
Der Graf mit seinen Gästen begleitete Ludovico bis an die Thüre des nördlichen Zimmers, wo Dorothee die Schlüssel ablieferte. Ludovico führte nun den Zug an, und beinahe alles, was im Schlosse war, folgte ihm mit solcher heißen Neugier, als hätte er eine Zauberbeschwörung unternommen.
Sie sahen sich schnell im ersten Zimmer um; als sie hier nichts schreckhaftes erblickten, gingen sie ins zweite und dann mit ruhigerm Schritte ins dritte. Der Graf hatte sich nun von der kleinen Ueberraschung, die ihm der erste Eintritt in diese Zimmer verursachte, erholt, und fragte Ludovico, in welchem er die Nacht zubringen wollte.
»In einem der hintern Zimmer soll ein Bette stehn«, sagte Ludovico, »und da wünschte ich mit Ew. Excellenz Erlaubniß die Nacht hinzubringen, um mich niederzulegen, wenn ich müde vom Wachen bin.«
»So laßt uns weiter gehn«, sagte der Graf. »Ihr seht, daß in diesen Zimmern nichts ist, als feuchte Mauern und verfallene Möbeln. Ich habe, seit ich hier bin, so viel zu thun gehabt, daß ich noch nicht herein gekommen bin. Morgen müssen alle Fenster aufgemacht werden; die damastenen Tapeten zerfallen in Stücken, ich will sie abnehmen und diese antiken Möbeln wegschaffen lassen.«
»Lieber Vater«, sagte Heinrich, »hier steht ein Lehnstuhl, der so schwer vergoldet ist, daß er einem Staatsstuhle im Louvre ähnlich sieht.«
»Ja«, sagte der Graf, indem er einen Augenblick still stand, um ihn zu besehn, »zu diesem Stuhle gehört eine besondere Geschichte, allein wir wollen uns jetzt nicht damit aufhalten. Diese Reihe von Zimmern ist größer, als ich gedacht hatte, es sind viele Jahre seit ich nicht hier war. — Ach, da ist ja der Sallon«, fuhr er fort, als sie in das große Zimmer kamen, worin Emilie mit Dorotheen verweilt hatte. Er stand still, um die Ueberreste ehemaliger Pracht zu betrachten, und sagte dann mit einem tiefen Seufzer: »Wie das alles sich verändert hat, seit ich es zuletzt sah! Ich war damals noch ein junger Mann, und die Marquise war in voller Blüthe! Ach, auch noch viele andre waren damals hier, die jetzt nicht mehr sind! Dort stand das Orchester; hier hüpften wir in fröhlichen Labyrinthen! Die Wände erschollen von Tanz und Musik — jetzt hallen sie nur eine schwache Stimme zurück, und auch die wird bald nicht mehr gehört werden! Doch genug, laß uns weiter gehn.«
Ludovico öfnete nun die Thüre des Schlafzimmers und der Graf fuhr zusammen bei dem leichenmäßigen Ansehn, welches die schwarzen Umhänge gaben. Er näherte sich langsam dem Bette und stand bei der Decke von schwarzem Sammt still. »Was bedeutet das?« fragte er betroffen.
»Die Marquise soll in diesem Zimmer gestorben und der Körper bis zur Beerdigung hier geblieben seyn«, erwiederte Ludovico.
Der Graf gab keine Antwort, sondern blieb einige Augenblicke in Gedanken vertieft und sichtlich erschüttert stehn. Dann fragte er Ludovico sehr ernsthaft, ob er sich wirklich getraute, die Nacht hier zu bleiben; »wo nicht, so gesteh es frei«, setzte er hinzu, »ich will dich von deinem Versprechen lossagen, ohne dich dem Spotte der Bedienten Preis zu geben.«
Ludovico zögerte einen Augenblick; doch überwog der Ehrgeiz die Bangigkeit, die ihn selbst überfallen hatte, und er beharrte auf seinem einmal erklärten Entschlusse.
Er leuchtete dem Grafen und Heinrich bis auf die Treppe, wo sie ein andres Licht fanden, wünschte ihnen ehrerbietig gute Nacht und machte die Thüre fest zu. Auf seinem Rückwege ins Schlafzimmer untersuchte er alle Zimmer noch genauer, weil er fürchtete, daß jemand ihm einen Possen gespielt und sich hineingeschlichen haben könnte, um ihn zu erschrecken. Er fand nichts, und beschäftigte sich nun, ein Feuer im Kamin anzumachen, worauf er einen Stuhl und kleinen Tisch herbeirückte, eine Flasche Wein und kalte Küche hervorzog und sich selbst bewirthete. Nachdem er gegessen hatte, legte er sein Schwerdt neben sich, zog einen alten Roman aus der Tasche und heftete bald seine Aufmerksamkeit auf die Geschichten, die er las, ohne an den Ort, wo er sich wirklich befand, zu denken.
Er hörte nur von Zeit zu Zeit den schwachen Schall einer Thüre, die einer nach dem andern beim Schlafengehen zumachte, bis endlich die Schloßglocke zwölfe schlug. Es ist Mitternacht, sagte er, und blickte argwöhnisch in dem großen Zimmer umher. Das Feuer im Kamin war beinahe ausgegangen, denn er war in seinem Buche zu vertieft gewesen, um darauf zu achten. Doch fachte er es bald wieder an, legte noch frisches Holz auf, schenkte sich ein Glas Wein ein, und zog seinen Stuhl näher zu der knisternden Flamme, um den Wind weniger zu hören, der heulend durch die Fenster pfiff. Er zog sein Buch wieder hervor, und er stieß auf eine Geschichte, die merkwürdig genug ist, um dem Leser im Auszuge mitgetheilt zu werden.
Eine alte Sage.
In der Provinz Bretagne lebte ein edler Baron, der wegen seiner Pracht und Gastfreiheit berühmt war. Sein Schloß war der Sammelplatz schöner Damen und berühmter Ritter. Die Ehre und Pracht seiner ritterlichen Feste lud die Tapfern aus fernen Landen ein, in seine Schranken zu treten, und sein Hof war glänzender als der Hof manches Fürsten. Fünf Minnesänger waren in seinem Dienst und sangen die Thaten der Vorzeit in ihre Harfen, während er von seinen Rittern und Damen umgeben im grossen Saale seines Schlosses schwelgte, wo die köstlichen Tapeten, welche die Wände mit den abgebildeten Thaten seiner Vorfahren schmückten, die Fenster von gemahlten Glas mit Wappenschildern bereichert, die großen Fahnen, die unter der Decke wehten, die prächtigen Thronhimmel und die reichen Verzierungen von Gold und Silber eine Pracht darstellten, die man in unsern Tagen nicht mehr sieht.
Eines Abends, als sich der Baron spät von seinem Gastgebot zurückgezogen und seine Bedienten fortgeschickt hatte, trat ein Fremder von edlem Ansehn aber von trauriger, niedergeschlagener Miene zu ihm. Der Baron, über den nächtlichen Besuch erschrocken, wollte seine Leute herbeirufen; allein der Fremde trat langsam näher, und sagte ihm, er sollte nichts fürchten; er käme in keiner feindlichen Absicht, sondern blos um ihm ein schreckliches Geheimniß zu eröfnen.
Der Baron, durch das gute Ansehn des Fremden eingenommen, steckte sein Schwerdt wieder in die Scheide, nachdem er ihn eine Zeit lang stillschweigend betrachtet hatte, und bat ihn, sich näher über die Absicht seines außerordentlichen Besuchs und über die Art, wie er in das Zimmer gekommen war, zu erklären.
Der Fremde antwortete, daß er sich jetzt nicht näher erklären könnte, wenn aber der Baron ihn ein Stückchen in den Wald nicht weit von dem Schloßraume begleiten wollte, so würde er ihn überzeugen, daß er ihm etwas wichtiges zu entdecken hätte.
Dieser Vorschlag beunruhigte den Baron aufs neue; er glaubte, daß der Fremde unmöglich eine gute Absicht dabei haben könnte, ihn in der Nacht an einen einsamen Ort zu locken, und weigerte sich, mit ihm zu gehn, wenn er ihm nicht die Ursache seines späten Besuchs eröfnen wollte.
Indem er sprach, betrachtete er den Fremden aufmerksamer als zuvor: er bemerkte keine Veränderung in seinem Gesichte, noch sonst ein Zeichen, das eine böse Absicht verrathen hätte. Er war wie ein Ritter gekleidet, von schlankem majestätischem Ansehn und hatte etwas Edles in seinem Wesen. Er schlug es standhaft ab, sich an einem andern Orte, als den er bezeichnet hatte, näher zu erklären, und ließ zugleich einige Worte fallen, die des Barons Neugierde so sehr erregten, daß er sich entschloß, ihm unter gewissen Bedingungen zu folgen.
»Herr Ritter«, sagte er, »ich will mit euch in den Wald gehn, wenn ihr mir erlauben wollt, viere von meinen Leuten mitzunehmen, die unser Gespräch von weitem anhören.«
»Was ich Euch zu entdecken habe«, versetzte der Ritter feierlich, »gilt nur euch alleine. Es giebt nur drei lebende Personen, die darum wissen, und die Sache ist wichtiger für euch und euer Haus, als ich jetzt sagen kann. So lieb euch eure Wohlfahrt ist, folgt mir und traut meinem Ritterworte, daß euch nichts Böses widerfahren soll. — Wenn ihr aber zweifelt, so bleibt zurück und ich will gehn, wie ich kam.«
Der Baron besann sich. Er sah den Ritter an, und bemerkte eine sonderbare Feierlichkeit in seinem Gesicht. — Hier glaubte Ludovico ein Geräusch zu hören, und sah sich im Zimmer um. Da er aber nichts weiter bemerkte, las er weiter. —
Der Baron ging stillschweigend im Zimmer auf und ab. Endlich sagte er: »Herr Ritter, ihr seyd mir ganz unbekannt, sagt selbst, ob ihr verlangen könnt, daß ich mich um diese Stunde einem Fremden in einem einsamen Walde anvertraue. Sagt mir wenigstens, wer ihr seyd und wie ihr in dieses Zimmer kommt.«
Der Ritter runzelte die Stirn und schwieg einen Augenblick; dann sagte er mit etwas finsterm Gesicht:
»Ich bin ein Engelländischer Ritter, und heiße Bevis von Lancaster; meine Thaten sind nicht unbekannt im gelobten Lande, von wo ich nach meinem Vaterlande zurückkehrte, als mich die Nacht in dem benachbarten Walde überfiel.«
»Euer Name ist dem Ruhme nicht unbekannt«, sagte der Baron; »aber da ihr wißt, daß mein Schloß allen ächten Rittern offen steht, warum ließt ihr euch nicht durch euren Herold ankündigen? Warum erschient ihr nicht beim Schmause, wo ihr willkommen gewesen wäret, statt euch in meinem Schlosse zu verbergen und um Mitternacht in mein Zimmer zu stehlen.«
Der Ritter antwortete noch ernster: »ich komme nicht, um Fragen zu beantworten, sondern um Thatsachen zu entdecken. Folgt mir, wenn ihr mehr wissen wollt — meine Zeit ist kurz.«
Der Baron entschloß sich, dem Fremden zu folgen, um den Ausgang dieses sonderbaren Begehrens zu erfahren. Er zog sein Schwerdt aufs neue hervor, ergrif ein Licht und hieß den Ritter vorangehn. Der Ritter führte ihn durchs Vorzimmer, wo der Baron zu seinem Erstaunen alle seine Knappen schlafend fand. Er wollte ihnen zornig ihre Nachlässigkeit verweisen, aber der Ritter winkte ihm mit der Hand und sah ihn so bedeutend an, daß er seinen Zorn zurückhielt und schweigend folgte.
Der Ritter stieg eine Treppe herunter, öfnete eine geheime Thüre, die der Baron niemanden bekannt glaubte, und führte ihn durch einige schmale krumme Gänge zu einer kleinen Pforte, die außerhalb der Mauern führte. Der Baron folgte ihm in stummen Erstaunen, daß diese geheimen Gänge einem Fremden so bekannt waren; der Fremde seufzte oft indem er weiter ging, sprach aber kein Wort.
Als sie an den Eingang des Waldes kamen, drehte er sich um, und hob den Kopf in die Höhe, als wollte er sprechen, schloß aber die Lippen sogleich wieder und gieng weiter.
Als sie zwischen die dunkeln herabhängenden Zweige kamen, stand der Baron, betroffen über die Gefahr seiner Lage, still und fragte, ob sie noch weiter zu gehn hätten. Der Ritter antwortete nur durch eine Bewegung und der Baron folgte ihm mit zögernden Schritten durch einen dunkeln, bewachsenen Pfad, bis er eine weite Strecke zurückgelegt hatte. Er fragte nun wieder, wohin er ihn führte, und weigerte sich weiter zu gehn, wenn er nicht wüßte, wohin.
Er sah bei diesen Worten sein Schwerdt und dann den Ritter an: aber dieser schüttelte den Kopf und seine niedergeschlagene Miene entwafnete den Verdacht des Barons.
»Ein wenig weiter hin ist der Ort, wohin ich euch führen wollte«, sagte der Fremde — »es soll euch kein Uebel wiederfahren. Ich habe bei meiner Ritterehre geschworen.«
Der Baron folgte ihm schweigend, durch diese Versicherung aufgerichtet, und sie kamen bald an eine tiefe Höhle im Walde, wo die dunkeln und hohen Wallnußbäume alles Licht des Himmels ausschlossen. Der Ritter seufzte tief und stand still. Er drehte sich nun, zeigte mit einem schrecklichen Blick auf die Erde, und der Baron sah den Körper eines Mannes der Länge nach ausgestreckt und sich im Blute wälzend: eine tiefe Wunde saß auf der Stirne und der Tod schien bereits seine Züge verzerrt zu haben.
Der Baron starrte vor Schrecken, sah den Ritter mit einem fragenden Blick an und wollte den Körper aufheben, um zu sehn, ob noch Reste des Lebens in ihm wären; allein der Fremde winkte mit der Hand und heftete einen so kläglichen Blick auf ihn, daß er sogleich abstand.
Allein was empfand der Baron, als er die Lampe näher an die Züge des Sterbenden hielt, und das genaue Ebenbild seines Führers entdeckte. Er sah ihn an, aber das Gesicht des Ritters verwandelte sich und verblich, bis seine ganze Gestalt vor den erstaunten Sinnen des Barons schwand. Indem sprach eine hohle Stimme diese Worte: —
Ludovico fuhr zusammen und legte das Buch aus der Hand, denn er glaubte eine Stimme im Zimmer zu hören — er sah nach dem Bette, erblickte aber nur die dunkeln Vorhänge und die schwarze Decke. Er wagte kaum Athem zu holen, hörte aber nichts als das ferne Brüllen der See im Sturme und das Toben des Windes — er nahm das Buch wieder auf und las weiter. —
Während der Baron starrend da stand, sprach eine Stimme diese Worte:
»Hier vor euch liegt der Körper des Ritters Bevis von Lancaster. Er wurde diese Nacht auf der Rückreise von der heiligen Stadt nach seinem Vaterlande von Räubern angefallen und ermordet. Denkt an die Rechte der Ritterehre und der Menschlichkeit; begrabt den Leichnam in christlichem Boden und laßt die Mörder strafen, die ihr in einer Hütte am Ende des Waldes finden werdet. Seegen und Glück für die Eurigen sey der Lohn eurer That.«
Der Baron rächte treulich den Mord des Erschlagenen. Am folgenden Tage ließ er ihn mit allen Ehrenbezeugungen in seiner Kapelle begraben, wo ein Leichenstein dem Vorübergehenden die traurige Geschichte erzählt.
Ludovico ließ das Buch aus der Hand fallen. Der Schlaf überwältigte ihn und er sank in dem Lehnstuhle nieder. Er sah im Traume noch immer das Zimmer vor sich, wo er sich wirklich befand — zweimal fuhr er auf, weil es ihm däuchte, als ob ein Mannsgesicht über die hohe Lehne seines Stuhls ragte. Diese Vorstellung machte solchen Eindruck auf ihn, daß er beinahe andern Augen zu begegnen erwartete, indem er die seinigen aufschlug — er stand auf und sah hinter den Stuhl, ehe er sich überzeugen konnte, daß niemand da sey.
So verstrich diese Stunde.
Der Graf, der die Nacht über wenig geschlafen hatte, stand früh auf und ging, begierig Ludovico zu sprechen, nach dem nördlichen Zimmer; da aber die äußere Thüre des Abends vorher verriegelt war, so sah er sich genöthigt, laut zu klopfen. Weder sein Klopfen noch sein Rufen wurde gehört; er vermuthete nun, daß Ludovico vom Wachen müde, in tiefen Schlaf gefallen seyn würde, und verließ die Thüre um im Felde spatzieren zu gehn.
Es war ein grauer Herbstmorgen. Die Sonne die über Provence aufging, verbreitete nur ein schwaches Licht, da ihre Strahlen mit den Dünsten kämpften, die aus der See aufstiegen und in dicken Wolken über den Wäldern schwammen, die jetzt der gelbe Hauch des Herbstes bunt gefärbt hatte. Der Sturm war vorüber, aber die Wellen waren noch heftig bewegt und ihr Lauf wurde durch lange Linien von Schaum bezeichnet, während nicht ein Lüftchen in den Seegeln der Schiffe flatterte, die dicht am Ufer die Anker lichteten, um fortzusegeln. Die verlängerten Schatten des Morgens gefielen dem Grafen und er setzte seinen Weg durch die Wälder in tiefe Gedanken versunken, fort.
Auch Emilie stand früh auf und machte ihren gewöhnlichen Morgenspaziergang längs dem Vorgebürge das über die See hing. Ihre Seele war jetzt nicht mit dem, was im Schlosse vorging beschäftigt, sondern Valancourt war der Gegenstand ihrer traurigen Gedanken. Sie hatte sich noch nicht dahin bringen können, ihn mit Gleichgültigkeit zu betrachten, so sehr auch ihr Verstand ihr die Neigung vorwarf, die noch immer für ihn in ihrem Herzen zögerte, nachdem ihre Achtung dahin war. Die Erinnerung gab ihr oft seinen scheidenden Blick und die Töne seiner Stimme, als er ihr das letzte Lebewohl sagte, zurück, und da jetzt einige andre Ideenverbindungen diese Umstände mit besondern Nachdruck in ihrer Phantasie hervorriefen, preßte diese Vorstellung ihr bittre Thränen aus.
Sie setzte sich auf die zerbrochenen Stuffen der Warte nieder und sah mit melancholischem Nachsinnen dem Spiel der Wellen zu, wie sie halb in Dünsten verborgen, nach dem Ufer zu rollten und ihren leichten Schaum auf die untern Klippen sprüzten. Ihr dumpfes Murmeln und die verdunkelnden Nebel, die in Kränzen die Klippen hinauf stiegen, gaben der Scene eine Feierlichkeit, die mit der Stimmung ihres Gemüths in Einklang stand, und sie saß da in der Erinnerung vergangner Zeiten verloren, bis diese zu schmerzlich ward und sie schnell den Ort verlies. Als sie an dem kleinen Thore des Wachtthurms hin gieng, sah sie Buchstaben auf dem Steine eingegraben; sie stand still um sie zu untersuchen und entdeckte ein klagendes Sonnet, von Valancourts Hand eingegraben.
Sie sah aus diesen Zeilen, daß Valancourt diesen Thurm besucht hatte, daß er wahrscheinlich die vergangne Nacht hier gewesen war, und vielleicht noch in der Gegend seyn konnte. Diese Betrachtungen giengen schnell vor ihrer Seele vorüber und riefen eine Menge kämpfende Bewegungen hervor, die ihre Lebensgeister beinahe niederdrükten: ihre erste Regung aber war ihn zu vermeiden; sie verließ sogleich den Thurm und gieng mit schnellen Schritten nach dem Schlosse zurück. Sie erinnerte sich auf ihrem Wege an die Musik, die sie in der Nähe des Thurms gehört hatte, und an die Gestalt, die vor ihr vorüber schwand. Beinahe glaubte sie in diesem Augenblicke der Bewegung, daß es Valancourt gewesen wäre, allein andre Erinnerungen überzeugten sie bald, daß dieses nicht seyn konnte. Als sie in eine dicker belaubte Gegend des Waldes kam, sah sie in einiger Entfernung jemand langsam zwischen den Schatten gehn, ihre Seele war nur von einem Bilde erfüllt — sie fuhr zusammen und stand stille, weil sie es für Valancourt hielt. Es näherte sich mit schnellern Schritten und ehe sie sich noch genug besinnen konnte, um aus dem Wege zu gehn, erkannte sie die Stimme des Grafen, der seine Verwundrung bezeugte, sie schon so früh auf dem Spatziergang zu finden, und einen kleinen Versuch machte, sie mit ihrer Liebe zur Einsamkeit aufzuziehn. Allein er sah bald, daß hier mehr Ursach zur Bekümmerniß als zum Scherzen war; er veränderte seinen Ton und machte Emilien zärtliche Vorwürfe, daß sie einem unnöthigen Kummer so sehr nachhienge. Sie erkannte die Wahrheit von allem was er sagte, konnte aber dennoch ihre Thränen nicht zurückhalten und er veränderte sogleich das Gespräch. Er äusserte seine Befremdung, daß er von dem Advocaten aus Avignon noch keine Antwort wegen der Güter der verstorbnen Madame Montoni erhalten hatte, und suchte mit freundschaftlichem Eifer Emilien durch die Hofnung ihren Anspruch drauf geltend zu machen, zu erheitern; allein sie fühlte, daß diese Güter jetzt wenig zur Glückseeligkeit eines Lebens beitragen konnten, an dem Valancourt nicht mehr Theil nahm.
Als sie aufs Schloß zurück kamen, begab sich Emilie nach ihrem Zimmer und der Graf von Villefort nach dem nördlichen Flügel. Die Thüre war noch immer verschlossen, da er aber jetzt entschlossen war, Ludovico zu wecken, so rief er lauter als zuvor; aber es erfolgte nur eine gänzliche Stille und der Graf fieng endlich an zu fürchten, daß Ludovicon etwas zugestoßen seyn könnte. Er entschloß sich also endlich, seine Bedienten herbei zu rufen, um die Thüre zu sprengen.
Auf des Grafen Fragen, ob sie nichts von Ludovico gehört oder gesehn hätten, antworteten sie erschrocken, daß sich keiner von ihnen seit der vorigen Nacht in den nördlichen Flügel des Schlosses gewagt hätte. Es hielt sehr schwer, ehe der Graf die Leute dahin bringen konnte, die Thüre zu sprengen, und er sah sich beinahe genöthigt, den ersten Schlag selbst zu thun. Nur die beherztesten folgten ihm und Heinrich in das erste Zimmer, die übrigen erwarteten auf der Treppe und auf dem Vorsale den Ausgang.
Es war alles still in den Zimmern durch die der Graf gieng; im Saale rief er Ludovico nochmals mit lauter Stimme und als er noch immer keine Antwort erhielt, riß er die Thüre des Schlafzimmers auf und gieng hinein.
Die tiefe Stille von innen bestärkte seine Besorgnisse für Ludovico, man hörte nicht einmal das Athmen eines Schlafenden, auch konnte er sich nicht aus seiner Ungewisheit reißen, weil die Laden alle zugemacht waren, und er in der Dunkelheit keinen Gegenstand zu erkennen im Stande war.
Der Graf befahl einem Bedienten, den Laden aufzumachen; allein der Mensch hatte kaum einige Schritte ins Zimmer gethan als er zur Erde fiel, und durch sein Geschrei die andern, die sich so weit herbeigewagt hatten, in solches Schrecken setzte, daß sie eilends davon liefen, und es dem Grafen und Heinrich überließen, das Abentheuer zu beendigen.
Heinrich sprang quer durchs Zimmer, und als er einen Fensterladen geöfnet hatte, sahen sie, daß der Mann über einen Lehnstuhl der beim Camin stand, beinahe gestolpert wäre. Ludovico sas nicht mehr darin; auch konnten sie ihn bei dem unvollkommnen Lichte, das ins Zimmer fiel, nirgends entdecken. Der Graf wurde im vollen Ernste unruhig und öfnete die andern Läden um weiter zu untersuchen; als er aber dennoch Ludovico nicht fand, stand er einen Augenblick voll Erstaunen still und wagte kaum seinen Sinnen zu trauen, bis endlich seine Augen aufs Bett fielen, und er hinzu trat, um zu sehn, ob er hier schliefe. Allein es lag niemand darin, und auch im Cabinet, das er nunmehr durchsuchte, stand noch alles wie die Nacht zuvor, nur Ludovico war nicht da.
Des Grafen Erstaunen überstieg allen Ausdruck. Im Schlafzimmer war ausser dem umgeworfnen Stuhle, keine Unordnung zu sehn; auf einem kleinen Tische darneben sah er noch Ludovicos Schwerdt, sein Licht, das Buch worinn er gelesen hatte, und den Ueberrest seiner Flasche Wein. Auf der Erde lagen noch einige Ueberreste seines Proviants und etwas Holz.
Heinrich und der Bediente äusserten nun ihr Erstaunen ohne Rückhalt; der Graf sagte wenig, allein es lag ein gewißer Ernst in seinem Wesen, der viel ausdrückte. Es schien, daß Ludovico das Zimmer durch einen geheimen Gang verlassen hatte, denn der Graf konnte nicht glauben, daß etwas übernatürliches im Spiel sey, doch blieb es unerklärlich, wenn auch ein geheimer Ausgang da war, warum er sich auf solche Art davon gemacht hatte; und eben so sonderbar war es, daß man auch keine Spur fand, und daß alles in solcher Ordnung war, als wenn er den gewöhnlichen Weg genommen hätte.
Der Graf half selbst die gewürkten Tapeten, womit das Schlafzimmer, der Saal und einige Vorzimmer behangen waren, aufheben, um zu entdecken, ob eine Thüre dahinter verborgen wäre; allein trotz alles mühsamen Suchens fand er nichts, und verließ zuletzt die Zimmer, nachdem er das letzte sorgfältig verschlossen, und den Schlüssel, der noch inwendig steckte, selbst zu sich genommen hatte. Er gab darauf Befehl, nicht nur im Schlosse, sondern auch in der Nachbarschaft scharfe Nachsuchung nach Ludovico zu thun. Er verschloß sich darauf mit Heinrich in sein Cabinet, wo sie lange zusammen blieben. Was auch der Inhalt ihres Gesprächs war, so verlor doch Heinrich von dieser Stunde an vieles von seiner Lebhaftigkeit, und sein Betragen war besonders ernsthaft und zurückhaltend, so oft die Rede auf den Gegenstand kam, der jetzt des Grafen Familie mit Verwundrung und Unruhe erfüllte.
Die allerschärfste Nachforschung blieb vergebens, und nach einigen Tagen unermüdeten Suchens überließ sich die arme Annette ganz der Verzweiflung, und die andern Bedienten der Furcht und Verwundrung.
Emilie, auf deren Gemüth das unglückliche Schicksal der verstorbenen Marquise und der geheimnisvolle Zusammenhang, den sie sich zwischen ihr und Herr St. Aubert dachte, einen tiefen Eindruck gemacht hatte, nahm einen ganz besondern Antheil an dem letzten ausserordentlichen Vorfall, und war sehr bekümmert um Ludovicos Verlust, dessen Rechtschaffenheit und treue Dienste ihre Achtung und Dankbarkeit verdienten. Sie wünschte nichts mehr als in die ruhige Einsamkeit ihres Closters zurückzukehren, allein jeder Wink davon wurde von Blanken mit würklichem Schmerz aufgenommen, und zärtlich von dem Grafen abgelehnt, für den sie die Liebe und Achtung einer Tochter fühlte. Sie sagte ihm endlich mit Dorotheens Einwilligung von der Erscheinung, die sie im Zimmer der verstorbnen Marquise gesehn hätte. Zu jeder andern Zeit würde er über eine solche Erzählung gelächelt und geglaubt haben, daß es nur eine phantastische Einbildung sey, diesmal aber hörte er Emilie ernsthaft zu, und bat sie am Ende, von diesen Dingen nie etwas zu sagen. »Was auch die Ursache und die Bedeutung dieser sonderbaren Ereignisse seyn mag«, setzte er hinzu, »so kann doch nur die Zeit sie erklären. Ich werde ein scharfes Auge auf alles richten, was im Schlosse vorgeht, und werde alles anwenden, um Ludovicos Schicksal zu entdecken. Indessen müssen wir vorsichtig und still zu Werke gehn. Ich will selbst in den nördlichen Zimmern wohnen, aber niemand soll etwas davon wissen.«
Der Graf ließ nun Dorotheen rufen und schärfte ihr Stillschweigen über alles ein, was sie gesehn hatte, oder vielleicht noch in Zukunft sehen konnte. Diese treue Alte, erzählte ihm nun alle Umstände von dem Tode der Marquise. Das meiste schien er schon zu wissen, einiges aber überraschte und rührte ihn sichtlich. Er gieng in sein Cabinet, wo er lange allein blieb. Als er wieder erschien, beunruhigte und befremdete Emilien der feierliche Ernst in seinem Wesen; doch behielt sie ihre Gedanken in der Stille für sich.
Die Woche nach Ludovicos Verschwinden nahmen alle Gäste des Grafen Abschied, den Baron, seinen Sohn den Herrn St. Foix und Emilien ausgenommen. Diese wurde bald durch die Ankunft eines andern Besuchs, des Herrn Dúpont in Verlegenheit gesetzt, der sie auch bestimmte, sich unverzüglich ins Kloster zu begeben. Das Entzücken auf seinem Gesicht, als er sie sah, überzeugte sie nur zu deutlich, daß er dieselbe Leidenschaft wieder zurück brächte, die ihn vormals von Chateau Le Blanc verbannt hatte. Emilie nahm ihn mit Zurückhaltung und der Graf mit Vergnügen auf. Er führte seinen Freund mit einem Lächeln zu ihr, das für ihn zu sprechen schien, und schöpfte nicht weniger Hofnung für ihn aus der Verlegenheit, womit sie ihn empfieng.
Herr Dúpont aber schien mit ächter Sympathie ihr Betragen besser zu verstehn; sein Gesicht verlor schnell seine Lebhaftigkeit und versank in Trauer.
Den andern Tag aber suchte er Gelegenheit, den Zweck seines Besuchs zu erklären und seine Bewerbung zu erneuern. Emilie nahm seine Erklärung mit würklicher Bekümmerniß auf, und suchte den Schmerz, den eine zweite abschlägige Antwort ihm verursachen mußte, durch Versicherungen ihrer Achtung und Freundschaft zu mildern, doch ließ sie ihn in einem Seelenzustand zurück, der ihr zärtliches Mitleid erregte, und da sie mehr als jemals fühlte, wie unschicklich es für sie war, länger im Schlosse zu bleiben, suchte sie sogleich den Grafen auf und eröfnete ihm ihre Absicht ins Kloster zurückzukehren.
»Meine theuerste Emilie«, sagte er; »ich sehe mit würklicher Betrübniß, daß Sie sich eine Täuschung machen, der junge, gefühlvolle Seelen so gerne nachhängen. Ihr Herz hat einen harten Stoß erlitten. Sie glauben sich nie ganz davon erholen zu können und werden sich in diesem Glauben erhalten, bis die Gewohnheit, dem Kummer nachzuhängen die Stärke Ihrer Seele niederdrücken und Ihre zukünftigen Aussichten mit Schwermuth und fruchtlosem Sehnen nach der Vergangenheit trüben wird. Lassen Sie mich diese Täuschung zerstreuen und Sie zu einem Gefühl Ihrer Gefahr werden.«
Emilie lächelte schmerzhaft. »Ich weiß, was Sie sagen wollen, verehrungswürdigster Freund! und bin gefaßt Ihnen zu antworten. Ich fühle, daß mein Herz nie einer zweiten Liebe fähig ist, und daß ich nie hoffen dürfte, nur Ruhe für es wieder zu finden, wenn ich mich in eine neue Verbindung einließe.«
»Ich weiß, daß Sie das alles fühlen«, erwiederte der Graf, »allein ich weiß auch, daß die Zeit diese Gefühle überwinden wird, wenn sie Ihnen nicht in der Einsamkeit und verzeihn Sie mir, mit romanhafter Zärtlichkeit nachhängen. Sonst wird freilich die Zeit nur Gewohnheit befestigen. Ich habe vielleicht ein vorzügliches Recht, über diese Materie zu sprechen und an Ihrem Leide Theil zu nehmen«, setzte der Graf mit feierlicher Stimme hinzu, »denn ich habe erfahren, was es heißt, zu lieben und den Gegenstand seiner Liebe zu bejammern. Ja ich habe gelitten!« Thränen stiegen ihm in die Augen — »allein diese Zeiten sind lange vorüber — und ich kann nun mit Kälte darauf zurückblicken.«
»Aber theuerster Graf!« sagte Emilie furchtsam, »was bedeuten diese Thränen, sie sprechen, fürcht ich eine andre Sprache, sie sprechen für mich.«
»Es sind schwache Thränen«, versetzte der Graf, indem er sie troknete, »denn es sind unnütze — ich wünsche, daß Sie über solche Schwachheiten hinaus seyn mögen. Ach, es sind nur noch schwache Spuren eines Schmerzes, der mich bis an den Rand des Wahnsinns hätte bringen können. Urtheilen Sie also selbst, ob ich nicht Ursache habe, sie vor einer Weichheit zu warnen, die eine so schreckliche Würkung hervorbringen und wenn Sie ihr nicht entgegen arbeiten, die Jahre umwölken wird, die sonst glücklich hätten seyn können. — Herr Dúpont ist ein gescheuter, liebenswürdiger Mann, der Ihnen lange zärtlich ergeben gewesen ist. Seine Familie und seine Umstände sind ohne Tadel — nach dem was ich gesagt habe, ist es unnöthig hinzuzusetzen, daß es mein angelegentlichster Wunsch ist, Sie glücklich zu sehn, und daß ich denke, Herr Dúpont könnte Sie glücklich machen. Meinen Sie nicht, Emilie«, fuhr er fort, indem er sie bei der Hand nahm — »es ist Ihnen noch Glückseeligkeit aufbehalten.«
Er schwieg einen Augenblick und setzte dann mit festerer Stimme hinzu — »ich verlange nicht, daß Sie sich Gewalt anthun sollen, Ihren Empfindungen entgegen zu handeln; ich wünsche blos, daß Sie die Gedanken zurückzuhalten suchen, die Sie an die Vergangenheit erinnern, daß Sie Ihre Seele mit den gegenwärtigen Gegenständen beschäftigen und sich an die Vorstellung halten, daß noch Glückseeligkeit für Sie möglich ist — daß Sie zuweilen mit Wohlwollen an den armen Dúpont denken und ihn nicht zu der Niedergeschlagenheit verdammen, der ich Sie, meine theuerste Emilie, so gerne entreissen mögte.«
»Ach mein verehrungswürdigster Freund!« sagte Emilie, und ihre Thränen flossen noch immer — »lassen Sie nicht Ihre guten Wünsche in dem Herrn Dúpont die Erwartung erregen, daß ich je seine Hand annehmen kann. Wenn ich mein eigen Herz kenne, so kann das nie geschehen.«
»Erlauben Sie mir in Ihrem Herzen zu lesen«, erwiederte der Graf mit schwachem Lächeln, »aber seyn Sie versichert daß ich nicht unbescheiden in Sie dringen werde. Ich will Sie sogar nicht einmal bitten, länger im Schlosse zu bleiben, als Sie selbst es wünschen: allein wenn ich Sie jetzt ohne Widerspruch von uns lasse, so behalte ich es mir doch vor, die Ansprüche der Freundschaft auf Ihre zukünftige Besuche geltend zu machen.«
Thränen der Dankbarkeit mischten sich in die Thränen des zärtlichen Schmerzes, womit Emilie dem Grafen für die vielen Beweise seiner Freundschaft dankte — sie versprach, sich in allem — nur einen einzigen Punkt ausgenommen, nach seinem Rathe zu fügen, und versicherte ihn, daß sie mit Freuden seine, oder der Gräfin Einladung in Zukunft annehmen würde, wenn Herr Dúpont nicht im Schlosse gegenwärtig wäre.
Der Graf lächelte über diese Bedingung. Emilie aber begab sich den andern Tag würklich in ihr Kloster zurück, wo sie von der Aebtissinn mit aller gewohnten mütterlichen Zärtlichkeit und von den Nonnen mit schwesterlicher Liebe aufgenommen wurde. Das Gerücht von dem letzten sonderbaren Vorfall war bereits ins Kloster gedrungen und man fragte Emilien um die näheren Umstände. Sie war sehr behutsam in ihren Antworten, und erzählte nur ganz kurz Ludovicos Geschichte, dessen Verschwinden die Nonnen einstimmig für etwas übernatürliches erklärten.
»Man hat lange geglaubt«, sagte eine Schwester Franziska, »daß es im Schlosse nicht richtig wäre, und ich wunderte mich, als ich hörte, daß der Graf die Verwegenheit hatte es zu bewohnen. Der vorige Besizer hat, fürchte ich, eine That verübt, die er schwer büßen muß.«
— »Was hat er denn begangen?« fragte eine junge Nonne, die erst kürzlich ins Kloster gekommen war.
»Laßt uns für seine Seele beten!« — erwiederte eine andre, die bisher in stummer Aufmerksamkeit dagesessen hatte. — »Wenn er gesündigt hat, so war seine Strafe in dieser Welt groß genug.« — Sie sagte dies mit einem feierlichen Wesen, das Emilien ausserordentlich auffiel, die junge Nonne aber sagte ohne darauf zu achten: »Sie wissen vermutlich worinn sein Verbrechen bestanden hat, und auf welche Art er hier gestraft wurde?«
»Es kann seyn«, erwiederte Schwester Agnes, »aber wer wagt es, meine Gedanken zu erforschen und zu bestimmen, was ich sagen will. Gott allein ist Richter, und zu dem Richter ist der Graf gegangen.«
Emilie sah die junge Nonne mit Verwunderung an, allein diese winkte ihr bedeutend. »Es thut mir leid, daß meine Frage Ihnen mißfallen hat«, sagte sie sanft; »ich hatte nicht die Absicht Sie zu beleidigen.«
»Misfallen«, sagte Agnes pathetisch. »Wir sind alle leere Schwätzer und verstehen die Bedeutung der Worte nicht, die wir gebrauchen. Mißfallen ist ein armseliges Wort. Ich will gehen und beten.« Mit diesen Worten stand sie auf und verließ mit einem tiefen Seufzer das Zimmer.
»Was war das?« sagte Emilie, als sie fort war.
»O das ist nichts«, antwortete Franzisca. »Sie ist oft so, allein sie verbindet keinen Sinn mit dem was sie sagt. Ihr Verstand ist zuweilen in Unordnung. Haben Sie sie noch nie so gesehen?«
»Niemals«, sagte Emilie. »Ihr zerstöhrter Blick ist mir wohl oft aufgefallen, in ihren Reden aber hab ich nie etwas bemerkt.«
»Beten Sie für sie, meine Tochter,« fiel die Aebtissin ein; »sie bedarf unsrer Gebete.«
»Was halten Sie wohl von dem verstorbenen Marquis, ehrwürdige Mutter«, sagte die junge Nonne zu der Aebtissin. »Die seltsamen Vorfälle im Schloße haben meine Neugierde so sehr erregt, daß Sie mir die Frage verzeihen werden. Was war sein Verbrechen und was die Strafe, worauf Schwester Agnes anspielt?«
»Der Gegenstand ist zu delikat, um darüber zu reden«, antwortete die Aebtissin mit feierlichem Ernst. »Ich will nicht behaupten, daß der Marquis ein Verbrecher war, noch will ich das Verbrechen nennen, dessen man ihn beargwöhnte — von einer Strafe aber, die er hier erduldet hätte, weiß ich nicht. Agnes deutete wahrscheinlich auf die schwere Strafe, die ein unruhiges Gewissen auflegt. Hütet euch, meine Kinder, jemals eine so schwere Strafe auf euch zu ziehen — sie ist das Fegefeuer dieses Lebens! — Die verstorbene Marquise habe ich wohl gekannt. Sie war ein Muster für diejenigen, die in der Welt leben, ja auch unser heiliger Orden hätte nicht zu erröthen gebraucht, ihren Tugenden nachzuahmen! Unser Kloster hat ihre sterbliche Hülle empfangen, ihr himmlischer Geist ist gewiß zu seinem geheiligten Vaterlande empor gestiegen.«
Indem die Aebtissin dies sagte, läutete die lezte Vesperglocke und sie stand auf: »Laßt uns gehn, meine Kinder«, sagte sie, »und für die Unglücklichen beten. Laßt uns gehn, und unsere Sünden bekennen, und unsere Seelen für den Himmel zu reinigen suchen, wohin sie gegangen ist.«
Emilie wurde durch diese feierliche Ermahnung gerührt. Sie erinnerte sich an ihren Vater. »Zu diesem Himmel ist er auch gegangen!« sagte sie leise, unterdrückte ihre Seufzer und folgte der Aebtissin und den Nonnen nach der Capelle.
Der Graf von Villefort erhielt endlich einen Brief von dem Advocaten zu Avignon, der Emilien aufmunterte, ihren Anspruch auf die Güter der verstorbenen Madame Montoni geltend zu machen. Zu gleicher Zeit erschien ein Bothe vom Herrn Quesnel mit einer Nachricht, die es unnöthig machte, sich deshalb gerichtlich zu melden, weil daraus erhellte, daß die einzige Person, die ihren Ansprüchen zuwider seyn konnte, nicht mehr am Leben war. Ein Freund des Herrn Quesnel, der zu Venedig wohnte, hatte ihm den Tod des Montoni geschrieben, der mit Orsino, als sein vermeinter Mitschuldiger bei der Ermordung des Venetianischen Edelmanns, zu Verhör gebracht war. Orsino wurde schuldig befunden, aufs Rad geflochten und hingerichtet, da aber über diesen Punkt nichts auf Montoni und seine Collegen gebracht werden konnte, wurden sie alle freigesprochen, Montoni ausgenommen, der vom Senat als ein gefährlicher Mensch betrachtet, und aus andern Ursachen, wieder ins Gefängniß gebracht wurde, wo er auf eine zweifelhafte, geheimnißvolle Art, nicht ohne Verdacht, vergiftet worden zu seyn, ums Leben kam.
Herr Quesnel hatte diese Nachricht aus einer so guten Quelle, daß er nicht an der Wahrheit zweifeln konnte. Er meinte, daß Emilie jetzt nur die Güter ihrer verstorbenen Tante zu fordern brauchte und erbot sich, selbst zur Betreibung des Geschäfts behülflich zu seyn. Er schrieb ihr, daß der Termin zur Verpachtung von La Vallée beinahe verflossen sey, und rieth ihr durch Thoulouse, wo es schicklich für sie seyn würde, die Güter der verstorbenen Madam Montoni in Besiz zu nehmen, dahin zu gehen; er meinte, es würde gut seyn, wenn sie spätestens in drei Wochen da einträfe und versprach, ihr selbst bis dahin entgegen zu kommen und ihr mit seinem Rathe an die Hand zu gehen.
Es schien, daß die reiche Erbin dem Herrn Quesnel jetzt mehr Achtung einflößte, als die arme, freundlose Waise je Mitleiden in ihm erregt hatte.
Das Vergnügen, welches sie bei dieser Nachricht empfand, wurde getrübt, wenn sie bedachte, daß derjenige, um dessentwillen sie einst den Mangel an Vermögen beklagt hatte, nicht mehr würdig war, es mit ihr zu theilen; wenn sie sich aber der freundschaftlichen Ermahnung des Grafen erinnerte, so unterdrückte sie diese traurige Betrachtung, und suchte ihr Herz der reinen Dankbarkeit für das unerwartete Gute, das ihr jetzt zufloß, zu öfnen. Der Gedanke erhöhte ihre Freude nicht wenig, daß La Vallée ihre geliebte Heimath, und ihr theurer noch dadurch, daß es der Aufenthalt ihrer geliebten Eltern gewesen war, bald wieder in ihren Besiz kommen würde. Sie nahm sich vor, es zu ihrem beständigen Wohnort zu machen, denn ohngeachtet es weder in Umfang noch Pracht mit dem Schlosse zu Thoulouse konnte verglichen werden, hatte doch seine schöne Lage, und die zärtlichen Erinnerungen, die es umschwebten, Ansprüche an ihr Herz, die sie dem Freunde nicht aufzuopfern geneigt war. Sie antwortete Herrn Quesnel sogleich, um ihm für den thätigen Antheil den er an ihren Angelegenheiten nahm, zu danken, und ihm zu sagen, daß sie ihn um die bestimmte Zeit zu Thoulouse treffen würde.
Als der Graf von Villefort mit Blanken ins Closter kam, um Emilien den Rath des Advocaten mitzutheilen, sagte sie ihm den Inhalt von Herrn Quesnels Briefe. Er wünschte ihr aufrichtig Glück, allein sie bemerkte, sobald der erste Ausdruck des Vergnügens von seinem Gesicht verschwunden war, einen ungewöhnlichen Ernst bei ihm, und wagte es nach der Ursache zu fragen.
»Ich habe gerade keine neue Ursache«, antwortete der Graf; »allein ich gestehe, daß mir die Verwirrung, die jetzt wegen ihres thörigten Aberglaubens unter allen meinen Leuten herrscht, sehr unangenehm ist. Ich höre immer von Dingen schwatzen, die ich weder zugeben, noch ihnen widersprechen kann; auch bin ich würklich wegen des armen Burschen, des Ludovico, sehr in Sorgen, von dem ich noch nichts habe erfahren können. Ich habe nicht nur das ganze Schloß, sondern die ganze Gegend durchsuchen lassen, und weiß nicht was ich weiter thun soll, da ich schon große Summen für eine Nachricht von ihm ausgeboten habe. Die Schlüssel zu dem nördlichen Flügel sind seit seinem Verschwinden nicht aus meiner Verwahrung gekommen, und ich bin Willens, diese Nacht selbst in den Zimmern zu wachen.
Emilie gerieth über diesen Vorsatz in würkliche Unruhe, und vereinigte ihre Bitten mit Blanken, ihn davon abzubringen.
»Was sollte ich fürchten«, sagte er. »Mit übernatürlichen Kräften werde ich nicht zu streiten haben, und auf menschlichen Widerstand bin ich gefaßt. Ich will auch sogar versprechen, nicht allein zu wachen.«
»Aber, wer wird Muth genug haben, mit Ihnen zu wachen, theuerster Graf?« sagte Emilie.
»Mein Sohn. Es bleibt dabei«, setzte er lächelnd hinzu, »wenn ich diese Nacht nicht davon geführt werde, so sollen Sie morgen den Ausgang meines Abentheuers hören.«
Der Graf und Blanka nahmen bald darauf Abschied von Emilien und giengen auf das Schloß zurück, der Graf benachrichtigte hier Heinrichen von seiner Absicht, und dieser willigte nicht ohne geheimes Widerstreben ein, an seiner Wache Theil zu nehmen. Auch die Gräfin machte ihm viele Einwendungen; allein er hatte seinen Entschluß einmal fest gefaßt und ließ sich nicht wieder davon abbringen. »Ich bin frei von Aberglauben«, sagte er, »wenn etwas außerordentliches in meinem Hause vorgeht, oder wenn vormals etwas geschehen ist, daß noch jetzt diese auffallenden Folgen hervorbringt, so werde ich es wahrscheinlich erfahren. Auf allen Fall will ich die Entdeckung auffordern; und um gegen einen menschlichen Angrif gesichert zu seyn — denn das ist mir in der That das Wahrscheinlichste — werde ich Sorge tragen, mich mit guten Waffen zu versehn.«
Er nahm mit anscheinender Heiterkeit, die aber seine innere Unruhe nur schlecht verbarg, von der Emilie Abschied und begab sich mit seinem Sohne in die nördlichen Zimmer. Er fand in diesen Zimmern alles, wie er es zuletzt verlassen hatte, selbst im Schlafzimmer war keine Verändrung merklich. Da er keinen von den Bedienten hatte bewegen können, sich mit herein zu wagen, machte er selbst Feuer an, durchsuchte nochmals die Cammer und das Cabinet, und setzte sich dann mit Heinrich an das Camin. Sie stellten ein Licht und eine Flasche Wein auf den Tisch, schürten das Holz an, und sprachen über gleichgültige Gegenstände. Heinrich war oft still und in Gedanken vertieft, und warf zuweilen einen Blick voll Neugier und Furcht im dunkeln Zimmer umher, der Graf hörte nach und nach auf zu sprechen und sas entweder in Gedanken verloren, oder las in einem Bande von Tacitus, den er mitgebracht hatte, um die Langeweile der Nacht zu vertreiben.
Der Baron St. Foix, den Unruhe für seinen Freund noch gehalten hatte, stand früh auf, um sich nach dem Ausgange des nächtlichen Abentheuers zu erkundigen. Als er vor des Grafen Cabinet kam, hörte er drinnen gehn, klopfte an die Thür, und sah sie durch seinen Freund selbst öfnen. Voll Freuden, ihn wohlbehalten zu sehn, und begierig zu erfahren, was in der Nacht vorgefallen war, hatte er nicht Zeit die ungewöhnliche Ernsthaftigkeit auf den Gesichtszügen des Grafen zu bemerken, dessen zurückhaltende Antworten ihn erst aufmerksam machten. Der Graf lächelte bei seinen Fragen und suchte den Gegenstand seiner Neugier obenhin zu behandeln; der Baron aber blieb ernsthaft und trieb seine Fragen so weit, daß der Graf endlich seinen Ernst wieder annahm und ihm sagte: »Dringen Sie nicht weiter in mich mein Freund, ich bitte Sie darum; und, thun Sie mir auch den Gefallen, sich in der Folge über nichts zu wundern, was Ihnen in meinem Betragen auffallen könnte. Ich nehme keinen Anstand, Ihnen zu sagen, daß ich unglücklich bin, und daß die Wache der letzten Nacht mir nicht dazu geholfen hat, Ludovico zu entdecken. Das ist aber auch alles, was ich sagen kann, über alle andre Vorfälle dieser Nacht müssen Sie mir Stillschweigen erlauben.«
»Aber wo ist Heinrich?« fragte der Baron, den diese abschlägige Antwort befremdete und verdroß.
»Er ist wohlbehalten in seinem Zimmer«, erwiederte der Graf. »Sie werden ihn über diese Sache nicht befragen, mein Freund, da Sie meinen Wunsch kennen.«
»Gewis nicht, mein Freund«, sagte der Baron etwas bekümmert, »da es Ihnen unangenehm seyn würde; aber mich dünkt mein Freund, Sie sollten sich auf meine Verschwiegenheit verlassen, und diese ungewöhnliche Zurückhaltung ablegen.«
»Lassen Sie uns nicht mehr über die Sache reden, mein Freund!« sagte der Graf. »Sie können versichert seyn, daß eine würklich wichtige Veranlassung mir dieses Stillschweigen gegen einen Freund auflegt, den ich nunmehr seit beinahe dreißig Jahren so genannt habe; ich hoffe, Sie werden deswegen keinen Zweifel in meine Achtung noch in die Aufrichtigkeit meiner Freundschaft setzen.«
»Ich will nicht daran zweifeln«, erwiederte der Baron, »nur können Sie mir nicht verdenken, wenn ich einige Verwunderung über dieses Stillschweigen äußre.«
»Gegen mich äussern Sie es immerhin«, erwiederte der Graf, »allein ich bitte sie inständig, sich gegen meine Familie weder darüber, noch über sonst etwas, das Ihnen in meinem Betragen gegen sie auffallen könnte, auszulassen.«
Der Baron versprach es gern, und nachdem sie einige Zeit über allgemeine Dinge gesprochen hatten, giengen sie zum Frühstück herunter, wo der Graf seine Familie mit einem frölichen Gesicht anredete, und ihren Fragen durch leichten Spott und durch eine angenommne Lustigkeit auswich, während er ihnen versicherte, daß sie keine Gefahr von den nördlichen Zimmern zu besorgen hätten, da er und Heinrich unbeschädigt daraus zurückgekehrt wären.
Dem jungen Grafen Heinrich gelang es weniger, seine Gefühle zu verbergen. Ein Ausdruck von Schrecken war noch nicht ganz aus seinem Gesichte verschwunden; er sas oft still und in Gedanken, und wenn er über die begierigen Fragen der Mademoiselle Bearn zu lachen versuchte, so sah man deutlich, daß es erzwungen war.
Nachmittags sprach der Graf, wie er versprochen hatte, im Kloster an, und Emilie bemerkte, daß er mit gesuchtem Scherz und mit Zurückhaltung zugleich der nördlichen Zimmer erwähnte. Von dem, was daselbst vorgefallen war, sagte er nichts; als sie es wagte, ihn an sein Versprechen zu erinnern, ihr das Resultat seiner Untersuchungen mitzutheilen und ihn fragte, ob er einen Beweis bekommen hätte, daß es in diesen Zimmern nicht richtig wäre, nahm er auf einen Augenblick eine feierliche Miene an, faßte sich aber gleich wieder und sagte lächelnd: »meine liebe Emilie, lassen Sie nicht die Aebtissin Ihren guten Verstand mit diesen Thorheiten anstecken; sonst wird sie Sie dahin bringen, in jedem dunkeln Zimmer einen Geist zu erwarten. Aber glauben Sie mir«, setzte er mit einem tiefen Seufzer hinzu, »die Todten kommen nicht ans Licht um Scherz zu treiben, oder um den Furchtsamen zu erschrecken.« Er hielt inne und verfiel in ein augenblickliches Nachdenken, worauf er hinzu setzte, »lassen Sie uns nicht weiter über die Sache reden.«
Bald darauf nahm er Abschied, und Emilie sah mit Verwundrung, als sie zu den Nonnen kam, daß sie um einen Umstand wußten, den sie sorgfältig vermieden hatte, zu erwähnen; sie bezeugten ihre Verwundrung über des Grafen Beherztheit, daß er gewagt hätte, die Nacht in dem Zimmer zuzubringen, aus dem Ludovico verschwunden war: denn sie hatte nicht bedacht, wie geschwind eine wunderbare Erzählung sich verbreitet. Die Nonnen hatten ihre Nachrichten von Bauern eingezogen, die Früchte ins Closter brachten, und deren ganze Aufmerksamkeit seit Ludovicos Verschwinden auf das, was im Kloster vorgieng, gerichtet war.
Emilie hörte stillschweigend die verschiedenen Meinungen der Nonnen über das Verschwinden des Grafen an: die meisten beurtheilten es als rasch und verwegen, und behaupteten, es hieße die Rache eines bösen Geistes reitzen, wenn man sich so muthwillig in seine Wohnung eindrängte.
Franziska behauptete, daß der Graf mit der Tapferkeit einer tugendhaften Seele gehandelt hätte. »Er weiß sich keiner Handlung schuldig«, sagte sie, »die einen guten Geist aufbringen könnte, und fürchtete die Neckereien eines bösen nicht, da er den Schutz einer höhern Macht hoffen darf, die den Gottlosen gebieten, und den Unschuldigen beschützen kann.«
»Der Schuldige kann auf diesen Schutz keinen Anspruch machen«, sagte Schwester Agnes. »Laßt den Grafen auf sein Betragen zurückblicken, damit er nicht seinen Anspruch verscherzt: Aber wer darf es wagen, sich unschuldig zu nennen! alle irrdische Unschuld kann nur vergleichungsweise so genannt werden. Und doch welch eine weite Kluft zwischen den äußersten Gränzen der Schuld — und bis zu welch einer erschrecklichen Tiefe können wir fallen! Oh — «
Die Nonne schauderte mit einem Seufzer zusammen, der Emilien erschrekte! Sie blikte auf, und sah die Augen der Schwester Agnes fest auf die ihrigen geheftet. Sie stand auf, ergrif Emiliens Hand, sah ihr staar ins Gesicht, schwieg einige Augenblicke und sagte denn.
»Sie sind jung, Sie sind unschuldig — ich meine, noch unschuldig von großen Verbrechen! — Allein Sie haben Leidenschaften in Ihrem Herzen — Schlangen, die noch schlummern. Hüten Sie sich, sie zu erwecken, sie möchten Sie sonst bis in den Tod stechen.«
Emilie, durch diese Worte, und durch die Feierlichkeit, womit sie ausgesprochen wurden, tief gerührt, konnte ihre Thränen nicht unterdrücken.
»Ach, steht es so«, sagte Agnes, und ihre finstern Züge wurden milder — »so jung und schon so unglücklich. Wir sind also würklich Schwestern. Aber nein, zwischen den Schuldigen kann kein Band der Freundschaft seyn«, setzte sie hinzu, während ihre Augen ihren wilden Ausdruck wieder annahmen — »keine Mildrung — keine Ruhe, keine Hoffnung. Einst kannte ich alle diese Gefühle — meine Augen konnten weinen — jetzt aber brennen sie — meine Seele ist staar und furchtlos; ich klage nicht mehr!«
»Lieber laßt uns bereuen und beten«, sagte eine andre Nonne. »Man hat uns hoffen gelehrt, daß Gebet und Buße unsre Seele retten. Es ist noch Hoffnung für alle, die bereuen.«
»Für alle, nur nicht für mich«, antwortete Agnes feierlich. Sie hielt inne, und setzte dann kurz hinzu. »Mein Kopf brennt, ich glaube mir ist nicht wohl. O könnte ich alle vergangenen Auftritte aus meinem Gedächtniße vertilgen — die Gestalten, die wie Furien auftreten, mich zu quälen — ich sehe sie wenn ich schlafe und wenn ich wache — sie schweben mir immer vor den Augen! Ich sehe sie auch jetzt — jetzt! —«
Sie stand in einer starren Stellung des Schreckens da — ihre unstäten Augen irrten im ganzen Zimmer umher, als wenn sie etwas verfolgten. Eine von den Nonnen nahm sie sanft bei der Hand, um sie aus dem Zimmer zu führen. Agnes wurde ruhig, fuhr mit der andern Hand quer über die Augen, blickte wieder auf, und sagte mit einem tiefen Seufzer. »Sie sind fort — sie sind fort — ich bin im Fieber und weiß nicht was ich sage. Ich bin zuweilen so, aber es wird wieder vorübergehn; ich werde bald besser werden. War das nicht die Vesperglocke?«
»Nein«, erwiederte Franziska, »der Abendgottesdienst ist vorüber. Lassen Sie sich von Margareten nach Ihrer Zelle führen.«
»Sie haben Recht«, erwiederte Schwester Agnes; »es wird mir dort besser seyn. Gute Nacht, meine Schwestern; erinnert euch meiner in euerm Gebete.«
Als sie fort war, sagte Franziska, die Emiliens Bewegung bemerkte: »Erschrecken Sie nicht, Agnes ist oft nicht recht bei sich, nur so wahnwitzig habe ich sie lange nicht gesehen: ihre gewöhnliche Stimmung ist Melancholie. Dieser Anfall hat ihr schon seit einigen Tagen gedroht; doch hoffe ich, daß Absondrung und die gewöhnliche Behandlung sie wieder herstellen werde.«
»Aber wie vernünftig sie anfangs sprach«, merkte Emilie an; »ihre Ideen folgten einander in vollkommner Ordnung.«
»Das ist nichts neues«, antwortete Franziska; »ich habe sie zuweilen mit Ordnung und Wahnsinn reden, und dann gleich wieder in ihren Wahnsinn zurückfallen hören.«
»Ihr Gewissen scheint beunruhigt zu seyn«, sagte Emilie. »Wissen Sie, was die Arme in diesen Zustand versetzt hat?«
Die Nonne schwieg; als aber Emilie ihre Frage wiederholte, winkte sie mit den Augen auf die andern Kostgängerinnen und sagte leise: »ich kann Ihnen jetzt nicht mehr sagen, wenn Sie aber diese Nacht, wenn die Schwesterschaft zur Ruhe ist, auf meine Zelle kommen wollen, so sollen Sie mehr erfahren: erinnern Sie sich aber, daß wir des Mitternachts zum Gebet aufstehen, und kommen Sie entweder vorher oder später.«
Emilie sagte, sie würde es nicht vergessen, und da gleich darauf die Nonne erschien, sprachen sie nicht weiter von der unglücklichen Agnes.
Der Graf hatte indessen bei seiner Zurückkunft, Herrn Dúpont in einem der Anfälle von Niedergeschlagenheit getroffen, worinn seine Anhänglichkeit für Emilien ihn oft versetzte, einer Anhänglichkeit, die zu alt war, um zu leicht überwunden zu werden, und die bereits den Einwendungen seiner Freunde widerstanden hatte. Der Graf suchte ihn noch immer mit freundschaftlichem Eifer durch den Glauben zu trösten, daß Geduld, Zeit und Beharrlichkeit ihm und Emilien endlich zur Glückseeligkeit helfen würden. »Die Zeit«, sagte er, »wird den traurigen Eindruck verwischen, den getäuschte Hofnung in ihr zurückgelassen hat, und wird sie für ihr Verdienst fühlbar machen. Ihre Dienste haben bereits ihre Dankbarkeit, und Ihr Leiden ihr Mitleid erweckt — glauben Sie mir mein Freund, in einem so fühlbaren Herzen führen Dankbarkeit und Mitleid zur Liebe. Wenn ihre Einbildungskraft von ihrer jetzigen Täuschung gereinigt ist, so wird sie gerne die Huldigung eines Herzens, wie das Ihrige annehmen.«
Dúpont stutzte bei diesen Worten; er wünschte zu glauben, was sein Freund hofte, und nahm willig eine Einladung an, seinen Besuch auf dem Schlosse zu verlängern, welches wir jetzt verlassen, um uns in das St. Claren Kloster zu begeben.
Sobald sich die Nonnen zur Ruhe gelegt hatten, schlich sich Emilie zu ihrer Zusammenkunft mit Schwester Franziska. Sie kniete betend in ihrer Zelle vor einem kleinen Tisch, aus welchem das Bild stand, an das sie sich wendete, und über ihm die dunkle Lampe, die den Ort erhellte. Sie sah sich um, als die Thüre geöfnet wurde, und winkte Emilien, herein zu kommen, die sich stillschweigend neben die kleine Strohdecke der Nonne setzte, und abwartete, bis ihr Gebet zu Ende seyn würde. Die Nonne stand bald von dem Knien auf, nahm das Licht von dem Crucifix und stellte es auf den Tisch, wo Emilie einen Todtenkopf neben einem Stundenglase bemerkte. Die Nonne, ohne auf ihre Bewegung zu achten, setzte sich neben Emilien auf die Madratze und sagte: »Ihre Neugier, liebe Schwester, hat Sie sehr pünktlich gemacht; allein Sie werden nichts merkwürdiges in der Geschichte der armen Agnes finden, von der ich nur in der Layen Schwestern Gegenwart zu sprechen vermied, weil ich ihnen ihr Verbrechen nicht gerne kund machen wollte.«
»Ich werde Ihr Vertrauen als einen Beweis Ihrer Freundschaft betrachten«, sagte Emilie, »und es gewiß nicht misbrauchen.«
»Schwester Agnes«, fuhr die Nonne fort, »ist aus einem edlen Hause, wie die Würde ihres Anstands ihnen bereits gesagt haben muß, allein ich will ihren Namen nicht dadurch entehren, daß ich ihn nenne. Liebe war die Ursache ihres Verbrechens und ihres Wahnsinns. Sie wurde von einem Manne geliebt, dessen Vermögen dem ihrigen nicht gleich war, und da ihr Vater ihr einen Gemahl gab, den sie nicht liebte, stürzte eine übel beherrschte Leidenschaft sie ins Verderben. Jede Pflicht der Tugend und Treue wurde vergessen, und sie entweihte ihre ehlichen Gelübde. Ihr Vergehn wurde bald entdeckt, und sie würde als ein Opfer der Rache ihres Gemahls gefallen seyn, wann nicht ihr Vater ein Mittel gefunden hätte, sie aus seinen Händen zu reissen. Wie er dies anfieng, habe ich nie erfahren; allein er brachte sie heimlich in dieses Kloster, wo er sie nachher bewegte, den Schleier zu nehmen. In der Welt wurde das Gerücht ausgesprengt, daß sie todt sey; der Vater half es verbreiten, um seine Tochter zu retten, und wußte solche Mittel anzuwenden, daß der Mann glaubte, sie sey ein Opfer seiner Eifersucht geworden — Sie sehn mich verwundert an«, fuhr die Nonne fort, die Emiliens Gesicht sich verändern sah; »ich gestehe es, die Geschichte ist seltsam, aber doch wie ich glaube nicht ohne Beispiel.«
»Ich bitte Sie, fahren Sie fort«, sagte Emilie, »die Geschichte interessirt mich sehr.«
»Ich bin schon damit fertig«, erwiederte die Nonne; »ich habe nur noch hinzuzusetzen, daß der lange Kampf, den Agnes zwischen Liebe, Gewissensbissen, und dem Gefühl der Pflicht, die sie durch ihr Klostergelübde übernommen hatte, endlich ihre Vernunft zerrüttete. Anfangs hatte sie nur zu Zeiten schnell vorübergehende Anfälle von Melancholie und Wahnsinn, die zuletzt in eine feste Schwermuth übergingen, nur zuweilen hat sie Anfälle von Wildheit, die seit kurzem häufiger geworden sind.«
Emilie wurde durch die Geschichte der Schwester Agnes sehr gerührt; sie erinnerte sich dabei sehr lebhaft an die Marquise de Villeroi, die auch von ihrem Vater gezwungen wurde, den Gegenstand ihrer Liebe für einen Gemahl von seiner Wahl zu verlassen; allein nach Dorotheens Erzählung ließ sich wohl nicht vermuthen, daß sie der Rache eines eifersüchtigen Gemahls entgangen sey, noch ließ sich an der Unschuld ihres Betragens einen Augenblick zweifeln. Allein Emilie konnte sich nicht enthalten, indem sie über das Elend der Nonne seufzte, dem Angedenken der Marquise einige Thränen zu zollen, — als sie wieder auf Schwester Agnes kam, fragte sie Franziska, ob sie sich ihrer in der Jugend erinnerte, und ob sie damals schön gewesen sey.
»Ich war noch nicht hier, als sie den Schleier nahm«, erwiederte Franciska; »es ist auch schon so lange her, daß wenige von der gegenwärtigen Schwesterschaft Zeuge dabey gewesen seyn mögen; auch unsere jetzige Aebtissin war damals noch nicht im Kloster. Doch habe ich Agnes noch als ein sehr schönes Frauenzimmer gekannt. Sie hat noch jetzt die hohe Mine, wodurch sie sich immer auszeichnete; allein ihre Schönheit, wie sie werden bemerkt haben, ist hin, ich kann sogar kaum noch eine Spur von der Liebenswürdigkeit entdecken, die einst ihre Züge beseelte.«
»Ich weiß nicht woher es kommt«, sagte Emilie, »aber es giebt zuweilen Augenblicke, wo dies Gesicht meinem Gedächtniß bekannt scheint. Sie werden mich für eine Phantastin halten, und ich halte mich selbst dafür, denn gewis habe ich Schwester Agnes nie gesehn, ehe ich ins Kloster kam, und sie muß also eine Aehnlichkeit mit jemand anders haben, der mir bekannt ist, obgleich ich auch darauf mich nicht besinnen kann.«
»Die tiefe Schwermuth auf ihrem Gesicht hat wahrscheinlich einen Eindruck auf ihre Phantasie gemacht, der sie hintergangen hat. Ich könnte mir eben so gut einbilden, eine Aehnlichkeit zwischen Ihnen und Schwester Agnes zu finden, als Sie glauben könnten, sie ausser dem Kloster irgendwo gesehen zu haben, denn dies ist schon so lange, als sie alt seyn mögen, ihr Zufluchtsort gewesen.«
»Würklich«, sagte Emilie.
»Warum fällt Ihnen das auf?« erwiederte Franziska.
Emilie schien diese Frage nicht zu bemerken, sie blieb einige Augenblicke in Gedanken und sagte denn: »Ohngefähr um dieselbe Zeit starb die Marquise de Villeroi.«
»Das ist eine seltsame Bemerkung«, sagte Franziska.
Emilie erwachte aus ihrer Träumerey, lächelte und gab dem Gespräch eine andre Wendung; allein es kam bald wieder auf die unglückliche Nonne zurück, und Emilie blieb in Schwester Franziskas Zelle, bis die Mitternachtsglocke sie erinnerte. Sie entschuldigte sich nun, ihre Schwester so lange in ihrer Ruhe gestöhrt zu haben, und sie verliessen mit einander die Zelle. Emilie gieng in ihr Zimmer zurück und die Nonne gieng mit einer brennenden Fackel, ihre Andacht in der Capelle zu verrichten.
Verschiedene Tage vergiengen, ohne daß Emilie den Grafen, oder jemand von seiner Familie sah; als er endlich erschien, bemerkte sie mit Bekümmerniß, daß seine Mine ungewöhnlich trübe war.
»Mein Geist ist niedergeschlagen«, sagte er zur Antwort auf ihre ängstlichen Fragen; »ich denke meinen Aufenthalt auf eine Zeitlang zu verändern, und dadurch meine Gemüthsruhe wieder herzustellen. Meine Tochter und ich wollen den Baron St. Foix auf sein Schloß begleiten. Es liegt in einem Thale zwischen den Pyrenäen auf dem Wege nach Gasconien und ich habe gedacht, daß wir, wenn Sie nach La Vallée gehn, einen Theil des Weges zusammen machen könnten. Es würde mir eine große Freude seyn, Sie nach Ihrer Heimath zu geleiten.«
Sie dankte dem Grafen für seine gütige Absicht und beklagte nur, daß die Nothwendigkeit, zuerst nach Thoulouse zu gehn, sie verhinderte, diesen Vorschlag anzunehmen: »allein wenn Sie auf des Barons Gute sind«, setzte sie hinzu, »so haben Sie nur eine kurze Tagereise bis nach La Vallée, und ich hoffe, daß Sie die Gegend nicht verlassen werden, ohne mich zu besuchen. Es würde mir eine unendliche Freude seyn, Sie und Gräfin Blanka bei mir zu sehn.«
»Ich werde gewiß mir selbst und Blanka'n das Vergnügen nicht versagen, Sie dort zu besuchen«, erwiederte der Graf, »wenn Ihre Geschäfte Ihnen zulassen, um die Zeit, wo wir Sie treffen können, in La Vallée zu seyn.«
Emilie sagte zwar, sie hoffte, auch die Gräfin bey sich zu sehn, tröstete sich aber leicht, als der Graf ihr sagte, sie würde in der Begleitung der Mademoiselle Bearn auf einige Wochen eine Familie im untern Languedoc besuchen.
Der Graf nahm nach einem Gespräch über seine Reise und über Emiliens Einrichtung Abschied, und es verstrichen nicht viele Tage nach diesem Besuch, ehe ein zweiter Brief vom Herrn Quesnel sie benachrichtigte, daß er jetzt zu Thoulouse wäre, daß La Vallée geräumet sey, und daß er wünschte, sie möchte sich so schnell als möglich auf den Weg dahin machen, weil seine eignen Angelegenheiten ihn drängten, nach Gasconien zurückzukehren. Emilie zögerte nicht, ihm zu willfahren, und nachdem sie einen zärtlichen Abschied von des Grafen Familie, worinn Herr Dúpont noch immer begriffen war, und von ihren Freunden im Kloster genommen hatte, machte sie sich nach Thoulouse auf den Weg, von der unglücklichen Annette begleitet und von einem treuen Bedienten des Grafen beschützt.
Emilie setzte ihre Reise durch Languedoc nach Nordwesten ohne Unfall fort. Sie dachte oft auf dieser Rückkehr nach Thoulouse, welches sie zuletzt mit Madame Montoni verlassen hatte, an das unglückliche Schicksal dieser Frau, die ohne ihre eigne Unbesonnenheit so glücklich dort hätte leben können! Auch Montonis Bild, kühn, stolz und befehlend, wie sie ihn in den Tagen seines Triumphs oft gesehn hatte, stieg vor ihr auf. Nur wenige Monate waren verstrichen, und seine Macht war dahin — er war der Erde wiedergegeben und sein Leben verschwunden gleich einem Schatten! Emilie hätte über sein Schicksal weinen können, wenn sie sich nicht seiner Verbrechen erinnert — um ihre unglückliche Tante weinte sie, und alles Gefühl ihrer Fehler wurde durch die Erinnerung an ihr Unglück überwältigt.
Andre Gedanken und andre Regungen aber durchdrungen sie, als sie den wohlbekannten Scenen ihrer frühern Liebe nahe kam, als sie bedachte, daß Valancourt für sie und für sich auf immer verlohren war. Endlich kam sie auf die Spitze des Berges, wo sie auf ihrer Abreise nach Italien, einen letzten Scheideblick auf die geliebte Landschaft warf, in deren Gefilden und Wäldern sie so oft mit Valancourt wandelte. Sie sah noch einmal die Bergkette der Pyrenäen, die La Vallée überragten, gleich schwachen Wolken, am Horizont aufsteigen. »Ach zu den Füßen dieser Berge liegt Gasconien«, sagte sie. »O mein Vater! Meine Mutter! dort fließt auch die Garonne«, setzte sie hinzu, und troknete die Thränen, die ihre Blicke verdunkelten, »auch Thoulouse liegt da, auch meiner Tante Haus, auch das Lustwäldgen in ihrem Garten. O meine Freunde! seyd Ihr alle für mich verlohren. Werde ich euch nie, nie wiedersehn!« Thränen drangen aufs neue in ihre Augen, und sie weinte fort, bis der Wagen durch das plötzliche Umdrehen an einer Ecke des Wegs einen solchen Stoß erhielt, daß sie beinahe umgestürzt wäre. Sie blickte auf und sah eine andre, wohl bekannte Gegend um Thoulouse; alle Betrachtungen, alle Ahndungen, die sie in dem Augenblick fühlte, wo sie dieser Gegend das letzte Lebewohl sagte, drangen mit verdoppelter Gewalt in ihr Herz. Sie erinnerte sich, wie ängstlich sie auf die Zukunft hingeblickt hatte, die ihr künftiges Glück mit Valancourt entscheiden sollte — welche niederdrückende Bangigkeit sie damals befiel — die Worte sogar, die sie zu sich selbst sagte, als sie den letzten Scheideblick auf die Aussicht warf kamen ihr wieder ins Gedächtniß. »Wüßte ich, daß ich je wieder zu euch zurückkehren, daß ich Valancourt noch als den meinigen finden würde, so wollte ich in Frieden gehen!«
Die so ängstlich erwartete Zukunft war nun da; sie war zurückgekehrt, aber welch eine traurige Leere vor ihr! Valancourt war nicht mehr der ihrige! Sie genoß nicht einmal mehr die traurige Befriedigung, sein Bild in ihrem Herzen zu betrachten! er war nicht mehr derselbe Valancourt, den sie dort hegte und liebte — der Trost mancher traurigen Stunde, der Freund der sie belebte und stark machte, Montoni's Mishandlung zu ertragen — die ferne Hofnung, die ihre dunkle Aussicht bestrahlte! Mit dem Augenblick, wo sie diese geliebte Idee als eine selbst geschaffene Täuschung betrachten mußte, schien Valancourt vernichtet zu seyn und ihre Seele erbebte vor der Leere, die zurückblieb. Sie hätte seine Heyrath mit einer Nebenbuhlerin, selbst seinen Tod mit mehr Stärke ertragen können, als diese Entdeckung: dann hätte sie doch mitten in ihrem Schmerz insgeheim auf das Bild der Liebenswürdigkeit hinblicken können, das ihre Phantasie von ihm entworfen hatte, und Trost würde sich mit ihrem Leiden gemischt haben.
Sie trocknete ihre Thränen und sah auf die Landschaft hin, die sie hervorgelockt hatte. Sie fuhr jetzt an eben dem Hohlwege hin, wo sie an dem Morgen ihrer Abreise von Thoulouse Abschied von Valancourt genommen hatte. Sie sah ihn nun durch ihre aufs neue fließende Thränen, so wie sie ihn gesehn hatte, als sie aus dem Wagen sah, um ihm das letzte Lebewohl zu sagen — sie sah ihn, wie er sich traurig an die hohen Bäume lehnte, und erinnerte sich an den starren Blick voll Zärtlichkeit und Schmerz, womit er sie ansah. Diese Erinnerung war zu viel für ihr Herz; sie sank in den Wagen zurück, und blickte nicht eher wieder auf, bis er an den Thoren ihres nunmehr eignen Hauses still hielt.
Sie stieg schnell aus und eilte in das Haus, wo sie statt des Herrn Quesnel nur einen Brief von ihm fand, worinn er sie benachrichtigte, daß Geschäfte von Wichtigkeit ihn genöthigt hätten, Thoulouse zwei Tage vor ihrer Ankunft zu verlassen. Emilie konnte sich im Grunde leicht trösten, seine Gegenwart zu entbehren, da seine schnelle Abreise dieselbe Gleichgültigkeit zu verrathen schien, womit er sie bisher behandelt hatte. Er meldete ihr auch, was er in ihren Geschäften gethan hatte, und machte sie mit einigen Formalitäten bekannt, die sie noch beobachten mußte. Ihre Gedanken verweilten nicht lange bei Herrn Quesnels unfreundlichem Betragen, sondern kehrten zu der Erinnerung an die Personen, die sie in diesem Hause zu sehn gewohnt war, vorzüglich zu der unglücklichen Madame Montoni, zurück. In dem Zimmer wo sie jetzt sas, hatte sie am Morgen ihrer Abreise nach Italien mit ihr gefrühstückt, und der Anblick rief aufs mächtigste in ihre Erinnerung alles zurück, was sie damals gelitten hatte, während ihre Tante in frohen Erwartungen über die Reise vor ihr schwamm. Ihr Blick fiel von ohngefehr auf ein großes Fenster, das in den Garten sties, und hier sprachen neue Denkmähler der Vergangenheit zu ihrem Herzen — sie sah die Allee, wo sie sich am Abend vor ihrer Abreise von Valancourt trennte, vor sich, und alle Angst, alle zärtliche Theilnahme an ihrem künftigen Schicksal, die er ihr bewies, seine dringenden Vorstellungen, sich nicht in Montonis Hände zu geben, und die Wahrheit seiner Liebe drangen aufs neue in ihr Gedächtniß. In diesem Augenblick schien es ihr beinahe unmöglich, daß Valancourt ihrer Achtung könnte unwerth geworden seyn; sie zweifelte an allem, was sie zu seinem Nachtheil gehört hatte, selbst an seinen eignen Worten, die des Grafen von Villeforts Behauptung von ihm bestätigten. Ueberwältigt von den Erinnerungen, die der Anblick dieser Allee in ihr hervorlockte, wandte sie sich schnell vom Fenster ab, und sank in einen Stuhl darneben, wo sie von Schmerz überwältigt sas, bis Annette, die mit Kaffee herein kam, sie aufweckte.
»Ach bestes Fräulein, wie traurig sieht jetzt dieser Ort aus gegen sonst! Es ist recht traurig, wenn man in seiner Heymath ankommt, ohne daß jemand da ist, einen zu bewillkommen.«
Dies war nicht der Augenblick, wo Emilie diese Bemerkung ertragen konnte; ihre Thränen flossen aufs neue, und so bald sie ihren Kaffee getrunken hatte, begab sie sich auf ihr Zimmer, wo sie ihre müden Lebensgeister auszuruhen suchte. Allein das geschäftige Gedächtniß bot ihr noch immer die Erscheinungen vergangner Zeiten dar; sie sah Valancourt liebenswürdig und gut, wie er ihr in den Tagen ihrer frühern Liebe und an den Oertern erschien, wo sie ihre Jahre mit ihm zusammen zuzubringen geglaubt hatte! — endlich aber verschloß der Schlaf diese traurigen Vorstellungen vor ihrem Blick.
Am folgenden Morgen hielt ernsthafte Beschäftigung sie von solchen traurigen Betrachtungen zurück; da sie wünschte Thoulouse zu verlassen und nach La Vallée zu eilen, zog sie einige Erkundigungen über den Zustand des Gutes ein, und besorgte sogleich einige nothwendige Geschäfte nach der Anweisung des Herrn Quesnel. Es kostete ihr eine große Anstrengung, ihre Gedanken von andern Gegenständen so weit abzuziehen, um hierauf zu achten, allein sie wurde für ihre Mühe dadurch belohnt, aufs neue zu erfahren, daß Beschäftigung das sicherste Mittel gegen den Kummer ist.
Dieser Tag wurde ganz mit Geschäften zugebracht; unter andern suchte sie sich mit der Lage ihrer armen Bauern bekannt zu machen, um ihrem Mangel abzuhelfen, oder sie in ihrem Wohlstande zu befestigen.
Gegen Abend fühlte sie sich wieder so gestärkt, daß sie glaubte, einen Gang in dem Garten, wo sie so oft mit Valancourt gewesen war, aushalten zu können. Sie wußte, daß diese Scenen, wann sie zufällig dahin käme, desto mehr Eindruck auf sie machen würden, je länger sie zögerte, sie zu besuchen, und benuzte also die gegenwärtige Stimmung ihrer Seele, um dahin zu gehen.
Es war ein schöner, milder Abend; die Sonne gieng über der weiten Landschaft unter, der ihre hinter einer dunkeln Wolke hervorschleichenden Strahlen Stellenweise ein reiches Colorit gaben, und die belaubten Spitzen der Lustwäldchen, die unten im Garten aufstiegen, mit gelben Schimmer färbten. Emilie und Valancourt hatten oft miteinander um dieselbe Stunde diesen Anblick bewundert, und gerade auf dieser Stelle hatte sie in der Nacht vor ihrer Abreise nach Italien seine Vorstellungen dagegen und die Bitten seiner heissen Liebe angehört. Sie erinnerte sich an die kleinsten Umstände dieses Gesprächs, an die ängstlichen Zweifel, die er wegen Montoni äußerte, und die nun nur zu sehr bestätigt waren; an die Gründe und Bitten, die er aufbot, um sie zu einer unverzögerten Vermählung mit ihm zu bewegen; an die Zärtlichkeit seiner Liebe, an die Ausbrüche seines Schmerzens und an die Ueberzeugung, die er zu wiederholtenmalen äusserte, daß sie nie wieder in Glückseeligkeit zusammen kommen würden. Dieselben Empfindungen, die sie damals fühlte, stiegen aufs neue in ihr auf, und ihre Zärtlichkeit für Valancourt wurde eben so stark, als in den Augenblicken, wo sie glaubte, daß sie von ihm und von ihrem Glück zugleich scheide, und wo die Stärke ihrer Seele sie in den Stand setzte, lieber ihren gegenwärtigen Kummer zu befestigen, als sich durch eine geheime Heirath den Vorwurf ihres Gewissens zuzuziehen. »Ach«, sagte sie, als diese Erinnerungen vor ihrer Seele aufstiegen, »was habe ich wohl durch die Stärke, die ich damals übte, gewonnen? bin ich jetzt glücklich? Er sagte, wir würden nie wieder glücklich zusammen kommen. Ach! er dachte wohl damals nicht, daß seine eigne Vergehungen uns trennen und uns das Uebel zuziehen würden, das er damals fürchtete.«
Ihre Betrachtungen vermehrten ihren Schmerz, ohngeachtet sie sich selbst gestehen mußte, daß die Stärke die sie damals bewies, sie vom unwiederbringlichen Elend, von Valancourt selbst, gerettet hatte; doch konnte sie sich in diesen Augenblicken nicht wegen der Klugheit, die sie errettet hatte, Glück wünschen; sie konnte nur mit dem bittersten Schmerz die Umstände beklagen, die Valancourt zu einer von den Tugenden, von der Sittlichkeit und von den Hoffnungen seiner frühern Jahre so abweichenden Lebensart gebracht hatten; allein sie liebte ihn noch immer zu sehr, um zu glauben, daß sein Herz selbst jetzt verdorben wäre, so fehlerhaft sein Betragen auch war. Eine Bemerkung ihres verstorbenen Vaters über Valancourt fiel ihr lebhaft wieder ein. Dieser junge Mann ist nie zu Paris gewesen, sagte er einmal. Diese Bemerkung befremdete sie damals, jetzt aber verstand sie die Bedeutung vollkommen, und rief traurig aus: »O Valancourt! wenn ein solcher Freund als mein Vater, mit dir zu Paris gewesen wäre, so würde dein edles, ofnes Herz nie gefallen seyn.«
»Und ist es möglich«, sagte sie, »daß eine Seele, so empfänglich für alles, was groß und schön war, zu einer so niedrigen Lebensart herabsinken konnte!«
Sie erinnerte sich, wie oft sie eine plötzliche Thräne in seinem Auge funkeln sah, und seine Stimme von Bewegung zittern hörte, wann er eine große, oder wohlthätige Handlung erzählte, von einer schönen Empfindung sprach. »Und ein solches Herz«, sagte sie, »mußte dem Laster einer grossen Stadt geopfert werden?«
Diese Erinnerungen ergriffen sie zu schmerzhaft, und sie kehrte auf das Schloß zurück, um sich von den Denkmählern ihres abgeschiednen Glücks zu entfernen. Als sie über die Terrasse gieng, sah sie jemand mit langsamen Schritte und niedergeschlagnen Ansehn zwischen den Bäumen in einiger Entfernung gehen. Die Dämmerung ließ ihr nicht zu, die Person zu unterscheiden, und sie glaubte, daß es einer von den Bedienten sey, bis er sich durch das Geräusch ihrer Schritte aufmerksam gemacht, umdrehte, und sie Valancourt zu erkennen glaubte.
Wer es aber auch war, er verlor sich augenblicklich zwischen den Bäumen zur Linken, und verschwand, während Emilie, ihre Augen starr auf den Ort, wo er verschwunden war, geheftet und am ganzen Körper so sehr zitternd, daß sie sich kaum aufrecht halten konnte, einige Augenblicke unvermögend von der Stelle zu gehen, und sich kaum des Daseyns bewußt, auf dem Fleck eingewurzelt blieb. Mit ihrer Besinnung aber kehrten ihre Kräfte wieder und sie eilte ins Haus zurück, wo sie aber nicht zu fragen wagte, wer im Garten gewesen sey, um nicht ihre Bewegung zu verrathen. Sie setzte sich still nieder, um sich die Gestalt der Person, die sie eben gesehen hatte, zurück zu rufen; der Umriß der Figur, denn mehr hatte sie nicht sehen können, und seine schnelle Entfernung machten es ihr wahrscheinlich, daß es Valancourt gewesen sey. Nur konnte sie nicht begreifen, wie er nach Thoulouse kam, und auf welche Art er sich Eingang in den Garten verschaft haben konnte. Die Furcht, sich zu verrathen, hielt sie immer zurück, so oft ihre Ungeduld sie antrieb, zu fragen, ob ein Fremder herein gelassen wäre. Endlich suchte sie sich zu überreden, daß ihre von ihm erfüllte Einbildungskraft ihr sein Bild untergeschoben hätte, allein eine leise Stimme in ihrem Herzen widersprach beständig der Vernunft.
Der folgende Tag verstrich unter Besuchen von mehrern Familien aus der Nachbarschaft, die ehemals mit Madame Montoni Umgang gehalten hatten. Sie kamen, um mit kalter Höflichkeit Emilien zu condoliren, ihr tausend neugierige Fragen vorzulegen, und empfahlen sich eben so steif, als sie gekommen waren.
Emilien waren diese Formalitäten zur Last, und das kriechende Wesen so mancher, die sie ehmals, als Gesellschafterin der Madame Montoni, kaum eines Blicks gewürdigt hatten, ekelte sie an.
Gewiß muß im Reichthum selbst eine Zauberkraft liegen, sagte sie, daß die Menschen so allgemein ihm huldigen, wann sie auch für ihre Person keinen Nutzen davon haben können. Wie seltsam und verkehrt, daß die Welt einem Dumkopf oder Schurken, wann er nur Geld hat, mehr Achtung beweist, als dem unbegüterten Guten und Weisen!
Es war Abend, ehe sie allein blieb, und sie wünschte sich nun in der freien Luft ihres Gartens zu erfrischen, allein sie fürchtete sich, die Person wieder zu treffen, die sie in der vergangenen Nacht gesehn hatte, und zu erfahren daß es Valancourt sey. Alle Bemühungen waren vergebens, ihre ängstliche Unruhe zu stillen, und ihr geheimer Wunsch Valancourt noch einmal, unbemerkt von ihm, zu sehn, trieb sie mächtig fort, allein Klugheit und Delikatesse hielten sie zurück, und sie beschloß, auch die Möglichkeit, sich ihm in den Weg zu werfen zu vermeiden, und sich einige Tage lang aller Besuche im Garten zu enthalten.
Sie ließ beinahe eine Woche verfließen, ehe sie sich wieder dahin wagte, nahm dann Annetten mit und beschränkte sich blos auf die untern Spatziergänge, oft aber fuhr sie zusammen, wenn das Laub im Lüftchen rauschte, weil sie sich einbildete, daß jemand im Gebüsch sey; sie sah sich bei jeder Wendung einer Allee mit ängstlicher Erwartung um. Sie gieng schweigend und in Gedanken fort, weil ihre Bewegung ihr nicht erlaubte, mit Annetten zu reden; dieser aber waren Nachdenken und Stillschweigen so unleidlich, daß sie sich kein Bedenken machte, es endlich zu unterbrechen.
»Bestes Fräulein«, sagte sie, »warum fahren Sie so oft zusammen. Man sollte denken, Sie wüßten, was vorgefallen wäre.«
»Was ist vorgefallen« sagte Emilie mit stammelnder Stimme, und suchte ihre Bewegung zu unterdrücken.
»Vor zwei Nächten — Sie wissen ja — «
»Ich weiß nichts, Annette«, erwiederte Emilie noch hastiger.
»Vor zwei Nächten, Fräulein, war ein Dieb im Garten.«
»Ein Dieb«, sagte Emilie mit schnellem und doch zweifelndem Ton.
»Ich denke, es ist ein Dieb gewesen, wer könnte es sonst seyn?«
»Wo sahest du ihn denn? Annette«, fragte Emilie, die sich rund um sah, und wieder nach dem Schlosse zurück gieng.
»Ich habe ihn nicht gesehn, Fräulein, sondern Johann der Gärtner. Es war zwölf Uhr in der Nacht, als er quer über den Hof kömmt, um ins Haus zu gehn, und so sieht er jemand in der Allee gehn, die ans Gartenthor stößt! Johann räth gleich, was es ist, und geht herein, um seine Flinte zu holen.«
»Seine Flinte!« rief Emilie erschrocken.
»Ja Fräulein; die Flinte, und dann stellt er sich in einen Winkel um den Dieb zu belauren. Er kommt auch würklich die Allee langsam herauf, lehnt sich über das Gartenthor und sieht lange das Haus an; ich will wetten! daß er es genau untersucht hat, um zu sehn, in welches Fenster er am besten einbrechen könnte.«
»Aber Johann schoß doch nicht?«
»Ja Fräulein, alles zu rechter Zeit. Johann sagt, der Dieb hätte das Thor aufgemacht, und wäre in den Hof gekommen, und so hätte er geglaubt, es wäre gut, ihn zu fragen, was er da suchte. Allein der Mensch wollte ihm nicht Rede stehn. Sobald er ihn ansprach, drehte er sich um, und lief wieder in den Garten. Nun wußte Johann genug, und schoß nach ihm.«
»Schoß nach ihm?« rief Emilie.
»Ja Fräulein, er feuerte die Flinte ab. — Aber um Gottes willen, warum werden Sie so blaß! — der Mensch ist nicht todt geschossen, oder wenn er es wurde, so haben ihn seine Cameraden davon getragen; denn als Johann den andern Morgen heraus gieng, um nach dem Körper zu sehn, fand er nichts als eine Spur von Blut auf der Erde. Johann folgte der Spur, aber sie verlor sich im Grase, und — «
Annette wurde unterbrochen: denn Emiliens Lebensgeister erstarben, und sie würde zur Erde gefallen seyn, wenn das Mädgen sie nicht aufgefangen, und zu einer nahen Bank geführt hätte.
Als nach langer Abwesenheit ihre Sinnen zurückkehrten, verlangte sie in ihr Zimmer geführt zu werden, und ohngeachtet sie vor Begierde, mehr zu erfahren bebte, fühlte sie sich doch zu übel um die Nachricht, die sie vielleicht hören konnte, zu ertragen. Sie schickte Annetten fort, um ungestört weinen und denken zu können: sie suchte sich so genau als möglich auf die Gestalt der Person, die sie auf der Terrasse gesehn hatte, zu besinnen, und immer gab ihre Phantasie ihr Valancourts Gestalt zurück. Sie konnte in der That kaum zweifeln, daß er es gewesen war, den sie gesehn, und nach dem der Gärtner geschossen hatte: denn das Betragen der Person die Annette beschrieb, war nicht das eines Diebes; auch ließ es sich nicht denken, daß ein Räuber allein kommen sollte, um in ein so großes Haus einzubrechen.
Sobald sie sich genug erholt hatte, um auf Johanns Erzählung zu hören, ließ sie ihn rufen, allein er konnte ihr keinen Aufschluß über die Person, oder über die Art der Verwundung geben. Sie gab ihm einen scharfen Verweis, daß er mit Kugeln geschossen hatte, und befahl ihm, sich in der Nachbarschaft aufs sorgfältigste nach dem Verwundeten zu erkundigen. Sie selbst blieb in einem Zustande schrecklicher Ungewisheit zurück. Alle Zärtlichkeit, die sie je für Valancourt gefühlt hatte, wurde durch das Gefühl seiner Gefahr zurückgerufen, und stieg mit ihrer Ueberzeugung daß er es gewesen sey, der den Garten besucht hatte, um das Leiden gekränkter Liebe in den Scenen vormaliger Glückseeligkeit zu besänftigen.
»Bestes Fräulein«, sagte Annette, als sie wieder zurück kam, »ich habe noch nie gesehn, daß etwas Sie so sehr angegriffen hätte! ich wollte wohl wetten, daß der Mann nicht erschossen ist.«
Emilie schauderte und beklagte bitterlich die Unbesonnenheit des Gärtners.
»Ich wußte wohl, daß Sie ungehalten darüber seyn würden, deswegen getraute ich mir auch nicht, Ihnen etwas davon zu sagen; der Gärtner hatte mich auch gebeten, es Ihnen zu verschweigen — wie soll man aber den Garten rein halten, sagte er eben, wenn man sich fürchten muß, nach einem Diebe zu schießen.«
»Still«, sagte Emilie, »kein Wort weiter davon, und jetzt laß mich allein.«
Die Unruhe, die sie heimlich litte, zog ihr ein Fieber zu, das sie nöthigte, einen Arzt rufen zu lassen. Der Arzt gab ihr wenig Arzeney und schrieb ihr nur freie Luft, Leibesbewegung und Zeitvertreib vor — aber wie sollte sie sich den letztern verschaffen? Sie bemühte sich ihre Gedanken von dem Gegenstande ihrer Angst dadurch abzuziehn, daß sie andern die Glückseeligkeit zu befördern suchte, die sie selbst verloren hatte; an schönen Abenden ritt sie in der Gegend umher, und besuchte die Hütten ihrer Bauern, um ihren Zustand zu beobachten und in der Stille ihren Bedürfnissen abzuhelfen.
Ihre Unpäslichkeit, und die Geschäfte die sie auf dem Gute zu besorgen fand, hatten bereits ihren Aufenthalt zu Thoulouse über den Zeitpunkt verlängert, den sie zu ihrer Abreise nach La Vallée bestimmt hatte. Es wurde ihr schwer den einzigen Ort zu verlassen, wo sie über den Gegenstand ihrer Unruhe sichern Aufschluß erlangen konnte. Allein die Zeit war nun da, wo ihre Gegenwart zu La Vallée erfodert wurde, da ein Brief von Blanka sie benachrichtigte, daß der Graf mit ihr gegenwärtig auf dem Gute des Barons von St. Foix sey, und sich vorgenommen hätte, sie auf dem Rückwege zu La Vallée zu besuchen, so bald sie wüßten, daß sie daselbst angekommen wäre. Blanka setzte hinzu, daß sie sich Hoffnung machten, sie bei diesem Besuche zu bereden, mit ihnen nach Chateau Le Blanc zurückzukehren.
Emilie antwortete ihrer Freundin, daß sie in wenig Tagen zu La Vallée zu seyn hofte und machte nun schnell ihre Anstalten zu der Reise. Sie suchte sich selbst über ihre Abreise von Thoulouse damit zu trösten, daß sie, wenn Valancourt ein Unglück betroffen hätte, in dieser Zwischenzeit davon gehört haben müßte.
Am Abend vor ihrer Abreise gieng sie, um von der Terrasse und dem Pavillon Abschied zu nehmen. Der Tag war schwül gewesen, allein ein leichter Regen, der eben vor Sonnenuntergang fiel, hatte die Luft abgekühlt, und den Wäldern und Wiesen das sanfte Grün mitgetheilt, das so erquickend fürs Auge ist. Die Regentropfen, die noch auf den Kräutern zitterten, schimmerten im letzten gelben Strahl, der die Gegend erhellte, die Luft war mit Wohlgerüchen erfüllt, die aus den erfrischten Kräutern und Blumen und aus der Erde selbst aufstiegen. Allein Emilie sah die liebliche Aussicht von der Terrasse nicht mehr mit Entzücken an; sie seufzete tief, wenn ihr Auge drüber hin irrte, und ihre Seele war so niedergeschlagen, daß sie nicht ohne Thränen an ihre bevorstehende Rückreise nach La Vallée denken konnte — es war ihr als wenn sie den Tod ihres Vaters aufs neue als einen Vorfall von gestern beklagte. Nachdem sie den Pavillon erreicht hatte, setzte sie sich in ein ofnes Fenster und während ihre Augen sich auf die fernen Berge hefteten, die Gasconien überhingen, und noch immer im Horizont glänzten, obgleich die Sonne schon die Thäler unten verlassen hatte, sagte sie seufzend: »Ach ich kehre zu euren lange verlaßnen Gegenden zurück, aber ich werde nicht mehr die Eltern finden, die mir den Aufenthalt bei euch ehemals so süß machten, — ich werde nicht mehr das Lächeln des Willkommens sehn, nicht mehr die wohlbekannte Stimme der Zärtlichkeit hören — alles wird kalt und todt seyn in der einst glücklichen Heimath!«
Thränen schlichen sich ihre Wangen herab, als die Erinnerung an das Glück, welches sie ehemals in dieser Heimath genoß, wiederkehrte — bald aber dämpfte sie ihren Schmerz, und klagte sich selbst des Undanks an, daß sie die Freude die sie besas, über die Abgeschiednen vergessen konnte — Sie verlies spät den Pavillon, ohne einen Schatten von Valancourt oder irgend jemand anders gesehn zu haben.
Am folgenden Morgen verlies Emilie bei guter Zeit Thoulouse, und erreichte mit Sonnenuntergang La Vallée. In der Schwermuth, die sie beim Wiedersehn des Aufenthalts ihrer Eltern und des Schauplatzes ihrer frühesten Glückseeligkeit empfand, mischte sich, nachdem der erste Stoß überwunden war, ein zärtliches unbeschreibliches Vergnügen. Die Zeit hatte die Schärfe ihres Schmerzens so weit abgestumpft, daß sie jetzt jeden Gegenstand aufsuchte, der das Andenken ihrer Freunde erweckte; in jedem Zimmer wo sie gewohnt war, sie zu sehn, schienen sie aufs neue wieder zu leben, und sie empfand, daß sie sich doch nirgends glücklicher fühlen würde, als zu La Vallée. Eines von den ersten Zimmern, die sie besuchte, war ihres Vaters Bibliothek. Hier setzte sie sich in seinen Lehnstuhl und betrachtete mit sanfter Ergebung das Gemählde vergangner Zeiten, welches ihr Gedächtniß ihr darstellte, und kaum konnte sie die Thränen, die jetzt flossen, Thränen des Schmerzens nennen.
Bald nach ihrer Ankunft wurde sie durch einen Besuch von dem ehrwürdigen Herrn Barreaux überrascht, der es kaum erwarten konnte, die Tochter seines geliebten, verstorbenen Nachbars in ihrer solange verlassenen Heimath zu bewillkommen. Die Gegenwart eines alten Freundes gereichte Emilien zum Trost, und sie brachten eine angenehme Stunde mit dem Gespräch von vergangnen Zeiten und mit Erzählung eines Theils der Begebenheiten hin, die sie seit ihrer Trennung erfahren hatten.
Emilie versäumte nicht, sich gleich nach ihrer Ankunft nach der alten Therese zu erkundigen, ihres Vaters alte Haushälterin, die Herr Quesnel ohne irgend für ihren Unterhalt zu sorgen, aus dem Hause gestoßen hatte. Da sie hörte, daß sie nicht weit davon in einer Hütte wohnte, gieng sie selbst hin und freute sich zu finden, daß ihre Wohnung angenehm an einem kleinen Hügel zwischen Eichenbäumen lag, und ein Ansehn von Bequemlichkeit und ausserordentlicher Reinlichkeit hatte. Sie fand die alte Frau in der Hütte beschäftigt, die Weinbeeren zum keltern zu pflücken; als sie ihr junges Fräulein erblickte, wurde sie halb ohnmächtig vor Freuden.
»Ach mein theuerstes Fräulein«, sagte sie, »ich glaubte, daß ich Sie in dieser Welt nie wieder sehn würde, als ich hörte, daß Sie in das fremde Land gegangen wären. Es ist mir schlimm gegangen seit Sie weg sind! ich hätte nie gedacht, daß ich in meinen alten Tagen aus meines Herrn Hause sollte gestoßen werden.«
Emilie sagte ihr, wie leid es ihr gethan hätte, dies zu erfahren, und versprach ihr, daß sie nun keine Noth mehr leiden sollte. Zugleich bezeugte sie ihre Freude, sie in einer so angenehmen Wohnung zu sehen.
Therese dankte ihr mit Thränen und setzte hinzu: »ja Fräulein, es ist würklich eine sehr gemächliche Wohnung, Dank sey es dem gütigen Freunde, der mich aus meinem Elende riß, als Sie zu fern waren, um mir zu helfen, und mich hieher brachte! Ich hätte nimmermehr gedacht — aber nichts weiter davon. —«
»Und wer war dieser gütige Freund?« sagte Emilie. »Wer es auch gewesen ist, ich werde ihn immer auch als den meinigen betrachten.«
»Ach Fräulein, dieser Freund verbot mir, die gute That zu verschwätzen, ich darf ihn nicht nennen. Aber wie haben Sie sich verändert, seit ich Sie zuletzt sah, Sie sehn so blaß aus und so mager: aber dies ist doch noch meines alten Herrn Lächeln. Ja, das wird Sie niemals verlassen, so wenig als die Herzensgüte, die dieses Lächeln hervorbrachte. Ach! auch die Armen verloren einen Freund als er starb!«
Emilie wurde durch diese Erwähnung ihres Vaters sehr gerührt. Therese bemerkte es und veränderte sogleich das Gespräch. »Mir wurde gesagt«, fieng sie an, »daß Madame Cheron einen auswärtigen Edelmann geheirathet und sie mit nach dem Auslande genommen hatte. Wie geht es ihr denn?«
Emilie sagte, daß sie todt wäre! »Ach«, fuhr Therese fort, »wenn es nicht meines Herrn Schwester gewesen wäre, so würde ich sie nicht geliebt haben; sie war immer so wunderlich. Aber wie geht es denn dem lieben jungen Herrn, dem Chevalier Valancourt, er war ein schöner und ein guter Herr.« —
Emilie wurde verlegen. —
»Ich wünsche ihm den besten Seegen«, fuhr Therese fort: »ach gnädiges Fräulein, Sie brauchen nicht so scheu auszusehen; ich weiß alles. Denken Sie, ich wüßte nicht, wie gut er Ihnen ist. Als sie fort waren, kam er oft ins Schloß, und sah so traurig umher. Er gieng durch alle Zimmer und setzte sich oft mit über einander geschlagnen Armen auf einen Stuhl, und sah ganze Stunden vor sich hin. Er war immer so gerne in dem kleinen Saal, weil ich ihm gesagt hatte, daß Sie sich da am liebsten aufgehalten hätten. Er betrachtete denn Ihre Gemählde, und spielte auf Ihrer Laute, die am Fenster hieng, und las in Ihren Büchern, bis die Sonne untergieng und er auf seines Bruders Schloß zurück mußte. Und dann.«
»Es ist genug Therese«, sagte Emilie. »Wie lange hat Sie schon in dieser Hütte gewohnt, und womit kann ich Ihr dienen? Will Sie hier bleiben, oder will Sie zurück kommen und bei mir leben?«
»Nicht doch, Fräulein«; sagte Therese, »seyn Sie nicht so zurückhaltend gegen Ihre alte treue Haushälterin. Es ist doch gewiß keine Schande, einen so guten jungen Herrn zu lieben.«
»Therese«, sagte Emilie ernsthaft, »ich bitte Sie, den Chevalier nicht mehr zu nennen.«
»Ihn nicht mehr zu nennen!« rief Therese. »Um Gottes willen, wie haben sich die Zeiten verändert. Nach meinem verstorbenen Herrn und nach Ihnen, gnädiges Fräulein, war mir niemand auf der Welt lieber als der Chevalier.«
»Vielleicht hat er Ihre Liebe nicht verdient«, sagte Emilie und suchte ihre Thränen zu verbergen, »aber wie dem auch sey; ich werde ihn nicht wiedersehn.«
»Nicht verdienen! nicht wiedersehn!« rief Therese. »Was muß ich hören. Nein Fräulein, meine Liebe hatte er wohl verdient: denn ich muß Ihnen nur sagen, es war der Chevalier Valancourt, der mir diese Hütte gab, und mich in meinen alten Tagen unterstützte, seit Herr Quesnel mich aus meines Herrn Hause gestossen hatte.«
»Der Chevalier Valancourt!« sagte Emilie heftig zitternd.
»Ja Fräulein er selbst. Zwar mußte ich ihm versprechen, nichts zu sagen, allein wie kann man das halten, wenn man schlecht von ihm reden hört? Ach liebes Fräulein, wenn Sie ihn nicht gut behandelt haben, so mögen Sie wohl weinen: denn ein zärtlicheres Herz als er hat nie jemand gehabt. Er fand mich in meiner Noth auf, als Sie zu weit entfernt waren, mir zu helfen, und Herr Quesnel nicht helfen wollte. Der Chevalier fand mich und kaufte mir diese Hütte und gab mir Geld sie einzurichten und bat mich, noch eine andre arme Frau aufzusuchen, die bei mir leben könnte. Seines Bruders Verwalter mußte mir alle Vierteljahre die Summe auszahlen, die zu meinem Unterhalte ausgesetzt war. Denken Sie also selbst Fräulein, ob ich nicht Ursache habe, gut von dem Chevalier zu sprechen. Es giebt wohl noch andre, die es besser hätten thun können als er. Ich fürchte, er mag sich durch seine Gutheit wohl selbst geschadet haben, denn der Vierteljahrstag ist lange vorüber, und es ist noch kein Geld für mich angekommen. Aber, weinen Sie nicht so sehr Fräulein; es kann Ihnen doch gewis nicht leid thun, von dem Chevalier Gutes zu hören.«
»Leid thun!« sagte Emilie und weinte heftiger. »Aber wie lange ists her, daß Sie ihn nicht gesehn hat.«
»Seit vielen Tagen nicht, Fräulein.«
»Aber wann hat Sie denn von ihm gehört«, sagte Emilie mit steigender Bewegung.
»Ach! niemals seit er so plötzlich nach Languedoc gieng, er war damals eben von Paris gekommen; aber da jetzt das Vierteljahr schon so lange vorüber ist, fürchte ich, es ist ihm ein Unfall zugestoßen: wäre ich nicht so weit von Esturaint und so lahm, so würde ich mich gewis schon längst erkundigt haben; allein ich habe niemand zu schicken.«
Emiliens Angst um Valancourt überstieg nun alle Gränzen, und da die Schicklichkeit ihr nicht zuließ, auf seines Bruders Schlosse nach ihm fragen zu lassen, so bat sie Theresen, in ihrem Nahmen einen Boten zu miethen und an seinen Verwalter zu schicken, um das Quartalgeld zu fodern, und sich bei dieser Gelegenheit nach Valancourt zu erkundigen. Nur mußte ihr Therese versprechen, ihres Namens weder bei dieser Gelegenheit, noch gegen Valancourt je zu erwähnen. Therese übernahm es mit Freuden für einen Boten zu sorgen, und Emilie kehrte, nachdem sie ihr eine Summe Geld für ihre gegenwärtigen Bedürfnisse gegeben hatte, mit niedergeschlagenem Gemüthe nach Hause zurück. Sie beklagte mehr als je, daß ein Herz, welches für Tugend und Wohlwollen geschaffen schien, vom Laster der Welt konnte vergiftet werden. Die feine Zärtlichkeit, die er durch seine Güte gegen ihre alte Haushälterin, ihr verrieth, rührte sie tief.
Der Graf von Villefort und Gräfin Blanka hatten einige angenehme Wochen auf dem Gute des Barons St. Foix hingebracht, während welcher sie oft kleine Lustreisen zwischen den Gebürgen machten, und sich an der romantischen Wildheit der Pyrenäen-Gegend weideten. Der Graf trennte sich ungern von seinem alten Freunde, obgleich mit der Hofnung, bald zu einer Familie mit ihnen vereinigt zu werden, denn es war ausgemacht, daß der junge St. Foix, der sie jetzt nach Gasconien begleitete, Blankas Hand erhalten sollte, sobald sie in Chateau le Blanc ankommen würden! Da der Weg von des Barons Gute nach La Vallée über einige der wildesten Striche der Pyrenäen gieng, wohin noch nie die Spur eines Wagens gekommen war, so miethete der Graf Maulesel für sich und seine Familie und ein paar starke, wohl bewafnete Führer, die den Weg genau kannten.
Der Graf verließ seines Freundes Behausung früh Morgens in der Absicht, die Nacht in einem kleinen Wirthshause auf dem Gebürge, ohngefehr die Hälfte des Weges nach La Vallée zuzubringen. Dies Wirthshaus wurde zwar meistens nur von Spanischen Mauleseltreibern auf ihrem Wege nach Frankreich besucht, und er konnte also keine große Bequemlichkeit dort erwarten, allein es war der einzige Wirthshausähnliche Ort auf dem ganzen Wege.
Nach einem Tage der Bewundrung und Ermüdung fanden sich die Reisenden um Sonnenuntergang in einem waldigten Thale, das von allen Seiten steile Berge überhingen. Sie hatten viele Meilen zurückgelegt, ohne eine menschliche Wohnung zu erblicken, und nur von Zeit zu Zeit in einiger Entfernung das melancholische Läuten einer Schäferglocke gehört. Jetzt aber vernahmen sie die Töne frölicher Musik und sahen sogleich in einem kleinen Thale zwischen den Wäldern eine Gruppe von Bergbewohnern einen Tanz trippeln. Der Graf, der so wenig das Glück als das Elend seiner Mitmenschen mit gleichgültigem Auge ansehn konnte, hielt still, um dieses Schauspiel einfachen Vergnügens anzusehn. Die Gruppe vor ihm bestand aus französischen und spanischen Bauern, Einwohnern eines nahen Dörfchens; die Mädchen hüpften mit Castannetten in der Hand nach der Melodie einer Laute und Tambourine, bis die fröhliche, französische Melodie in ein langsames Tempo übergieng, nach welchem zwei Bäuerinnen einen spanischen Fandango tanzten.
Der Graf verglich diese Scene mit den Festins, die er zu Paris angesehen hatte; wo falscher Geschmack die Züge bemahlte und durch den fruchtlosen Versuch, den Glanz der Natur zu ersetzen, die beseelten Reitze verbirgt; wo Künstelei so oft die Züge verzerrte, und Laster die Sitten verderbte — er seufzte bei dem Gedanken, daß natürliche Reitze und unschuldige Freuden nur in den Wildnissen der Einsamkeit blühten, und im Zusammenfluß der verfeinerten Gesellschaft erstarben. — Die verlängerten Schatten erinnerten die Reisenden, daß sie keine Zeit zu verlieren hatten; sie verließen diese fröliche Gruppe und setzten ihren Weg nach dem kleinen Wirthshause fort, wo sie Schutz vor der Nacht suchten.
Die Strahlen der untergehenden Sonne warfen nun einen gelben Schimmer auf die Fichten und Wallnuswälder, die sich zu den Füßen der Berge herabsenkten, und einen zurückstrahlenden Schimmer auf die beschneiten Spitzen warfen. Bald aber schwand auch dieses Licht schnell und die Gegend gewann in der Dunkelheit der Dämmerung ein furchtbares Ansehn. Wo man den Strom gesehn hatte, hörte man ihn jetzt nur noch; wo die wilden Klippen jede Abwechslung von Form und Stellung gezeigt hatten, erschien nur noch eine dunkle Masse von Gebürgen und die Kluft, welche tief, tief unten ihren schrecklichen Rachen öfnete, konnte das Auge nicht mehr messen. Ein trüber Schimmer zögerte noch auf den Gipfeln der höchsten Alpen, und machte die Stille der Stunde noch schauerlicher.
Blanka betrachtete stillschweigend die Scene und horchte mit Begeisterung auf das Rauschen der Fichten, die sich in dunkeln Linien längs den Bergen zogen und auf die heisere Stimme der Gemse zwischen den Felsen, die von Zeit zu Zeit durch die Luft herbei kam. Bald aber verwandelte sich ihre Begeistrung in Furcht, wenn sie an die unsichern Klippen, die den Weg einfaßten, und an die verschiednen phantastischen Formen der Gefahr dachte, die jenseits durch die Dunkelheit hervorblickten; sie fragte ihren Vater, ob sie noch weit von dem Wirthshause entfernt wären, und ob der Weg nicht um diese späte Stunde sehr gefährlich sey. Der Graf wiederholte ihre Fragen an die Führer; sie gaben eine zweifelhafte Antwort, und setzten hinzu, wenn es dunkeler würde, so wäre es wohl am sichersten zu warten bis der Mond aufgienge; jetzt aber könnten sie ohne Gefahr noch weiter gehn.
Bald aber verwandelten sich die Schatten des Abends in die Dunkelheit der Nacht, die durch die Dünste beschleunigt wurde, die sich schnell rings um die Berge sammelten und in dunkeln Kreisen längs ihnen hinrollten. Die Führer schlugen nun vor, zu ruhen bis der Mond aufgienge, zumal da sie glaubten, daß sich ein Sturm herannahte. Sie sahen rings umher nach einem Orte, der zu einer Art von Zuflucht dienen könnte, und erblickten undeutlich durch die Dunkelheit in einer kleinen Entfernung einen Gegenstand, den sie für eine Jäger- oder Schäferhütte hielten, und mit behutsamen Schritten darauf zugiengen. Ihre Mühe wurde nicht belohnt; als sie dem gesuchten Gegenstande nahe kamen, fanden sie, daß es ein zum Zeichen eines hier begangnen Mords aufgerichtetes Creutz war.
Es war zu dunkel, um die Innschrift zu lesen, allein die Führer erkannten es für ein Creutz, das zum Andenken des Grafen Beliard, der vor einigen Jahren, von einer Räuberbande hier erschlagen wurde, aufgerichtet war. Blanka schauderte, als sie einige schreckliche Umstände von des Grafen Schicksal hörte, die einer von den Führern in leiser, verhaltner Stimme erzählte, als wenn sein eigner Ton ihn erschreckte. Während sie aber noch bei dem Creutz verweilten und auf seine Erzählung hörten, fuhr ein Lichtstrahl über die Felsen; der Donner brummte in der Ferne und die Reisegesellschaft verließ erschrocken diesen schauerlichen Aufenthalt, um eine Zuflucht zu suchen.
Sie fanden endlich eine ebne Stelle, die durch überhängende Felsen vor dem Winde geschützt war, und da sie noch nicht wußten, wie weit sie von dem Wirthshause entfernt waren, beschlossen sie zu ruhen, bis der Mond aufgienge oder der Sturm sich zertheilte. Blanka gab dem St. Foix ängstlich die Hand und sie stiegen sämmtlich in eine Art von Höle herunter. Man schlug Licht an, und machte ein Feuer das ihnen sehr wohl that, da, ohngeachtet der Hitze des Tages, die Nachtluft in diesen Gebürgen sehr kalt ist; ein Feuer war ihnen auch gewissermaaßen nothwendig um die Wölfe abzuhalten, die in diesen Wildnissen hausen.
Sie breiteten ihre Lebensmittel auf einer überhängenden Ecke des Felsens aus, und der Graf hielt mit seiner Familie eine Mahlzeit, die sie an einem minder verlassenen Orte nicht so vortreflich würden gefunden haben. St. Foix, der ungeduldig nach dem Monde verlangte, stieg nachher auf eine Spitze, die nach Osten stand. Allein es war alles in Dunkelheit eingehüllt und die Stille der Nacht wurde nur durch das Rauschen der Wälder, die weit unten wehten, durch den fernen Donner oder hie und da durch die schwachen Stimmen der Gesellschaft, die er verlassen hatte, unterbrochen. Er stand still um das Gemälde zu betrachten, das die Gesellschaft in der Höle darstellte. Neben Blankens schlanker feiner Gestalt sas der Graf mit seinem majestätischen Ansehn, auf einem rauhen Stein, und tiefer im Hintergrunde stachen die plumpen Züge und grobe Kleidung der beiden Führer und der Bedienten gegen die Eleganz der vordern Gruppe ab. Auch die Würkung des Lichts war interessant; auf die umgebenden Gestalten warf es einen starken obgleich bleichen Schimmer und blänkerte auf ihren glänzenden Waffen, während auf dem Laube eines gigantischen Lerchbaums, der seinen Schatten auf die Klippe über ihnen ausbreitete ein rother dunkler Hauch erschien, der sich unmerklich in schwarze Nacht vertiefte.
Während St. Foix dies Schauspiel betrachtete, stieg der Mond breit und gelb über den östlichen Spitzen zwischen umzingelnden Wolken auf, und ließ dämmernd die Größe der Himmel, die Masse von Dünsten, die bis auf die Hälfte der Berge herab rollte, und die ungewissen Berge sehn.
Er wurde durch die Stimmen der Führer, die seinen Namen riefen, der von Klippe zu Klippe als von hundert Stimmen wieder zurück erschallte, aus seiner Träumerei geweckt, und eilte in die Höle zurück um den Grafen und Blanka aus ihrer Besorgniß zu reissen.
Da aber der Sturm heran zu nahen schien, verließen sie ihren Schutzort nicht und der Graf, der sich zwischen seiner Tochter und St. Foix setzte, suchte durch Erzählungen aus der Naturgeschichte des Landes ihre Aengstlichkeit zu zerstreuen. Indem Blanka ihm aufmerksam zuhörte, vernahmen sie das ferne Gebell eines Wachthundes. Sie horchten mit begieriger Hoffnung, und da der Wind stärker blies, bildeten sie sich ein, daß der Ton nicht ferne wäre , und aus dem Wirthshause käme, das sie suchten, worauf der Graf seinen Weg dahin fortzusetzen beschloß. Der Mond gewährte nun ein stärkeres obgleich noch immer unsicheres Licht, indem er zwischen den gespaltenen Wolken hinglitt, und die Reisenden, durch den Ton geleitet, traten ihre Reise längs dem Saume des Abgrundes wieder an, mit einer einzigen Fackel vor sich her, die jetzt mit dem Mondlicht kämpfte: die Führer hatten in der Meinung, bald nach Sonnenuntergang das Wirthshaus zu erreichen, für mehrere zu sorgen versäumt.
In einiger Entfernung entdekten sie einen unebnen, gefährlichen Weg, den eine umgehauene Fichte bildete, die quer über die Spalten geworfen, die entgegenliegenden Vorgebürge vereinigte und wahrscheinlich von den Jägern gefällt war, um ihre Jagd nach der Gemse oder dem Wolfe zu erleichtern.
Die ganze Gesellschaft, die Führer ausgenommen, schauderte bei der Aussicht, über diese Alpenbrücke zu kreutzen, die an den Seiten gar keine Haltung hatte, und von welcher herunterfallen gewisser Tod war. Die Führer schickten sich an, die Maulesel herüber zu leiten, während Blanka zitternd am Rande stand, und auf das Brüllen des Wassers horchte, das aus den mit hohen Fichten überhangenden Felsen hervorquoll und sich von da in den tiefen Abgrund stürzte, wo sein weißer Schaum schwach im Mondenlicht glänzte. Die armen Thiere schritten mit instinktmäßiger Vorsicht über diese gefährliche Brücke, und ließen sich weder durch das Geräusch des Wasserfalls schrecken, noch durch die Dunkelheit täuschen, die das herabhängende Laub auf ihren Weg warf. Nunmehr war ihnen die einzelne Fackel, die bisher wenig Nutzen geleistet hatte, ein unbezahlbarer Schatz, und die bebende Blanka, von ihrem Vater unterstützt, und ihren Liebhaber vor sich, folgte dem rothen Scheine der Fackel in Sicherheit bis nach der gegenüber liegenden Klippe.
So wie sie weiter kamen, zogen sich die Berge zusammen und bildeten einen engen Paß, auf dessen Grunde der Strom brüllte, über den sie eben gekommen waren. Aufs neue aber wurden sie durch das Bellen eines Hundes aufgerichtet, der vielleicht bei den Heerden zwischen den Bergen wachte, um sie vor den nächtlichen Anfällen der Wölfe zu hüten. Der Ton war viel näher als vorhin und bald sahen sie auch ein Licht in der Ferne schimmern. Es schien von einer Anhöhe zu kommen, und kam und verschwand, als wenn die wehenden Zweige der Bäume es zuweilen ausschlössen und dann wieder seine Strahlen zuließen. Die Führer schrien aus allen Kräften, allein kein Laut einer menschlichen Stimme kehrte wieder zu ihnen, und sie feuerten endlich, um sich hörbarer zu machen, eine Pistole ab. Allein auch dieses Geräusch hallte nur allein von den Felsen wieder und versank nach und nach in eine Stille, die kein freundlicher Wink eines Menschen unterbrach. Das Licht aber wurde heller, und nach einiger Zeit hörten sie auch Stimmen undeutlich im Winde: als aber die Führer ihr Rufen wiederholten, verstummten die Stimmen plötzlich und das Licht verschwand.
Blanka unterlag nun beinahe ihrer Angst, Ermüdung und Furcht, und die vereinten Bemühungen des Grafen und jungen Barons vermochten kaum, sie lebendig zu erhalten. Indem sie weiter fortritten, nahmen sie auf einer Felsenspitze einen Gegenstand wahr, den sie bei den stark darauf fallenden Mondstrahlen für einen Wachtthurm erkannten. Der Graf konnte es nach der Lage und andern Umständen für nichts anders halten, und ermunterte seine Tochter durch die nahe Aussicht auf Schutz und Ruhe, wenn auch nicht auf Bequemlichkeit, die sie sich in einem verfallenen Wachtthurm versprechen konnten.
»Man hat unzählige Wachtthürme zwischen den Pyrenäen errichtet«, sagte der Graf, der Blankas Aufmerksamkeit von dem Gegenstande ihrer Furcht abzuziehn wünschte, »um durch ein oben angezündetes Feuer von der Annäherung des Feindes Nachricht zu geben. Auf solche Art hat man von Posten zu Posten längs einer Strecke von hundert und mehr Meilen Signale mittheilen können. Dann, wenn die Noth es erfordert, dringen die lauernden Armeen aus ihren Festungen und Wäldern hervor, um vielleicht den Eingang eines großen Passes zu besetzen, wo sie sich auf die Anhöhen postiren und ihre erstaunten Feinde, die sich unten im Thale herauf winden, mit zertrümmerten Felsenstücken begrüssen, und Tod und Verderben über sie ausgießen. Die alten Festungen und Wachtthürme, die über den großen Pässen der Pyrenäen hängen, werden sorgfältig im Stande erhalten, andre aber die auf niedrigern Orten stehn, verfallen und werden oft in die friedlichen Wohnungen des Jägers und Schäfers verwandelt, der sich nach einem beschwerlichen Tage hieher begiebt, und mit seinen treuen Hunden bei einem erquickenden Feuer die Arbeit der Jagd oder die Sorge, seine herumirrenden Heerden zusammen zu treiben, vergißt.«
»Aber haben sie immer so friedliche Bewohner?«, fragte Blanka.
»Nein!« erwiederte der Graf, »zuweilen sind sie der Zufluchtsort französischer und spanischer Schleichhändler, die mit verbotnen Waaren aus ihren Ländern, über die Gebürge kreutzen. Die letzten sind besonders zahlreich und es werden oft starke Partheyen königlicher Truppen gegen sie ausgeschickt. Allein der verzweifelte Muth dieser Abentheurer, die wohl wissen, daß wenn sie ergriffen werden, sie dem grausamsten Tode entgegen gehn, bietet oftmals der Tapferkeit der Soldaten Trotz. — Aber du hörst nicht zu, Blanka, ich habe dich mit einem langweiligen Gegenstande ermüdet — aber sieh, dort im Mondlicht das Gebäude, das wir gesucht haben; es ist ein Glück, daß wir ihm so nahe sind, ehe das Gewitter kommt.«
Blanka sah auf und entdeckte, daß sie am Fuße der Klippe wären, auf deren Spitze das Gebäude stand; allein es gieng kein Licht daraus hervor. Auch das Bellen des Hundes hörten sie nicht mehr und die Führer fingen an zu zweifeln, ob dies würklich der Ort wäre, den sie gesucht hatten. In der Entfernung, worin sie es bei einem umwölkten Monde undeutlich erblickten, schien es von mehr Umfang, als ein einzelner Wachtthurm zu seyn; allein die größte Schwierigkeit war, wie sie die Anhöhe herauf kommen sollten, deren steiler Abschuß keinen Weg zuließ.
Die Führer giengen mit der Fackel voraus, um die Klippe zu untersuchen, und der Graf blieb mit Blanka und St. Foix an ihrem Fuße unter dem Schatten der Wälder sitzen, und bemühte sich aufs neue, die Zeit durch Gespräch zu vertreiben, allein es war vergebens Blankens Aufmerksamkeit zu fesseln und er überlegte nun heimlich mit St. Foix, ob es wohl rathsam seyn würde, wenn sie einen Weg fänden, sich in ein Gebäude zu wagen, das vielleicht von Banditen bewohnt würde.
Ein Ruf von den Führern erregte ihre Aufmerksamkeit, und bald darauf kam einer von des Grafen Bedienten mit der Nachricht zurück, daß ein Weg gefunden wäre: sie klimmten nun einen schmalen Pfad hinauf, der zwischen kleinem Gesträuch durch den Felsen gehauen war, und erreichten mit vieler Gefahr und Mühe den Gipfel, wo verschiedne verfallne Thürme, von einer dicken Mauer umgeben, und stellenweis vom Mondlicht beleuchtet, ihnen ins Gesicht fielen.
Um das Gebäude her war alles still und der Ort allem Anscheine nach verlassen; allein der Graf war vorsichtig: »geh sachte«, sprach er leise, »während wir das Gemäuer besichtigen.«
Nachdem sie stillschweigend einige Schritte weit gegangen waren, standen sie an einem Thor stille, dessen Portale selbst in verfallnem Zustande, noch furchtbar waren; sie zögerten einen Augenblick und giengen dann in den Vorhof, standen aber aufs neue bei einer Treppe still, die vom Hofe aus längs der Spitze eines Felsens hinlief. Ueber diesem stieg der Hauptflügel des Gebäudes auf, das nicht eine Warte, sondern eine von den alten Festungen war, die vor Alter und Vernachlässigung in Verfall gerathen waren. Einige Theile schienen noch unzerstört zu seyn. Sie war von grauem Steine nach schwerer Sachsengothischer Bauart errichtet, mit ungeheuern runden Thürmen, Bogen von verhältnißmäßiger Stärke und einem großen gewölbten Thore versehn, das in die Halle der Gebäude zu führen schien. Die schauerliche Größe, die dieses Gebäude in den Tagen seiner frühesten Stärke schon gehabt haben mußte, wurde jetzt durch die zertrümmerten Zinnen und halb niedergerißnen Wälle, durch große Strassen von Ruinen die in dem weiten Vorhofe, jetzt still und mit Graß bewachsen, zerstreut lagen, beträchtlich erhöht. In diesem Hofe standen die gigantischen Ueberreste einer Eiche, die mit dem Gebäude geblüht zu haben und mit ihm veraltet zu seyn schien. Sie beschützte es noch finster mit den wenigen entlaubten und mit Moos bewachsenen Zweigen, die noch am Stamme hiengen, dessen weiter Umfang verrieth, wie ungeheuer groß dieser Baum in vorigen Zeiten gewesen war. Diese Festung mußte sehr bedeutend gewesen seyn, und nach ihrer Lage auf einer Felsenspitze, die über einem tiefen Abgrunde hieng, mußte sie eben so furchtbar zum Widerstande, als zum vernichten gewesen seyn; es befremdete daher den Grafen, daß man sie hatte verfallen lassen, so alt sie auch war, und ihr einsames, verwüstetes Ansehn erregte in seiner Brust eine schwermüthige schauerliche Empfindung. Indem er diesen Betrachtungen nachhieng, hörte er einen Laut von fernen Stimmen inwendig aus dem Gebäude hervorkommen, er betrachtete es aufs neue mit forschenden Augen, allein es war kein Licht zu sehn. Er beschloß nun, rings um die Festung bis zu dem entlegnen Theile, wo er die Stimmen gehört hatte, zu gehn, um zu untersuchen, ob er kein Licht ausfindig machen könnte, ehe er ans Thor zu klopfen wagte, zu diesem Zwecke gieng er auf die Terrasse, wo noch Ueberreste von Kanonen in den dicken Mauern steckten, aber er hatte noch nicht viele Schritte gemacht, als er plötzlich durch das laute Bellen eines Hundes von innen aufgehalten wurde. Er vermuthete, daß dies derselbe wäre, dessen Stimme sie hieher gebracht hatte. Nunmehr konnte er nicht länger zweifeln, daß der Ort bewohnt sey, und er gieng zurück, um mit St. Foix noch einmal zu berathschlagen, ob sie sich herein wagen sollten, denn das wüste Ansehn des Orts hatte seinen Entschluß aufs neue erschüttert; nach einer zweiten Berathschlagung unterwarf er sich den Gründen, die ihn vorher bestimmt hatten und jetzt durch die Entdeckung des Hundes, der die Festung bewachte, als durch die Stille darin, noch mehr bestärkt wurden. Er befahl also einem seiner Bedienten an das Thor zu klopfen, als aber der Mensch herzu trat, um ihm zu gehorchen, ließ sich ein Licht in einer Schießscharte des Thurmes sehn. Der Graf rief laut, erhielt aber keine Antwort. Er schlug mit einer eisenbeschlagnen Stange, die er zum herauf klimmen gebraucht hatte, ans Thor, aber das Echo, das den Schall zurückgab, und nachher das Bellen mehrerer Hunde war der einzige Laut, den er vernahm. Der Graf gieng einige Schritte zurück, um zu sehn, ob das Licht in dem Thurme wäre. Es war weg, er kehrte zum Thor zurück und hatte wieder die Stange aufgehoben um zu klopfen, als er wieder Stimmen inwendig murmeln zu hören glaubte. Er wurde in seiner Vermuthung bestärkt; allein sie waren zu fern, um deutlich gehört zu werden, und der Graf that aufs neue einen harten Schlag an das Thor, worauf sogleich eine tiefe Stille folgte. Es litt nun keinen Zweifel, daß die Menschen, die darinn waren, das Klopfen gehört hatten, und ihre Vorsicht, Fremde einzulassen, brachte ihm eine vortheilhafte Meinung von ihnen bei. »Es sind entweder Schäfer oder Jäger«, sagte er, »die so wie wir in diesen Mauern Zuflucht vor der Nacht gesucht haben, und sich fürchten, Fremde einzulassen, die sie vielleicht für Räuber halten. Ich will ihnen ihre Furcht benehmen.« Er rief laut: »wir sind Freunde, die Unterkommen für die Nacht suchen.« Nach wenig Augenblicken hörte man Schritte näher kommen und eine Stimme antwortete: »wer ruft da?« »Freunde«, erwiederte der Graf: »macht die Thore auf, so sollet ihr mehr erfahren.« Schwere Riegel wurden nun aufgezogen und ein Mann, mit einem Jagdspies bewafnet erschien. »Was verlangt ihr um diese Stunde?« fragte er. Der Graf winkte seinen Leuten, und antwortete, daß er den Weg nach dem nächsten Orte zu wissen wünschte. »Seyd Ihr so wenig in diesen Gebürgen bekannt«, sagte der Mann, »nicht zu wissen, daß es viele Meilen weit keinen Ort giebt. Ich kann Euch den Weg nicht zeigen; ihr müßt ihn suchen, der Mond scheint ja.« Mit diesen Worten wollte er das Thor zumachen, und der Graf wandte sich unmuthig weg, als eine andre Stimme von oben gehört wurde. Er blickte auf und sah eines Mannes Gesicht am Gitter des Thors. »Halt Freund«, sagte die Stimme, »Ihr habt den Weg verloren. Vermutlich seyd ihr Jäger so wie wir, ich werde sogleich bei Euch seyn.« Die Stimme schwieg und das Licht verschwand. Blanka hatte sich vor dem Manne, der das Thor öfnete, sehr erschrocken, und bat ihren Vater, den Ort zu verlassen; allein der Graf hatte den Jagdspieß bemerkt, und die Worte aus dem Thurm machten ihm Muth, den Ausgang abzuwarten. Das Thor wurde bald geöfnet, und es erschienen verschiedene Personen in Jägerkleidung, die dem Grafen eine Weile zuhörten und ihm sagten, daß er für die Nacht willkommen wäre. Sie drangen nun mit vieler Höflichkeit in ihn, herein zu kommen und mit dem Abendbrodt vorlieb zu nehmen, wozu sie sich eben hätten hinsetzen wollen. Der Graf, der sie aufmerksam betrachtete, indem sie sprachen, war vorsichtig und etwas argwöhnisch; allein er war auch müde, fürchtete den herannahenden Sturm und den gefährlichen Weg auf den Alpengebürgen in der Dunkelheit der Nacht; auch verließ er sich auf die Stärke und Anzahl seiner Leute und beschloß nach einiger Ueberlegung, die Einladung anzunehmen. Er rief seine Leute zusammen und sie folgten ihrem Herrn, der Gräfin Blanka und dem St. Foix in die Festung. Die Fremden führten sie in einen großen, wüsten Saal, den sie zum Theil bei dem Feuer am Kamin sehn konnten. Vier Menschen, in Jägerkleidung saßen darum her, und auf dem Kamin selbst lagen einige Hunde in Schlaf ausgestreckt. In der Mitte des Saals stand ein großer Tisch und am Feuer wurde ein Stück Wildpret gebraten. Als der Graf näher kam, standen die Leute auf; auch die Hunde richteten sich halb in die Höhe und sahen die Fremden wild an, so wie sie aber ihrer Herren Stimme hörten, behielten sie ihre Lage auf dem Kamin.
Blanka sah sich in diesem dunkeln, geräumigen Saale rings um, sah dann die Leute und ihren Vater an, der ihr freundlich zulächelte, und sich an die Jäger wandte. »Das ist ein freundlicher Heerd«, sagte er, »der Anblick eines Feuers ist sehr erquickend, wenn man so lange in diesen öden Wildnissen gewandert hat. Eure Hunde sind müde, habt Ihr Glück auf der Jagd gehabt?« »Wie gewöhnlich«, erwiederte einer der Leute am Camin, »wir erlegen unser Wild mit ziemlicher Sicherheit.« — »Dies sind auch Jäger«, sagte einer von den Leuten, die den Grafen in den Saal gebracht hatten, »die ihren Weg verloren haben. Ich habe ihnen gesagt, daß in der Festung Raum genug für uns alle ist.« — »Gewis! gewis!« sagte der erste, »wie viel habt Ihr denn geschossen, Kameraden? Wir haben zwei Gemsen erlegt, und das ist doch wohl genug?« »Ihr irrt Euch Freund«, sagte der Graf, »wir sind nicht Jäger, sondern Reisende; wenn Ihr uns aber bei Eurer Jägermahlzeit zulassen wollt, so werden wir es Euch sehr Dank wissen und Euch gern für Eure Gefälligkeit belohnen.«
»So setzt Euch denn, Brüder«, sagte ein andrer, »Jakob leg mehr Reiser auf, der Braten wird bald gar seyn; bring auch einen Stuhl für das Frauenzimmer. Ist gefällig unsern Brantwein zu kosten, Fräulein, es ist ächter Barcelona.« Blanka lächelte furchtsam und wollte es abschlagen, allein ihr Vater kam ihr zuvor, und nahm mit freundlicher Miene das Glas. St. Foix setzte sich zu ihr, drückte ihr die Hand und suchte sie durch Blicke aufzumuntern; allein ihre Aufmerksamkeit war ganz auf einen Mann gerichtet, der am Feuer sas, und St. Foix unablässig ansah.
Der Graf ließ sich mit ihnen in ein Gespräch über die Jagd ein, und hörte ihren Erzählungen aufmerksam zu, als vor dem Thore in ein Horn gestoßen wurde. Blanka sah ihren Vater furchtsam an; er setzte zwar sein Gespräch fort, doch sah man einige Unruhe auf seinem Gesichte und er wandte oft die Augen nach dem Fenster hin. Das Horn ertönte aufs neue und es erfolgte ein lautes Jagdgeschrei. »Das sind unsre Kameraden, die von ihrem Tagewerke zurück kommen«, sagte ein Mann und gieng verdrossen um ihnen aufzumachen. Wenig Minuten darauf erschienen zwei Leute, jeder mit einer Flinte über der Schulter und Pistolen im Halfter. »Was giebts zu essen?« sagten sie, indem sie näher kamen. »Was für Glück?« erwiederten die andern, »habt Ihr Euer Abendessen mitgebracht? sonst werdet Ihr keins bekommen.«
»Aber was Teufel habt Ihr mitgebracht?« sagten sie in schlechtem Spanisch, als sie des Grafen Gesellschaft wahrnahmen. »Sind sie aus Frankreich oder aus Spanien? Wo habt Ihr sie getroffen?«
»Sie kamen zu uns, und sind uns recht willkommen«, antwortete der Erste laut auf französisch. »Dieser Herr und seine Gesellschaft hatten ihren Weg verloren und baten um ein Nachtlager in der Festung.« Die andern antworteten nicht, warfen eine Art von Schnapsack hin und zogen einige Schnuren Vögel hervor. Der Schnapsack fiel schwer auf die Erde; der Graf sah etwas glänzendes darinn schimmern und betrachtete nun den Mann, der ihn getragen hatte aufmerksamer. Es war ein langer starker Kerl mit harten Gesichtszügen und krausen schwarzen Haar in seinem Nacken. Statt der Jagdkleidung trug er eine verschoßene Uniform. Der Graf wandte endlich seinen Blick weg und blieb still und nachdenkend, bis ihm aufs neue ein Mensch ins Auge fiel, der in einem dunklen Winkel stand, und den St. Foix, der mit Blankan sprach, aufmerksam betrachtete. Der Graf fühlte Mistrauen in sich aufsteigen, lächelte aber, um sich nicht zu verrathen, Blankan freundlich an, und sprach mit ihr über gleichgültige Dinge! Als er sich wieder umsah, fand er, daß der Soldat und der Mann im Winkel hinausgegangen waren.
Gleich darauf kam ein andrer herein, und sagte, daß er im andern Zimmer Feuer angemacht und den Tisch gedeckt hätte, weil es dort wärmer wäre als hier.
Seine Kameraden billigten dies sehr und luden ihre Gäste ein, ihnen dahin zu folgen. Blanka schien ungern aufzustehn, und St. Foix sah den Grafen an, der darauf erwiederte, er zöge das angenehme Feuer vor, bei dem er jetzt säße. Die Jäger lobten indessen die Wärme im andern Zimmer so sehr und drangen mit solcher Artigkeit in ihn, daß der Graf, halb zweifelhaft und halb fürchtend, seine Zweifel zu verrathen, ihnen folgte. Die langen, verfallnen Gänge, durch die sie kamen, schreckten ihn ab, allein der Donner, der jetzt in lauten Schlägen über ihnen grunzte, machte es gefährlich, diesen Zufluchtsort zu verlassen, und er hütete sich seine Führer durch Mistrauen aufzubringen. Die Jäger giengen mit einer Lampe voran; der Graf und St. Foix, die ihren Wirthen gerne gefällig seyn wollten, trugen jeder einen Stuhl und Blanka folgte mit schwankenden Schritten. Ihr Kleid blieb an einem Nagel hängen, und während sie etwas zu bedenklich still stand, um es loszumachen, folgten der Graf und St. Foix, die ihr still stehn nicht bemerkten, ihrem Führer um eine Ecke des Ganges und Blanka blieb im dunkeln zurück. Sobald sie sich losgemacht hatte, folgte sie schnell den Weg, den sie ihrer Meinung nach gegangen waren. Ein Licht das in einiger Entfernung schimmerte, bestärkte sie in dieser Meinung, und sie gieng auf eine ofne Thüre zu, die sie für das Zimmer hielte, wovon die Leute gesprochen hatten. Sie hörte Stimmen und blieb einige Schritte von der Thüre stehen, um zu sehen ob sie recht wäre, und sah beim Licht einer Lampe, die an der Decke hing, vier Leute um einen Tisch sitzen, und mit aufgelegten Armen eine Berathschlagung halten. Sie erkannte den einen für denselben, der den St. Foix mit solcher Aufmerksamkeit betrachtet hatte; er sprach sehr eifrig aber mit verhaltner Stimme, bis einer von den andern ihm widersprach, worauf sie alle lauter wurden. Blanka, die sich vor dem wilden Ansehn dieser Menschen fürchtete, und weder ihren Vater noch St. Foix im Zimmer sah, wollte geschwind fortgehn, um sie in der Gallerie zu suchen, als sie den Einen sagen hörte:
»Laßt allen Streit zu Ende seyn. Wer spricht von Gefahr? folgt meinem Rath, so braucht ihr keine zu fürchten — bringt diese in Sicherheit, so sind die andern leichte Beute.« Blanka, der diese Worte auffielen, stand still um mehr zu hören. »Mit den andern ist nichts zu machen«, sagte ein anderer, »ich vergieße nicht gern Blut, wenn ich umhin kann. Schafft nur die zwei bei Seite, so ist es genug; die andern lasset laufen.«
»So?« rief der Erste mit einem schrecklichen Fluche, »damit sie erzählen wie wir es mit ihren Herren gemacht haben, und uns des Königs Soldaten auf den Hals hetzen? Du bist von jeher ein vortreflicher Rathgeber gewesen, wir haben den letzten St. Thomasabend noch nicht vergessen.«
Blanka bebte vor Schrecken. Sie war unvermögend, sich von der Stelle zu rühren und mußte diese schreckliche Berathschlagung noch länger anhören. »Warum wollen wir nicht die ganze Hetze ermorden?« sagte der Eine.
»Ich denke, unser Leben ist so viel werth, als ihres«, erwiederte sein Kamerad. »Wenn wir sie nicht todtschlagen, so werden sie uns an den Galgen bringen. Besser, daß sie krepiren, als daß wir hängen.«
»Ja wohl! ja wohl!« riefen die Kameraden. — Sie schwiegen alle einige Augenblicke und schienen zu überlegen.
»Die verdammten Kerls«, rief der Eine ungeduldig — »sie sollten längst hier seyn, und am Ende werden sie doch nur die alte Leyer und keine Beute mitbringen. Wären sie hier, so wäre die Sache leicht gemacht. So aber werden wir diese Nacht nichts ausrichten können, denn sie haben mehr Leute als wir, und morgen früh werden sie davon gehn wollen, und wie können wir sie ohne Gewalt zurückhalten?«
»Wenn wir die beiden Cavaliere heimlich bey Seite schafften, so würden wir über die andern leicht Herr werden.«
»Das ist ein kluger Rath«, sagte ein andrer hönisch. »Wenn ich mit dem Kopf durch die Mauer kann, so bin ich im freien. Wie werden wir sie doch heimlich bey Seite schaffen können?«
»Mit Gift«, antworteten die andern.
»Das wäre noch so etwas«, sagte der zweite, »dann haben sie doch einen schweren Tod, und ich kann meine Rache befriedigen. Diese Barons sollen schon erfahren, daß mit unser einem nicht zu sprechen ist.«
»Ich kannte den Sohn sogleich als ich ihn sah«, sagte der Mann, der den St. Foix so scharf angesehn hatte; »den Vater hätte ich fast vergessen.«
»Ihr mögt sagen, was ihr wollt«, versetzte ein dritter, »ich glaube nicht, daß es der Baron ist; ich werde ihn doch wohl so gut kennen, als ihr, ich war ja mit bei dem Angriff, als unsre armen Kameraden ergriffen wurden.«
»War ich nicht auch dabei«, sagte der Erste; »ich sagte Euch, es ist der Baron, aber was liegt daran, ob er es ist oder nicht? Sollen wir die ganze Beute fahren lassen? So gutes Glück haben wir nicht oft. — Wenn ihrer nur nicht so viele wären; es sind ja neun oder zehne, und alle bewafnet; Als ich sah, daß es so viele waren, wollte ich sie nicht herein lassen. Ihr habt selbst Schuld. Unsrer sind nur Sechse — ich sage euch, mit Gewalt geht es nicht. Wir müssen den beiden ein Döschen geben, und mit den andern suchen fertig zu werden.«
»Ich will euch einen bessern Rath geben«, fiel ein andrer rasch ein; »kommt näher.«
Blanka, die mit unbeschreiblicher Angst dies Gespräch angehört hatte, konnte nichts weiter verstehn, weil sie leise sprachen; doch gab die Hoffnung, ihre Freunde vor dem Anschlage zu warnen, ihr Kräfte wieder, und sie gab sich Mühe, ihren Weg wieder zu finden. Kaum aber hatte sie einige Schritte zurückgelegt, als sie im dunkeln an eine Stuffe im Gange sties und zur Erde fiel.
Die Räuber hörten das Geräusch; sie wurden plötzlich still und drangen alle in den Gang, um zu sehn, ob jemand ihre Berathschlagung behorcht hätte. Sie ergriffen Blankan, ehe sie noch aufstehn konnte, und schleppten sie in das Zimmer, das sie verlassen hatten.
So wie sie im Zimmer waren, giengen sie zu Rathe, was mit ihr anzufangen wäre. »Laßt uns erst herausbringen, was sie gehört hat«, sagte der Haupträuber. »Wie lange seyd Ihr im Gange gewesen, Fräulein, und was hattet Ihr da zu suchen?«
»Erst laßt uns nach dem Gemählde mit Diamanten greifen, das ich an ihrem Halse gesehn habe«, fiel ein andrer ein. »Schönes Fräulein, das Gemählde gehört mir, mit Eurer Erlaubniß, gebt es her, sonst werde ich es nehmen.«
Blanka gab zitternd das Gemählde hin, und bot ihnen auch ihre Börse an, indem sie versprach, nichts von dem, was vorgegangen sey, wieder zu sagen, wenn sie ihr erlauben wollten, wieder zu ihren Freunden zu gehn.
Er lächelte spöttisch und war im Begrif zu antworten, als seine Aufmerksamkeit durch ein fernes Geräusch erregt wurde. Er horchte und ergrif Blanken fester beim Arm, als fürchtete er, sie würde davon laufen. Sie wollte um Hülfe schreien, allein er bedrohte sie mit gräßlichen Flüchen.
»Wir sind verrathen«, riefen die andern, »aber laßt uns noch einen Augenblick horchen; vielleicht sind unsre Kameraden zu Hause gekommen, dann hätten wir leichtes Spiel. Horch!« —
Ein ferner Schuß bestärkte auf einen Augenblick diese Vermuthung, gleich darauf aber kamen die vorigen Töne näher, und man unterschied deutlich das Klirren von Schwerdtern, mit Stimmen von Streitenden und schweren Stöhnen vermischt, in dem Gange, der zu dem Zimmer führte. Während die Kerls zu den Waffen griffen, hörten sie sich von ihren weit entfernten Kameraden rufen, und ein helles Horn erscholl außerhalb der Festung. Sie schienen dieses Signal nur zu gut zu verstehen, denn dreie von ihnen liefen sogleich aus dem Zimmer und überließen es dem vierten, Blanken zu bewachen.
Indem Blanka zitternd und einer Ohnmacht nahe sie loszulassen bat, hörte sie mitten unter dem Lärm St. Foixs Stimme, sie schrie laut, die Thüre des Zimmers wurde aufgerissen und er erschien, ganz vom Blut entstellt, und von einigen Mördern verfolgt. Blanka sah und hörte nichts mehr, ihr Kopf schwindelte, ihr Blick erlosch und sie fiel sinnlos in die Arme des Räubers, der sie fest gehalten hatte.
Als sie wieder zu sich selbst kam, sah sie bei dem dunkeln Lichte, daß sie noch in demselben Zimmer war, allein weder der Graf, noch St. Foix, noch sonst jemand war um sie, und sie blieb eine Zeitlang in stummer Betäubung. Bald aber kehrten die schrecklichen Bilder der Vergangenheit zurück, sie wollte aufstehn um ihre Freunde zu suchen, als ein Winseln in ihrer Nähe, sie an St. Foix und an den Zustand, worinn er herein gekommen war, erinnerte. Sie sprang plötzlich von der Erde auf, und sah nicht weit von sich einen Körper auf der Erde ausgestreckt liegen, und erkannte bei dem Schimmer des Lichts die bleichen und verstellten Züge des St. Foix. Er war sprachlos, seine Augen halb geschlossen, und kalter Schweiß bedeckte die Hand, die sie in der Angst der Verzweiflung ergriffen hatte. Während sie ihn vergebens bei Namen rief und um Hülfe schrie, trat jemand herein. Es war nicht ihr Vater, aber — Ludovico! — Er hielt sich kaum damit auf sie anzusehn, verband sogleich des Chevaliers Wunden und lief nach Wasser, da er sah, daß St. Foix wahrscheinlich nur aus Blutverlust in Ohnmacht gefallen war. Kaum aber war er fort, als Blanka jemand anders heran kommen hörte, halb ausser sich vor Furcht sah sie den Schein einer Fackel und sogleich erschien der Graf mit erschrocknem Gesicht und athemlos vor Ungeduld und rief seine Tochter. Bei dem Ton seiner Stimme sprang sie auf und lief in seine Arme; er ließ das blutige Schwerdt aus seiner Hand fallen, drückte sie vor Entzücken an sich, und fragte nach St. Foix, der jetzt einige Lebenszeichen von sich gab. Ludovico kam bald mit Wasser und Brantwein zurück, und Blanka sah endlich den Chevalier die Augen aufschlagen und hörte ihn schwach nach ihr fragen. Allein ihre Freude darüber, wurde sogleich durch ein neues Schrecken unterbrochen, als Ludovico sagte, es würde nothwendig seyn, den Herrn St. Foix sogleich fortzuschaffen, »denn die Banditen, Herr Graf« — setzte er hinzu — »wurden schon vor einer Stunde erwartet, und werden uns gewis finden, wenn wir länger zögern. Sie wissen, daß ihre Kameraden nur in der höchsten Noth in das helle Horn stoßen, und es schallt Meilen weit. Steht jemand Wache am großen Thore?«
»Niemand«, antwortete der Graf: »meine übrigen Leute haben sich zerstreut, ich weiß kaum wohin. Geh Ludovico und bringe sie zusammen; geh doch selbst heraus, ob du nicht Maulesel trappen hörst.«
Ludovico eilte fort und der Graf überlegte, auf welche Art man den St. Foix wegschaffen sollte, der die Bewegung des Reitens unmöglich ertragen konnte, wenn er auch Kräfte genug gehabt hätte, sich im Sattel zu halten.
Während der Graf Blanken erzählte, daß die Banditen, die sie in der Festung gefunden hatten, im Kerker eingesperrt wären, sah Blanka, daß er selbst verwundet war, und daß er den linken Arm nicht brauchen konnte, allein er lächelte über ihre Angst, und versicherte, daß die Wunde nicht gefährlich wäre.
Des Grafen Leute, zwei ausgenommen, die am Thore Wache hielten, erschienen nun, und bald nach ihnen Ludovico. »Mich dünkt, ich höre Maulesel im Thal, allein das Rauschen des Stroms läßt mich nicht recht unterscheiden; doch habe ich etwas mitgebracht, das dem Chevalier gut thun wird«, setzte er hinzu und zeigte auf eine an zwei langen Stangen befestigte Bärenhaut, die dazu eingerichtet schien, die in den Scharmützeln verwundeten Kameraden der Räuber nach Hause zu bringen. Ludovico breitete sie auf der Erde aus, legte einige Ziegenfelle darauf und machte eine Art von Bette, worauf sie den Chevalier sanft legten, und die Stangen den Führern auf die Schulter gaben, auf deren Fußtritt man sich am besten verlassen konnte. Einige von des Grafen Bedienten waren auch verwundet, aber nicht gefährlich, und der ganze Zug folgte nun der Tragbahre an das große Thor. Als sie durch den Saal giengen, hörten sie in einiger Entfernung ein lautes Lärmen, worüber Blanka in Schrecken geriethe. »Es sind nur die Schurken im Kerker«, sagte Ludovico. »Sie scheinen ihn aufzusprengen«, erwiederte der Graf. »Nicht doch«; versetzte Ludovico, »die Thüre ist von Eisen; wir haben nichts von ihnen zu befürchten, aber lassen Sie mich voraus, um auf den Wall zu sehn.«
Sie folgten ihm schnell und fanden ihre Maulesel vor dem Thore grasen; sie horchten ängstlich, vernahmen aber keinen Laut, ausser dem Strome und dem Morgenlüftchen, das zwischen den Zweigen der alten Eiche pfif; mit Freuden sahen sie den ersten Hauch der Morgendämmerung auf den Bergspitzen anbrechen. Ludovico übernahm es, ihr Führer zu seyn, und brachte sie auf einem gemächlichern Wege als sie herauf gekommen waren, in das Thal. »Wir müssen jenen Weg nach Osten vermeiden, sonst möchten wir auf die Räuber stoßen, die des Wegs zurückkommen werden.«
Die Reisenden kamen bald aus dem engen Thale in ein andres, das nach Nordwesten streckte. Das Morgenlicht auf den Bergen wurde nun immer heller, und lies allmählich die grün belaubten Hügel, die den krummen Fuß der Klippen einfaßten, hervorgehn. Die Gewitterwolken hatten sich zertheilt und nur einen heitern Himmel hinterlassen. Das frische Lüftchen und der Anblick des durch den Regen erfrischten Grüns erheiterten Blanken. Bald gieng die Sonne auf, und die träufelnden Felsen mit den Gesträuchen, die ihre Gipfel einfaßten und manches Wäldchen unten funkelten, in ihrem Strahl. Ein Kreis von Nebel floß längs dem Thale, allein das Lüftchen trieb ihn vor den Reisenden hin und die Sonnenstrahlen zogen ihn allmählich zum Gipfel der Berge hinauf. Sie hatten ohngefähr eine halbe Meile zurückgelegt als St. Foix über äußerste Ermattung klagte. Sie hielten an, um ihm etwas erfrischendes zu geben, und die Träger ruhen zu lassen. Ludovico hatte einige Flaschen ächten spanischen Wein von der Festung mitgenommen, die jetzt eine wahre Herzstärkung nicht nur für St. Foix, sondern für die ganze Gesellschaft waren. Ihm gab es eigentlich nur für den Augenblick Linderung; es nährte das Fieber, das in seinen Adern brannte, und er konnte in seinem Gesichte weder den Schmerz, den er litte, noch den Wunsch unterdrücken, daß sie das Wirthshaus bald erreichen möchten, wo sie die vergangne Nacht zuzubringen sich vorgesetzt hatten.
Während sie so unter dem Schatten der dunkelgrünen Fichten ruhten, bat der Graf Ludovico, ihm kurz zu erzählen, auf welche Art er aus dem nördlichen Zimmer verschwunden, wie er in die Hände der Banditen gekommen sey, und wie er im Stande gewesen, dem Grafen und seiner Familie jetzt einen so wichtigen Dienst zu leisten: denn ihm schrieb er mit Recht ihre gegenwärtige Befreiung zu. Ludovico wollte ihm gehorchen, als sie plötzlich den Wiederhall eines Pistolenschusses aus dem Wege den sie gekommen waren, hörten, und erschrocken aufstanden um eilends ihren Weg fortzusetzen.
Emilie litt noch immer große Angst um Valancourts Schicksal. Therese hatte endlich einen Boten ausfündig gemacht, dem sie ihre Bestellung an den Verwalter auftragen konnte und ließ ihr sagen, daß er den folgenden Tag zurückkommen würde. Emilie versprach, zu ihr in die Hütte zu kommen, da Therese zu lahm war, um den Weg zu ihr zu machen.
Sie machte sich gegen Abend mit einer traurigen Vorahndung für Valancourt, ganz allein auf den Weg; vielleicht trug der trübe Himmel noch mehr bei, sie nieder zu schlagen. Es war ein grauer Herbstabend gegen das Ende der Jahrszeit, dicker Nebel hüllte die Berge ein und ein scharfes Lüftchen, das zwischen den Buchenwäldern pfif, bestreute ihren Weg mit einigen der letzten gelben Blätter, die sich im Winde kräuselten, und indem sie das Absterben des Jahres verkündigten, ihrer Seele ein trauriges Bild von Zerstörung gaben und ihr Valancourts Tod anzukündigen schienen. Sie empfand in der That mehr als einmal eine so starke Ahndung davon, daß sie mehrmals im Begriff stand, zurückzukehren, weil sie sich unfähig fühlte, die Bestätigung zu ertragen.
Indem sie traurig weiter gieng, die langen Säulen von Dünsten ansah, die zum Himmel aufstiegen, und die Schwalben beobachtete, die gegen den Wind kämpften, jetzt zwischen stürmischen Wolken verschwanden und dann auf einen Augenblick in Kreisen auf der ruhigern Luft hervorgiengen, glaubte sie die Trübsale und Abwechslungen ihres vergangnen Lebens in diesen vorübergehenden Bildern zu erblicken. So hatte sie das letzte Jahr hindurch auf der stürmischen See des Unglücks gekämpft und nur Zwischenzeiten der Ruhe gekannt, wenn anders eine bloße Verzögerung des Uebels Ruhe genannt werden konnte. Und nun, da sie so vielen Gefahren entkommen, unabhängig von denjenigen, die sie so lange unterdrückten, geworden und in Besitz eines großen Vermögens gekommen war, jetzt, da sie mit Recht Glückseeligkeit hätte erwarten können, sah sie sich weiter davon entfernt als je. Sie würde sich selbst der Schwäche und des Undanks angeklagt haben, daß sie das Gefühl des mancherlei Guten, das sie besas, durch das Gefühl eines einzigen Unglücks so ganz überwinden ließ, hätte dies Unglück allein sie gerührt; allein wenn sie Valancourt selbst als lebend beweinte, so hatten sich Thränen des Mitleids in die des Kummers gemischt, und während sie ein menschliches Wesen beklagte, das zum Laster, und folglich zum Elend herabgesunken war, so heischten Vernunft und Menschlichkeit diese Thränen und sie hatte noch nicht Stärke genug erlernt, um sie von den Thränen der Liebe zu trennen, in diesen Augenblicken aber war es nicht die Gewißheit seiner Schuld, sondern die Besorgniß seines Todes, eines Todes den sie zwar ohne ihr Verschulden, aber dennoch veranlaßt hatte, die sie so sehr niederbeugte. Diese Furcht stieg, so wie sie dem Mittel, sie zu vergewissern näher kam, und als sie Theresens Hütte liegen sah, war sie so ganz ausser Fassung und von aller Entschlossenheit verlassen, daß sie sich auf einer Bank am Wege niedersetzen mußte. Der Wind, der dumpf zwischen den hohen Zweigen über ihr pfif, schien ihrer melancholischen Einbildungskraft die Töne ferner Klage herbeizuführen und in den Pausen des Sturms wähnte sie immer den schwachen und fernen Laut der Noth zu hören. Ein aufmerksamers Beobachten überzeugte sie bald, daß dies nur Phantasie war, allein die zunehmende Dunkelheit, die den Tag plötzlich schließen zu wollen schien, mahnte sie, sich fortzubegeben und sie gieng mit schwankenden Schritten auf die Hütte zu. Sie sah durchs Fenster die freundliche Flamme eines kleinen Feuers und fand Theresen schon in der Thüre, um sie zu erwarten.
»Es ist ein kühler Abend, Fräulein«, sagte sie. »Die Stürme kommen heran, und ich glaube, daß Ihnen ein Feuer angenehm seyn würde. Setzen Sie sich doch hier zum Kamin.«
Emilie dankte ihr für diese Aufmerksamkeit, sie sah ihr ins Gesicht, auf welchen das Feuer einen Schimmer warf, und sank, über den Ausdruck desselben so sehr erschrocken, daß sie nicht im Stande war zu sprechen, mit einem Gesichte voll Schmerzens in ihren Stuhl zurück, daß Therese sogleich die Ursache begrif, doch schwieg sie. »Ach«, sagte Emilie endlich, »ich brauche wohl nicht nach dem Erfolg Ihrer Erkundigung zu fragen; ihr Schweigen und dieser Blick erklären es deutlich genug — er ist todt.«
»Ach mein liebes junges Fräulein«, erwiederte Therese mit Thränen in den Augen — »diese Welt ist aus Elend zusammen gesetzt; die Reichen haben so gut ihren Antheil, als die Armen; allein wir alle müssen zu ertragen suchen, was der Himmel auflegt.«
»Er ist also todt!« fiel Emilie ein, »Valancourt ist todt!«
»Ach schon seit vielen Tagen, fürchte ich«, erwiederte Therese.
»Sie fürchtet es«, sagte Emilie, »fürchtet sie es würklich nur?«
»Ach ja Fräulein, ich fürchte es nur allzusehr. Weder der Verwalter noch irgend jemand von der Familie zu Epourville hat von ihm gehört, seit er Languedoc verlies; der Graf ist sehr betrübt seinetwegen, denn er sagte, daß er immer pünktlich im Schreiben gewesen wäre, daß er aber keine Zeile von ihm erhalten hätte, seit er aus Languedoc gereist ist: er wollte vor drey Wochen schon zu Hause seyn, da er aber nichts von sich hat hören und sehen lassen, so fürchten sie, daß ihm ein Unglück zugestoßen ist. Ach! daß ich so lange leben mußte, um seinen Tod zu beweinen! Ich bin alt und hätte sterben können ohne vermißt zu werden, aber er« — Emilien wurde nicht wohl, sie foderte Wasser; Therese über den Ton ihrer Stimme erschrocken, eilte ihr zu Hülfe und fuhr fort, während sie das Wasser an ihre Lippen hielt. »Mein theuerstes junges Fräulein, ziehen Sie sichs nicht so sehr zu Herzen; vielleicht lebt der Chevalier trotz alle dem, und ist gesund. Lassen Sie uns das beste hoffen!«
»O nein, ich kann nicht hoffen«, sagte Emilie; »mir sind Umstände bekannt, die keine Hoffnung zulassen. Ich befinde mich jetzt besser, und bin nun im Stande zu hören, was Sie zu sagen hat. Ich bitte Sie, erzähle Sie mir alles, was Sie weiß.«
»Erholen Sie sich ein wenig, gnädiges Fräulein, Sie sehn übel aus.«
»O nein Therese, sage Sie mir alles, ich bitte Sie, weil ich noch im Stande bin es zu hören.«
»Wenn Sie es denn wollen; allein der Verwalter sagte nicht viel, denn Richard meint, er hätte sich gescheut, von Herrn Valancourt zu sprechen; was er erfuhr, war von Gabriel, der es von des Grafen Kammerdiener gehört hat.«
»Was hat er denn gehört?«, fragte Emilie.
»Ja Fräulein, Richard hat ein sehr schlechtes Gedächtniß, und wann ich nicht so viel hin und her gefragt hätte, würde ich wenig erfahren haben. Gabriel und die andern Bedienten sind alle in großer Angst wegen Herrn Valancourts, denn sie lieben ihn alle wie ihren Bruder, weil er immer so gut gegen sie gewesen ist. Wenn eine arme Familie in Noth gewesen ist, so war er immer der erste zu helfen, wenn gleich gewisse Leute nicht weit von ihm, besser dazu im Stande gewesen wären als er. Und denn, sagte Gabriel, war er so höflich gegen jedermann, und ohngeachtet er ein so hohes Ansehn hatte, befahl er niemals so herrisch als andre vornehme Leute, und wurde deswegen gewis nicht geringer geachtet.« »Nein«, sagte Gabriel, »wir achteten ihn deswegen nur desto mehr und würden alle aufs erste Wort vor ihm durchs Feuer gelaufen seyn, lieber als wenn andre Leute uns der vollen Länge nach befehlen.«
Emilie, die es jetzt nicht mehr für gefährlich hielt, Valancourts Lob anzuhören, machte keinen Versuch, Theresen zu unterbrechen, und hörte ihr, obwohl von Schmerz überwältigt, aufmerksam zu. »Der Graf«, fuhr Therese fort, »betrübt sich sehr um ihn, umso mehr, weil er kurz vorher etwas hart mit ihm umgegangen seyn soll. Gabriel sagt, er wüßte von des Grafen Kammerdiener, daß Herr Valancourt zu Paris sehr wild gelebt, und viel Geld durchgebracht hätte, mehr als dem Grafen lieb war, denn er liebt das Geld mehr als den armen Herrn Valancourt, der sich zu seinem Unglück hatte verführen lassen. Er soll um dieser Ursache willen zu Paris ins Gefängniß gekommen seyn, und der Graf hat ihn nicht frei machen wollen, und hat gesagt, er verdiente zu büßen; als der alte Georg der Kellner dies gehört hatte, kaufte er sich gleich einen Knotenstock um nach Paris zu gehen, und seinen jungen Herrn zu besuchen; allein Herr Valancourt soll noch eher wieder zu Haus gekommen seyn. Sie haben alle eine große Freude gehabt, ihn wieder zu sehn, aber er soll sehr traurig ausgesehn haben. Der Graf hat ihm sehr kalt begegnet; und er ist bald darauf nach Languedoc gegangen, und seitdem haben sie nichts wieder von ihm gehört.«
Therese hielt inne, und Emilie seufzte tief, die Augen starr und sprachlos auf die Erde geheftet. Nach einer langen Pause fragte sie, was Therese noch weiter gehört hätte. »Doch warum frage ich«, setzte sie hinzu, »weiß ich nicht schon mehr als genug. O Valancourt, du bist dahin, auf immer dahin, und ich habe dich ermordet!« Diese Worte und der Ausdruck von Verzweiflung auf ihrem Gesicht, beunruhigten Theresen, die nun zu fürchten anfieng, daß der Schrecken über die Nachricht Emiliens Sinne angegriffen hätte. »Fassen Sie sich, mein liebes junges Fräulein«, sagte sie, »und sprechen Sie keine so fürchterlichen Worte aus. Sie sollen Herrn Valancourt ermordet haben, bestes Herz!« Emilie antwortete nur mit einem schweren Seufzer.
»Bestes Fräulein! es bricht mir das Herz, Sie so zu sehn; sehn Sie doch nicht so mit den Augen auf die Erde, und so bleich und traurig.« — Emilie schwieg immer still und schien nichts von allem, was gesagt wurde zu hören. »Wer weiß Fräulein«, fieng Therese endlich an, »ob nicht Herr Valancourt doch noch frisch und munter ist.«
Bei seinem Namen schlug Emilie die Augen auf und heftete sie starr auf Theresen, als gäbe sie sich Mühe zu verstehn, was gesagt wurde. »Ja, mein liebes Fräulein«, sagte Therese, die ihre nachdenkende Miene unrecht verstand, »Herr Valancourt ist vielleicht noch frisch und gesund!«
Bei der Wiederholung dieser Worte verstand Emilie ihre Bedeutung, allein statt die gewünschte Würkung hervorzubringen, schienen sie nur ihren Schmerz zu erhöhen. Sie stand schnell vom Stuhl auf, gieng in dem kleinen Zimmer mit schnellen Schritten auf und ab, seufzte oft tief, schlug in die Hände und schauderte zusammen.
Therese suchte noch immer mit einfältiger aber wohlgemeinter Liebe sie zu erheitern; sie legte mehr Holz an, schürte es in hellere Flamme, fegte den Kamin ab, rückte den Stuhl, den Emilie verlassen hatte, auf eine wärmere Stelle, und holte dann aus einem Wandschranke eine Flasche Wein hervor. »Es ist ein kalter, stürmischer Abend, Fräulein, kommen Sie doch näher zum Feuer und trinken Sie ein Glas von diesem Weine. Es wird Sie laben, wie es mich oft gelabt hat, denn es ist kein Wein, wie man alle Tage bekommt; es ist ächter Languedoc, und die letzte von sechs Flaschen, die Herr Valancourt mir schickte, ehe er aus Gasconien nach Paris gieng! Ich habe sie immer als Herzstärkung gebraucht und nie davon getrunken ohne an ihn zu denken. Ach ich habe oft genug an ihn gedacht, den armen jungen Herrn, denn er gab mir dies doch zur Zuflucht — Gewis ist er bei meinem seeligen Herrn im Himmel, wenn je ein Heiliger darin war.«
Theresens Stimme bebte; sie weinte und stellte die Flasche hin, unvermögend das Glas einzuschenken. Ihr Schmerz schien Emilien von ihrem eignen abzuziehn; sie gieng auf sie zu, stand aber still und wandte sich plötzlich weg, als wenn die Betrachtung sie überwältigte, daß es Valancourt war, um den Therese klagte.
Während sie noch im Zimmer auf und abgieng, hörte man den stillen, sanftern Laut einer Hoboe oder Flöte sich in den Wind mischen; der süße Ton traf Emiliens Gefühl, sie wurde aufmerksam; die zärtlichen Töne verloren sich im Sturme und kehrten dann mit einem klagenden Ausdruck, der ihr ans Herz drang, zurück.
»Ach« sagte Therese, »das ist unsers Nachbars, Richards Sohn, der auf der Flöte spielt; es ist kläglich genug, eben jetzt solche bewegliche Musik zu hören.« Emilie weinte fort ohne zu antworten. »Weinen Sie doch nicht so junges Fräulein, und trinken Sie ein Glas Wein um dessentwillen, der ihn gab. Kosten Sie ihn um Herrn Valancourts willen, es ist die letzte Flasche.« Emilie setzte zitternd das Glas nieder und brach in lautes Schluchzen aus — ein Klopfen an der Thüre schreckte sie auf. Sie bat Theresen, niemand herein zu lassen, besann sich aber gleich, daß es ihr Bediente seyn würde, den sie nach bestellt hatte, und suchte ihre Thränen zu troknen, während Therese die Thüre aufmachte.
Eine Stimme, die aussen sprach, machte Emilien aufmerksam. Sie horchte auf, sah nach der Thüre und erkannte bei der hellen Flamme, die vom Feuer schlug — Valancourt!
Bei seinem Anblick sprang Emilie vom Stuhl auf, zitterte, fiel wieder zurück, und verlor das Bewußtseyn von allem was um sie war.
Ein Geschrei von Theresen sagte nun Valancourt, daß sie ihn erkannte: aber seine Aufmerksamkeit fiel sogleich von ihr auf die Person, die er von einem Stuhle am Feuer fallen sah. Er eilte ihr zu Hülfe und sah, daß er — Emilien aufhob. Ein unbeschreibliches Gefühl ergrif ihn, so unerwartet den Gegenstand zu treffen, von dem er sich auf ewig getrennt zu haben glaubte; sie nun bleich und leblos in seinen Armen zu sehn — Die innre Angst, womit er sie betrachtete, verwandelte sich sogleich in einen Ausdruck vermischter Freude und Zärtlichkeit, als sie die Augen aufschlug, als sein Auge dem ihrigen begegnete, und er sie wieder aufleben fühlte. Er konnte nur ihren Namen ausrufen und sie vergas in diesen ersten Augenblicken, die auf den Schmerz über seinen vermeinten Tod folgten, jeden Fehler, der ehemals ihren Unwillen erregen mußte — sie sah nur Valancourt, wie er damals erschien, als er ihre erste Liebe gewann und fühlte nur Regungen von Höflichkeit und Freude. Ach! diese waren nur der Sonnenschein einiger kurzen Augenblicke. Bittre Erinnerungen stiegen gleich Donnerwolken vor ihrer Seele auf und verdunkelten das idealische Bild, sie sah wiederum Valancourt — entwürdigt, unwerth der Achtung und Zärtlichkeit, die sie ihm ehemals geschenkt hatte — ihr Geist erbebte, sie zog ihre Hand zurück und wandte sich ab, um ihren Schmerz zu verbergen; während er noch mehr beunruhigt und verlegen, schweigend da stand.
Ein Gefühl von dem, was sie sich selbst schuldig war, hielt ihre Thränen zurück, und lehrte sie bald die Regungen kämpfender Freude und Schmerzen in ihrem Herzen zu unterdrücken. Sie stand auf, dankte ihm für die Hülfe die er ihr geleistet und sagte Theresen gute Nacht. Als sie die Hütte verließ, bat Valancourt, der plötzlich wie aus einem Traume zu erwachen schien, mit einer Stimme, die dringend um Mitleid flehte, nur um einige Augenblicke Gehör. Emiliens Herz flehte vielleicht eben so stark, allein sie hatte Entschlossenheit genug, diesem Herzen sowohl, als Theresens ungestümen Bitten, daß sie sich nicht allein in der Dunkelheit nach Hause wagen sollte, zu wiederstehn, und hatte bereits die Thüre der Hütte geöfnet, als der Abend-Sturm sie nachzugeben zwang.
Still und verlegen kehrte sie zum Feuer zurück, während Valancourt mit steigender Bewegung im Zimmer auf und abgieng, als wünschte und fürchtete er zu sprechen — und Therese ohne Rückhalt ihre Freude und Verwundrung, ihn zu sehen, bezeugte.
»Ach bester gnädiger Herr«, sagte sie, »ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nicht so erschrocken und gefreut. Wir waren in großer Noth ehe Sie kamen, denn wir glaubten, Sie wären todt und sprachen und jammerten eben über Sie, als Sie an die Thüre klopften. Mein junges Fräulein weinte, als ob ihr das Herz springen wollte.«
Emilie gab Theresen einen unwilligen Blick, ehe Sie aber etwas sagen konnte, rief Valancourt von dem, was er gehört hatte, durchdrungen aus: »O meine Emilie! bin ich Ihnen würklich noch werth! Haben Sie würklich eine Thräne um mich vergossen? O Himmel! Sie weinen — Sie weinen jetzt!«
»Therese hat Ursache, sich mit Dankbarkeit an Sie zu erinnern, Herr Valancourt« sagte Emilie mit angenommener Zurückhaltung und bemühte sich, ihre Thränen zu unterdrücken, »und sie war sehr bekümmert, weil sie lange nichts von Ihnen gehört hatte. Erlauben Sie mir, Ihnen ebenfalls für die Güte zu danken, die Sie ihr bewiesen haben, und hinzuzusetzen, daß sie nunmehr, da ich selbst an Ort und Stelle bin, keine neue Verpflichtung von Ihnen annehmen darf.«
»Emilie!« sagte Valancourt, der seiner Bewegung nicht länger Herr war, »können Sie so dem Manne begegnen, den Sie einst Ihrer Hand würdig glaubten! — dem so begegnen, der Sie geliebt, um Ihrentwillen so viel gelitten hat! Doch was sage ich? — Verzeihn Sie mir! verzeihn Sie, Fräulein St. Aubert! ich weiß nicht was ich rede. Ich kann keinen Anspruch mehr auf Ihr Andenken machen, ich habe alle Rechte auf Ihre Achtung, auf Ihre Liebe verscherzt. Doch nein, ich kann nicht vergessen, daß ich einst Ihre Neigung besas, obgleich es mein schwerster Kummer ist, zu wissen, daß ich sie verloren habe. Warum sage ich Kummer? das ist ein zu sanfter Name!«
»Das hör einer doch!« sagte Therese, die Emiliens Antwort zuvor kam. »Sprechen da von ehmals lieb gehabt haben. Gewis hat mein liebes junges Fräulein Sie noch jetzt lieber als irgend jemand auf der Welt, wenn sie es gleich läugnen will.«
»Das ist nicht auszuhalten!« sagte Emilie, »Therese, Sie weis nicht was Sie sagt. Wenn Ihnen meine Ruhe lieb ist, so werden Sie mir die Verlängerung dieses peinlichen Zustandes ersparen.«
»Ich ehre Ihre Ruhe zu sehr, um sie absichtlich zu stören«, erwiederte Valancourt, in dessen Brust Noth und Zärtlichkeit kämpften, »und will nicht so unbescheiden seyn, mich aufzudrängen. Ich wollte Sie um einige Augenblicke Gehör bitten — allein ich weiß würklich nicht wozu. Sie machen sich nichts mehr aus mir und es würde mich nur noch tiefer herabsetzen, ohne Ihr Mitleid zu erregen, wenn ich Ihnen mein Leiden erzählte. Aber ich bin sehr unglücklich gewesen — ach Emilie ich bin in der That sehr unglücklich!« — setzte er mit einer von Schmerz wieder weich gemachten Stimme hinzu.
»Was, mein bester junger Herr wollte in diesem argen Regen heraus gehn«, sagte Therese. »Nein, nicht einen Schritt. Wie doch vornehme Leute ihr Glück so von sich stoßen können! Wenn sie geringe Menschen wären, so würde alles dies nicht seyn. Von Unwürdigkeit zu reden, und sich nicht um einander zu bekümmern, da ich doch weiß, daß kein so gutherziger Herr und Fräulein in der ganzen Provinz sind — keine, die sich nur halb so sehr lieben, wenn man die Wahrheit sagen soll.«
Emilie stand im höchsten Verdrusse von ihrem Stuhl auf. »Ich muß gehn«, sagte sie, »der Sturm ist vorüber.«
»Bleiben Sie Emilie, bleiben Sie, Fräulein St. Aubert«, sagte Valancourt, alle seine Entschlossenheit aufbietend. »Ich will Sie nicht länger mit meiner Gegenwart quälen. Vergeben Sie mir, daß ich Ihnen nicht früher gehorcht, und wenn Sie können, so bemitleiden Sie zuweilen einen Menschen, der mit Ihnen alle Hoffnung auf Ruhe und Glück verloren hat. Mögen Sie glücklich seyn, Emilie, so elend ich auch bleibe, so glücklich, wie meine heissesten Wünsche es ersehnen.«
Er stammelte bei den letzten Worten und sein Gesicht veränderte sich, während er mit einem Blick voll unaussprechlicher Zärtlichkeit und Schmerzens sie einen Augenblick anstaunte und denn die Hütte verlies.
»Lieber Himmel«, rief Therese und folgte ihm an die Thüre, »Herr Valancourt es regnet ja! Was ist das für eine Nacht, um ihn heraus zu stoßen! Es wird ihnen gewiß den Tod bringen, und bis jetzt haben Sie über seinen vermeinten Tod geweint. Man mag wohl sagen, daß junge Frauenzimmer sich in einer Minute verändern, wie man eine Hand umdreht!«
Emilie gab keine Antwort, denn Sie hörte nicht was gesprochen wurde; sie sas im Kummer und Nachdenken verloren auf ihrem Stuhl beim Feuer und ihre starren Augen sahen noch immer Valancourts Bild.
»Herr Valancourt hat sich sehr zu seinem Nachtheil verändert, Fräulein«, sagte Therese: »er sieht so mager und so niedergeschlagen aus gegen sonst, und trägt seinen Arm in einer Binde.«
Emilie sah bei diesen Worten auf, sie hatte den letzten Umstand nicht bemerkt, und zweifelte nun nicht länger, daß Valancourt den Schuß von ihrem Gärtner zu Thoulouse erhalten hätte. Mit dieser Ueberzeugung kehrte ihr Mitleid für ihn zurück und sie machte sich selbst Vorwürfe, ihn während des Gewitters aus der Hütte gelassen zu haben.
Bald darauf kam Emiliens Bedienter mit dem Wagen, sie verwies Theresen noch ihr unbedachtsames Reden gegen Valancourt, band ihr scharf ein, sich nie wieder Winke solcher Art gegen ihn entfallen zu lassen, und begab sich traurig und gedankenvoll nach Hause.
Valancourt war nach einem kleinen Wirthshause im Dorfe zurückgekehrt, wo er nur wenige Minuten vor seinem Besuch in Theresens Hütte, von seiner Reise von Thoulouse nach dem Gute des Grafen Duvarney angelangt war. Er war noch nicht dort gewesen seit er Emilien zu Chateau Le Blanc Lebewohl sagte. Er zögerte noch lange in der Nachbarschaft und konnte sich nicht entschließen einen Ort zu verlassen, der den theuersten Gegenstand seines Herzens in sich schloß. Es gab in der That Augenblicke, wo Schmerz und Verzweiflung ihm eingaben, wiederum vor Emilien zu erscheinen, und seiner zerrütteten Umstände ungeachtet, seine Bewerbung zu erneuern. Noth aber und die Zärtlichkeit seiner Liebe, die den Gedanken nicht ertragen konnte, sie mit in sein Unglück zu verwickeln, siegte endlich so weit über seine Leidenschaft, daß er diesen verzweifelten Vorsatz aufgab, und Chateau Le Blanc verließ. Seine Phantasie aber wandelte noch immer zwischen den Scenen seiner frühern Liebe, und auf seinem Wege nach Gasconien, machte er einen Stillstand zu Thoulouse, wo er noch verweilte, als Emilie ankam, und seine Schwermuth in dem Garten, wo er ehmals so viele glückliche Stunden mit ihr hingebracht hatte, verbarg und nährte. Oft dachte er mit fruchtlosen Kummer an den Abend vor ihrer Abreise zurück, wo sie ihn so unerwartet auf der Terrasse sah, und suchte jedes Wort, jeden Blick, der ihn damals bezauberte, in sein Gedächtniß zurückzurufen; die Gründe, womit er sie von der Reise abzuhalten suchte, die Zärtlichkeit ihres letzten Lebewohls. In solchen melancholischen Träumereyen war er versunken, als Emilie ihm unerwartet den Abend nach ihrer Ankunft zu Thoulouse auf eben dieser Terrasse erschien. So groß auch seine Bewegung war, überwand er doch die erste Eingebung der Liebe so weit, daß er sich enthielt sich ihr zu erkennen zu geben, und plötzlich den Garten verließ. Allein immer noch schwebte die Erscheinung, die er gesehn hatte, vor seiner Seele; er fühlte sich unglücklicher als zuvor und der einzige Trost seines Kummers war, in der Stille der Nacht dahin zurückzukehren — der Spur zu folgen, die ihr Fuß den Tag über eingedrückt hatte, und die Wohnung, wo sie ruhte, zu bewachen. Auf einer dieser traurigen Wanderungen, verwundete ihn der Gärtner, der ihn für einen Räuber hielt, in den Arm und er wurde dadurch unter den Händen eines Wundarztes, so lange in Thoulouse aufgehalten, ohne auf sich selbst zu achten, ohne sich um seine Freunde zu bekümmern, deren unfreundliches Betragen ihn glauben ließ, daß ihnen sein Schicksal gleichgültig wäre, blieb er ohne sie von seinem Zustande zu benachrichtigen. Sobald er wieder so weit hergestellt war, um die Reise unternehmen zu können gieng er auf seinem Wege nach Esturain über La Vallée, theils um von Emilien zu hören und ihr wieder nahe zu seyn, theils um sich nach dem Zustande der alten Therese zu erkundigen, deren kleine Pension man wie er vermutete, eingezogen hatte; diese Nachfrage brachte ihn in die Hütte, wo er so unerwartet Emilien fand.
Diese überraschende Zusammenkunft, die ihm zugleich die Zärtlichkeit ihrer Liebe, und die Stärke ihrer Entschlossenheit sehn lies, erneuerte alle Bitterkeit der Verzweiflung, die er bei ihrer vorigen Trennung empfand, und die keine Anstrengung der Vernunft ihn in diesen Augenblicken zu überwinden lehren konnte. Ihr Bild, ihr Blick, der Ton ihrer Stimme, stand eben so lebendig vor seiner Phantasie, als sie seinen Sinnen erschienen waren, und verbannte aus seinem Herzen jedes andre Gefühl ausser dem der Liebe und Verzweiflung.
Er gieng noch denselben Abend in Theresens Hütte zurück, um von Emilien reden zu hören, und an dem Orte zu seyn, wo sie so kürzlich gewesen war. Die Freude der alten Therese, ihn wieder zu sehn, verwandelte sich sogleich in Kummer, als sie bald seinen wilden, irrenden Blick und dann wieder die düstre Schwermuth auf seinem Gesichte sah.
Nachdem er lange ihren Erzählungen von Emilien zugehört hatte, gab er ihr beinahe alles Geld, das er bei sich trug, so sehr sie sich auch weigerte es anzunehmen, weil Emilie sie mit allem versorgt hätte. Er zog darauf noch einen Ring von Werthe von seinem Finger und trug ihr feierlich auf, ihn Emilien zu geben, und als die letzte Gunst von ihr zu erbitten, daß sie ihn um seinetwillen behalten, und sich dabei zu Zeiten des unglücklichen Gebers erinnern möchte.
Therese weinte als sie den Ring erhielt, aber mehr aus Sympathie als aus Vorahndung eines Uebels. Ehe sie noch antworten konnte, verließ Valancourt schnell die Hütte. Sie folgte ihm bis an die Thüre, rief ihn bei Namen und bat ihn zurückzukehren; allein sie erhielt keine Antwort und sah ihn nicht wieder.
Am folgenden Morgen, als Emilie in dem Zimmer an der Bibliothek sas und über der Scene der vergangenen Nacht brütete, stürzte Annette wild ins Zimmer und sank athemlos in einen Stuhl. Es dauerte einige Zeit, ehe sie auf Emiliens ängstliche Fragen über die Ursache ihrer Bewegung antworten konnte: endlich aber rief sie: »ich habe seinen Geist gesehn, Fräulein, seinen Geist!«
»Von wem sprichst du«, sagte Emilie mit äusserster Ungeduld.
»Es kam vom Saal herein, Fräulein«, fuhr Annette fort, »als ich durchs Zimmer gieng.«
»Von wem sprichst du denn«, wiederholte Emilie, »wer kam aus dem Saale?«
»Er war gerade so gekleidet, als ich ihn zuletzt gesehn habe«, setzte Annette hinzu. »Ach wer hätte denken sollen.« —
Emiliens Geduld war nun am Ende, und sie war im Begrif ihrem Mädgen ihre thörigten Einbildungen zu verweisen, als ein Bedienter ins Zimmer trat, und ihr sagte, daß ein Fremder mit ihr zu sprechen wünschte.
Es fiel Emilien sogleich ein, daß dieser Fremde Valancourt seyn würde, und sie ließ durch den Bedienten zurück sagen, daß sie beschäftigt wäre und keinen Besuch annehmen könne.
Der Bediente kam wieder zurück und sagte, der Fremde hätte etwas von Wichtigkeit vorzutragen, worauf Annette, die bisher stumm und staunend da gesessen hatte, aufsprang und rief: »es ist Ludovico!« wobei sie aus dem Zimmer stürzte. Emilie befahl dem Bedienten, ihr zu folgen, und wenn es würklich Ludovico wäre, ihn herein zu führen.
In wenig Minuten erschien Ludovico, von Annetten begleitet, die in der Freude ihres Herzens alle Regeln des Wohlstandes gegen ihre Gebieterin so ganz vergas, daß sie niemand anders zu Worte kommen ließ. Emilie bezeugte ihre Verwundrung und Freude, Ludovico wohlbehalten zu sehn, und die ersten Empfindungen erhöhten sich, als er Briefe von dem Grafen Villefort und Blanken brachte, worin sie ihr letztes Abentheuer und ihre Lage in einem Gasthofe zwischen den Pyrenäen beschrieben, wo sie durch des Herrn St. Foix Krankheit und durch Blankens Unpäslichkeit aufgehalten waren. Blanka setzte hinzu, daß der Baron St. Foix eben angekommen sey, um seinen Sohn auf sein Schloß abzuholen, wo er bis zur völligen Genesung von seinen Wunden bleiben und dann nach Languedoc zurückkommen sollte; daß aber sie und ihr Vater den folgenden Tag zu La Vallée zu seyn dächte. Sie schrieb noch, daß man auf Emiliens Gegenwart bei der Hochzeit rechnete, und bat, sie möchte sich bereit machen, in einigen Tagen mit nach Chateau Le Blanc zu gehn. Was Ludovicos Abentheuer betraf, verwies sie Emilien auf ihn selbst; allein so neugierig auch diese auf die Erzählung war, versagte sie sich doch die Befriedigung bis er einige Erfrischung zu sich genommen, und sich gegen Annetten ausgeplaudert hatte, deren Freude ihn lebendig vor sich zu sehn, nicht größer hätte seyn können, wenn er aus dem Grabe gestiegen wäre.
Emilie las unterdessen die Briefe ihrer Freunde, deren Aeusserung der Achtung und Freundschaft ihren durch den letztern Auftritt zu schärfern Empfindungen des Kummers aufgeregten Herzen ein heilsamer Trost war. Sie konnte die Einladung nach Chateau Le Blanc nicht ausschlagen, so gerne sie auch in den ruhigen Schatten ihrer väterlichen Heimath geblieben wäre, doch glaubte sie auch zuweilen, daß die Veränderung der Scene und die Gesellschaft ihrer Freunde mehr als die Einsamkeit zur Wiederherstellung ihrer Ruhe beitragen würde.
Als Ludovico wieder erschien, bat sie ihn, ihr sein Abentheuer in dem nördlichen Zimmer zu erzählen und ihr zu sagen, auf welche Art er ein Geferte der Banditen geworden war, bei denen der Graf ihn gefunden hatte.
»Sie werden sich erinnern, Madame«, sagte er, »daß in der Nacht, als ich im nördlichen Zimmer wachte, der Graf und sein Sohn mich dahin begleiteten, und daß so lange sie blieben, nicht das mindeste vorfiel. So wie sie fort waren, machte ich mir Feuer und las; ich hatte wohl eine Stunde gesessen, als ich ein Geräusch hörte, und mich rings im Zimmer umsah. Da ich aber nichts weiter merkte, fieng ich wieder an zu lesen und als meine Geschichte zu Ende war, fühlte ich mich schläfrig und nickte ein. Sogleich aber wurde ich durch das Geräusch, das ich zuvor gehört hatte, aufgeweckt; es schien aus der Gegend des Zimmers, wo das Bette stand, zu kommen, und es sey nun daß die Geschichte, die ich gelesen, einen solchen Eindruck auf mich gemacht, oder daß die seltsamen Gerüchte, die man von diesen Zimmern sagte, sich mir eingeprägt hatten, genug als ich wieder nach dem Bette sah, glaubte ich ein menschliches Gesicht zwischen den dunkeln Vorhängen zu erblicken.«
Bei dieser Erwähnung zitterte Emilie und sah sich ängstlich um, weil sie sich an den Anblick erinnerte, den sie selbst mit Dorotheen dort angesehen hatte.
»Ich bekenne«, fuhr Ludovico fort, »daß mich in diesem Augenblicke der Muth verließ, allein ein erneuetes Geräusch zog sogleich meine Aufmerksamkeit von dem Bette ab, und ich hörte deutlich einen Ton, wie das Umdrehn eines Schlüssels im Schlosse, konnte aber zu meinem noch größern Erstaunen keine Thüre gewahr werden, wo der Ton herzukommen schien. Im nächsten Augenblick aber wurde der Vorhang am Bette langsam aufgehoben, und es erschien eine Person dahinter, die aus einer kleinen Thüre in der Wand herein kam. Er stand einen Augenblick als wenn er sich zurückziehen wollte; den Kopf unter den Vorhang gebückt, der den obern Theil seines Gesichts verdeckte, so daß nur die Augen hervorblickten; als er ihn aber höher aufhob, sah ich das Gesicht eines andern Mannes, der hinter ihm stand, und ihm über die Schulter sah. Ich weiß nicht wie es war, allein obgleich mein Degen vor mir auf dem Tische lag, hatte ich nicht die Kraft darnach zu greifen, sondern sas ruhig still und beobachtete sie mit halb geschloßenen Augen als ob ich schliefe. Sie mußten es auch wohl würklich glauben, und überlegten, was sie thun sollten, denn ich hörte sie flüstern und sah, daß sie wohl eine Minute in derselben Stellung blieben, dann aber schien es mir, als wenn ich noch mehr Gesichter in der Dunkelheit hinter der Thüre erblickte, und lauter Flüstern hörte. Sie ließen mich wegen ihrer Absicht nicht lange in Zweifel. Sie drangen alle ins Zimmer, und umringten mich, doch hatte ich vorher mein Schwerdt ergriffen, um mich zu vertheidigen. Aber was vermochte Einer gegen Viere! Sie entwafneten mich bald, und nachdem sie mich gebunden und mir den Mund verstopft hatten, schleppten sie mich durch die geheime Thüre; mein Schwerdt ließen sie auf dem Tische liegen, um wie sie sagten, denjenigen die den andern Morgen herein kommen würden, um nach mir zu sehn, gegen die Gespenster fechten zu helfen. Sie führten mich darauf durch viele enge Gänge, die wie ich glaube, in den Mauren gehauen waren, denn ich habe sie nie vorher gesehn, und verschiedne Stuffen herab, bis wir in die Gewölbe unter dem Schlosse kamen. Hier öfneten sie eine steinerne Thüre, die ich für die Mauer selbst würde gehalten haben, wir giengen noch durch einen langen Gang und einige andre Stuffen in den harten Felsen herunter, wo eine andre Thüre uns in eine Höle brachte. Nachdem wir uns eine zeitlang hindurch gewunden hatten, befand ich mich am Seeufer, am Fuße der Klippen und sah das Schloß über mir. Unten wartete ein Boot, wo die Kerls hinein sprangen und mich mit sich nahmen. Wir erreichten bald ein kleines Schiff, das vor Anker lag. Hier erschienen andre Menschen, die mich an Bord nahmen. Zweie von den Leuten, die mich ergriffen hatten, folgten, und die andern ruderten ans Ufer zurück, während wir unter Seegel giengen. Ich machte bald ausfündig, was dies alles bedeutete, und was für Geschäfte diese Leute im Schlosse trieben. Wir landeten in Roussillon und nachdem wir einige Tage am Ufer verweilt hatten, kamen einige von ihren Kameraden die Berge herab, und schleppten mich mit sich nach der Festung, wo ich blieb, bis der Graf so unerwartet ankam: denn sie hatten gut dafür gesorgt, mir das Weglaufen unterwegs zu benehmen, indem sie mir die Augen verbanden. Allein auch ohne diese Vorsicht würde ich wohl schwerlich durch das wilde Land, das wir durchstreiften, mich nach einer Stadt zurecht gefunden haben. In der Festung wurde ich wie ein Gefangner bewacht, und durfte nie ohne Begleitung herausgehn, so daß ich des Lebens so überdrüßig ward, daß ich mir es oft zu nehmen wünschte.«
Emilie fragte nun, aus welcher Ursache denn diese Leute ihn mit fortgenommen hätten.
»Ich entdekte bald«, erwiederte Ludovico, »daß sie Seeräuber waren, die viele Jahre lang ihren Raub in den Gewölben des Schlosses verborgen hatten, das seiner Lage an der See wegen, so bequem zu ihrer Absicht war. Um alle Entdeckung vorzubeugen, hatten sie den Glauben zu verbreiten gesucht, daß es im Schlosse spüke, und da sie den geheimen Weg nach den nördlichen Zimmern, die seit dem Tode der Marquise verschlossen blieben, entdekt hatten, gelang es ihnen leicht. Die Haushälterin und ihr Mann, die einzigen Personen, die seit einigen Jahren das Schloß bewohnten, wurden durch das seltsame Geräusch, das sie in der Nacht hörten, so erschreckt, daß sie nicht länger darinn bleiben wollten. Das Gerücht wurde in der ganzen Gegend um so leichter geglaubt, weil es hieß, daß die verstorbene Marquise auf eine besondre Art ums Leben gekommen sey, und weil der Marquis nach der Zeit nie wieder auf das Schloß zurückkehren wollte.«
»Aber warum begnügten sich diese Seeräuber nicht mit der Höhle«, sagte Emilie; »warum fanden sie es nöthig, ihren Raub in dem Schlosse nieder zu legen?«
»Die Höhle, mein Fräulein, war jedermann offen«, erwiederte Ludovico, »und sie würden nicht lange unentdeckt darin geblieben seyn, in den Gewölben aber waren sie sicher, so lange das Gerücht, daß es nicht richtig darin zugienge, Glauben fand. So scheint es auch, daß sie um Mitternacht die Beute, die sie auf der See machten, herein brachten und sie so lange verwahrten, bis sie Gelegenheit fanden, sie vortheilhaft los zu werden. Die Seeräuber standen in Verbindung mit Spanischen Schleichhändlern und Banditen, die in den Wildnissen der Pyrenäen hausen und mancherlei Arten von Handel führen, woran niemand denkt, und bei dieser desperaten Bande mußte ich bleiben, bis der Graf ankam. Ich werde nie vergessen, was ich fühlte, als ich ihn zuerst entdeckte — ich gab ihn beinahe verloren; allein ich wußte, daß wenn ich mich sehn ließe, die Banditen ihn erkennen und uns alle ermorden würden, um zu verhüten, daß ihr Geheimniß im Schlosse nicht an den Tag käme. Ich hielt mich also dem Grafen aus dem Gesicht, ließ aber die Räuber nicht aus den Augen und beschloß, wenn sie ihm oder seiner Familie Gewalt drohten, mich zu erkennen zu geben und für unser Leben zu fechten. Bald darauf hörte ich, daß sie einen teuflischen Plan anlegten, die ganze Gesellschaft zu ermorden und zu berauben; ich fand nun Mittel mit einem von des Grafen Bedienten zu sprechen, sagte ihm was vorgieng, und gieng mit ihm zu Rathe, was zu machen wäre. Unterdessen fragte der Graf nach Blanken, deren Abwesenheit ihn beunruhigte; er verlangte sie zu sehn, und da die Banditen ihm unbefriedigende Antworten gaben, wurden der Graf und Herr St. Foix wüthend, so daß wir es nun für Zeit hielten, den Anschlag zu entdecken. Wir liefen ins Zimmer, ich rief: Verrätherei! Herr Graf! vertheidigen Sie sich! — der Graf und der Chevalier zogen sogleich die Degen und wir hatten einen harten Kampf, siegten aber doch am Ende, wie Sie, mein Fräulein aus dem Brief des Grafen bereits gesehn haben.«
»Das ist ein ganz ausserordentliches Abentheuer«, sagte Emilie, »und ich muß Ludovicos Klugheit und Unerschrockenheit das größte Lob beilegen. Doch kann ich mir verschiednes in den nördlichen Zimmern nicht recht erklären. Haben die Banditen wohl nie etwas besonders von diesen Zimmern erzählt?«
»Nein gnädiges Fräulein; ich hörte sie nie von den Zimmern sprechen, ausser um über die Leichtgläubigkeit der alten Haushälterin zu lachen, die einmal nahe dabei war, einen von den Seeräubern zu fangen.«
Eine Röthe überzog Emiliens Wange und sie bat Ludovico ungeduldig, sich zu erklären.
»Als der Räuber eines Nachts im Schlafzimmer war, hörte er jemand durchs andre Zimmer heran kommen, und da er nicht Zeit hatte, durch die Thüre zu entkommen, verbarg er sich geschwind in dem Bette. Hier lag er eine Weile in eben so großer Angst glaube ich als diejenigen die ihn sahn. Gleich darauf kam die Haushälterinn mit noch jemand an das Bette, er glaubte, daß sie kämen um zu untersuchen und, daß er sich nicht anders retten könnte, als wenn er sie durch Schrecken zu verjagen suchte. Er hob die Decke in die Höhe, und als das noch nicht genug war, steckte er das Gesicht heraus, worauf sie beyde davon liefen, als wenn sie den Teufel gesehn hätten, sagte er, so daß er glücklich aus dem Zimmer kam.«
Emilie konnte sich nicht enthalten, über diese Erklärung des Betrugs zu lächeln, der ihr ein so abergläubiges Schrecken verursacht hatte. Es war ihr ein neuer Beweis, welchen Eindruck Kleinigkeiten auf ein Gemüth machen können, das sich einmal von einem Glauben an das übernatürliche hat hinreissen lassen. Doch erinnerte sie sich noch immer mit Schauder der nächtlichen geheimnißvollen Musik, die sich bei Chateau Le Blanc hören ließ, und fragte Ludovico, ob er keine Erklärung darüber geben könnte.
»Ich weiß nur, daß die Banditen keinen Antheil daran haben: denn ich habe sie darüber lachen und sagen hören, daß sie glaubten, der Teufel treibe dort sein Spiel.«
»Aber ich wundre mich nur, Ludovico«, sagte Emilie, »daß diese Seeräuber noch nach der Ankunft des Grafen ihr Wesen forttrieben. Sie mußten doch am Ende entdeckt zu werden fürchten.«
»Ich habe Ursach zu glauben, Fräulein«, erwiederte Ludovico, »daß sie nur so lange bleiben wollten, um ihre Magazine aus den Gewölben fortzuschaffen; da sie aber nur wenige Stunden in der Nacht dazu verwenden konnten, und zu eben der Zeit noch andre Dinge im Schilde führten, so waren die Gewölbe noch nicht halb erledigt, als sie mich wegnahmen. Sie triumphirten gewaltig über diese glückliche Gelegenheit, die abergläubigen Gerüchte, die von den nördlichen Zimmern verbreitet waren, zu bestärken, trugen Sorge, alles so zu lassen, wie sie es gefunden hatten, um den Betrug desto mehr zu befördern, und weideten sich herzlich an der Bestürzung, worin alle Einwohner des Schlosses über mein Verschwinden gerathen würden. Von dieser Zeit an betrachteten sie das Schloß beinahe als ihr Eigenthum, doch hörte ich aus den Reden ihrer Kameraden, daß sie einmal nach der Zeit nahe dabey waren, sich zu verrathen. Da sie eines Nachts wie gewöhnlich, in die nördlichen Zimmer gehn wollten, um das Geräusch zu wiederholen, das solchen Aufruhr unter den Bedienten verursachte, hörten sie in dem Schlafzimmer reden. Der Graf hat mir nachher erzählt, daß er und Heinrich damals im Zimmer waren, und daß sie ein seltsames Winseln hörten, das diese Kerls in ihrer gewöhnlichen Absicht zu erschrecken, aussen vor der Thüre machten. Der Graf gesteht, daß er damals würklich mehr als Befremdung gefühlt hat; weil es aber für die Ruhe seiner Familie nothwendig war, nichts davon zu erwähnen, so schwieg er, und schärfte auch seinem Sohne Stillschweigen ein.«
Emilie begrif nun, warum der Graf den Tag nach seiner Nachtwache in diesen Zimmern so verändert war. Sie fragte Ludovico noch um einige Umstände und schickte ihn dann fort, um zu der Aufnahme ihrer Freunde auf den folgenden Tag Anstalt zu treffen.
Gegend Abend kam Therese, so lahm sie auch war, um den Ring zu überbringen, den Valancourt ihr anvertraut hatte. Emilie wurde tief gerührt, als sie ihn empfieng, denn sie erinnerte sich, daß sie ihn oft in glücklichern Tagen bei ihm gesehn hatte. Doch war sie unwillig, daß Therese ihn angenommen hatte, und weigerte sich durchaus ihn zu nehmen, so ein trauriges Vergnügen es ihr auch gemacht haben würde. Therese bat, stellte vor, beschrieb Valancourts Betrübniß, als er ihr den Ring gegeben hatte, und wiederholte, was er ihr dabei zu sagen auftrug. Emilie konnte ihre Rührung nicht verbergen; sie weinte und blieb in Gedanken verloren.
»Ach mein liebes junges Fräulein«, erwiederte Therese »warum das alles? Ich habe Sie von Kindheit auf gekannt, und es liegt mir gewis so sehr am Herzen, Sie glücklich zu sehn, als wenn Sie mein eignes Kind wären. Herrn Valancourt habe ich freilich nicht so lange gekannt, aber ich habe doch Ursache, auch ihn als meinen Sohn zu lieben. Ich weiß, wie gut Sie einander sind, warum sonst alle dies Weinen und Klagen!« Emilie winkte Theresen mit der Hand, aber diese fuhr fort ohne darauf zu achten. »Und wie ähnlich sind Sie doch einander in Ihrem Wesen und Betragen. Sie würden gewiß das glücklichste Paar in der ganzen Provinz seyn, wenn Sie verheyrathet wären, was hält Sie doch davon ab. Lieber Gott, wenn man so mit ansehn muß, wie die Leute ihr Glück von sich stoßen, und dann weinen und jammern, als wenn es nicht ihre eigne Schuld wäre, und als wenn sie mehr Freude an Weinen und Klagen als an ruhigem Glücke fänden. Es ist gewis eine schöne Sache um die Gelehrsamkeit, wenn aber die Leute nichts bessers daraus lernen, so mag ich schon lieber ungelehrt seyn.«
Alter und lange Dienste hatten Theresen ein Recht gegeben, zu sprechen, allein Emilie suchte doch nun ihrer Redseeligkeit Einhalt zu thun, und obwohl sie die Richtigkeit einiger ihrer Bemerkungen fühlte, fand sie doch nicht für gut, sich über die Ursachen zu erklären, die sie zur Trennung von Valancourt bewogen hatten. Sie sagte nur zu Theresen, daß es ihr sehr unangenehm seyn würde, wenn dieses Gespräch erneuert würde, daß sie Ursachen hätte, so zu handeln, die sie nicht sagen könnte, und daß der Ring mit der Antwort, daß sie ihn schicklicher Weise nicht annehmen könnte, zurückgegeben werden müßte. Zugleich verbot sie Theresen, wenn ihr etwas an ihrer Freundschaft und Zuneigung läge, nie eine Bestellung von Valancourt wieder auszurichten. Therese war betrübt und machte noch einen kleinen Versuch, sie günstiger für Valancourt zu stimmen, allein Emiliens unwillige Miene brachte sie bald zum Schweigen, und sie gieng voll Verwundrung und Betrübniß fort.
Um sich einigermaaßen von den schmerzhaften Erinnerungen, die sich ihr aufdrängten, zu befreien, beschäftigte sich Emilie mit Zurüstungen zu ihrer Reise nach Languedoc. Annette, die ihr dabei half, sprach mit solcher Freude und Zärtlichkeit von Ludovicos glücklicher Zurückkunft, daß Emilie bei sich selbst überlegte, wie sie am besten ihr Glück befördern könnte. Sie nahm sich vor, wenn sie seine Neigung eben so unverändert fände, als die Neigung des einfältigen aber ehrlichen Mädgens, ihr eine Aussteuer zu geben und sie auf einem ihrer Güter ansäßig zu machen. Sie erinnerte sich dabey an ihres Vaters Erbgüter, die er kurz vor seinem Tode an Herrn Quesnel verkaufen mußte, und die sie so oft wieder zu bekommen gewünscht hatte, weil St. Aubert immer beklagt hatte, daß die besten Besitzungen seiner Vorfahren, sein Geburtsort, und Aufenthalt seiner frühern Jahre einer fremden Familie zugefallen wären. Für das Gut zu Thoulouse hatte sie keine besondre Anhänglichkeit, und wünschte, es los zu werden, um ihre väterlichen Güter dafür kaufen zu können, wofern Herr Quesnel sich bewegen ließe, sich davon zu trennen, welches nicht unwahrscheinlich war, da er immer davon sprach, in Italien zu leben.
Am folgenden Tage heiterte die Ankunft ihrer Freunde die trauernde Emilie wieder auf und La Vallée wurde noch einmal der Aufenthalt geselliger Freude und Gastfreiheit. Unpäslichkeit und Schrecken hatten Blanken vieles von ihrer Munterkeit geraubt, doch hatte sie alle einnehmende Simplicität behalten, und war nicht minder reitzend als zuvor, ob sie gleich weniger blühend schien. Das unglückliche Abentheuer auf den Pyrenäen machte, daß der Graf sehnlich wünschte, seine Heymath zu erreichen, er hielt sich nicht viel über eine Woche bei Emilien auf und sie begleitete ihn dann nach Languedoc, indem sie die Sorge für ihr Haus während ihrer Abwesenheit Theresen übertrug. Am Abend vor ihrer Abreise brachte die treue Alte nochmals den Ring von Valancourt und bat ihr Fräulein mit Thränen, ihn doch anzunehmen, denn sie hätte seit dem Abend, wo Valancourt ihn ihr gegeben, nichts von ihm gesehn, und gehört. Ihr Gesicht drückte bei diesen Worten mehr Besorgnis aus als sie zu äussern wagte; allein Emilie unterdrückte ihre eigne Geneigtheit zu fürchten weg, daß er wahrscheinlich zu seines Bruders Aufenthalt zurückgekehrt sey und befahl Theresen den Ring aufzubewahren, bis sie ihn säh, welches diese äusserst ungern zu thun versprach.
Am andern Tage verließ der Graf von Villefort mit Emilien und Blanken La Vallée und erreichte den folgenden Abend Chateau Le Blanc, wo der Graf, Heinrich, und Herr Dúpont, den Emilie zu ihrer Verwundrung daselbst fand, sie mit vieler Freude und Glückwünschungen empfiengen. Sie bemerkte mit Misvergnügen, daß der Graf die Hofnungen seines Freundes noch immer begünstigte, dessen Gesicht verrieth, daß seine Neigung durch die Abwesenheit nicht geschwächt worden war. Den zweiten Nachmittag nach ihrer Ankunft, suchte der Graf auf einem Spatziergange Gelegenheit, das Gespräch auf Herrn Dúponts Hoffnungen zu bringen. Die Gelassenheit, womit sie zuerst seine Vorstellungen anhörte, hintergieng ihn; er fieng an zu glauben, daß ihre Neigung für Valancourt überwunden, und sie endlich geneigt sey, günstig von Herrn Dúpont zu denken. Als sie ihn darauf von seinem Irrthum belehrte, wagte er im Eifer seines Wunsches, die vermeinte Glückseeligkeit zweier Menschen, die er so sehr schätzte, zu befördern, ihr sanft zu verweisen, daß sie durch eine unwürdig verschenkte Leidenschaft das Glück ihrer besten Jahre vergiften ließe.
Da er ihr Stillschweigen und tiefe Niedergeschlagenheit bemerkte, schloß er mit den Worten: »Ich will jetzt nichts weiter sagen, aber ich hoffe, mein theures Fräulein St. Aubert, daß sie nicht für immer einen so wahrhaft schätzbaren Mann als meinen Freund Dúpont verwerfen werden.«
Er ersparte ihr die Mühe zu antworten, und verließ sie etwas unwillig, daß der Graf so hartnäckig für eine Bewerbung sprach, die sie zu wiederholten malen abgeschlagen hatte. Versteckt in die traurigen Betrachtungen, die durch dieses Gespräch in ihr erneuert waren, schlenderte sie fort, bis sie ohne es zu wissen, das Ende des Waldes erreicht hatte, der das St. Claren-Kloster einschloß. Sie beschloß nun, ihren Spatziergang noch etwas weiter auszudehnen, und sich nach der Aebtissin und einigen ihrer Freundinnen im Kloster zu erkundigen.
Sie fand das Sprachzimmer leer, da aber die Abendglocke geläutet wurde, glaubte sie, die Nonnen hätten sich in die Kapelle begeben, und setzte sich einen Augenblick um zu ruhen, ehe sie nach dem Schlosse zurückgieng, wohin die einbrechende Dämmerung sie zu eilen mahnte.
Es waren kaum einige Minuten verstrichen, als eine Nonne eilends herein trat, und nach der Aebtissin fragte. Sie wollte wieder herausgehn, ohne Emilien zu bemerken, als diese sich zu erkennen gab und nun erfuhr, daß eine Messe für Schwester Agnes gehalten werden sollte, die seit einiger Zeit sehr gekränkelt hätte, und nun dem Tode nahe sey.
Die Schwester machte eine schreckliche Beschreibung von Agnes Leiden und von ihren heftigen Anfällen, die jetzt einer so tiefen Niedergeschlagenheit Platz gemacht hatten, daß weder die Gebete ihrer Schwestern noch das Zureden ihres Beichtvaters ihre Seele nur auf einen Augenblick mit einem Strahle des Trostes erheitern konnten.
Emilie hörte diese Erzählung mit theilnehmender Betrübniß an, doch war es zu spät, um sie zu besuchen, oder der Messe beizuwohnen, sie verließ das Kloster nachdem sie der Nonne viele herzliche Grüße an ihre alten Freundinnen aufgetragen hatte, und kehrte voll Nachdenken über die Klippen nach dem Schlosse zurück.
Am folgenden Abend erinnerte der Anblick der Schloßthürme, die zwischen den schattigten Wäldern aufstiegen, Emilien an die Nonne, deren Zustand sie so sehr gerührt hatte. Sie verlangte zu wissen, wie es ihr gienge und beredete Blanken, mit ihr nach dem Kloster zu gehn. Am Thore stand ein Wagen, der nach den schnaufenden Pferden zu urtheilen, eben angekommen war, im Vorhofe aber und in den Kreuzgängen herrschte eine ungewöhnliche Stille, bis sie an der Treppe einer Nonne begegneten, die auf Emiliens Fragen antwortete, daß Schwester Agnes noch lebe, und noch bey Verstande sey, daß man aber glaubte, sie würde die Nacht nicht überstehen. Im Sprachzimmer fanden sie einige Kostgängerinnen, die sich freuten, Emilien zu sehn und ihr viele kleine Vorfälle erzählten, die nur dadurch Interesse für sie hatten, weil sie die Personen gekannt und geliebt hatte. Während dieses Gesprächs trat die Aebtissin herein und bezeugte große Freude, Emilien zu sehn; allein ihr Betragen war ungewöhnlich feierlich und ihre Stirn niedergeschlagen. »Unser Kloster«, sagte sie nach den ersten Begrüßungen, »ist ein wahres Trauerhaus — eine Tochter ist jetzt im Begrif die Schuld der Natur zu bezahlen. Sie haben wohl schon gehört, daß unsre Schwester Agnes in den letzten Zügen liegt?«
Emilie bezeugte stillschweigend ihre Betrübnis.
»Ihr Tod bietet uns eine große und ehrwürdige Lehre dar«, fuhr die Aebtissin fort, »laßt uns sie lesen und Nutzen daraus schöpfen, laßt uns daraus lernen, uns auf die Verändrung vorzubereiten, die unser aller wartet. Sie sind jung und haben es noch in ihrer Macht, sich den Frieden zu sichern, der allen Verstand übertrift — den Frieden des Gewissens. Erhalten Sie ihn sich in ihrer Jugend, damit er im Alter Ihr Trost sey: Denn vergebens ach! und unvollkommen sind die guten Thaten ihrer spätern Jahre, wenn die der frühern böse gewesen sind!«
Emilie wollte sagen, daß sie hofte, gute Thaten wären nie vergebens, allein sie bedachte, daß es eine Aebtissin war, die dieses sagte, und schwieg.
»Agnes letzte Tage«, fuhr die Aebtissin fort, »sind exemplarisch gewesen, möchten sie die Verirrungen ihrer frühern vergüten können! Ihre Leiden sind jetzt schwer! Laßt uns glauben, daß sie ihr dort Frieden erkaufen werden! Ich habe sie bei ihrem Beichtvater und bei einem Herrn gelassen, den sie lange zu sehn wünschte, und der jetzt von Paris angekommen ist, und hoffe, daß diese ihr die Ruhe verschaffen werden, die bis jetzt ihrer Seele gebrach.«
Emilie vereinigte ihren heissen Wunsch mit der Aebtissin.
»Sie hat oft in ihrer Krankheit Sie genannt«, fuhr die Aebtissin fort; »vielleicht würde es ihr zum Troste gereichen Sie zu sehn. Wenn ihr jetziger Besuch sie verlassen hat, so wollen wir zu ihr ins Zimmer gehn, wenn anders der Anblick Sie nicht zu sehr erschüttern wird. Allein wir müssen uns an solche Auftritte gewöhnen, so schmerzhaft sie auch seyn mögen: denn sie sind der Seele heilsam, und machen uns gefaßter, eignes Leiden zu ertragen.«
Emilie wurde ernsthaft und nachdenkend. Dieses Gespräch erinnerte sie an die letzten Augenblicke ihres sterbenden Vaters, und sie wünschte noch einmal sich auf der Stelle auszuweinen, die seine Ueberreste in sich schloß. Viele kleine Umstände seiner letzten Tage fielen ihr aufs neue ein: seine Bewegung, als er sich so nahe bei Chateau Le Blanc sah, seine Bitte auf einer besondern Stelle in der Kirche des Klosters begraben zu werden, der feierliche Befehl, gewisse Papiere zu verbrennen, ohne den Inhalt zu untersuchen. Sie erinnerte sich auch der geheimnißvollen schrecklichen Worte in diesen Manuscripten, die ihr unwillkührlich ins Auge fielen, und ob sie gleich jedesmal eine peinliche Neugierde in ihr rege machten, so gereichte es ihr doch stets zum großen Trost, ihres Vaters Willen so genau erfüllt zu haben.
Die Aebtissin sas ebenfalls still und auch ihre andern Gefährtinnen schienen durch das vorige Gespräch zu sehr gerührt zu seyn, um sprechen zu mögen, als diese allgemeine Träumerei durch den Eintritt des Herrn Bonnac, eines Fremden, der so eben Agnes Zimmer verlassen hatte, unterbrochen ward. Er schien sehr bewegt zu seyn, allein Emilie glaubte mehr Entsetzen als Schmerz auf seinem Gesicht zu lesen. Er zog die Aebtissin bei Seite, und sprach eine ganze Weile heimlich, und über etwas sehr angelegentliches mit ihr. Sie hörte ihm sehr aufmerksam zu; als er fertig war, verneigte er sich stillschweigend gegen die übrige Gesellschaft und verließ das Zimmer. Die Aebtissin schlug darauf vor, nach Agnes Zimmer zu gehn; Emilie willigte mit geheimen Widerstreben ein, und Blanka blieb unten bei den Kostgängerinnen.
Sie trafen an der Thüre den Beichtvater, den Emilie als er den Kopf aufrichtete, für denselben erkannte, der ihren sterbenden Vater berichtet hatte; er gieng an ihnen hin, ohne sie zu bemerken, und sie traten in das Zimmer, wo Schwester Agnes auf einer Matratze lag, eine Nonne ihr zur Seite. Ihr Gesicht war so sehr verändert, daß Emilie sie nicht erkannt haben würde, wenn sie nicht vorbereitet gewesen wäre — es war geisterblaß und mit düstern Schrecken überzogen — ihre trüben, hohlen Augen auf ein Cruzifix geheftet, das sie auf der Brust hielt. Sie war so vertieft in sich selbst, daß sie die Aebtissin und Emilien nicht gewahr wurde, bis sie dicht bey ihr standen. Sie drehte ihre schweren Augen um, heftete sie mit wilden Schrecken auf Emilien und rief mit einem lauten Schrey: »Hah! muß mir das Gesicht noch in meiner Sterbestunde erscheinen!«
Emilie fuhr erschrocken zurück, und sah die Aebtissin mit einem fragenden Blick an; allein diese winkte ihr, sich nicht zu beunruhigen und sagte ruhig zu Agnes: »Meine Tochter ich habe Fräulein St. Aubert mitgebracht, die Sie zu besuchen wünschte, ich glaubte, es würde Ihnen lieb seyn, sie zu sehn.«
Agnes antwortete nicht. Sie fuhr fort, Emilien wild anzustarren und rief: »Sie ist es selbst! das ist aller Zauber in ihrem Blick, der mich ins Verderben stürzte! — Was verlangst du — warum bist du gekommen? — Verlangst du Wiedervergeltung? — bald wird sie dir werden, du hast sie bereits! Wie viele Jahre sind verstrichen, seit ich dich zuletzt sah, und mein Verbrechen ist nur wie von gestern! Und doch bin ich alt darunter geworden, während du noch jung und blühend bist — blühend als da du mich zwangst, die schreckliche That zu begehen! O könnte ich sie nur einmal vergessen! — Aber was könnte es helfen! die That ist geschehn! —«
Emilie aufs äusserste erschrocken wollte das Zimmer verlassen; allein die Aebtissin nahm sie bei der Hand und redete ihr zu, nur noch einige Augenblicke zu bleiben, bis Agnes ruhiger seyn würde, die sie jetzt zu besänftigen suchte. Allein Agnes schien gar nicht auf sie zu achten; sie blieb mit den Augen fest auf Emilien haften und fuhr fort: »Was sind Jahre des Gebets und der Reue! Sie können die Schande einer Mordthat nicht abwaschen! — Ja Mord! — Wo ist er? — wo ist er? — Sieh dort! Sieh, wie er durchs Zimmer geht! Warum bist du gekommen, mich zu quälen« indem sie ihre verdrehten Augen in die Luft hob — »war ich noch nicht gestraft genug? — O runzle die Stirne nicht so finster! Hah! dort wieder. Das ist sie selbst. — Warum siehst du mich so mitleidig an — du lächelst — du lächelst mir zu! Nicht doch — was für ein Winseln?«
Agnes sank dem Anschein nach leblos nieder, und Emilie, die sich nicht aufrecht halten konnte, lehnte sich ans Bett, während die Aebtissin und die Nonne die gewöhnlichen Hülfsmittel anwandten. »Still!« sagte die Aebtissin, als Emilie sprechen wollte — »der Anfall ist vorüber; sie wird bald wieder aufleben. Wann ist sie schon so gewesen Tochter?«
»Nicht seit vielen Wochen, ehrwürdige Mutter«, erwiederte die Nonne; »allein ihr Gemüth ist durch die Ankunft des Herrn, den sie so sehr zu sehn wünschte, sehr erschüttert worden.«
»Ja«, antwortete die Aebtissin, »das hat wahrscheinlich diesen Anfall von Raserei verursacht. Wenn sie sich wieder besser befindet, so wollen wir sie ruhen lassen.«
Emilie war es gerne zufrieden, ihr Erwachen abzuwarten; so wenig Hülfe sie auch leisten konnte, war sie doch ungeneigt das Zimmer zu verlassen, so lange noch Hülfe nothwendig war.
Als Agnes wieder zu sich selbst kam, richtete sie von neuem die Augen auf Emilien; allein sie hatten ihren wilden Ausdruck verloren und verriethen nur finstere Schwermuth. Es dauerte einige Augenblicke, ehe sie Kräfte genug schöpfte, um wieder zu sprechen, dann sagte sie schwach: »die Aehnlichkeit ist wunderbar, es muß mehr als Phantasie seyn. Sagen Sie mir, ich bitte Sie inständigst, sind Sie nicht die Tochter der Marquisin, ob Sie gleich St. Aubert heissen?« — »Welcher Marquisin«, sagte Emilie in äusserster Verwundrung, denn sie hatte aus Agnes ruhigem Wesen geschlossen, daß ihre Sinne wieder hergestellt wären. Die Aebtissin gab ihr einen bedeutenden Wink, allein, allein sie wiederholte die Frage.
»Welche Marquise?« rief Agnes; »ich kenne nur eine, die Marquise von Villeroi.«
Emilie, die sich an ihres Vaters Bewegung bei der unerwarteten Erwähnung dieser Dame und an seine Bitte, nahe bei der Gruft der Villerois beerdigt zu werden, erinnerte, fühlte eine heiße Begierde mehr zu wissen und bat Agnes, die Ursache ihrer Frage zu erklären. Die Aebtissin wollte nun Emilien gerne aus dem Zimmer schaffen, allein diese wurde durch ein zu lebhaftes Interesse zurückgehalten und wiederholte ihre Bitten.
»Bring mir das Kästchen, Schwester«, sagte Agnes; »ich will sie Ihnen zeigen; aber Sie brauchen nur in den Spiegel zu sehn, um ihr Bild zu erblicken. Sie sind gewiß ihre Tochter, eine so auffallende Aehnlichkeit findet sich nur unter nahen Verwandten.«
Die Nonne brachte das Kästchen und Agnes nahm ein Miniaturgemählde heraus, worin Emilie die genaueste Aehnlichkeit mit dem Gemählde, das sie unter ihres Vaters Papieren fand, erkannte. Agnes reichte die Hand darnach aus, blickte es einige Augenblicke stillschweigend an, richtete denn mit einem Blick tiefer Verzweiflung die Augen gen Himmel und betete innerlich. Als sie geendigt hatte, gab sie Emilien das Gemählde zurück. »Behalten Sie es«, sagte sie, »ich vermache es Ihnen, denn ich muß glauben, daß Sie ein Recht dazu haben. Ich habe oft die Aehnlichkeit zwischen Ihnen bemerkt, aber nie bis heute, fiel sie mir so schwer aufs Herz. Halt Schwester, nimm das Kästchen noch nicht weg; es ist noch ein Gemählde drin, das ich zeigen wollte.«
Emilie zitterte vor Erwartung und die Aebtissin wollte sie aufs neue aus dem Zimmer nehmen. »Agnes ist noch immer von Sinnen, Sie sehn, wie irre sie redet. In solchem Zustande machte sie sich kein Bedenken, die entsetzlichsten Dinge zu sagen, und sich der erschrecklichsten Verbrechen anzuklagen.«
Emilie glaubte indeß etwas mehr als Wahnsinn in Agnes Irrereden zu entdecken; ihre Erwähnung der Marquise, das Vorzeigen ihres Gemähldes hatte sie so sehr interessirt, daß sie alles anzuwenden beschloß, um sich nähere Aufklärung darüber zu verschaffen.
Die Nonne gab nochmal das Kästchen her; Agnes zeigte ihr eine geheime Schublade und nahm ein andres Miniaturgemählde heraus. »Lernen Sie hier wenigstens eine Lehre für Ihre Eitelkeit«, sagte sie, indem sie es Emilien gab; »betrachten Sie dieses Gemählde genau und sehn Sie, ob Sie eine Aehnlichkeit zwischen dem was ich bin und was ich war, erkennen können.«
Emilie nahm voll Ungeduld das Gemählde hin — kaum hatte sie einen Blick darauf geworfen, als ihre zitternde Hand es beynahe fallen ließ; es war eine Kopie des Gemähldes der Signora Laurentini, das sie auf dem Schlosse Udolpho gesehn hatte, — des Frauenzimmers, das auf so geheimnißvolle Art verschwunden war, daß man Montoni beargwöhnte, sie auf die Seite geschaft zu haben.
Emilie sah in stummen Erstaunen, abwechselnd das Gemählde und die sterbende Nonne an, und bemühte sich, eine Aehnlichkeit zwischen beiden aufzufinden, die nicht mehr vorhanden war.
»Warum sehn Sie mich so finster an?« sagte Agnes, die Emiliens Bewegung unrecht verstand.
»Ich habe dieses Gesicht schon früher gesehn«, sagte Emilie endlich. »Sah es Ihnen würklich ähnlich?«
»Sie haben wohl Recht, so zu fragen«, erwiederte die Nonne; »aber man sagte einst, daß es mir sehr ähnlich sey. Betrachten Sie mich genau, und sehn Sie, was das Verbrechen aus mir gemacht hat. Damals war ich unschuldig: die bösen Neigungen meiner Natur schlummerten. Schwester«, setzte sie feierlich hinzu, und reichte ihre kalte, feuchte Hand nach Emilien, die bei der Berührung schauderte — »Schwester hüte dich vor der ersten Befriedigung der Leidenschaften, hüte dich vor der ersten. Wenn du sie nicht im Anfange erstickst, so ist ihr Lauf schnell; ihre Stärke unaufhaltsam; sie führen uns wir wissen nicht wohin — sie führen uns vielleicht zu Verbrechen, die ganze Jahre der Buße und Reue nicht wieder vergüten können. So stark kann die Gewalt einer einzigen Leidenschaft seyn, daß sie jedes andre Gefühl erstickt, jeden andern Zugang zum Herzen versperret. Sie bemächtigt sich unsrer wie ein Feind, sie verleitet uns zu den Handlungen eines Feindes und macht uns unempfindlich gegen Mitleid und Gewissensbisse. Und wenn sie ihren Zweck erreicht hat, so überläßt sie uns wie ein Feind, der Qual dieser Gefühle, die sie nur eingeschläfert, nicht vernichtet hat, den Qualen innerer Vorwürfe und Gewissensbisse. Dann erwachen wir wie aus einem Traume und sehen eine neue Welt um uns — wir staunen in Verwundrung und Schrecken, allein die That ist geschehn — alle vereinigte Mächte des Himmels und der Erde können sie nicht ungeschehen machen — die Quälgeister wollen nicht entfliehen — Was sind Reichthümer, Größe, Gesundheit selbst gegen die Wonne eines reinen Gewissens — gegen die Gesundheit der Seele, und was sind die Leiden der Armuth getäuschter Hoffnung, der Verzweiflung selbst gegen die Pein einer angegrifnen Seele! O wie lange ist es, seit ich diese Seeligkeit nicht kannte! Ich glaubte die größten Qualen der menschlichen Natur in Liebe, Eifersucht und Verzweiflung erduldet zu haben — allein diese Qualen waren Lust gegen die Stacheln des Gewissens, die mich seitdem durchbohrten. Ich schmekte auch, was man die Süßigkeit der Rache nennt; allein sie war vorübergehend; sie erstarb sogar mit dem Gegenstande der sie reitzte. Erinnern Sie sich Schwester, daß die Leidenschaften der Saamen der Tugenden, so wie des Lasters sind; beide entspringen aus ihnen, nachdem sie genährt werden. Unglücklich diejenigen, die nie die Kunst gelernt haben sie zu beherrschen.«
»Ja wohl unglücklich«, sagte die Aebtissin, »und schlecht unterrichtet in unserer heiligen Religion.«
Emilie hörte Agnes mit stiller Bangigkeit zu, und jeder Blick auf das Bild überzeugte sie mehr von der Aehnlichkeit mit dem Gemählde zu Udolpho. »Dies Gesicht ist mir bekannt«, sagte sie, um die Nonne zu einer Erklärung zu bringen, ohne zu plötzlich ihre Bekanntschaft mit dem Schlosse Udolpho zu entdecken.
»Sie irren sich«, erwiederte Agnes, »das Gemählde können Sie noch nie gesehn haben.«
»Nein«, erwiederte Emilie, »aber ein andres, das ihm erstaunlich ähnlich sieht.« —
»Unmöglich« sagte Agnes, die wir nun Donna Laurentini nennen können.
»Ich habe es im Schlosse Udolpho gesehn«, fuhr Emilie fort, sie fest ansehend.
»Im Schlosse Udolpho!« rief Laurentini — »in Italien!«
»Ja im Schlosse Udolpho in Italien«, erwiederte Emilie.
»Sie kennen mich also?« sagte Laurentini, »und sind die Tochter der Marquisin?«
Emilie wurde etwas bestürzt über diese plötzliche Behauptung. »Ich bin die Tochter des verstorbenen Herrn St. Aubert«, sagte sie, »und die Dame, die Sie nennen, ist mir ganz fremd.«
»Wenigstens schienen Sie es zu glauben«, erwiederte Laurentini.
Emilie fragte, aus was für Gründen sie etwas anders glauben sollte.
»Ist nicht die Aehnlichkeit, die Sie mit ihr haben, Grund genug?« sagte die Nonne. »Es ist bekannt, daß die Marquisin zu der Zeit als sie des Marquis Hand auf Befehl ihres Vaters annahm, mit einem Gascognischen Edelmann in Verbindung stand! Unglückliches, unglückliches Weib!«
Emilie, die sich an die ausserordentliche Bewegung erinnerte, die St. Aubert bei Erwähnung der Marquise verrieth, würde jetzt etwas anders als Verwundrung gefühlt haben, wenn ihr Vertrauen in seine Rechtschaffenheit weniger groß gewesen wäre. So aber konnte sie auch nicht einen Augenblick einen Gedanken hegen, worauf Laurentinis Worte zu deuten schienen: doch fühlte sie eine große Begierde mehr zu wissen und bat Laurentini, sich näher zu erklären.
»Fragen Sie mich nicht über diese Sache«, sagte die Nonne; »sie ist mir schrecklich. Wollte Gott ich könnte sie aus meinem Gedächtnisse vertilgen!« Sie seufzte tief und fragte Emilien, auf was Art sie ihren Namen entdeckt hätte.
»Durch Ihr Portrait auf dem Schlosse Udolpho«, erwiederte Emilie, »womit dies Miniaturgemählde eine auffallende Aehnlichkeit hat.«
»Sie sind also zu Udolpho gewesen?«, sagte die Nonne mit großer Bewegung. »Ach! welche Scenen ruft diese Erinnerung in meiner Phantasie auf! Scenen der Glückseeligkeit — des Leidens — des Entsetzens!«
In diesem Augenblicke fiel Emilien der schreckliche Anblick ein, den sie in einem Zimmer des Schlosses gehabt hatte — sie schauderte, indem sie die Nonne ansah und dachte an ihre Worte — daß Jahre des Gebets und der Buße die Schandthat eines Mordes nicht abwaschen können. Sie konnte jetzt diese Worte nicht mehr auf eine Abwesenheit des Geistes schieben. — Mit einem Grausen, das sie beynahe ihrer Sinne beraubte, glaubte sie eine Mörderin vor sich zu sehn — alles was sie sich von Laurentinis Betragen zurückrief, schien diesen Verdacht zu bestätigen, doch verlor sie sich noch immer in einem Labyrinth von Zweifeln und ungewiß, wie sie die Fragen, die zur Wahrheit führen konnten, anbringen sollte; konnte sie nur in abgebrochnen Ausdrücken darauf hinwinken.
— »Ihre plötzliche Abreise von Udolpho«, sagte sie. —
Laurentini ächzte tief. —
»Die Gerüchte, die nachher verbreitet wurden«, fuhr Emilie fort — »das westliche Zimmer — der Trauerschleier — der Gegenstand, den er verbirgt! — Wenn Mord begangen wurde.« —
Die Nonne schrie laut auf! »Wie schon wieder!« sagte sie und suchte sich aufzurichten, während ihre starren Augen einen Gegenstand im Zimmer zu verfolgen schienen. — »Vom Grabe gekommen! Wie Blut! auch Blut! — Es floß ja kein Blut! — du kannst das nicht sagen! — nein lächle nicht — lächle nicht so mitleidig.«
Laurentini fiel bei diesen letzten Worten in Verzuckungen und Emilie, die diesen schrecklichen Auftritt nicht länger zu ertragen vermochte, eilte aus dem Zimmer und schickte ein paar andre Nonnen der Aebtissin zur Hülfe herauf.
Blanka und die Kostgängerinnen, die im Sprachzimmer waren, versammleten sich rings um Emilien und thaten — durch ihr erschrocknes Gesicht und Wesen beunruhigt, hundert Fragen an sie, die sie zu beantworten vermied. Sie sagte nur, daß Agnes in letzten Zügen läge; man hielt dies für eine hinlängliche Erklärung ihres Schreckens und nahm sich nun Zeit, ihr Herzstärkungen zu geben, die sie endlich einigermaaßen wieder herstellten. Doch war sie von schrecklichen Vermuthungen so sehr erschüttert und durch einige Worte der Nonne in solche Zweifel gestürzt, daß sie ausser Stande war zu reden; sie würde sogleich das Kloster verlassen haben, hätte sie nicht zu wissen gewünscht, ob Laurentini den letzten Anfall überleben würde. Nachdem sie eine Zeitlang gewartet hatte, erfuhr sie, daß die Krämpfe nachgelassen hätten, und daß Laurentini wieder aufzuleben schien. Sie wollte nun mit Blanken fortgehn, als die Aebtissin erschien und ihr leise sagte: sie hätte ihr etwas wichtiges zu eröfnen; weil es aber spät wäre, wollte sie Emilien nicht aufhalten, sondern ersuchte sie, den folgenden Tag wieder zu kommen.
Emilie versprach es und machte sich mit Blanken auf den Rückweg nach dem Schlosse. Die tiefe Dunkelheit im Walde machten Blanken ängstlich und sie bereuete, so lange gezögert zu haben, obgleich sie einen Bedienten zu ihrer Beschützung hinter sich hatten. Emilie hingegen war zu sehr mit den Schrecknissen des vorhergegangnen Auftrittes beschäftigt, um einen andern Eindruck, als Erhöhung ihrer Träumerei von den dunkeln Schatten zu empfangen. Doch wurde sie bald aus ihrem Tiefsinn gewekt, als Blanka ihr in einiger Entfernung auf dem dunkeln Wege zwei Personen zeigte, die langsam heran kamen. Es war unmöglich, sie zu vermeiden, ohne in eine noch entlegnere Gegend des Waldes einzubiegen, wohin die Fremden leicht folgen konnten. Alle Furcht aber verschwand, als Emilie des Herrn Dúponts Stimme erkannte und den Herrn den sie im Kloster gesehn hatte, bei ihm sah. Beide waren in ein so tiefes Gespräch verwickelt, daß sie die Damen anfangs nicht bemerkten. Als Dúpont sich ihnen näherte, nahm der Fremde Abschied, und sie setzten ihren Weg nach dem Schlosse zusammen fort. Der Graf erinnerte sich, den Herrn Bonnac gekannt zu haben, und da er die traurige Veranlassung seines Besuchs in Languedoc und daß er in einem elenden Wirthshause im Dorfe logiere, erfuhr, bat er Herrn Dùpont, ihn aufs Schloß einzuladen.
Herr Dúpont übernahm es mit Vergnügen, und als er mit Herrn Bonnac erschien, boten der Graf und sein Sohn alle Lebhaftigkeit auf, um den Trübsinn, der auf seinen Zügen lag, zu zerstreuen. Herr Bonnac war Offizier in französischen Diensten und schien ohngefähr funfzig Jahr alt zu seyn. Sein Wuchs war hoch und schlank; sein Betragen verrieth einen feingebildeten Mann, und sein Gesicht hatte einen sehr interessanten Ausdruck. Ueber Züge, die in der Blüte der Jugend sehr schön mußten gewesen seyn, war eine Schwermuth verbreitet, die mehr Folge von langem Unglück, als von Kränklichkeit oder Temperament zu seyn schien.
Es war sichtlich, daß er sich über Tisch nur aus Höflichkeit zum Gespräch zwang, es gab Zwischenzeiten wo er unfähig das Gefühl, das ihn niederdrückte, zu bekämpfen, in Stillschweigen und Abwesenheit verfiel, woraus ihn der Graf auf eine so feine und gutmütige Art zu ziehen suchte, daß Emilie, wenn sie ihn bemerkte, beinahe glaubte, ihren verstorbenen Vater vor sich zu sehn.
Die Gesellschaft trennte sich bei guter Zeit und nun kehrten in der Einsamkeit ihres Zimmers die vorhergegangnen Auftritte mit furchtbarer Stärke in Emiliens Seele zurück. Es erregte in gleichem Grade Verwundrung und Entsetzen in ihr, daß sie in der sterbenden Nonne die Signora Laurentini entdeckte, die, statt von Montoni ermordet zu seyn, vielmehr selbst eine schreckliche That auf ihrer Seele zu haben schien. Die Winke, die sie von der Marquisin von Villeroi fallen ließ, ihre Erkundigungen nach Emiliens Geburt, erregten hingegen ein nicht minder starkes, obgleich ganz verschiedenartiges Interesse in ihr.
Die Geschichte, die Schwester Franziska ihr einmal erzählt hatte, schien nun allerdings falsch zu seyn, zu welchem Zwecke sie aber ersonnen war, wenn nicht, um desto besser die wahre Geschichte zu verbergen, konnte Emilie nicht errathen. Vor allem aber lag ihr der Zusammenhang zwischen der Geschichte der verstorbnen Marquise und ihrem Vater am Herzen, daß ein gewisses Verhältniß zwischen Ihnen gewesen seyn mußte, bewies sein Schmerz, als er ihren Namen hörte, seine Bitte neben ihr begraben, zu werden, und ihr Gemählde unter seinen Papieren. Oft war sie geneigt, ihn für den Liebhaber zu halten, dem die Marquise anhieng, als sie gezwungen ward, den Marquis von Villeroi zu heyrathen, doch konnte sie keinen Augenblick glauben, daß er noch nachher eine Leidenschaft für sie genährt hätte. Sie war nun überzeugt, daß die Papiere, die sie verbrennen mußte, sich auf diese Verbindung bezogen, und wünschte sehnlicher als je, die Ursachen zu wissen, die ihm zu diesem Geboth bewegten. Wäre ihr Vertrauen in seine Grundsätze weniger fest gewesen, so würde sie verleitet worden seyn, zu glauben, daß ein für ihre Eltern anstößiges Geheimniß ihrer Geburt in diesen Papieren enthalten gewesen sey.
Aehnliche Betrachtungen beschäftigten ihre Seele den größten Theil der Nacht, und als sie endlich in Schlummer sank, sah sie nur die Erscheinung der sterbenden Nonne und erwachte in Schrecknissen, die denjenigen glichen, wovon sie Zeuge gewesen war.
Am folgenden Morgen befand sie sich zu übel, um zu der Aebtissin zu gehn, und ehe noch der Tag zu Ende gieng, hörte sie, daß Schwester Agnes nicht mehr sey! Herr Bonnac empfieng diese Nachricht mit Betrübniß, doch bemerkte Emilie, daß er nicht so sehr davon angegriffen schien, als den Abend zuvor, da er aus dem Zimmer der Nonne kam, deren Tod ihm wahrscheinlich minder schrecklich war, als das Geständniß, das er mit anhören mußte.
Vielleicht wurde er einigermaaßen durch das ihm ausgesetzte Vermächtniß getröstet, das ihm bei seiner grossen Familie, und bei seinen Umständen sehr zu statten kam. Die Ausschweifungen eines Lieblingssohns hatten ihn in große Noth und selbst auf einige Zeit ins Gefängniß gebracht, und diese Unfälle hatten seinem Gesichte die Niedergeschlagenheit gegeben, die Emilien so sehr zu ihm hinzog.
Er erzählte seinem Freunde, dem Herrn Dúpont, einige nähere Umstände von seinem gehabten Leiden. Er war mehrere Monathe ohne Hofnung auf Befreiung in einem Gefängniß zu Paris eingesperrt gewesen. Man vergönnte ihm nicht einmal den Trost, seine Gattin zu sehn, die vergebens Hülfe bei seinen Freunden gesucht hatte. Alle sie endlich Zutritt zu ihm erhielt, erschrack sie so sehr über die Verändrung, die Kummer und lange Verhaftung in seinen Zügen hervorgebracht hatten, daß sie in Krämpfe fiel, die so lange anhielten daß sie ihrem Leben drohten.
»Unsre Lage rührte alle die uns sahen«, fuhr Herr Bonnac fort, »und ein großmüthiger Freund, der zu der nemlichen Zeit gefangen sas, wandte nachher die ersten Augenblicke seiner Freiheit dazu an, für die meinige zu würken. Es gelang ihm, die schwere Schuld, die mich drückte, wurde abgetragen und als ich meine Dankbarkeit bezeugen wollte, war mein Wohlthäter meinem Suchen entflohn. Ich habe Ursache zu glauben, daß er das Opfer seiner eignen Großmuth geworden ist, und daß er in das Gefängniß zurückkehren mußte, aus dem er mich befreit hat — allein jede Nachfrage blieb vergebens. Liebenswürdiger, unglücklicher Valancourt!«
»Valancourt! « rief Herr Dúpont. »Valancourt aus der Familie Dúvarney?«
»Derselbe!« erwiederte Herr Bonnac.
Man denke sich die Bewegung des Herrn Dúpont, als er in dem Nebenbuhler seiner Liebe, den großmüthigen Wohlthäter seines Freundes erkannte. Mehrere Fragen, die seine Liebe für Emilien ihm eingab, überzeugten ihn, daß man Valancourt zu hart beurtheilt hatte, und so schmerzhaft auch das Opfer war, faßte er doch den edelmüthigen Vorsatz, seine Ansprüche auf Emilien einem Liebhaber abzutreten, welcher der Zärtlichkeit, deren sie ihn würdigte, nicht unwerth schien.
Es erhellte aus Herrn Bonnacs Erzählung, daß Valancourt bald nach seiner Ankunft in Paris in die Fallstricke gelockt wurde, die verhärtetes Laster ihm gelegt hatte, und daß seine Stunden zwischen den Gesellschaften der schlauen Marquise, und den Spielparthien getheilt wurden, wozu der Neid oder Geitz seiner Kameraden keine Kunst sparte, ihn zu verführen. Er verlor in diesen Gelagen große Summen in vergeblichen Versuchen, kleine zu gewinnen, und der Graf von Villefort und sein Sohn waren bei solchen Gelegenheiten mehrmals Zeugen gewesen. Endlich wurde sein Vermögen erschöpft, der Graf, sein Bruder durch sein Betragen erbittert, weigerte sich ihn ferner zu unterstützen, und Valancourt wurde seiner Schulden wegen ins Gefängniß geworfen, wo sein Bruder ihn ohne Hülfe ließ, um durch diese Strafe eine Beßrung zu bewürken, der noch keine lange Gewohnheit des Bösen im Wege stand.
In der Einsamkeit seines Gefängnisses hatte Valancourt Musse zum Nachdenken, und Ursache zur Reue. Emiliens Bild, das in der Zerstreuung der großen Stadt wohl verdunkelt, aber nie aus seinem Herzen vertilgt werden konnte, erschien ihm in allem Reitz der Unschuld und Schönheit um ihm vorzuwerfen, daß er seine Glückseeligkeit aufgeopfert, seine Talente herabgewürdiget hatte. Allein noch war sein Herz unverdorben, obgleich seine Leidenschaften verführt waren, auch hatte Gewohnheit die Ketten noch nicht befestigt, die schwer auf seinem Gewissen hiengen, und da er die Kraft des Willens behalten hatte, die nothwendig war, um sie zu zerreissen, riß er sich endlich nach einem schmerzhaften Kampfe aus der Sclaverei des Lasters los.
Der erste Gebrauch, den er von seiner Freiheit machte, war ein auffallender Beweiß seiner Menschenliebe und seiner Raschheit. Er gieng mit dem Gelde, das er von seinem Bruder erhalten hatte, in ein Spielhaus und setzte es auf den Zufall, soviel zu gewinnen, daß er seinem Freunde Bonnac und dessen Familie Freiheit und Ruhe wieder verschaffen könnte. Es gelang ihm und während er dieses gefährliche Spiel wagte, that er ein feierliches Gelübde, nie in seinem Leben dem verderblichen und verführerischen Laster des Spiels wieder nachzugeben.
So bald er den ehrwürdigen Herrn Bonnac seiner erfreuten Familie wieder gegeben hatte, eilte er von Paris nach Estouvain, und vergas in dem Wonnegefühl, den Unglücklichen beglückt zu haben, sein eignes Mißgeschick. Bald aber erinnerte er sich, daß er das Vermögen verschleudert hatte, ohne welches er nie auf Emiliens Besitz hoffen konnte, und das Leben, wenn er es nicht mit ihr hinbringen konnte, schien ihm kaum erträglich zu seyn. Ihre Güte, ihr Verstand, ihre Einfalt des Herzens machten ihre Schönheit wo möglich noch bezaubernder, als sie je seiner Phantasie erschienen war. Erfahrung hatte ihn den vollen Werth der Eigenschaften kennen gelehrt, die er schon ehemals bewunderte, jetzt aber anbethete, wenn er sie mit dem, was er in der Welt hatte kennen lernen, verglich. Diese Betrachtungen erhöhten die Qual innerer Gewissensbisse und Vorwürfe, und verursachten die tiefe Niedergeschlagenheit, die ihn selbst in Emiliens Gegenwart nicht verließ, deren er sich nunmehr unwerth fühlte. Der Schimpflichkeit, Geldverpflichtungen von der Marquise Chamfort, oder einer andern Dame solcher Art angenommen zu haben, oder den schändlichen Absichten der Spieler von Gewerbe beigetreten zu seyn, hatte er sich nie schuldig gemacht. Der Graf von Villefort hatte diese Gerüchte aus einer Quelle geschöpft, in die er keinen Zweifel setzte, da Valancourts unbesonnenes Betragen ihn geneigt machte, sie zu glauben. Da diese Gerüchte von solcher Art waren, daß Emilie sie dem Chevalier nicht wohl vorrücken konnte, so hatte er keine Gelegenheit sie zu widerlegen, und als er sich ihrer Achtung unwürdig erklärte, ließ er sich wenig träumen, daß er dadurch die schrecklichsten Verläumdungen bei ihr bestätigte. So blieb ein gegenseitiges Misverständniß unter ihnen, bis Herr Bonnac das Betragen seines großmüthigen, aber unbesonnenen jungen Freunds dem Herrn Dúpont erklärte, der edel und gerecht genug war, um sich sogleich vorzunehmen, den Grafen aus seinem Irrthum zu reißen und aller Hofnung auf Emilien zu entsagen. Ein solches Opfer bei so heisser Liebe verdiente einen edlen Lohn, und wäre es Herrn Bonnac möglich gewesen, den wohlthätigen Valancourt zu vergessen, so würde er gewünscht haben, daß Emilie die Hand des gerechten Dúponts annehmen möchte.
Als der Graf erfuhr, welchen Irrthum er begangen hatte, thaten ihm die Folgen seiner Leichtgläubigkeit sehr leid; er sah nun, daß Valancourt mehr durch die Ränke einer Gesellschaft leichtsinniger junger Leute, mit denen sein Stand ihn zusammen brachte, als durch einen Hang zum Laster irre geleitet war. Gerührt durch die edle, wenn gleich unbesonnene Großmuth seines Betragens gegen Herrn Bonnac, vergab er ihm die vorübergehenden Fehler, welche seine Jugend befleckt hatten, und schenkte ihm die Achtung wieder, womit er ihn im Anfang ihrer Bekanntschaft betrachtet hatte. Er wünschte nun nichts mehr, als ihm Gelegenheit zur Rechtfertigung bei Emilien zu verschaffen, und schrieb ihm sogleich, um ihn wegen des unvorsetzlichen Unrechts, das er ihm zugefügt hatte, um Vergebung zu bitten und ihn nach Chateau Le Blanc einzuladen. Er verschwieg aus Delikatesse Emilien diesen Brief und vermied, ihr etwas über Valancourt zu sagen, bis seine Ankunft sie auf einmal aus aller Unruhe reißen würde.
Umstände von ganz besonderer Art zogen jetzt Emilien von ihrem eignen Kummer ab, und erregten Bewegungen des Erstaunens und Schreckens in ihr.
Wenige Tage nach dem Tode der Signora Laurentini wurde ihr Testament im Kloster in Gegenwart des Herrn Bonnac eröfnet; es fand sich, daß sie ein Drittheil ihres Vermögens dem nächsten, noch lebenden Verwandten der Marquisin de Villeroi vermacht hatte, und daß Emilie diese nächste Verwandtin war.
Die Aebtissin hatte längst um das Geheimnis von Emiliens Familie gewußt, und nur auf St. Auberts dringende Bitte an den Mönch, der ihn zum Tode bereitete, hatte man seiner Tochter ihre Verwandschaft mit der Marquisin verschwiegen. Einige Winke aber, die Signora Laurentini bei ihrer Zusammenkunft mit Emilien fallen ließ und ein Bekenntniß von sehr außerordentlicher Art, das sie in ihrer letzten Stunde ablegte, machte, daß die Aebtissin es für nothwendig hielt, mit ihrer jungen Freundin über den Gegenstand, den sie vorher nicht zu berühren gewagt hatte, zu sprechen. Sie wurde zu der Aebtissin gerufen und erfuhr Dinge, die sie tief erschütterten. Da aber die Erzählung der Aebtissin an manchen Stellen Lücken hatte, die der Leser gern ausgefüllt sehn würde und da die Geschichte der Nonne mit dem Schicksal der Marquisin von Villeroi in nahem Zusammenhange steht, so lassen wir die Unterhaltung im Sprachzimmer weg, und verweben in unsre Erzählung eine kurze Geschichte der
Sie war das einzige Kind ihrer Eltern und Erbin des alten Hauses Udolpho im Venedischen Gebieth. Es war das erste Unglück ihres Lebens, daß die Freude, die ihre starken Leidenschaften hätte zurückhalten, und sie sanft in der Kunst der Selbstbeherrschung unterrichten sollen, sie durch frühe Nachgiebigkeit nährten. Aber sie nährten ihre eignen Fehler in ihr! ihr Betragen entsprang nicht aus vernünftiger Güte und wenn sie den Leidenschaften ihres Kindes nachsahen, oder ihnen widersprachen, so befriedigten sie im Grunde nur die ihrigen selbst. Sie gaben ihr mit Schwäche nach und tadelten sie mit Heftigkeit; ihr Gemüth wurde durch ihre Heftigkeit erbittert, statt durch ihre Weisheit gebessert zu werden, und ihr Widerstand artete in einen Kampf um den Reiz aus, wobei die wahre Zärtlichkeit an Eltern und die liebevollen Pflichten des Kindes auf gleiche Weise vergessen wurden: da aber zurückkehrende Zärtlichkeit den Unwillen der Eltern aufs schnellste entwafnete, so ließ man die kleine Laurentini glauben, daß sie den Sieg davon getragen hätte, und ihre Leidenschaften wurden nun unbändiger durch jede Bemühung die man anwandte, sie zu unterdrücken.
Der Tod ihres Vaters und ihrer Mutter, die in demselben Jahre starben, überließ sie ihrer eignen Leitung unter den gefährlichen Umständen, welche Jugend und Schönheit begleiten. Sie liebte Gesellschaft, fand Entzücken in Bewundrung, verachtete aber durch die Meinung der Welt, wenn sie ihren Neigungen widersprach; sie besas einen muntern, blendenden Witz und war Meisterin in allen Künsten der Cocquetterie. Ihre Aufführung war so, wie man es von ihren schwachen Grundsätzen und der Stärke ihrer Leidenschaften erwarten konnte.
Unter ihren zahlreichen Anbetern befand sich auch der verstorbne Marquis de Villeroi, der auf seinem Wege nach Italien die Signora zu Venedig, ihrem gewöhnlichen Aufenthalte sah und sich heftig in sie verliebte. Eben so bezaubert durch die Figur und Annehmlichkeiten des Marquis, der damals einer der beliebtesten jungen Leute am französischen Hofe war, besas sie die Kunst, ihm die gefährlichen Züge ihres Characters und die Flecken ihres vergangnen Betragens so vollkommen zu verheelen, daß er um ihre Hand anhielt.
Ehe noch die Hochzeit vollzogen wurde, begab sie sich nach dem Schlosse Udolpho, wohin der Marquis ihr folgte, hier legte sie sich weniger Zwang auf und verrieth bald dem Marquis, nach welchen Grundsätzen sie handelte. Eine genauere Beobachtung überzeugte ihn bald, daß er sich in ihrem Character geirrt hatte, und diejenige, die er zu seiner Gemahlin bestimmte, ertheilte ihm zu früh die Rechte eines Gemahls.
Nachdem er einige Wochen zu Udolpho zugebracht hatte, wurde er plötzlich nach Frankreich gerufen, wohin er sehr ungern gieng, denn sein Herz war durch Laurentinis Künste gefesselt, wiewohl er seine Heirath unter allerlei Vorwand verzögerte; doch gab er ihr, um sie wegen seiner Abreise zu beruhigen, das wiederholte Versprechen, zur Vollziehung der Heirath zurücke zu kommen, sobald die Angelegenheit, die ihn nach Frankreich rief, es zuließe.
Durch diese Zusicherung einigermaaßen getröstet, ließ sie ihn abreisen, und bald nachher erneuerte ihr Vetter, Montoni, der nach Udolpho kam, die Anträge, die sie jetzt zum zweitenmale verwarf. Ihre Gedanken waren unablässig bei dem Marquis de Villeroi, für den sie alle Gluth einer italienischen Liebe, genährt durch die Einsamkeit, zu der sie sich selbst verdammte, empfand. Sie hatte jetzt allen Geschmack an den Freuden der Gesellschaft und fröhlichen Zeitvertreiben verloren, und kannte keinen andern Genuß, als über einen Miniaturgemählde des Marquis zu weinen, die Orte zu besuchen, welche Zeugen ihres Glücks gewesen waren, ihr Herz in Briefen an ihn auszugießen, und die Wochen und Tage bis zu seiner Zurückkunft zu zählen. Allein die Zeit schlich dahin, ohne ihn herbei zu führen; eine schwerfällige Woche nach der andern verstrich in der peinlichsten Erwartung. Ihre Phantasie, ganz von einem Gegenstande erfüllt, gerieth in Unordnung, das Leben wurde ihr verhaßt, wenn sie diesen Gegenstand verloren glaubte.
Verschiedene Monathe verstrichen, ohne daß sie von dem Marquis hörte, und ihre Tage wurden abwechselnd durch wahnsinnige Leidenschaft und finstre Verzweiflung bezeichnet. Endlich verbreitete sich ein Gerüchte bis zu ihr, daß der Marquis in Frankreich geheirathet hätte, und nach allen Foltern der Liebe, Eifersucht und Erbittrung, faßte sie den verzweifelten Entschluß, heimlich ihm nachzureisen, und wenn sie das Gerücht wahr fände, tiefe Rache zu nehmen. Sie packte alle Juwelen, die sie von verschiednen Zweigen der Familie geerbt hatte, und die von unermeßlichem Werthe waren, zusammen, nahm alles baare Geld, das sich auf eine sehr hohe Summe belief und ließ es heimlich nach einer nahen Stadt schaffen, wohin sie mit ihrem Kammermädgen, der einzigen Vertrauten ihres Plans, folgte und in der Stille nach Livorno gieng, wo sie sich nach Frankreich einschifften.
Als sie bei ihrer Ankunft in Languedoc erfuhr, daß der Marquis würklich seit einigen Monathen verheirathet war, beraubte ihre Verzweiflung sie beinahe der Vernunft, und sie faßte und verwarf abwechselnd den schrecklichen Vorsatz, den Marquis, seine Frau, und sich selbst zu ermorden. Endlich machte sie ein Mittel ausfindig, sich ihm in den Weg zu werfen; um ihm seine Untreue vorzuwerfen, und sich vor seinen Augen zu ermorden, allein als sie ihn wieder sah, der so lange der Abgott ihrer Gedanken und Wünsche gewesen war, wich die Rache der Liebe — ihr Entschluß wankte, sie bebte vom innern Kampfe der Leidenschaften, die ihr Herz zerrissen und sank ohnmächtig nieder.
Der Marquis konnte dem Reitze der Schönheit und Liebe nicht widerstehen, alles Feuer seiner ersten Liebe kehrte zurück, denn seine Liebe war mehr durch Rücksichten der Klugheit zurückgehalten, als durch Gleichgültigkeit überwunden. Da die Ehre seiner Familie ihm nicht zuließ, sie zu heirathen, so überwand er sich so weit, die Marquise zu seiner Frau zu wählen, die er anfangs mit gemäßigter Zärtlichkeit liebte. Allein die sanften Tugenden dieses liebenswürdigen Weibes konnten ihm keinen Ersatz für ihre Gleichgültigkeit geben, die durch alles Bemühn, sie zu verbergen, hindurch schimmerte, und er hatte sie schon seit einiger Zeit in Verdacht einer andern Liebe gehabt, als Laurentini in Languedoc ankam. Diese schlaue Italienerin merkte bald, daß sie ihre Gewalt über ihn wieder gewonnen hatte, und beschloß nur für ihn zu leben, und alle Künste aufzubieten, um seine Einwilligung zu der teuflischen That zu gewinnen, die sie zur Sichrung ihres Glücks nothwendig glaubte. Sie führte ihren Plan mit tiefer Verstellung und geduldiger Beharrlichkeit aus, und nachdem sie die Neigung des Marquis gänzlich von seiner Frau entfernt hatte, deren sanfte Güte und leidenschaftsloses Betragen ihm gegen die bezaubernden Künste der Italienerin unschmackhaft schien, fuhr sie fort, in seinem Herzen die Eifersucht des Stolzes — denn Liebe war es nicht mehr — aufzuregen, und unter dem feierlichen Versprechen, daß er sich aller Rache gegen seinen Nebenbuhler enthalten wollte, nannte sie ihm sogar die Person, der die Marquisin ihre Ehre ausgeopfert haben sollte. Dies Versprechen macht einen wesentlichen Theil ihres Plans aus, denn sie wußte, daß wenn seine Begierde nach Rache gegen die eine Parthie zurückgehalten würde, sie desto heftiger gegen die andre los brechen und er dann leichter zu bewegen seyn würde, in die schreckliche That einzustimmen, die das einzige Hinderniß aus dem Wege räumen sollte, das ihn abhielt, sie zu seiner Gattin zu machen.
Die unschuldige Marquise bemerkte indessen mit äusserstem Schmerz die Verändrung in ihres Mannes Betragen. Er wurde kalt und zurückhaltend in ihrer Gegenwart, und war strenge, ja sogar hart gegen sie: manche Stunden weinte sie über seine Härte, und entwarf Pläne seine Neigung wieder zu gewinnen. Sein Betragen betrübte sie um so mehr, weil sie aus Gehorsam gegen ihren Vater seine Hand angenommen hatte, ohngeachtet ihre Neigung an einen andern hieng, dessen liebenswürdiger Charakter sie glücklich gemacht haben würde. Laurentini hatte diese frühere Verbindung bald nach ihrer Ankunft in Frankreich erfahren und gebrauchte sie zu ihren Absichten bei dem Marquis, dem sie so scheinbare Beweise von seines Weibes Untreue gab, daß er im Wahnsinn seiner beleidigten Ehre einwilligte, sie aufzuopfern. Man gab ihr ein langsames Gift und sie fiel als Opfer der Eifersucht und List der Laurentini und der strafbaren Schwäche ihres Gatten.
Allein der Augenblick von Laurentinis Triumph, der Augenblick, auf welchen sie als auf den Gipfel aller ihrer Wünsche hingesehn hatte, wurde der Anfang eines Leidens, das bis zum Sterbebette sie nie wieder verließ.
Die Leidenschaft der Rache, die sie mit zur Begehung dieser barbarischen That gereitzt hatte, erstarb in dem Augenblicke, wo sie befriedigt ward, und ließ nur die schreckhaften Empfindungen eines fruchtlosen Mitleids, nagende Gewissensbisse zurück, die wahrscheinlich alle Wonne, die sie sich mit dem Marquis de Villeroi versprach, würde vergiftet haben, wenn auch ihre Hofnung auf eine Verbindung mit ihm wäre erfüllt worden. Aber auch bei ihm war der Augenblick der Rache der Augenblick von Gewissensbissen für ihn und des Abscheus für sie, als die Theilnehmerin seines Verbrechens gewesen: das Gefühl, welches er fälschlich für Ueberzeugung gehalten hatte, war nicht mehr vorhanden, und er stand erstarrt und bleich, daß kein Beweiß von der Untreue seines Weibes zurück blieb, da sie die Straffe des Verbrechens gelitten hatte. Ja, als man ihm sagte, daß sie starb, fühlte er sich plötzlich und unwiderstehlich von ihrer Unschuld überzeugt, und selbst die feierliche Versichrung, die sie ihm in ihrer letzten Stunde gab, konnte ihm keinen stärkern Beweiß ihres untadelhaften Betragens geben.
In dem ersten Schrecken der Gewissensbisse und Verzweiflung fühlte er sich geneigt, sich selbst und das Weib, das ihn in diesen Abgrund des Verbrechens gestürzt hatte, den Händen der Gerechtigkeit zu übergeben, allein sobald der erste Anfall seines Schmerzens vorüber war gab er diesen Gedanken auf. Doch sah er die Laurentini nur einmal nachher, und zwar um sie als die Anstifterin seines Verbrechens zu verwünschen und ihr zu sagen, daß er ihr nur einzig unter der Bedingung das Leben schenkte, daß sie ihre übrigen Tage in Gebet und Buße hinbrächte. Ueberwältigt von bitterstem Schmerz, nur Abscheu und Verachtung von dem Manne zu erfahren, um dessentwillen sie kein Bedenken trug, ihr Gewissen mit Menschenblut zu beflecken, und voll Entsetzen über das fruchtlose Verbrechen, welches sie begangen hatte, entsagte sie der Welt und zog sich als ein schreckliches Opfer einer gewaltsamen Leidenschaft in das St. Klarenkloster zurück.
Der Marquis verließ Chateau Le Blanc gleich nach dem Tode seiner Frau, um nie wieder dahin zurückzukehren und suchte das Gefühl seines Verbrechens im Tumulte des Krieges; in den Zerstreuungen der Hauptstadt zu ersticken. Allein alles Bemühn war vergebens; eine tiefe Schwermuth, die seine Freunde nie erklären konnten, hing stets über seiner Seele, und er starb endlich einen beinahe eben so schreckhaften Tod, als Laurentini gelitten hatte. Der Arzt, der die auffallende Gestalt der unglücklichen Marquise nach ihrem Tode bemerkt hatte, wurde bestochen, und da die Bedienten nur leise von ihren Vermutungen zu flüstern wagten, so kam die Sache nie ans Licht. Man hat nie erfahren, ob dies Gerücht jemals bis zu dem Vater der Marquise drang, oder ob die Schwierigkeit sich Beweise der That zu verschaffen ihn abhielt, den Marquis vor Gericht zu verfolgen, allein ihr Tod wurde sehr von ihrer Familie, und besonders von ihrem Bruder dem Herrn St. Aubert beklagt — denn dies war das Verhältniß zwischen Emiliens Vater und der Marquise — ohne Zweifel argwöhnte er die Art ihres Todes. Er wechselte bald nach dem Absterben dieser geliebten Schwester viele Briefe mit dem Marquis, deren Inhalt niemand erfuhr, allein wahrscheinlich bezogen sie sich auf die Ursache ihres Todes, und diese Papiere nebst den Briefen der Marquise, die ihrem Bruder die Ursache ihres Kummers vertraute, befahl St. Aubert so feierlich seiner Tochter zu vernichten, wahrscheinlich untersagte er ihr aus Schonung für ihre Ruhe, nach der traurigen Geschichte, die sie enthielten, zu forschen. Sein Schmerz über den frühzeitigen Tod dieser geliebten Schwester, deren unglückliche Heirath vom ersten Augenblicke an sein zärtlichstes Mitleid erregt hatte, war in der That so groß, daß er sie nachher nie konnte nennen hören, und nie nach ihrem Tode ihrer erwähnte, ausser gegen seine Gattin. Vor Emilien, deren Fühlbarkeit er zu erwecken fürchtete, hatte er so sorgfältig ihre Geschichte und ihren Namen verschwiegen, daß sie bis jetzt nie gewußt hatte, daß sie eine solche Verwandtin als die Marquise de Villeroi besas; aus eben dem Grunde hatte er auch seiner einzigen Schwester, der Madame Cheron, ein Stillschweigen aufgelegt, das sie sorgsam beobachtete.
St. Aubert weinte über einige der letzten rührenden Briefe von der Marquise, als Emilie ihn am Abend vor ihrer Abreise aus La Vallée belauschte, und es war ihr Gemälde, das er so zärtlich geliebkost hatte. Die Erinnrung an ihren traurigen Tod erwachte mit neuer Stärke, als er ihren Namen von La Voisin hörte, und in einer Regung wehmüthiger Zärtlichkeit verlangte er, neben der Gruft der Villerois begraben zu werden, wo ihre Gebeine ruhten.
Der Beichtvater, der in den letzten Augenblicken um St. Aubert war, erkannte ihn für den Bruder der verstorbnen Marquise, allein St. Aubert beschwor ihn aus Zärtlichkeit für Emilien, diesen Umstand zu verschweigen, und auch die Aebtissin, deren Sorge er sie vorzüglich empfahl, um Verschwiegenheit zu bitten — eine Bitte, die pünktlich erfüllt wurde.
Laurentini hatte bei ihrer Ankunft in Frankreich sorgfältig ihren Namen und Familie verschwiegen, und um ihre wahre Geschichte desto sichrer zu verbergen, das Mährchen erfunden, das man der Schwester Franziska aufgeheftet hatte; wahrscheinlich wußte selbst die Aebtissin, die zur Zeit von Laurentinis Einkleidung noch nicht im Kloster präsidirte, nichts von der Wahrheit. Die tiefen Gewissensbisse, und der Schmerz betrogner Liebe, denn sie hieng noch immer an dem Marquis — zerrütteten aufs neue ihren Geist, und nachdem die ersten Anfälle der Verzweiflung vorüber waren, fiel sie in eine tiefe und stille Schwermuth, die nur zu Zeiten durch Anfälle wilder Heftigkeit unterbrochen wurde. Viele Jahre lang war es ihr einziges Vergnügen, in den einsamen Stunden der Nacht in der Gegend des Klosters umherzugehn und auf einem Lieblingsinstrument zu spielen, das sie von Zeit zu Zeit mit ihrer schönen Stimme begleitete. Sie sang dann mit allem durchdringenden Gefühl, das in ihrem Herzen war, die feierlichsten, schwermüthigsten Gesänge ihres Vaterlandes. Der Arzt, der sie besuchte, bat die Aebtissin, ihr diese Grille zuzugestehn, weil es das einzige Mittel war, ihre aufgeschreckte Phantasie zu besänftigen, und man erlaubte ihr in den einsamen Stunden der Nacht mit ihrem Mädchen spatzieren zu gehn; da aber diese Nachsicht gegen die Regeln des Klosters stieß, so wurde sie so geheim als möglich gehalten, und so traf Laurentinis geheimnisvolle Musik mit andern Umständen zusammen, das Gerücht hervorzubringen, daß nicht nur das Schloß, sondern auch die Gegend umher, von Geistern bewohnt sey.
Bald nach ihrem Eintritt in diese heilige Schwesterschaft, und ehe sie noch dort Spuren von Wahnsinn gezeigt hatte, machte sie ein Testament, worin sie nach Abzug eines ansehnlichen Legats für das Kloster ihr Vermögen zwischen der Frau des Herrn Bonnac, die eine Italienerin und Verwandtin von ihr war und der nächsten lebenden Verwandtin der Marquise von Villeroi theilte. Da Emilie nicht nur die nächste, sondern die einzige Verwandtin war, so fiel dieses Vermächtnis an sie, und sie wurde dadurch mit ihres Vaters ganzem Geheimniß bekannt.
Laurentini hatte oft die Aehnlichkeit zwischen Emilien und ihrer unglücklichen Tante bemerkt, und war deswegen in das sonderbare Betragen verfallen, das Emilien so sehr auffiel. In ihrer Sterbestunde aber, wo ihr geängstigtes Gewissen ihr unablässig das Bild der Marquise vorhielt, fühlte sie diese Aehnlichkeit mehr als je und hielt sie in ihrem Wahnsinn für das Urbild der Beleidigten selbst. Ihre dreiste Behauptung nachher, daß Emilie die Tochter der Marquise sey, war nichts mehr als ein Verdacht, daß sie es seyn könnte; denn da sie wußte, daß ihre Nebenbuhlerin bei ihrer Verheirathung mit dem Marquis in einer andern Verbindung stand, zweifelte sie nicht, daß sie gleich ihr, der Gewalt der Leidenschaft ihre Tugend geopfert hätte.
An einem Verbrechen im Schlosse Udolpho aber, dessen Emilie nach ihren wahnsinnigen Aeusserungen von Mord sie beargwöhnte, war sie unschuldig. Emilie selbst war durch den Anblick, der ihr vormals solches Entsetzen machte, hintergangen worden.
Man wird sich erinnern, daß in einem Zimmer auf dem Schlosse Udolpho ein schwarzer Schleier hieng, der Emiliens Neugier rege machte und nachher einen Gegenstand sehn ließ, der sie mit Grausen erfüllte: denn als sie ihn aufhub, sah sie statt des erwarteten Gemähldes in einer Biegung der Mauer eine menschliche Gestalt, leichen blaß, der Länge nach ausgestreckt, und in ein Todtenkleid gehüllt. Das schreckliche des Anblicks wurde noch dadurch erhöht, daß das Gesicht von Würmern angefressen und entstellt schien, deren Spuren sie auch an den Händen bemerkte. Emilie ließ beim ersten Blick den Vorhang fallen, und ihr Grausen schreckte sie ab, sich jemals wieder diesem furchtbaren Gegenstand zu nähern. Hätte sie es näher zu untersuchen gewagt, so würde ihre Furcht mit der Täuschung zugleich verschwunden seyn — sobald sie gesehn hätte, daß das Gerippe nur von Wachs war. Die Geschichte davon ist ein Beweiß der barbarischen Strenge, welche der mönchische Aberglaube oft dem Menschengeschlecht aufgelegt hat. Einer aus dem Hause Udolpho, der ein Verbrechen gegen die Kirche begangen hatte, war zu der Buße verdammt worden, gewisse Stunden des Tages ein wächsernes Bild zu betrachten, das einem menschlichen Körper in dem Zustande glich, worin er nach dem Tode geräth. Diese Buße, ein Memento des Zustandes, worin er selbst gerathen mußte, sollte den Stolz des Marquis von Udolpho demüthigen, der den römischen Stuhl so sehr beleidigt hatte, und er beobachtete diese Buße, wodurch er Vergebung aller Sünden zu erhalten hofte, nicht nur getreulich selbst, sondern machte es sich zur Bedingung in seinem Testament, daß seine Nachkommen dieses Bild aufbewahren und sich die demüthigende Moral, die es enthält, zu Nutze machen sollten. Das Bild blieb auch würklich in seiner Lage in demselben Zimmer, nur hüteten sich seine Nachkommen wohl, sich der Buße, die ihm aufgelegt wurde, zu unterwerfen.
Diese Figur war so schrecklich natürlich, daß Emilie sie wohl für den Gegenstand, den sie vorstellte, halten konnte. Sie hörte nachher so sonderbare Dinge von dem Verschwinden der Dame des Schlosses und machte solche Erfahrungen von Montonis Character, daß sie es wohl für den ermordeten Leichnam der Signora Laurentini, und ihn für den Urheber ihres Todes halten konnte.
Die Sorgfalt, womit Montoni die Thüre dieses Zimmers immer verschlossen hielt, machte sie glauben, daß er, um das Geheimniß ihres Todes niemand anzuvertrauen ihre Ueberreste in diesem dunkeln Zimmer vermodern ließe, und nur die Furcht vor seiner schrecklichen Rache versiegelte ihre Lippen über das, was sie im westlichen Zimmer gesehn hatte.
Emilie wurde sehr gerührt über die Entdeckung, daß die Marquise de Villeroi ihres Vaters Schwester war; doch fühlte sie sich mitten unter dem Kummer, womit sie diesen frühzeitigen Tod beweinte, von einem ängstlichen Zweifel über ihre Geburt, den Laurentinis erste Behauptung erzeugt hatte, befreit. Ihr Glaube an St. Auberts Rechtschaffenheit ließ sie nicht glauben, daß er je eine sträfliche Handlung begangen hätte, und sie fühlte ein solches Widerstreben, sich für die Tochter einer andern, als derjenigen, die sie stets als Mutter geliebt und geehrt hatte, zu halten, daß sie kaum einen solchen Umstand möglich glauben konnte — doch erwekten die Aehnlichkeit, die man so oft zwischen ihr und der verstorbenen Marquise finden wollte, die Aeusserungen der alten Haushälterin Dorothee, die Behauptung der Laurentini und die geheimnisvolle Anhänglichkeit des St. Auberts Gedanken, über seine Verbindung mit der Marquise, die ihre Vernunft weder überwinden noch bestätigen konnte. Aus dieser Ungewißheit war sie nunmehr befreit; ihres Vaters Betragen stand klar vor ihr; allein ihr Herz bejammerte das traurige Ende ihrer liebenswürdigen Tante und schauderte vor der schrecklichen Lehre zurück, welche die Geschichte der Nonne enthielt, deren Befriedigung der Leidenschaft sie allmählig zur Begehung eines Verbrechens geführt hatte, vor dessen Weissagung sie in frühern Jahren würde erbebt seyn und sie unmöglich geglaubt haben! ein Verbrechen welches Jahre der Reue und der strengsten Buße nicht aus ihrem Gedächtnisse verwischen konnten.
Emilie wurde nach den letzten Entdeckungen von dem Grafen und seiner Familie im Schlosse als eine Verwandte aus dem Hause Villeroi betrachtet, und wo möglich mit noch mehr freundschaftlicher Achtung als man ihr vorher bewiesen hatte, behandelt.
Die Antwort auf den Brief, den der Graf von Villefort nach Esturire an Valancourt geschickt hatte, blieb so lange aus, daß es ihm lieb war, Emilien die Sache verschwiegen zu haben, wiewohl er oft, wenn er noch immer Kummer über seinen begangnen Irrthum an ihrem Herzen nagen sah, alle Entschlossenheit aufbieten mußte um sich zurückzuhalten, ihr die Wahrheit zu sagen die ihr, wenigstens für den Augenblick Erleichtrung gewähren mußte. Die herannahende Verbindung seiner Tochter zog jetzt seine Aufmerksamkeit von diesem Gegenstande seiner Unruhe ab; die Einwohner des Schlosses beschäftigten sich bereits mit Zurüstungen und die Ankunft des Herrn St. Foix wurde täglich erwartet. Emilie suchte vergebens an der Frölichkeit Theil zu nehmen, die sie umgab; ihre Lebensgeister waren durch die letzte Entdeckung und durch ihre Angst über Valancourts Schicksal zu sehr niedergedrückt. Sie glaubte ihn in wilder Verzweiflung zu sehn und wenn sie daran dachte, wohin ihn diese führen könnte, so erlag ihr Herz in Schmerz und Schrecken. Es schien ihr unerträglich, bis zu ihrer Zurückkunft nach La Vallée in Zweifel über seine Sicherheit bleiben zu müssen und in solchen Augenblicken konnte sie sich nicht einmal bestreben, die Fassung anzunehmen, die aus ihrer Seele gewichen war. Sie verließ oft plötzlich die Gesellschaft und bemühte sich, ihre Lebensgeister in der tiefen Einsamkeit der Wälder, die das Ufer überhingen, wieder zu stärken. Hier vereinigte sich das schwache Brüllen der schäumenden Wellen, die unten schlugen, das dumpfe Murmeln des Windes zwischen dem Laube rings umher mit der Stimmung ihrer Seele; und sie setzte sich auf eine Klippe oder auf die zertrümmerten Stuffen ihrer lieben Warte nieder, um die wandelnden Farben der Abendwolken, den Nebel der Dämmerung auf der See zu betrachten, bis die weissen Spitzen der Wellen, die ans Ufer schlugen, kaum mehr zwischen dem verdunkelten Wasser zu erkennen waren. Oft wiederholte sie mit schwermütiger Empfindung die Zeilen, welche Valancourt auf diesem Thurm eingegraben hatte, und suchte dann die Erinnerungen und den Schmerz, der dadurch in ihr entstand, zu unterdrücken und ihre Gedanken auf gleichgültige Gegenstände zu lenken.
Eines Abends, da sie mit ihrer Laute nach diesem Lieblingsorte gegangen war, trat sie in den verfallnen Thurm und stieg eine Wendeltreppe hinauf, die zu einem kleinen Zimmer führte, das weniger verfallen war, als das übrige Gebäude, und von welchem sie oft mit Bewundrung die weite Aussicht auf See und Land, die sich unter ihr hinstrekten, angestaunet hatte. Die sanfte Ruhe der Scene unter ihr, wo das Abendlüftchen kaum das Wasser kräuselte, oder das vorüberstreichende Segel anschwellte, das den letzten Sonnenstrahl auffieng, wo nur von Zeit zu Zeit ein eintauchendes Ruder den zitternden Glanz unterbrach, traf mit der zärtlichen Melancholie ihrer Laute zusammen, ihre Rede in eine sanfte Trauer zu wiegen, und sie sang die klagenden Lieder vergangener Zeiten, bis die Erinnerungen, die sie erwekten, ihren Herzen zu mächtig wurden — ihre Thränen fielen auf die Laute, und ihre Stimme erbebte.
Die Sonne war hinter die Berge gesunken, und selbst der Zurückstrahl ihres Lichts verblich von den höchsten Spitzen, ehe Emilie sich entschließen konnte, die Warte zu verlassen. Sie hieng noch ihren melancholischen Träumereien nach, bis ein Fustritt in kleiner Entfernung sie aufschrekte. Sie sah durchs Gitter jemand unten spatzieren gehn — da sie aber Herrn Bonnac erkannte, überließ sie sich wieder dem ruhigen Sinnen, das sein Schritt unterbrochen hatte. Nach einiger Zeit nahm sie ihre Laute wieder und sang ihre Lieblingsarie — bald aber störte sie aufs neue ein Geräusch und sie hörte jemand die Treppe des Thurms herauf kommen. Die Dunkelheit machte sie vielleicht furchtsamer als sie sonst gewesen seyn würde, da sie wenig Minuten zuvor Herrn Bonnac hatte vorüber gehn sehn, und also jetzt niemand anders vermuthen konnte. — Die Schritte des Kommenden waren schnell und hüpfend, die Thüre öfnete sich und es trat jemand herein, dessen Züge die Dämmerung verbarg — aber keine Dämmerung konnte seine Stimme verheelen — denn es war Valancourts Stimme! Emilie fuhr bei dieser nie ohne Bewegung gehörten Stimme zusammen — Schrecken, Erstaunen und geheime Freude überwältigten sie — und kaum sah sie ihn zu ihren Füßen, als sie von den mancherlei Bewegungen, die in ihrem Herzen kämpften, überwältigt, und beinahe fühllos für die Stimme, deren inniger, zitternder Ton, sie zurückrief, in einem Stuhl sank. Valancourt bejammerte nun, indem er über Emilien hieng, seine rasche Unbesonnenheit sie so überfallen zu haben. Seine Ungeduld, als er im Schlosse ankam hatte ihm nicht erlaubt, die Zurükkunft des Grafen abzuwarten, der wie er hörte im Felde war, und er gieng, um ihn aufzusuchen. Indem er vor dem Thurme vorbei kam fiel ihm Emiliens Stimme ins Ohr und er eilte sogleich herauf.
Es dauerte lange, ehe sie sich wieder erholte; sobald aber ihre Besinnung zurückkehrte, wies sie seine Aufmerksamkeit mit Zurückhaltung ab und fragte ihn mit so viel Ernst, als sie in diesen ersten Augenblicken seiner Erscheinung nur aufbringen konnte, um die Ursache seines Besuchs.
»Ach Emilie!« sagte Valancourt — »dieser Blick, diese Worte — ach ich habe also wenig zu hoffen — indem Sie aufhörten mich zu achten, hörten Sie auch mich zu lieben auf!«
»Ohne Zweifel!« antwortete Emilie, und suchte ihrer bebenden Stimme Herr zu werden — »aber wenn Sie einigen Werth auf meine Achtung setzten, so würden Sie mir nicht diesen neuen Anlaß zur Unruhe gegeben haben.«
Valancourts Gesicht veränderte sich plötzlich von der Angst des Zweifels in einen Ausdruck der Verwundrung und Kränkung — er schwieg einen Augenblick und sagte dann — »man hatte auch eine ganz andre Aufnahme erwarten lassen! Es ist also wahr, Emilie, daß ich Ihre Liebe auf immer verloren habe? Soll ich glauben, daß wenn Sie mir auch Ihre Achtung wieder schenkten, Sie nicht mehr Herr über Ihre Liebe sind. Kann der Graf die Grausamkeit ausgesonnen haben, die mich jetzt mit einem zweiten Tode martert?«
Die Stimme, womit er diese Worte sagte, beunruhigte Emilien eben so sehr als seine Worte sie überraschten und sie bath ihn zitternd für Ungeduld, sich zu erklären.
»Kann es noch einer Erklärung bedürfen?«, sagte Valancourt. »Wissen Sie nicht, wie grausam man mein Betragen verschwärzt hat? daß ich die Handlungen, deren Sie mich schuldig glaubten — und o Emilie, wie konnten Sie mich nur einen Augenblick so in ihrer Meinung herabsetzen! — eben so sehr verachte und verabscheue als Sie selbst? Sollten Sie in der That nicht wissen, daß der Graf von Villefort die Verläumdung entdeckt hat, die mir alles, was mir auf Erden theuer ist, raubte — daß er mich eingeladen hat, hieher zu kommen und mein vergangnes Betragen vor Ihnen zu rechtfertigen? Aber wie sollten Sie diese Dinge nicht wissen! ich Thor quäle mich aufs neue mit einer falschen Hoffnung!«
Emiliens Stillschweigen bestätigte diese Vermuthung — denn die tiefe Dämmerung ließ Valancourt nicht zu, die Ueberraschung und zweifelhafte Freude auf Ihrem Gesichte zu unterscheiden. Sie blieb einen Augenblik unvermögend zu sprechen, bis ein tiefer Seufzer Ihrem Herzen Luft schaffte.
»Valancourt!« sagte sie — »ich wußte bis diesen Augenblick nichts von dem allen — die Bewegung, worinn Sie mich sehn, mag Ihnen die Wahrheit davon bestätigen — sie mag Ihnen sagen, daß selbst da ich aufhören mußte, sie zu achten, ich mein Herz noch nicht lehren konnte, Sie zu vergessen.«
»Dieser Augenblik« — sagte Valancourt mit bebender Stimme — »dieser Augenblik führt eine Ueberzeugung mit, die mich zu Boden wirft! — Ich bin Ihnen also noch werth: ich bin Ihnen noch werth, meine Emilie?«
»Brauche ich Ihnen das noch zu sagen«, erwiederte sie — »muß ich Ihnen sagen, daß dieses die ersten Augenblicke der Freude sind, die ich seit Ihrer Abreise empfunden habe — daß Sie mir allen Schmerz vergüten, den ich in der Zwischenzeit empfand.«
Valancourt seufzte tief und vermochte nicht zu antworten; allein die Thränen, die auf ihre Hand fielen, redeten eine Sprache, die sie nicht misverstehn konnte, und die keine Worte auszudrücken vermochten.
Weder Emilie noch Valancourt wußten, wie sie das Schloß erreichten, wohin sie eben so gut durch den Zauber einer Fee hätten versetzt werden können — Sie wußten so wenig von dem, was sie umgab, daß sie erst im Saale sich besonnen, daß noch ausser ihnen Menschen in der Welt lebten. Der Graf kam ihnen entgegen um mit ächter Gutmütigkeit Valancourt zu bewillkommen, und ihn um Vergebung wegen des angethanen Unrechts zu bitten, bald darauf gesellte sich Herr Bonnac zu dieser glücklichen Gruppe, in welcher er und Valancourt sich gegenseitig freuten, einander zu treffen.
Sobald der erste Sturm der Freude sich etwas gelegt hatte, zog sich der Graf mit Valancourt in die Bibliothek zurück, wo sie ein langes Gespräch zusammen hatten, welches alles, was der Graf von seinem Character gehofft hatte, bestätigte. Da er ein so wahres Gefühl in ihm entdekte, da er sah, daß Erfahrung ihn die Thorheiten hatte verabscheuen lehren, zu welchen er sich hinreissen ließ, so zweifelte der Graf nicht länger, daß er mit der Würde eines weisen und guten Mannes durchs Leben gehn würde, und daß er es wagen dürfte, ihm das zukünftige Glück Emiliens, für die er die Zärtlichkeit eines Vaters empfand, anzuvertrauen. Er zog sie einen Augenblick bei Seite, um ihr dies alles zu sagen — ihre Augen flossen von Freudenthränen über, als sie Valancourts edles Betragen gegen Herrn Bonnac erfuhr, und Wonne durchströmte ihr ganzes Wesen, dem Geliebten nunmehr alle Achtung und Liebe wieder geben zu können, womit sie so lange an ihm gehangen hatte.
Als sie ins Speisezimmer zurück kamen, empfiengen die Gräfin und Blanka Valancourt mit aufrichtigen Glückwünschen, und die letzte freute sich in der That so sehr, ihre Freundin wieder glücklich zu sehn, daß sie auf eine Zeitlang vergas, daß St. Foix noch nicht angekommen war, ohngeachtet man ihn seit mehrern Stunden erwartete — doch wurde ihr uneigennütziges Mitgefühl bald durch seine Erscheinung belohnt. Er war nunmehr vollkommen wieder hergestellt von den Wunden, die ihm sein gefahrvolles Abentheuer auf den Pyrenäen zugezogen hatte, dessen Erwähnung schon hinreichte, allen die dabei gewesen waren, das Gefühl ihres gegenwärtigen Glücks zu erhöhen. Neue Glückwünsche wurden zwischen ihnen gewechselt, und man sah rings um den Tisch eine Gruppe von Gesichtern, aus denen die Freude lächelte — nur hatte sie bei jedem ein verschiednes Gepräge. Blankas Lächeln war frei und munter; Emiliens zärtlich und nachdenkend — Valancourts abwechselnd zärtlich, entzückt und froh; St. Foix Freude war feurig, die des Grafen, wenn er rings auf die Gesellschaft um ihn her sah, drückte das gemäßigtere Gefühl des Wohlwollens aus, während der Gräfin, Heinrichs und Bonnacs Gesicht schwächere Spuren der Beseelung zeigten. Der arme Dúpont warf durch seine Gegenwart keinen Schatten von Trübsinn auf die Gesellschaft: sobald er entdeckt hatte, daß Valancourt Emiliens Achtung nicht unwerth war, beschloß er ernstlich an der Bekämpfung seiner eignen hoffnungslosen Liebe zu arbeiten und zog sich sogleich von Chateau Le Blanc zurück — ein Betragen, das Emilie jetzt verstand und mit Bewundrung und Mitleid belohnte.
Der Graf und seine Gäste blieben spät im süßen Genusse geselliger Freude und Freundschaft zusammen. Als Annette Valancourts Ankunft erfuhr, hatte Ludovico Mühe sie zurückzuhalten, daß sie nicht auf der Stelle ins Speisezimmer gieng, um ihre Freude auszulassen: denn sie erklärte, daß keine Sache auf der Welt — außer Ludovicos Wiedersehn sie jemals so glücklich gemacht hätte.
Blankas und Emiliens Hochzeit wurden an einem Tage mit der Pracht des Adels voriger Zeiten zu Chateau Le Blanc gefeiert. Die Ceremonie wurde im großen Saale vollzogen, der zu dieser Gelegenheit mit neuen kostbaren Tapeten behangen wurde, auf welchen die Thaten Carls des Großen und seiner zwölf Pairs vorgestellt waren. Die prächtigen Paniere des Hauses Villeroi, die lange im Staube geschlummert hatten, wurden noch einmal aufgepflanzt, um über den gothischen Spitzen der gemahlten Fenster zu wehen, und Musik hallte in manchem zögernden Schlusse durch jeden Winkel und Säulengang des großen Gebäudes wieder.
Valancourt und Emilie erhöhten einige Tage lang durch ihre Gegenwart die Freude in Chateau Le Blanc, und begaben sich dann nach La Vallée zurück, wo die treue Therese sie mit unverstellter Freude empfing, und wo die anmuthigen Schatten sie mit tausend zärtlichen Erinnrungen bewillkommten. Indem sie Hand in Hand durch die Gegenden hinwandelten, die Emiliens verstorbne Eltern so lange bewohnt hatten, wurde ihr gegenwärtiges Glück durch die Betrachtung erhöht, daß es des Beifalls der Verstorbnen werth gewesen seyn würde, wenn sie Zeugen davon hätten seyn können.
Valancourt führte sie zu den Ahornbaum auf der Terrasse, wo er zuerst ihr seine Liebe zu erklären wagte, und wo nun die Erinnrung an die Angst, welche er damals litt, der Rückblick auf alle Gefahren und Misgeschicke, die sie erduldet hatten, seit sie zuletzt unter den breiten Zweigen saßen, das Gefühl ihres gegenwärtigen Glücks erhöhte. Sie schwuren auf dieser, dem Gedächtniß des St. Aubert geheiligten Stelle feierlich, dieses Glück so viel an ihnen läge, durch Nachahmung seiner Wohlthätigkeit zu verdienen — sich stets zu erinnern, daß höhere Kräfte jeder Art auch höhere Pflichten heischten — und ihren Mitmenschen neben den Wohlthaten, welche der Begütterte stets dem Armen schuldig ist, das Beispiel eines Wandels zu geben, der in froher Dankbarkeit gegen Gott und damit verbundner sorgsamer Zärtlichkeit für seine Geschöpfe verflösse.
Bald nach ihrer Zurückkunft nach La Vallée kam Valancourts Bruder, um ihm zu seiner Heirath Glück zu wünschen, und Emilien seine Achtung zu bezeugen. Sie gefiel ihm so sehr, und die Aussicht auf die wahre Glückseeligkeit, welche diese Verbindung Valancourt darboth, machte ihm solche Freude, daß er ihm sogleich einen Theil der reichen Besitzungen abtrat, die nach seinem Tode, da er keine Erben hatte — ohnehin seinem Bruder zufallen mußten.
Die Güter zu Thoulouse wurden verkauft, und Emilie kaufte dafür Herrn Quesnel das alte Gut ihres Vaters ab, wo sie Annetten ein Heirathsgut gab, sie zur Haushälterin und Ludovico zum Verwalter machte. Sie selbst aber zog die lieblichen und lange geliebten Schatten von La Vallée der Pracht von Epourville vor; sie behielten es zu ihrem Wohnsitz, brachten aber jedes Jahr einige Monath zu St. Auberts Andenken an seinem Geburtsorte zu.
Emilie bat Valancourt um Erlaubnis, das Vermächtniß der Signora Laurentini an Herrn Bonnac abzutreten, und Valancourt fühlte bei dieser Bitte allen Werth der Aufmerksamkeit, die sie ihm dadurch bewies. Auch das Schloß Udolpho fiel der Gemahlin des Herrn Bonnac, als der nächsten Verwandtin dieses Hauses zu, und seinen lange niedergedrückten Lebensgeistern wurde dadurch Ruhe und seiner Familie Wohlstand wieder gegeben.
O wie süß ist es, von solcher Glückseeligkeit, als Valancourt und Emilie empfanden, zu erzählen! — zu sagen, wie sie nach allen Leiden unter der Bedrückung des Lasterhaften und der stolzen Verachtung des Schwächlings einander wiedergegeben wurden — wiedergegeben den geliebten Landschaften ihres Vaterlands — dem sichersten Glücke dieses Lebens nach moralischer und geistiger Vervollkommnung zu streben, das Wohlwollen zu üben, das von jeher ihre Herzen belebt hatte, und noch einmal La Vallée zum Aufenthalte der Güte, Weisheit und häuslicher Glückseeligkeit zu machen.
O möge es nützlich gewesen seyn, gezeigt zu haben, daß wenn auch der Lasterhafte zuweilen den Guten betrüben kann, seine Macht nur vorübergehend, seine Strafe aber gewiss ist, und daß die Unschuld, wenn gleich unterdrückt durch Ungerechtigkeit, durch Geduld unterstützt endlich das Unglück besiegen wird.
Wenn die schwache Hand, welche diese Erzählung niederschrieb, dem Leidenden auch nur eine Stunde des Kummers verkürzt, oder durch die darin enthaltene Moral es ihnen tragen gelehrt hat, so ist die Mühe — so gering sie auch war, nicht vergebens — die Verfasserin nicht unbelohnt geblieben.
Roy Glashan's Library
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