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"Das Erbe der Uraniden," Scherl-Verlag, Berlin, 1928
Auf einer Insel im Pazifik wird ein unterirdisch schwelender Atombrand entdeckt. Wisschenschaftler sagen voraus, daß er weiterfressen und schließlich die ganze Erde verschlingen werde. Dies ist das Alarmsignal, das die Menschen veranlaßt, sich nach einer neuen Heimat umzusehen. Wird es die Venus sein?
Daß dieser Planet bewohnbar ist, beweisen Funksignale, die von den Sternwarten aufgefangen und mit Hilfe mathematischer Symbole entschlüsselt worden sind. Sie stammen aber nicht von Venusbewohners, sondern von Menschen eines fernen Sonnensystems, die kürzlich auf der Venus gelandet sind: den Uraniden. Durch ein tragisches Geschick kommen diese unbekannten Raumfahrer sämtlich auf der Venus ums Leben, sie lassen jedoch wertvolle technische Informationen zurück, die weit über menschliches Wissen hinausgehen.
Nun beginnt ein erbitterter Wettstreit. Zwei Raumschiffe werden auf Kiel gelegt, die sich gegenseitig den Rang abzulaufen suchen. Der geniale Erfinder, von dem die Baupläne stammen, Gorm, hat sich währenddessen in die Einsamkeit eines Klosters im Himalaya zurückgezogen. Sein Gegenspieler Canning, vom Ehrgeiz verzehrt, glaubt alle Trümpfe in der Hand zu haben. Er startet als erster und zweifelt nicht, daß er die Venus und damit das kostbare Erbe der Uraniden in Besitz nehmen werde. Aber er hat die Rechnung ohne Gorm gemacht, den Verfemten, den er für immer ausgeschaltet zu haben glaubt.
In atemloser Spannung folgt der Leser dem dramatischen Geschehen, dessen verschlungene Fäden der Autor mit der Souveränität des meisterhaften Erzählers knüpft und entwirrt.
Seit den ersten Morgenstunden tobte die Schlacht. Der weite Luftraum zwischen den Vogesen und der Ebene von Chalons war erfüllt von den Schwärmen der kämpfenden Geschwader.
Der Angriff der russisch-mandschurischen Luftstreitkräfte stockte. Alles, was sich von der zertrümmerten westeuropäischen Luftmacht hierhergerettet hatte, bot, noch einmal zusammengerafft, dem überlegenen Feind die Stirn.
Das riesige Flugzeug des russischen Oberbefehlshabers stand, umgeben von einigen Reservegeschwadern, über der Rheinebene. Nur noch nach Stunden berechnete man hier den Widerstand der letzten westeuropäischen Kräfte. Die Nachrichten von der Südfront gegen Italien, von der Nordfront gegen Skandinavien meldeten nur unbedeutende Kampfhandlungen.
Die vierte Nachmittagsstunde brach an. Die Kämpfe hatten sich immer mehr auf die Gegend um Chalons konzentriert. Eine Meldung: »Ein Geschwader unserer Luftflotte auf der linken Flanke vernichtet!«
Der Höchstkommandierende empfing mit Erstaunen das Radiogramm… Ein ganzes Geschwader seines linken Flügels plötzlich vernichtet!? Sollten es spanische Reserven sein, die da eingegriffen hatten? Nach seiner Berechnung konnten sie noch nicht da sein.
Neue Meldungen gingen ein… Der Kampf wogte überall verlustreich weiter, doch es war aus den Berichten zu ersehen, daß die russisch-mandschurischen Luftstreitkräfte wieder im Vorrücken waren.
Eine neue Nachricht: der linke Flügel stark geschwächt! Mehrere Geschwader kampfunfähig!
Der Höchstkommandierende sprang auf. »Was geht da vor?« schrie er den nächststehenden Adjutanten an. »Woher diese starken neuen Feindkräfte? Fordern Sie sofort näheren Bericht!«
Dieser lautete: Keine Verstärkung der Westeuropäer, aber sie kämpfen plötzlich mit großem Glück, keine Erklärung dafür. Bitte um sofortigen Einsatz von Verstärkungen. Kann die übrigen Teile der Front nicht weiter schwächen.
Aus der Antenne des Riesenschiffes jagte der Befehl des Höchstkommandierenden durch den Äther:
Die Reserven nach vorn! Je fünf Geschwader von der italienischen und skandinavischen Front hierher zu mir!
Wie ein Schwarm hungriger Raben schossen die russisch-mandschurischen Geschwader in der Richtung der Kampffront davon. Es waren die besten der Flotte. Mit Ungeduld erwartete der Höchstkommandierende die Meldung von ihrem Eingreifen.
Währenddessen suchte er mit dem Fernglas den östlichen Horizont ab, von wo die geforderten Verstärkungen kommen sollten. Sie mußten in Kürze eintreffen. Die vorgeschickten Reservegeschwader sollten jetzt schon an der Front sein. Jeden Moment mußte eine Meldung von ihnen kommen. Die Meldung kam:
Sie waren da – und vernichtet!
»Vernichtet?!« Er schrie es, der eiserne russische Marschall. Die Depesche zerfetzte in seinen Händen.
Vernichtet! Seine besten, stärksten Geschwader, von ausgewählten Führern befehligt, aufs beste ausgerüstet, abgeschossen und in rauchende Trümmer verwandelt!
Minutenlang stand er, schwer atmend, die Faust geballt, die Augen stier ins Weite gerichtet. Da, neue Meldung:
Der linke Flügel zurückgedrängt! Nur mit Mühe halten sich noch die anderen Teile der Front. Neue Verstärkungen unbedingt erforderlich!
Der Luftmarschall las es… Verstärkungen wollen die? Woher nehmen?
Ein Adjutant trat neben ihn. »Die angeforderten Kräfte der Süd- und Nordfront sind im Anflug. Die Südgeschwader schon sichtbar.«
Der Kommandierende raffte sich zusammen. Auf sein graues Gesicht schien die Ruhe zurückzukehren. Nur ein leises Funkeln der Augen verriet die Erregung in ihm. Er öffnete die Lippen, wollte einen Befehl geben. Sein Mund schloß sich wieder.
Der Entschluß schien ihm nicht leicht zu werden. Dann – es mußte sein! Alles stand auf dem Spiel. Der Teufel schien denen drüben zur Seite zu stehen.
»Alle Kräfte der Süd- und Nordfront gegen Paris!«
»Alle?« Eine leise fragende Stimme aus der Umgebung.
»Alle!« Seine Blicke flogen düster drohend über den Kreis.
»Die ersten Geschwader von der Süd- und Nordfront werden in wenigen Minuten zur Stelle sein«, meldete ein Offizier.
Der Luftmarschall nickte. »Sie sollen uns folgen! Wir fliegen voran.«
Zehn Geschwader, an ihrer Spitze das Führerschiff, stießen in rasendem Flug auf die Front im Westen, die bald in Sichtweite kam.
Die Augen des Marschalls blitzten auf. Die Flügel der Nase, die wie der Schnabel eines Geiers im Gesicht stand, bebten in verhaltener Kampfeslust, bebten, als röchen sie schon Blut und Brand.
Schon konnte man die Linien erkennen… Nun wogten die Geschwader in wildem Kampf. Jetzt die einen in höchsten Höhen, um den Gegner zu überfliegen, ihn von rückwärts anzugreifen… Jetzt wieder andere, wie im Spiel sich gegenseitig überholend, dabei aus allen Rohren feuernd…
Ein ungeheures Gedröhn erfüllte die Lüfte. Wie das Gebrüll rasender Tiere klang es, stürzte ein besiegter Gegner brennend in die Tiefe.
Die weite Front, schmal war sie auf beiden Seiten geworden. Reste nur noch der langen Linien, die am Morgen in den Kampf getreten waren.
Steil gestaffelt übereinander rasten die kämpfenden Geschwader beider Gegner aneinander vorüber. Hier einer in höchsten Höhen, soweit die Düsen die Flugzeuge trieben – hier einer, beinahe, daß die Flügelspitze den Boden streifte. Kaum konnte man bei den hohen Geschwindigkeiten vom Führerschiff Freund und Feind unterscheiden.
Jetzt griffen neue zehn Geschwader ein – der Sieg war sicher!
Kommandos. Voran das Führerflugzeug, bogen die Geschwader nach Süden um. Hier schien der Feind am stärksten, schien er seine letzte Kraft eingesetzt zu haben.
Das Flugzeug des Luftmarschalls drehte rasch ab, um die Front für seine Geschwader freizumachen, stand gleich darauf beobachtend über der Mitte der Front. Jetzt stießen die Verstärkungen auf den schwachen Flankenschutz zu. Dieser floh jedoch nicht, sondern harrte aus.
Minuten später war keine Spur mehr von ihm zu sehen als ein paar Trümmer, die unten am Boden schwelten.
In das Knattern der Maschinengewehre, das Donnern der Geschütze mischte sich Jubelruf der östlichen Sieger, in rasendem Flug ging es weiter auf die jetzt ungedeckten Flanken der Westeuropäer zu. Nur noch Sekunden! Dann würden sie einbrechen, den Gegner überrennen, Tod und Vernichtung bringen.
Ein kurzes Aufblitzen an den Rümpfen der vordersten Geschwader – dann riesige Stichflammen. Die Maschinen neigten sich, als suchten sie den Boden… Dann ein Krachen… In alle Winde verstreut die Trümmer…
Als wäre nichts geschehen, waren schon die nächsten russisch-mandschurischen Geschwader herangekommen. Zu einem breiten Fächer entfaltet, den linken Flügel weit vorgezogen, trafen sie der Gegner.
Aus tausend Rohren sprühte ihr verderbenbringendes Feuer. Wie lange konnte es noch dauern? Mit heldenmütiger Todesverachtung nahmen die Westeuropäer den Kampf auf.
Ein furchtbares Ringen! Die Reihen der europäischen Geschwader waren dezimiert, doch immer wieder schlossen sie sich zusammen und hielten stand. Die Europäer kämpften offenbar mit unerhörtem Glück. Der russisch-mandschurische Angriff kam zum stehen.
Mit Entsetzen hatte der Luftmarschall, dessen Flugzeug, von den Hubschrauben getragen, hinter dem Zentrum der Front hielt, die neue Niederlage seines linken Flügels angesehen. Unerklärlich, unfaßbar! Hatten die Europäer neue, unbekannte Kampfmittel?
Als wären die Kämpfer von dem stundenlangen Ringen ermattet, wurde der Kampflärm schwächer. Wie auf Verabredung zogen sich die Flugzeuge aus dem Kampfgewühl – ordneten sich zu neuen Formationen –, bereiteten sich zur letzten Entscheidung vor…
Der russische Marschall verfolgte die Bewegung mit stiller Befriedigung. Zehn Minuten noch, dann mußten sie da sein, seine letzten Reserven aus dem Osten. Dorthin gewandt, suchte er mit dem Feldstecher den Horizont ab. – Von den Vogesen kam ein grauer Schwarm. Ein erleichterter Seufzer entrang sich der Brust des Luftmarschalls. Aber auch die Westeuropäer hatten das Herannahen der feindlichen Verstärkung erspäht. Auf ein Kommando ihres Führers warfen sie sich gleichzeitig mit ungeheurer Wut auf den Feind. Die Entscheidung mußte fallen, bevor Hilfe aus dem Osten heran war.
Beide Gegner kämpften mit verzweifelter Energie. Wußte doch jeder, daß dieser Kampf die Entscheidung bringen mußte über die Zukunft Europas – vielleicht der Welt.
Da! Der linke Flügel der russisch-mandschurischen Luftflotte wich. Fast unmittelbar hintereinander waren zwei volle Geschwader brennend zu Boden gestürzt. Ein drittes drehte ab, als wolle es fliehen. Das Führerflugzeug stieß dorthin, in den Kampf einzugreifen. Mit einem Geschwaderflugzeug zusammenstoßend, stürzte es mit ihm zerschmettert ab. –
Die Schlacht war entschieden. Die linke russisch-mandschurische Flanke war entblößt, wurde von den westeuropäischen Kräften umklammert, überflügelt. Immer weiter stießen die westeuropäischen Kräfte nach Norden vor. Jetzt waren sie im Rücken der russisch-mandschurischen Linie. Diese zog sich immer enger zusammen, wehrte sich mit wütenden Stößen wie ein eingekreister Löwe gegen die blitzenden Speere der Jäger.
Die östlichen Reserven, jetzt kamen sie, doch zu spät! Noch gerade recht, den Untergang der Freunde zu schauen. Zu Haufen stürzten die Reste der Flotte brennend, explodierend zur Erde.
»Zurück!« Das Funkkommando des Führers der herannahenden Reserven. In scharfen Kurven wendeten die Geschwader nach Osten, flohen, verfolgt von den Siegern.
Stark geschwächt erreichten sie die Rheinlinie. Auch die Zahl der Verfolger, ermüdet von den stundenlangen Kämpfen, war kleiner geworden.
Der Rhein war überflogen. Unter ihnen lagen die weiten Trümmerfelder der Industriegebiete.
Doch nun erschienen neue westeuropäische Kräfte, die, von Norden kommend, sich ihnen entgegenwarfen. Nur schwach war der Widerstand der fliehenden Geschwader. Entmutigt sanken sie unter den Flammengarben der Feinde dahin.
Drei nur – drei Raben, die die Kunde nach Osten brachten: Die Schlacht über der Katalaunischen Ebene war verloren. Die große russisch-mandschurische Luftarmada vernichtet.
Es war am Tage vor der großen Schlacht. Der Abend dämmerte bereits über den Ufern des Bosporus. Ein elegantes Reiseflugzeug setzte vom Flughafen in Pera ab. Zwei Insassen waren in der Kabine.
»Ich denke, wir werden morgen früh den Atlantik erreicht haben, Señor Canning. Ihr Flugzeug ist ja sehr schnell. Wäre mein Auftrag nicht so eilig, wäre ich gern damit einverstanden, den Umweg über Europa und die Vereinigten Staaten zu machen. Wir würden dann vielleicht Zeugen der Kämpfe in Frankreich werden.«
»Hm… ja, mein lieber Awaloff. Ich muß sagen, den Kämpfen da drüben beizuwohnen hätte auch für mich einen großen Reiz. Zweifellos ein Schauspiel ohnegleichen, mitanzusehen, wie sich die größten Luftflotten der Welt mit den fürchterlichsten Waffen, die je ein Menschengehirn erfand, gegenseitig vernichten.«
Der Sprecher machte eine Pause. »Ihr Auftrag verlangte größte Eile, wenngleich ich die Gründe nicht recht einsehen kann. Die Entscheidung in diesem Weltkampf zwischen Kommunismus und…« Er machte eine neue Pause, suchte nach einem Wort…
»Vollenden Sie nur, Señor Canning… ›und dem Kapitalismus.‹ Dies Wort fällt Ihnen als einem Musterexemplar dieser Gattung wohl etwas schwer?«
»Sie überschätzen meinen Besitz, mein lieber Awaloff.«
»Ich glaube nicht, Señor Canning. Ich bewundere Ihr Finanzgenie. Sie haben Ihre Gelder in Südamerika recht fruchtbar angelegt. Ihre Besitzungen haben einen achtbaren Umfang.«
»Verwechseln Sie Quantität nicht mit Qualität, mein lieber Awaloff; doch lassen wir das. Ich will Ihnen nicht widersprechen, wenn Sie in mir einen Kapitalisten sehen…«
»Einen Kapitalisten, der trotz seiner Reichtümer ein überzeugter Kommunist ist.« Awaloff gab sich keine Mühe, die Ironie, die in seinen Worten lag, zu verbergen… Er unterdrückte ein leichtes Gähnen. »Wie wäre es, wenn wir uns zur Ruhe legten?«
»Wie Sie wünschen, Awaloff.«
Robert Canning stieß die Tür zu einem Kabinett auf, in dem zwei Bettkojen hergerichtet waren. »Sie machen wohl den Anfang, ich will noch mit dem Chefpiloten sprechen.«
Als Canning wieder in das Kabinett trat, lag sein Begleiter anscheinend schon in tiefem Schlaf. –
Der Morgen graute. Der Russe sprang auf, wollte seinen Schlafgenossen wecken. Dessen Lager war leer. Awaloff kleidete sich an und trat in den Salon. Gerade, als Canning aus dem Pilotenraum dorthin kam.
»Ein bedauerlicher Zwischenfall, Herr Awaloff. Wir sind in der Nacht in die Irre geflogen. Ein Fehler am Kompaß ließ den Piloten den richtigen Weg verfehlen.«
»Und wo befinden wir uns?«
Canning deutete mit der Hand nach unten. »Über den Rhonebergen, wie wir mit Hilfe der Karte festgestellt haben. Doch sind wir im Besitz eines Reservekompasses. Die Fahrt wird von jetzt an ungestört vonstatten gehen.«
»Ah! Der Kompaß! Der Kompaß ist der Schuldige? Schlechtes Fabrikat wahrscheinlich. Der Fabrikant – zürnen wir ihm nicht – Vielleicht – wer weiß? – werden wir ihm später noch dankbar sein.«
Er begleitete seine Worte mit einem unverhohlenen Lachen. Canning stutzte einen Augenblick, dann stimmte er ein.
»Ich konstatiere mit Vergnügen, Herr Awaloff, daß wir uns verstehen… und ich hoffe auf Ihre Zustimmung, wenn ich vorschlage, nun auch den weiteren kleinen Umweg nicht zu scheuen und – «
»Richtung Paris zu nehmen«, vollendete Awaloff. »Wenn ich recht unterrichtet bin, steht ein Kampftag erster Ordnung bevor. Wir werden sehen und lernen.« –
Und dann hatten sie die Maschine höher emporgetrieben, waren nach Norden weitergeflogen, bis ihre scharfen Gläser die ersten Anzeichen des Kampfes faßten. Soweit die Düsen das Flugzeug treiben konnten, schraubten sie sich jetzt in die Höhe.
Schräg unter ihnen lag das Toben der Riesenschlacht. Mit fiebernden Pulsen sahen sie die Schale des Sieges sich bald hierhin, bald dorthin neigen. Hätte die Schlacht tagelang gedauert, sie wären nicht von der Stelle gewichen. –
Die letzten russisch-mandschurischen Kämpfer flohen nach Osten. Da brach der Bann. Die Gläser sanken von den Augen. Sie starrten sich an, als hätten sie die grausigen Bilder der Danteschen Höllenfahrt geschaut.
»Nach Süden!« schrie die heisere Stimme Cannings in das Sprachrohr.
»Nach Westen!« korrigierte Awaloff den Befehl.
Canning blickte ihn erstaunt an.
»Nach Westen… Warum das?«
»Weil auch in den Staaten da drüben die Entscheidung fällig ist. Ein Sieg dort dürfte vieles wiedergutmachen.«
»Richtig, Awaloff!«
Schon dehnte sich im stumpfen Grau des Abenddämmerns die endlose Fläche des Atlantik unter ihnen. Da brachte das Funkgerät bereits die ersten Meldungen aus den Staaten: Siege der Regierung über die eingedrungenen Feindkräfte! Die Nachrichten häuften sich in den nächsten Stunden. Immer neue Siegesberichte der Regierung.
In dem trügerischen Zwielicht glaubten sie manchmal große dunkle Schatten vorüberhuschen zu sehen. Nach Osten fliegende Geschwader?
Auf der Höhe des Atlantik empfingen sie die Nachrichten von der völligen Niederlage…
Jetzt war es entschieden! Mochten dort hinten in den gelben Reichen oder da unten im lateinischen Amerika die Kämpfe ausgehen, wie sie wollten, der Sieg der Regierung in den Staaten entschied das Schicksal.
Der kühne Versuch des russisch-mandschurischen Kommunismus, mit den neuen Waffen eine Weltrevolution durchzuführen, war gescheitert…
Die beiden in der Kabine saßen sich gegenüber, saßen lange so in nachdenklichem Schweigen. – Awaloff war es, der die Stille brach.
»Was nun? – Meine Aufträge für Südamerika dürften bedeutungslos sein…« Er schnippte die Asche von seiner Zigarette.
»Wünschen Sie, daß ich Sie irgendwo absetze, damit Sie zurückkehren können zu Ihren Freunden?«
Awaloff schüttelte lächelnd den Kopf. »Freundschaft?« Er blies einen Rauchring von sich, der langsam zerflatterte. »Nein, mein lieber Canning, wer weiß, was sich in Rußland in nächster Zeit abspielen wird. Ich habe vorläufig keinen anderen Wunsch, als mit Ihnen nach Südamerika weiterzufliegen… Meine Beziehungen zu den Sowjets bitte ich in Anbetracht der veränderten Umstände zur Zeit als gelöst zu betrachten.«
»Wie Sie wünschen, Awaloff. Morgen werden wir die Küste von Venezuela erreichen. Sie sagten soeben vorsichtigerweise ›zur Zeit‹. Warum das? Hatten Sie da die Möglichkeit ins Auge gefaßt, die Niederlage des Bolschewismus sei nicht endgültig?«
»Wer kann in die Zukunft schauen? Für absehbare Zeit dürfte allerdings die Sache hoffnungslos sein. In Rußland steht zweifellos eine Restauration bevor. Nachdem ich jahrelang für die Regierung gearbeitet habe, dürfte ich den neuen Machthabern nicht gerade genehm sein.«
»Haben Sie eigentlich Familienangehörige in Rußland, mein lieber Awaloff? Sie haben mir nie etwas darüber erzählt.«
Awaloff stand auf, ging ein paarmal nachdenklich auf und ab. Trübe Erinnerungen schienen in ihm aufzuleben.
»So hören Sie denn. Ich will mich kurz fassen. Ich heiratete in jungen Jahren, bald nach dem Zweiten Weltkrieg. Meine Frau war Tscherkessin, von großer Schönheit, wie sie den Frauen dieses alten Volkes oft zu eigen ist. Wir hatten ein Töchterchen, Maria, das unser ganzes Glück war. Während ich mit einem politischen Auftrag in Südamerika weilte, brach in Südrußland der große Aufstand aus, der so überaus blutig unterdrückt wurde und zur Verwüstung der betreffenden Gebiete führte.
Lange Zeit blieb ich ohne jede Nachricht über den Verbleib meiner Familie. Als ich endlich an unseren Wohnort im Kaukasus zurückkehrte, fand ich unser Häuschen zerstört. Kein Mensch konnte mir sagen, was aus meiner Frau und meinem Töchterchen geworden war. Alle Nachforschungen blieben ergebnislos. Ich habe nie wieder etwas von ihnen gehört.«
Awaloff fuhr sich über die Augen, als scheuche er trübe Bilder weg, dann trat er an das Fenster der Kabine und schaute lange zu dem hellen Sternenhimmel. Nur schwach tönte von unten das Rauschen der Ozeanwogen. Canning schritt langsam in den Gang, der zu dem Maschinenraum führte.
Awaloff ließ sich auf einen Sessel fallen, schloß die Augen – bemerkte nicht, wie sich das Flugschiff allmählich während der Fahrt aus seiner großen Höhe senkte… Er achtete nicht auf Canning, der jetzt wieder in die Kabine zurückkehrte, den rechten Arm hinter dem Rücken verborgen. Wie von ungefähr trat er hinter Awaloff. Da zuckte sein rechter Arm plötzlich in die Höhe. Die Faust, die einen Schraubenschlüssel umspannte, fuhr auf den Kopf des Nichtsahnenden hernieder. Lautlos sank Awaloff zu Boden.
Canning stand neben ihm, starrte auf den Leblosen.
»Auch ich möchte meine Beziehungen zu den Roten lösen«, sprach er hohnlächelnd vor sich hin, »du warst das erste und das letzte Band, das mich an sie knüpfte. Es ist zerrissen.«
Er warf einen scheuen Blick auf die Führerkabine. »Nun zu den Papieren.« Er beugte sich über den Daliegenden, untersuchte sorgfältig seine Taschen… Nichts. Sein Blick ging zu dem Gepäck Awaloffs. Sollten sie da… kaum anzunehmen. Er riß die Kleider auf… Ah, gewiß, so kostbaren Besitz trug man gut versteckt. An einer Schnur um den Hals befestigt ein kleines Paket – er riß es ab. Mit zitternden Händen entfernte er die Umhüllung.
Da waren sie, die Zeugen seines Verrats, die Berechnungen. Ah! Und da war ja auch sogar die Quittung über die drei Millionen, die er als Judaslohn seines Verrats bekommen hatte. Mit zitternden Händen steckte er das umfangreiche Paket in die Brusttasche seines Rockes.
Und jetzt – er eilte zum Höhenmesser – 5000 Meter nur noch über dem Meeresspiegel. Mit ein paar Sprüngen war er an der Kabinentür, löste die Sperrung, öffnete das Schloß. Treibende Wolken um das Schiff herum.
Jetzt stand er wieder bei Awaloff. Seine Arme umschlangen ihn, hoben ihn auf. Die starke, knochige Gestalt des Leblosen war schwer. Nur mit Mühe schleifte er ihn über den Boden zu der offenen Tür, verharrte einen Augenblick schwer atmend… Da! Awaloff schlug die Augen auf, blickte wirr um sich… die offene Kabinentür… Im Bruchteil einer Sekunde war es ihm klargeworden, was Canning beabsichtigte. Mit letzter Willensanstrengung raffte er alle Kräfte zusammen, hob sich in die Knie…
Canning, fassungslos, er hatte Awaloff tot geglaubt, stutzte einen Moment – dann, mit einem Wutschrei stürzte er sich auf ihn. In der Todesangst krampfte Awaloff seine Finger in den rechten Rockaufschlag seines Gegners. Vergeblich rang Canning mit ihm. Stürzte er ihn hinaus, lief er Gefahr, mitgerissen zu werden… Er machte seine rechte Hand frei, schlug Awaloff mit voller Kraft gegen die Schläfe. Dieser taumelte, der Griff seiner Hände lockerte sich… noch ein zweiter Schlag – Awaloff stürzte rücklings aus der offenen Kabinentür… Und als wolle Canning ihm nach, sprang er auf den Fallenden zu… »Die Papiere! Die Papiere!« schrie er laut. Beim Loslassen waren sie aus der Tasche gerissen, in Awaloffs Händen geblieben… Zu spät. Cannings ausgestreckte Hand erreichte sie nicht mehr, mit Mühe bewahrte er sich selbst vor dem Sturz.
Aufatmend trat er in den Raum zurück. Mögen die Papiere auch zum Teufel sein… So wären denn alle Bande, die mich an diesen Mann fesselten, zerrissen.
Sein Blick fiel auf den Handkoffer Awaloffs… Zerrissen?… Halt, noch nicht ganz!
Noch einmal öffnete er die Tür. Der Koffer folgte seinem Herrn in die dunkle Tiefe. Er schlug die Tür ins Schloß. Sein Blick ging zu dem Pilotenraum.
Er stutzte einen Augenblick. Die Besatzung würde sich wundern, wenn Awaloff bei der Landung fehlte.
Einen Ausweg! Er nahm eine Routenkarte zur Hand, blickte auf die Uhr. Der Flugplatz von Quito lag auf seinem Wege. Er würde ihn bei Dunkelheit erreichen.
Ein Befehl durch das Sprachrohr an den Piloten, in Quito zu landen.
Weithin dehnten sich die Pampas der Llanos de Menso im argentinischen Teil des Gran Chaco. Hier in der Nähe des Rio Vermejo lagen die ausgedehnten Besitzungen van der Meulens. Von hier aus wanderten jahraus, jahrein unabsehbare Viehherden in seine Schlachthäuser, um von dort in gefrorenem Zustand in die Welt verfrachtet zu werden.
Am Ufer des Rio Vermejo, in einer landschaftlich unvergleichlich schönen Lage, hatte sich van der Meulen inmitten seiner Besitzungen ein schloßartiges Landhaus errichtet, in dem er einen Teil des Jahres zuzubringen pflegte. Auf einer von hohen Spiegelscheiben umkleideten Veranda, die nach Süden zu auf den Fluß schaute, saß er am Teetisch. Schon berührte die Sonne den Horizont, und schnell wuchsen die Schatten der Dämmerung.
»Wo nur Hortense bleibt, Miß Violet«, wandte er sich an ein junges Mädchen, das ihm gegenübersaß. »Schon steht die Sonne tief. Diese einsamen späten Spaziergänge«, er schüttelte den Kopf, »selbst Ihre Begleitung, meine liebe Miß Violet, lehnt sie ab, die Sie ihr doch im Laufe der Zeit immer mehr Freundin geworden sind. Ich bin erst seit ein paar Tagen hier. Tat sie das auch schon vorher?«
Das junge Mädchen nickte.
»Unbegreiflich! Dazu ihr schlechtes Aussehen… sie macht mir Sorge. – Sollte sie eine Nachricht von Robert Canning, ihrem Verlobten…?«
»Ich glaube kaum«, kam es zögernd aus Violets Munde.
»Seine Reise zu dieser Zeit? Daß seine Geschäfte in Europa so dringend sind… nach Europa, wo es drunter und drüber geht, kein Mensch seines Lebens sicher ist?«
Unter dem forschenden Blick van der Meulens vermochte Violet nur mit Mühe die aufsteigende Verlegenheit zu unterdrücken.
»Sie wird sich vielleicht ängstigen.«
»Hortense sich ängstigen, um Canning? Meinen Sie das ehrlich, Miß Violet, oder sagen Sie das nur, um etwas zu sagen?«
Während das junge Mädchen noch nach einer Antwort suchte, ertönten aus dem Radioapparat die neuesten Nachrichten vom Kriegsschauplatz:
»Teile der geschlagenen roten Streitkräfte in Nordamerika auf der Flucht nach dem Süden… stehen kurz vor der Vereinigung mit denen, die von Süden her abgedrängt sich der Panamagegend nähern… Aller Voraussicht nach werden die roten Kräfte nach ihrer Vereinigung noch einmal das Schlachtenglück versuchen…«
Van der Meulen nickte befriedigt vor sich hin. »Sie werden’s vergeblich versuchen. Der Tanz dürfte endgültig ausgespielt sein. Mag auch vielleicht noch manches Blut fließen, manches Gut zerstört werden. Das arme Europa, wie mag’s da aussehen…«
Die Kämpfe hier in Südamerika waren im Verhältnis zu denen in den anderen Teilen der Welt geringfügig. Sie spielten sich Hauptsächlich in den großen Städten der südamerikanischen Küste ab. Im Inneren, besonders hier im Gran Chaco, hatte man nichts davon gespürt. Die Entscheidung des riesenhaften Wettkampfes lag in Europa und in Nordamerika. Zitternd und bangend hatte man überall den dortigen Gang der Ereignisse verfolgt.
Die Nachrichten waren furchtbar… Im Verlauf der Schlachten, die mit neuen Kampfmitteln geschlagen wurden, war halb Europa, halb Nordamerika in Asche, in Trümmer gesunken. Unabschätzbar war die Zahl der Menschenopfer. Von Millionen sprachen die Gerüchte. Die Kämpfe waren fast ausschließlich Luftschlachten. Die Zahl der Truppen auf beiden Seiten war zwar nicht sehr groß, desto größer die Zahl der an den Kämpfen unbeteiligten Opfer.
Terror, das schrecklichste Kampfmittel, rücksichtslos angewandt, um die Zivilbevölkerung zu zermürben, ihre Regierungen gefügig zu machen…
Die Höllenbomben, geladen mit Atomenergie, auf große Städte, Landschaften niedergeworfen – kilometerweite Wüsten entstanden. Tag und Nacht wüteten Riesenbrände, in ihren Flammen Millionen verschlingend.
Weltuntergang für das Auge dessen, der die Schreckensbilder schauen konnte, ohne wahnsinnig zu werden.
Die große Luftschlacht! »Die Entscheidungsschlacht über den Katalaunischen Feldern!« Der letzte Bericht der siegreichen Weißen aus Europa fing so an. Verkündete den Millionen, die der Radiobotschaft lauschten, den Gang der Schlacht.
Van der Meulen hatte diesen Bericht mit dem Magnetophon aufgenommen. Seine Ohren hörten immer wieder die schicksalsbedeutenden Worte. Er schüttelte nachdenklich den Kopf.
»Sonderbar! Kaum glaublich, wie man es vermochte, der furchtbaren Übermacht standzuhalten, zu siegen. Unser rechter Flügel – als wäre Sankt Michaels Schwert bei ihm gewesen – Wunder von Heldentaten verrichtete er…
Die schärfsten Angriffe der roten Flotte, gegen ihn gerichtet, hatte er immer wieder blutig zurückgewiesen… Ein Wunder ist es… Ein Wunder bleibt es!«
Die Abendsonne berührte schon die Bergkämme im Westen. Noch eine kleine Weile, dann war sie verschwunden. Wie durch Zauberschlag waren plötzlich die Tausende von Vögeln, die die weiten Parkanlagen der Hazienda bevölkerten, verstummt. Der kalte Wind, der aufkam, brachte der nach Kühlung lechzenden Natur die ersehnte Labung.
Hortense van der Meulen, die auf einer Bank an dem kleinen Parkweiher gesessen, erhob sich. Sie richtete ihre Schritte dem Haus zu. Doch dann besann sie sich und ging tiefer in den Park hinein. Immer eiliger wurden ihre Schritte. Fast lief sie die kleine Anhöhe hinauf, die, am Rande des Parkes gelegen, einen Blick über das Ganze bot. Vor ihr rauschten die breiten Wasser des Rio Vermejo.
Ihre Augen glitten über die dunklen Fluten. Unbewußt, wie mechanisch, bewegten sich ihre Füße immer näher an den Rand des Wassers, als folge sie den süßen, lockenden Stimmen, die, aus den Strudeln kommend, ihre Sinne umschmeichelten.
Hier wäre Ruhe, Befreiung von all der Qual.
Das glitzernde Mondlicht, das, durch die Zweige fallend, auf den Wassern sein Spiel begann, brach den Bann. Sie schlug die Hände vors Gesicht.
Mutter, Mutter, hätte ich dich noch, zu dir würde ich mich flüchten. Der Vater? Gewiß, er liebt mich, liebt mich abgöttisch. Und doch – Violet! Ihr harmloser, kindlicher Sinn, ihr einfaches Fühlen und Denken… auch bei ihr würde ich kein Verständnis finden.
Robert Canning… was ist es eigentlich, was mich ihn lieben und hassen läßt? Ist er fern von mir, ist mein Herz kalt… kaum ein freundlicher Gedanke an ihn… Und seine Fehler! Ich sehe sie groß… er blieb mir innerlich fremd…
Und dann kommt er zu mir – ich sehe seine Gestalt, ich höre seine Stimme…
Vergeben, vergessen scheint alles! Der schmeichelnde Ton seiner Worte lullt meine Sinne ein, nimmt mich gefangen. Ich wehre mich innerlich und dulde ihn doch. Warum gab ich ihm unter den vielen, die sich um meine Hand bewarben, mein Wort? – Gewiß, ich duldete seine Bewerbung, aber nahm sie kaum ernster als die anderer.
Die Entscheidung an jenem Frühlingstag, als wir nach langem Ritt, vom Pamperosturm überrascht, in der Strohhütte der Hirten Schutz suchten… Ich gab ihm das Jawort… Gab ich’s ihm? – Er nahm es sich. Willenlos seinem stürmischen Werben gegenüber, vermochte ich nicht, ihn abzuweisen.
Der Vater, zuerst froh, hieß ihn herzlich willkommen. Doch schon längst fühle ich, daß auch er sich gewandelt, fühle, wie ein geheimes Mißtrauen, eine geheime Abneigung in ihm immer größer wird.
Wollte ich heute die Verlobung lösen, ich würde von Vaters Seite keinen Widerstand finden. Doch ich fühle nicht die Kraft zu dem Entschluß, zerbreche an dem Widerstreit in meinem Herzen.
Wie oft hab’ ich’s versucht… ergriff die Feder, ihm den Absagebrief zu schreiben. Schrieb ihn auch – und zerriß ihn wieder. Wer ist’s, bei dem ich Zuflucht suchen könnte?
Den Kopf zurückgeworfen, starrte sie zu dem schimmernden Sternenhimmel.
Oh, könnte ich fliehen – zu euch da oben fliehen, ihr Sterne… Weg von hier! Hinaus in die Welt!
Ruhe – Frieden! Vielleicht, daß ich sie fände…
Durch die offene Tür trat Hortense. Van der Meulen ließ einen forschenden Blick über sie gleiten. Wortlos nahm sie am Teetisch Platz, so daß ihr Gesicht nicht im Licht der Lampe war.
»Diese späten Spaziergänge, Hortense… die Kühle der Nacht dringt schon hierher…«
»Du sorgst dich unnötig, Vater. Der Genuß dieser wunderbaren Natur hier ist in der Abendkühle erst vollkommen.« Während sie die Worte sprach, zog sie wie fröstelnd ihren leichten Schal dichter um die Schultern.
Violet war aufgesprungen.
»Ein Glas heißen Tee, Miß Hortense.« Sie setzte das volle Glas von Hortense auf den Tisch und breitete ein zweites Tuch um sie.
Hortense trank mit vollen Zügen. Unter der Wirkung des heißen Getränkes belebten sich ihre bleichen Züge.
»Danke, liebe Violet.«
Ihr Blick fiel auf das Radiogerät.
»Neue Nachrichten?«
Der Vater berichtete über die letzte Meldung.
»Die roten Kräfte werden von Süden und Norden her zusammengetrieben. Sie sammeln sich über dem Isthmus von Mittelamerika. Es ist ungewiß, zu welchem Zweck. Zu letztem Widerstand, zu gemeinsamer Flucht? Hoffen wir, daß Robert Canning auf seinem Flug nach dem Süden nicht in die streitenden Parteien hineingerät. Und wäre es auch nur, daß er mit Flüchtigen zusammenstieße.«
Als berühre sie das nicht, wandte sich Hortense zu der Landkarte, die auf dem Tisch ausgebreitet war.
»Die Schlacht über dem Isthmus – wenn es dazu kommen sollte – dürfte wohl die letzte dieses schrecklichsten aller Kriege sein. Dann wäre endlich Frieden auf Erden.«
Aus dem Radioapparat ertönten wieder Nachrichten aus aller Welt. Jubel überall, Ausbrüche triumphierender Freude; doch darin mischte sich bereits mehr oder weniger deutlich die Frage: Wer war der Schuldige?
Und immer wieder der Name Gorm, Weland Gorm, der Geheimnisvolle. Es lag ja so nah! War doch aus seinem Hirn die Erfindung entsprossen, aus der verbrecherische Hände diese Waffe geschmiedet hatten, durch die dieser Krieg erst ermöglicht wurde.
Hortense erhob sich, ging zu einem Zeitungsständer, ergriff ein Blatt, setzte sich wieder. Gorm… Hier war sein Bild. Dieser Mann sei der Schuldige? Ihre Augen hafteten an dem Bild, betrachteten es lange. »Dieser Mann? Ich möchte ihn wohl gern einmal sehen.«
»Ob er überhaupt noch lebt?« warf van der Meulen ein. »Schon seit langem hat man nichts von ihm gesehen oder gehört.«
Violet hatte das Blatt ergriffen. »Möglich, daß ich ihn mal gesehen habe. Er war mit meinem Onkel Jonas Lee befreundet, bevor dieser seine Unglücksfahrt zum Mond antrat. Vielleicht kennt ihn mein Bruder.«
»Ah, interessant, Miß Violet. Ihr Bruder… übrigens, er wollte Sie hier immer einmal besuchen.«
»Oh, ich glaube, das wird so leicht nicht eintreten. Er kennt nichts als seine Arbeit. Tag und Nacht sitzt er in dem Laboratorium an seinen geliebten Apparaten, wenn er nicht gelegentlich zur Erholung tollkühne Flüge mit seiner Maschine unternimmt. Alles ein Erbe des Oheims. Im stillen habe ich nur immer die Befürchtung gehabt, daß er auch an diesen Kämpfen teilnimmt. Verwegen genug ist er dazu.«
»Nun«, hier mischte sich van der Meulen ein, »so müssen wir ihn unbedingt mal herkommen lassen. Ein längerer Erholungsflug wird ihm nicht schaden können.«
Violet reichte das Blatt mit einem leichten Erröten zurück. »Ich möchte beinahe sagen, daß mein Bruder Ronald eine gewisse entfernte Ähnlichkeit mit Gorm hat. Nun, hoffentlich blüht ihm ein besseres Schicksal als diesem. Gorm! Wie ist es möglich, daß man immer wieder die alten Beschuldigungen vorbringt? Alle Welt weiß doch, daß das Staatsgeheimnis der neuen Erfindung durch den Verrat eines hohen Beamten den Roten in die Hände gespielt worden ist… Welche Schuld kann man da Gorm beimessen?«
»Das ist der Gang der Welt«, warf van der Meulen ein.
»Kaum ein paar Jahre ist es her, da schrien sie Hosianna…
…und jetzt wollen sie ihn ans Kreuz schlagen… Das zeigt doch nur, wie recht die hatten, die damals meinten, die Menschheit sei noch nicht reif, nicht wert der großen Tat Gorms.«
»Schon seit Ausbruch des Krieges hetzt man gegen ihn«, sagte van der Meulen. »Daß man jetzt Stimmen hört, die die Einsetzung eines Gerichtshofes verlangen – ich halte es vorläufig nur für einen Bluff –, zeigt, daß das alles doch nicht leicht zu nehmen ist.«
Hortense versuchte zu lachen.
»Einen Gerichtshof! Weltgericht! Weltacht! Ich glaube, die Menschheit ist toll geworden.«
»Toll! Hortense, du sprachst das rechte Wort. Sie ist toll nach diesem Krieg, sie rast, sie will ein Opfer!«
Robert Canning saß in seinem Flugzeug. Vergeblich suchte er sich von der Erinnerung an die Nacht freizumachen. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu dem Geschehenen zurück.
Der Sturz Awaloffs in die Tiefe… Nur wenige Meter weit konnten seine Blicke dem fallenden Körper folgen. Dann verschlang ihn die Finsternis.
Was geschah weiter? Er zweifelte nicht, daß Awaloff, durch seinen Faustschlag betäubt, besinnungslos den Sturz durchfiel…
Und gerade diese Szene, die er nicht bis zum Schluß erschauen konnte, trat immer wieder vor seine Augen. Er verfolgte den Körper von Meter zu Meter. Minuten mußte es dauern, bis Awaloff auf die Oberfläche des Meeres aufschlug. Im Geiste sah er die Flut unter dem rasenden Anprall des menschlichen Körpers hoch aufspritzen. Zerschlagen und zerrissen mußte dabei werden, was von Awaloff noch lebte.
Gott sei Dank, du warst kein Kind mehr, Awaloff! – Kinder haben zuweilen Schutzengel, die ihre Flügel in der Gefahr um sie breiten; er lachte ein häßliches Lachen. Awaloff… Der Faustschlag hatte ihn nicht ganz betäubt. Wohl mußte er den Körper seines Gegners, an den er sich klammerte, loslassen und fühlte sich plötzlich ins Leere taumeln, fallen. Der Schrei, den er ausstoßen wollte, erstickte in der Brust.
In Bruchteilen von Sekunden durcheilte sein Geist die letzte Zeit seines Lebens.
Dieser Abschluß! Wie lange noch? Unendlich schien ihm die Zeit… dann würden sich die Wogen des Ozeans über ihm schließen. Eine Art wohliger Ruhe überkam ihn… die letzten Sinne schwanden… ein Traum nur noch –
Da! Wie ein Schlag ging es durch seinen Körper. Die Hände griffen um sich… Wasser? Nein! Etwas Festes… Hartes!
Er hatte ein unbestimmtes Gefühl, als wäre der Fall unterbrochen, als schwebe er, risse ihn etwas vorwärts.
Er fühlte, wie ein rasender Sturmwind an ihm zerrte, ihn wegzufegen drohte. Fester klammerten sich seine Fäuste um den Halt, den sie gegriffen.
Was war das? Wo war er?
Die Überraschung war zu groß, zu ungeheuer! Aufs neue schwanden ihm die Sinne… Er fühlte kaum, wie die kräftige Faust eines Mannes ihn packte. Dann war er bewußtlos.
Als er wieder erwachte, sah er mit wirren Blicken um sich, wie einer, der schon als tot, begraben, aus dem wieder geöffneten Sarg gehoben wird. Nur langsam begann sein Geist zu arbeiten…
Aber… Was war das? Seine Blicke gingen in die Runde… Er war ja im Flugzeug!
Ein Schrei der Erlösung brach aus seinem Munde… Ein Traum nur alles, ein fürchterlicher Traum nur. Er war ja gar nicht aus der Maschine gestürzt, war ja noch hier… Ein Traum, der ihn entsetzlich gemartert hatte.
Der andere da drüben im Halbdunkel… Canning mußte es ja sein… Canning, sein Freund!
Tief atmend schloß er die Augen. Er versuchte, das fürchterliche Traumbild aus der Erinnerung zu verscheuchen… Er wollte Canning rufen. Die Lippen versagten.
»Hier! Nehmen Sie eine Erfrischung, Mann! Sie können’s wohl gebrauchen.«
Beim Klang dieser Stimme riß Awaloff die Augen auf, schaute ihm ins Gesicht. Die Lippen, die das Wort Canning bilden wollten, verstummten. Dieser Mann dort war ja nicht Canning… ein Fremder, eine fremde Stimme, die zu ihm sprach.
Er fühlte nur undeutlich, wie ihm ein Glas Kognak an die Lippen gesetzt wurde. Gierig trank er es leer. Unter den belebenden Geistern des schweren Getränkes fand er sich ganz wieder.
»Wer sind Sie? Wo bin ich? Ich glaubte, ich hätte geträumt…«
»Leider nicht, mein Lieber! Der Traum war bittere Wirklichkeit. Von Ihres Begleiters Hand betäubt, stürzten Sie aus dem Flugzeug.«
»…Von Cannings Hand betäubt, stürzte ich aus dem Flugzeug…« Monoton wiederholte Awaloff die Worte, unbewußt den Namen Cannings einfügend. »Ja, es ist wahr… so war es… und unter mir das Grab des Ozeans… Und jetzt! Sagen Sie mir, wo ich bin.« Er schrie es, versuchte aufzuspringen. »Lebe ich oder bin ich tot?… Bin ich Awaloff?… Oder wer bin ich…«
Mit Augen, in denen Wahnsinn stand, starrte er umher. Der andere legte den Arm um ihn, zwang ihn in den Ruhesessel zurück.
»Seien Sie ruhig, Herr Awaloff, wie Sie ja wohl heißen mögen. Nehmen Sie dieses Pulver, es wird Ihnen Schlaf bringen. Wenn Sie wieder bei Kräften sind, werde ich Ihnen Aufklärung geben. Jetzt schlafen Sie ein… mit dem Gedanken, daß Sie leben und gerettet sind.«
Der Fremde trat zurück, ging zu dem Maschinenraum. Es war kein Pilot darin. Sein Auge ging prüfend über die Karte und die Kompaßscheibe. Dann trat er zur automatischen Steuerung, bewegte ein paar Hebel und nickte vor sich hin. Der Kurs war in Ordnung.
»Canning – der Name aus dem Munde dieses unverhofften Gastes bestätigte meinen Verdacht – ich konnte seine Züge durch die Scheiben der Kabine nicht mit voller Sicherheit erkennen… Robert Canning! – Was muß da vorgefallen sein, daß du zum Verbrecher, zum Mörder wurdest?«
Seine Gedanken flogen zurück. Seine Studienzeit in Gent. Canning war, wie er, als Hörer an der Universität. Er erinnerte sich seiner genau. Damals machte er viel von sich reden. Von maßlosem Ehrgeiz besessen, strebte er nach den höchsten Zielen der physikalischen Wissenschaft, wobei das Wollen mit dem Können nicht in rechtem Einklang stand, öfter als einmal hatte Canning geglaubt, eine hochwichtige Entdeckung gemacht zu haben, die zunächst großes Aufsehen erregte, aber einer ernsten Prüfung nicht standhielt.
Er hatte ein gewisses Mitleid mit Canning gehabt. Waren doch die Grundideen seiner Erfindungen und Entdeckungen meistens richtig, nur ihre Weiterführung fehlerhaft oder unmöglich.
Er hatte Canning dann aus den Augen verloren, wußte nur, daß er sich später in Paris als Privatgelehrter niedergelassen hatte. Wie konnte dieser Mann so tief sinken? –
Ein Zufall hatte ihn jetzt in Cannings Bahn geführt. Er hatte dessen Maschine eben in Sicht bekommen, als er sie plötzlich aus der bisherigen Flughöhe abwärtsgehen sah… Ein Defekt? Ein Unfall? Er war ihr mit abgeblendetem Licht nachgestoßen und sah sie ihren Weg in der geringen Höhe fortsetzen. Schon wollte er wieder nach oben gehen, da wurde er Augenzeuge des Verbrechens.
Was tun? Instinktmäßig trieb er sein Flugzeug näher heran… Da sah er mit Entsetzen, wie Canning gerade sein Opfer herausschleuderte…
Nur eine Sekunde, dann stieß er seine Maschine mit voller Energie senkrecht in die Tiefe, unterfuhr noch schneller im Sturz den Stürzenden, fing ihn sanft mit dem Rumpf seines Flugzeuges auf…
Der leichte Aufprall des Fallenden gab ihm Gewißheit, daß der kühne Versuch geglückt war. –
Er trat wieder in die Kabine… Da lagen am Boden noch die Papiere, die die starre Faust des sonderbaren Gastes umklammert hielt, als er ihn in sein Flugzeug hereinholte. Er bückte sich, hob sie auf, ließ sich am Tisch damit nieder.
Lange Zahlenreihen, unterbrochen von dazugehörigen Ausführungen… Die Buchstaben tanzten vor seinem Gesicht. Er legte sich zurück, schloß die Augen, starrte wieder darauf… Diese Zahlen, diese Ausführungen… Als wäre der Blitz neben ihm eingeschlagen, sprang er auf und lief in dem engen Raum ruhelos hin und her.
»Unmöglich! Unmöglich!« Immer wieder schrien seine Lippen das Wort. Immer wieder beugte er sich über diese Blätter, als müßte er sich vergewissern, daß es Tatsache wäre, daß er nicht träume. Die maßlose Erregung übermannte ihn, daß er kraftlos in dem Stuhl zusammensank. Sein Atem ging schwer, er preßte die Fäuste an die Stirn…
Wie war das möglich?
Die erste Niederschrift dieser Blätter war von seiner eigenen Hand erfolgt. Er sah sich sitzen in dem mit den stärksten Mitteln der Technik geschützten Panzergewölbe der Europa-Bank. Vor ihm ein einfacher Tisch, dabei ein gewöhnlicher Bretterstuhl, Tinte und Feder, ein Stoß weißes Papier.
Die Apparate, die die neue Energie lieferten… und kein Mensch dieses Zeitalters, der ihre Einrichtung kannte, der sie nachbauen konnte.
Für den Fall – für den unmöglichen Fall, daß sie einmal versagen sollten – in der Europa-Bank sollten dafür die Berechnungen und Konstruktionen in versiegeltem Umschlag deponiert bleiben. Um jede Möglichkeit, daß die Dokumente gestohlen werden könnten, zu vermeiden, hatte er die Aufzeichnungen hier im Tresor eigenhändig geschrieben und gezeichnet. Sie waren von ihm selbst in den Umschlag getan und versiegelt worden. Von seiner Hand waren sie in den stärksten Panzerschrank gelegt worden. Vor seinen Augen war dieser Schrank unter den größten Vorsichtsmaßnahmen im Beisein der Vertreter aller europäischen Staaten geschlossen worden. Die Schlüssel und das Geheimnis, damit die Tür zu öffnen, waren verschiedenen europäischen Regierungen übergeben, die das Anvertraute durch stärkste Sicherheitsmaßregeln zu beschützen hatten. Keiner war ohne die Hilfe aller anderen in der Lage, diesen Tresor zu öffnen.
Und jetzt! – Es mußte doch geschehen sein! Wie wäre es sonst möglich gewesen, daß eine Abschrift jetzt hier vor seinen Augen liegen konnte? Ein Diebstahl, ein gewaltsamer Raub lag gänzlich außer dem Bereich jeder Möglichkeit. –
Und dann – er preßte die Hand aufs Herz –, wie eine böse Ahnung war es schon damals in ihm aufgestiegen, als die Sowjets, im Besitz von Waffen, die nur nach seiner Erfindung gebaut sein konnten, im neuen Weltkrieg kämpften.
Denn die Stimmen der Millionen, die ihm ins Ohr gellten… du bist es, der all das Elend verschuldet hat, das über die Welt gekommen ist. Teufelswerk deine Erfindung, mit der du der Welt ein Paradies zu bereiten versprachst… du, an dessen Hand das Blut unzähliger schuldlos Gemordeter klebt…
Die Ahnung, sie war wahr geworden. Hier lagen vor ihm die Beweise… Lüge war alles, was über den verräterischen Verkauf des Apparates durch einen hohen Regierungsbeamten geredet wurde. Lüge war das alles! Vielleicht fand er auch hierfür die Beweise… Mit bebenden Händen durchblätterte er die Papiere.
Hier ein anderes Blatt! Eine andere Schrift! ›Robert Canning‹ lautete die Unterschrift. Eine Quittung über den Empfang von drei Millionen Rubel für die Übergabe der Berechnungen an Awaloff.
Wie ein rasendes Tier sprang er auf, starrte zu dem Mann hin, der da besinnungslos vor ihm lag. Mit geballten Fäusten stand er über ihm. Er wollte sich auf ihn stürzen… Du und er! Doch nein, der Hauptschuldige war ja der nicht, das war Canning.
»Canning!« Die Stimme, die den Namen schrie, war die eines gereizten Raubtieres. »Du, Canning, Robert Canning, der größte Schurke, den die Geschichte der Menschen je gekannt.« Er lief in dem Raum hin und her. Hätte er ihn hier gehabt, er hätte ihn erwürgt…
Die Stunden verstrichen, er wußte nicht, wie viele… Der Fund hier! Um keinen Schatz der Welt hätte er ihn aus der Hand gegeben – ihm gehörte er, keinem anderen in der Welt!
Diese Papiere als Waffe in der Hand! Wer würde es noch wagen, einen Stein auf ihn zu werfen? –
Canning! Ihn finden, an den Pranger stellen. Kein anderer Gedanke mehr! Er sah sich im Geiste diesem Manne gegenüberstehen, ihm die Beschuldigung ins Gesicht schleudern… Das glatte Gesicht tauchte vor seinem Auge wieder auf…
Und dann hielt er plötzlich still. Es war ihm, als stünde Canning vor ihm mit höhnisch lachendem Gesicht und fragte: Die Papiere, Gorm? Liegen sie nicht noch in der Europa-Bank? Sind die Siegel nicht noch unversehrt? – Ich hätte dich bestohlen…? Fast körperlich hörte er ihn höhnisch lachen… Deine Arbeit? Nein, meine Arbeit ist das! Du glaubst der einzige unter den Millionen zu sein! Du täuschtest dich! Ich, auch ich habe es erreicht, das Geheimnis ergründet… Und wenn ich es den anderen gab… nun, warum sollt’ ich’s nicht? Du gabst es den Weißen, ich gab es den Roten. Was geht’s dich an?
Hochatmend sank er in den Stuhl. Kein Wort würde er glauben… und doch, Canning ein Verbrechen beweisen… wie sollte das möglich sein? Die Schuld, die ungeheure Schuld, sie klebte fest an seinem Namen. Der Haß der Welt, fortlebend, ihn ächtend, blieb.
Den Beweis von Cannings Schuld, wie sollte er ihn je führen können… Damals, als der Krieg begann, war auf seine Veranlassung der Tresor geöffnet worden, das Dokument, die Siegel unversehrt gefunden. Doch wie hatte Canning das Geheimnis des Tresors gefunden?! –
Die aufgehende Sonne rief ihn in die Wirklichkeit zurück. Sorgsam glättete er jedes der Blätter, ordnete sie, legte sie zusammen und barg sie an seiner Brust. Keine Macht der Welt sollte sie ihm wieder entreißen.
In den Straßen von Lahore herrschte wieder das gewohnte Leben und Treiben. Wohl hatten sich die blutigen Ereignisse des Krieges auch hier ausgewirkt. Doch war die bolschewistische Bewegung, noch ehe sie sich ganz entfalten konnte, durch die Ereignisse in Europa und Nordamerika erstickt worden. Auf einem kleinen Platz neben der Hauptstraße stand eine Gruppe von Menschen, die interessiert der Vorstellung eines Gauklers folgte.
Dieser, ein älterer Mann, braunhäutig wie ein Hindu, hatte unverkennbar mongolischen Einschlag. Er blies auf einer kleinen Flöte, während zwei Kobras mit aufgeblähtem Hals zischend ihre Körper nach den Klängen der monotonen Musik wie im Tanz hin und her wiegten. Es war das alte Schauspiel, das die Bewohner Lahores schon zu den Zeiten der Mogulkaiser unterhalten hatte und auch heute immer noch hinreichte, Schaulustige heranzuziehen.
Jetzt setzte er die Flöte ab, faßte mit geschickten Griffen die Schlangen und tat sie in den Bastkorb. Dann begann er von neuem zu spielen, und ein junges Mädchen, das mit einem Blechteller umherging, armselige Kupfermünzen einzusammeln, warf hastig ein paar Schleier über und begann zu tanzen. Der Kreis der Zuschauer wurde jetzt größer. Erwartungsvoll sah alles auf den Tanz. Es war keiner von denen, wie sie die Straßengauklerinnen zu zeigen pflegten. Etwas Fremdes, Ungewöhnliches lag darin. Es waren nicht die blitzschnellen, aufgelösten Bewegungen der bekannten Tänze, es war vielmehr ein feierliches Schreiten, bei dem der ganze Körper in ausdrucksvollster Bewegung mitging. Dazu die fast starren Gesichtszüge, die Augen wie die einer Somnambulen traumhaft in die Weite gerichtet.
Den meisten schien diese Art des Tanzes indes wenig zu gefallen. Der Kreis lichtete sich schnell. Noch ehe weitere sich entfernten, hörte der Inder plötzlich mit dem Spiel auf, warf der Tänzerin den Blechteller zu, um schnell noch ein paar Kupfermünzen einzuheimsen. Dann erhob er sich, schrie dem Mädchen ein paar barsche Worte zu und hieß es ihm folgen.
Das Mädchen belud sich mit den auf der Erde liegenden Gepäckstücken, nahm den Schlangenkorb in die Rechte und folgte ihrem Herrn. Bedrückt von der schweren Last, vermochte sie nicht Schritt mit ihm zu halten und blieb mehr und mehr zurück.
Während die meisten der Zuschauer sich längst zerstreut hatten, war noch ein einziger stehengeblieben. Eine hochgewachsene Gestalt, dem Schnitt der Kleidung, des Gesichtes nach zweifellos kein Eingeborener. Unter dem breitrandigen Strohhut blitzte aus dem gebräunten Gesicht ein Paar graublauer Augen. Das kurzgeschnittene blonde Haar verriet den Westländer.
Mit Verwunderung hatte er das seltsame Paar schon seit geraumer Weile betrachtet. Das Mädchen war trotz der zerschlissenen, verstaubten Hindukleidung unverkennbar eine Europäerin. Wie kam das junge Geschöpf – sie mochte höchstens achtzehn Jahre zählen – in die Gesellschaft dieses widerlichen Alten? Sie schien unter einem unerklärlichen Zwang zu stehen, denn sonst wäre es nicht zu begreifen gewesen, daß sie die brutale Behandlung des Inders widerstandslos erduldete.
Das Mitleid, das er beim ersten Anblick mit ihr empfunden, verstärkte sich, als er sie jetzt so mühsam in dem glühenden Sonnenbrand unter ihrer Last dahinwanken sah.
Er wollte sich ihr nähern. Da kam der Inder, der sich jetzt nach der Zurückbleibenden umgeschaut hatte, mit ärgerlichem Rufen und Schelten zurück. Er schrie ihr ein paar Schimpfworte zu und schritt neben ihr her.
Vergeblich suchte das arme Geschöpf seine Schritte zu beschleunigen. Als sie wieder zurückblieb, versetzte ihr der Inder einen tückischen Stoß in die Seite, der sie taumeln ließ. Im selben Augenblick stand der Fremde neben ihr, nahm die schwere Last von ihren Schultern und fuhr den Inder mit barschen Worten an. Dieser versuchte den Fremden beiseite zu stoßen. Doch da legte sich dessen Hand mit eisernem Griff auf seinen Arm.
»Wer bist du? Wer ist dies Mädchen? Wie kommt es in deine Gesellschaft, du Schurke?«
Vergeblich wand sich der Alte unter dem Griff, zischte unverständliche Worte.
»Ich werde die Polizei zu Hilfe rufen, wenn du mir nicht sofort Auskunft gibst!«
Bei dem Worte Polizei sank der Inder in sich zusammen. Dann plötzlich – der Griff des Fremden schien nachgelassen zu haben –, machte er sich mit einer schlangengleichen Bewegung frei. Seine Hand griff blitzschnell nach dem Dolchmesser, das in seinem Gürtel steckte. Noch ehe er es gefaßt hatte, traf ihn ein wohlgezielter Schlag, der ihn zu Boden warf.
Das Mädchen war während dieses Streites auf dem Gepäck zusammengesunken und brach in lautes Weinen aus. Die Vorübergehenden nahmen teils für den Inder, teils für den Fremden Partei.
Dieser beugte sich zu der Zusammengesunkenen nieder und sprach in englischer Sprache zu ihr. Er hatte dabei dem Inder den Rücken zugekehrt und sah nicht, wie jener mit wutverzerrtem Gesicht den zur Seite stehenden Schlangenkorb ergriff und ihn von hinten her zu den Füßen des Fremden hinschleuderte. Auf dem Boden aufprallend, öffnete sich der Deckel, und die beiden Kobras fuhren wütend zischend heraus. Die Neugierigen sprangen schreiend zurück. Der Fremde, der es nicht gesehen hatte, blieb stehen. Erst laute Zurufe aus der Menge machten ihn auf die Gefahr aufmerksam.
Er drehte sich um – zu spät –. Eine der Schlangen hatte sich um sein Bein herumgeschlungen. Mit einer heftigen Bewegung versuchte er sie abzuschleudern… vergeblich… er fühlte die spitzen Zähne in sein Fleisch dringen. Die Schlange hatte sich festgebissen.
Mit einem raschen Griff packte er sie im Genick, warf sie zu Boden und zertrat sie.
»Folgen Sie mir, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist«, klang es in englischer Sprache an sein. Ohr. »Die Schlange war giftig. Das Gift wirkt schnell.«
Der Beschützer des Mädchens sah einen jungen Mann in europäischer Kleidung an seiner Seite, der auf ein unmittelbar hinter ihm haltendes Auto deutete.
»Schnell! Schnell! Ich bin Arzt.«
»Nicht ohne dies Mädchen hier!« Er faßte die Gauklerin um die Hüften und trug sie zu dem Wagen, in den er selbst mit dessen Besitzer stieg. Noch ehe der Inder seine Überraschung überwunden hatte, war der Wagen schon verschwunden.
»Streifen Sie die Hose in die Höhe! Glücklicherweise habe ich eine Ampulle mit einem erprobten Serum bei mir.«
Bei diesen Worten hatte er auch schon eine Spritze gefüllt und wollte sie einstechen. Doch schneller noch war die Tänzerin. In dem Augenblick, als die Wunde bloßlag, hatte sie sich darübergebückt und preßte ihre Lippen darauf.
Der Arzt ließ sie lächelnd einen Augenblick gewähren. Dann drängte er sie zur Seite und drückte den Inhalt der Spritze unmittelbar neben der Bißwunde in das Bein.
»Sie werden voraussichtlich in kurzer Zeit das Bewußtsein verlieren und es – ich weiß nicht, wie stark das Schlangengift war – vielleicht zwei bis drei Tage nicht wieder zurückgewinnen. Haben Sie vielleicht irgend etwas zu bestellen? Haben Sie Freunde oder Angehörige, denen ich Nachricht geben soll?«
Der Verwundete sah ihn erstaunt an. Zweifel malte sich in seinen Zügen. Der andere fuhr fort:
»Glauben Sie meinen Worten! Mein Name ist Stamford… Doktor Sidney Stamford aus Amerika, – Arzt, ich halte mich zu Studienzwecken hier auf. Sie können versichert sein, daß Sie mir unbedingtes Vertrauen schenken dürfen.«
Der andere drehte sich ihm voll zu. Sah ihn mit einem langen Blicke forschend an, als wolle er in ihm lesen.
»Noch eine Frage. Wohin führen Sie mich, Mr. Stamford? Ich bin fremd hier, besitze kein Heim.«
»In mein Haus in der westlichen Vorstadt…«
»Ich will Ihnen meinen Namen nennen. Nur möchte ich Sie bitten, den Namen gegen jedermann zu verschweigen, was auch kommen mag.«
Dr. Stamford drückte ihm schweigend die Hand.
»Ich heiße Gorm!«
Stamford unterdrückte kaum einen Ausruf der Überraschung. »Gorm?! Der Gorm?! Weland Gorm, der berühmte Erfinder…?«
Der andere nickte.
Stamford wäre fast vom Sitz aufgesprungen, so stark war der Eindruck, den die Nennung dieses Namens auf ihn machte.
»Sie sind Gorm, sind es wirklich! Fast möchte ich den Zufall begrüßen, wären die Umstände nicht so – «, er unterbrach sich, sah, wie Gorm schwer in den Sitz zurücksank, sekundenlang die Augen schloß. Dann öffnete er sie anscheinend mit Mühe wieder. Er suchte nach Worten.
»Noch eins! Ich fühle schon… Sorg… sorgen Sie…« Gorm fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als wolle er da etwas wegwischen, das sich schwer auf sein Hirn legte. Sein Blick wurde starr. Er schien einer Ohnmacht nahe.
»…sorgen Sie für das Mädchen!« Er deutete mit der Hand auf die Tänzerin, die mit angstvollem Gesicht vor ihnen kauerte.
»Seien Sie ohne Sorge! Ich werde es tun.«
Cannings Flugzeug berührte den Boden des Flugplatzes in Quito. Noch ehe die Maschine ausgerollt war, war er hinausgesprungen. Er stand schon neben der Tür des Pilotenraumes, als diese sich öffnete.
»Unser Aufenthalt hier wird nur kurz sein. Bleiben Sie an Bord. Ich folge meinem Freund, der schon vorausgegangen ist…«, er deutete auf eine Gestalt, die sich, einen Koffer in der Hand, dem Ausgang des Platzes näherte, in der Dunkelheit kaum noch zu erkennen war. Bei den letzten Worten wandte er sich schon um und ging jenem eiligen Schrittes nach.
Eine Stunde war noch nicht vergangen, als er zurückkehrte. »Wir fliegen auf direktem Wege nach Hause. Mein Freund bleibt hier!« –
Gegen Mittag des nächsten Tages überflog die Maschine die Grenzen Boliviens, glitt in geringer Höhe über die weiten Savannen des Gran Chaco hin. Nicht mehr lange, dann mußte der Nordrand seiner Besitzungen erreicht sein.
Canning trat ans Fenster. Sein Auge vermochte schon die großen Herden, die da unten weideten, als die seinen zu erkennen, die Weizenfelder im Westen bis hin zu den letzten Ausläufern der Anden. Die Kanäle, die das Gebiet durchzogen und zum Rio Vermejo führten, alles, so weit er schaute, war sein Besitz.
Die Schatten der Nacht begannen von ihm zu weichen. Sein Herz wurde freier, je weiter das Flugzeug ihn trug. Das kleine Königreich da unten – sein Eigentum war es, sein Werk war es!
Vor Jahren war er hierhergekommen. Die Millionen brannten in seiner Tasche, er suchte die beste, sicherste Anlage. Nach langem Überregen war er zu dem Entschluß gekommen, das Geld zum größten Teil in Landbesitz anzulegen. Alles Land, das hier käuflich gewesen, hatte er erworben.
Man hatte den Kopf geschüttelt über den europäischen Señor, der Millionen in diese trostlose Einöde steckte, denn er beließ es nicht bei dem Erwerb des wohlfeilen Landes und der hier bisher allein üblichen Vieh- und Weidewirtschaft. Auf eigenen Schiffen brachte er Maschinen und immer neue, andere Maschinen den Rio Vermejo hinauf. Baggermaschinen gruben Kanäle durch die Sümpfe des Geländes, legten sie trocken, verwandelten sie in fruchtbares Ackerland. Kanäle, die gleichzeitig Verkehrswege für den Abtransport der Bodenerzeugnisse zu den Flüssen und zur Küste bildeten.
Es dauerte nicht lange, da schwand das Wundern der Nachbarn. Wie durch Zauberhand entstanden dort in kurzer Zeit fruchtbare Fluren, die in Bälde hundertfältigen Ertrag versprachen. Mitten darin lag das Wohngebäude, von Parkanlagen umgeben, die unter Benutzung eines Stückes prächtigen Urwaldes entstanden waren.
Die Millionen waren der Ertrag für die Konstruktionen Gormscher Apparate… seine eigene Erfindung!
Er sagte es, und man glaubte es ihm – man – das war Awaloff. Dieser war der einzige, mit dem er in persönlichen Verkehr trat, der einzige Zeuge seiner Tat. Zu klug, alles auf eine Karte zu setzen, hatte Canning sich wohl gehütet, sich ganz den Sowjets zu verschreiben, gemeinsame Sache mit ihnen zu machen.
Jahrelang, ein Jahrzehnt wohl, hatte er mit allen seinen Kräften daran gearbeitet, das Problem zu lösen, dessen Lösung Gorm dann glückte.
Der Tag, an dem Gorm der Welt bekanntgab, daß der große Wurf gelungen, war für Canning ein Tag tiefster Verzweiflung, tiefster Enttäuschung, tiefsten Sturzes. Vergeblich hatte er gearbeitet! Zerronnen die Wünsche, Hoffnungen, Träume von Reichtum, Glück und Ruhm.
Er hatte, an allem verzweifelnd, seinem Leben ein Ende machen wollen. In wüsten Träumen schon darüber gesonnen, welche Todesart er wählen solle. Eine neue, unbekannte. Eine, die, noch nie dagewesen, seinen Namen wenigstens im Tode bekanntmachen mußte.
Da war eine kleine Erfindung, die er einmal gemacht hatte, ein Apparat, der, Strahlen größter Durchdringungskraft aussendend, verborgenste Tiefen entschleierte. In einer glücklichen Stunde war ihm die Konstruktion gelungen. Eine technische Spielerei in seinen Augen. Geld, Ruhm, Ehre – das war damit nicht zu erringen!
Damit sich töten! Sich töten? Nein! Die Todesgedanken schwanden, je länger er den Apparat betrachtete.
Diese geheimnisvollen Strahlen, vom Schicksal in glücklicher Stunde geschenkt – nicht den Tod, Glück sollen sie mir bringen zur gegebenen Stunde… zu der Stunde, wo das Schicksal dem Glück gebietet, mir die Hand zu reichen.
Warten! Warten… der Tag, die Stunde wird kommen. Der Gedanke hatte ihm neue Kraft gegeben, hatte ihn das Leben leichter ertragen lassen.
Fest saß die Hoffnung in seinem Herzen. Als Awaloff zu ihm kam, seine physikalischen Kenntnisse irgendwie nutzbar machen wollte, da zweifelte Canning keinen Augenblick, daß jetzt die Stunde da sei, in der das Schicksal ihn belohnen wolle.
Er hatte Awaloff fortgeschickt, wiederzukommen nach Ablauf eines Monats. Drei Tage, drei Nächte saß er, den Weg suchend… und dann wußte er ihn.
Er verließ Paris. Machte tausend Kreuz- und Querfahrten, um die Spur seiner Reise zu verwischen. Erreichte sein Ziel. –
Es gelang; zur verabredeten Zeit war er wieder in Paris.
Das Gesicht dieses Awaloff: unvergeßlich war ihm die Überraschung, die maßlose, fassungslose Überraschung in diesem Gesicht, als er ihm Waffen anbot, Gormsche Apparate als Waffen – Waffen, unbesiegbar, unwiderstehlich –, Waffen, mit denen der Sieg untrennbar verbunden sei; Waffen, so fürchterlich, wie sie noch nie verwendet wurden. Schon die Überraschung mußte den Sieg bringen. Die ganze Welt mußte den Herren dieser Waffen zu Füßen liegen.
Es dauerte lange, bis der andere es begriff. Dann hatte er mit heiserer Stimme geschrien:
»Was… was verlangen Sie dafür?«
»Drei Millionen!«
Die Zahl, unerhört groß erschien sie Canning damals, kam nur zögernd aus seinem Munde.
Awaloff hatte nur zustimmend genickt, ihm wortlos die Hand gedrückt. – Später – wie oft hatte Canning nicht mit Ärger und Mißbehagen an diese Stunde gedacht… Mehr! Fünf Millionen! Zehn Millionen!… Du Tor, hättest du sie gefordert, er hätte sie dir auch gegeben.
Wieder hatte er Paris verlassen, die Arbeit zu beginnen. Die Furcht vor Beobachtung und Verfolgung hatte ihn gehetzt von Ort zu Ort, von Land zu Land. Bis drei Monate später die Modelle fertig waren.
Zwei sich begegnende Hubschrauber in höchster Höhe. Er in dem einen, Awaloff in dem anderen. Eine Laufbrücke von einer zur anderen Maschine gestreckt, so waren die letzten Verhandlungen vor sich gegangen.
Die Probe des Apparates hatte den Beweis seiner Wirksamkeit gegeben, das Geld war echt und gut…
Jeder flog zurück mit seinem Schatz.
Er kam damit hierher, erschuf sich hier im Gran Chaco sein Reich…
Die anderen stürzten Throne, zerstörten die halbe Welt. Er blieb kühl und gelassen dabei. Doch als die rote Macht immer weiter wuchs, immer weiter sich dehnte, da ergriff ihn die Angst – die Angst um seinen Besitz.
Sein Glück, sollte es trügerisch ihn verlassen wollen? Die Macht der Sowjets drohte jetzt auch nach Südamerika überzugreifen. Zusammenbruch?… Es durfte nicht sein!
Doch was tun, um sich zu retten?
Die lose Verbindung mit dem Bolschewismus… mit allen Mitteln hatte er sich dagegen gewehrt, sich in die Netze seiner Organisation mitverwickeln zu lassen, jetzt suchte er nach Awaloff, suchte durch ihn Fühlung zu bekommen, wer wußte, wie der Riesenkampf ausgehen würde.
Am Bosporus waren sie zusammengekommen.
Der Ausgang der Schlacht – mit jedem zerstörten roten Geschwader wurde die Last, die Canning drückte, leichter. Tiefster innerlicher Jubel in ihm, als die Niederlage der Roten vollendet schien.
Doch nicht eher glaubte er sich und seinen Besitz sicher, bis Awaloffs Mund stumm war. Denn dieser wußte zuviel… zuviel, als daß er leben durfte. Und als Awaloff nun gar in seiner Vertrauensseligkeit verriet, daß er die Papiere bei sich trug, da stand Cannings Entschluß fest. Und was war’s schließlich? Einer mehr oder weniger. Was kam’s jetzt darauf an?
Und als hätte er die letzten Grillen von sich gescheucht, sah er jetzt mit Freude sein herrliches Heim aus der Ebene winken.
Sein Blick ging weiter. Dort drüben, da hinten auf der Flußhöhe lag Buena Vista, das weiße Haus van der Meulens… Hortense!… Morgen würde er sie wiedersehen.
Die drückende Mittagshitze, vor der auch die breiten, dichten Blattkronen der Parkbäume nicht zu schützen vermochten, hielt die Bewohner von Buena Vista in den Räumen des Hauses fest. In einem nach Süden gehenden Zimmer, dessen Fenster dicht verhängt waren, ruhten Hortense van der Meulen und Violet Lee in bequemen Liegestühlen.
War’s die Schwüle, war’s die Stimmung, nur mühsam schleppte sich das Gespräch dahin. Eine Dienerin trat ein, brachte eine Schale eisgekühlter Früchte. Da klang durch die offene Tür des Nebenzimmers das Schrillen des Telefons. Violet sprang auf, eilte hinaus, und war sogleich wieder zurück.
»Mister Canning ist am Apparat!« Hortense war bei der Nennung des Namens kurz zusammengezuckt. Sie beugte sich vor, als wollte sie sich erheben. Sie blieb sekundenlang starr sitzen. Die natürliche Blässe ihres Gesichtes hatte sich verstärkt. Ein nervöses Zittern lief über ihre Gesichtszüge. Dann, als hätte sie sich gefaßt, sprang sie auf und ging zum Telefon.
Der kurze Weg gab ihr die Gewalt über sich wieder.
Violet biß gerade herzhaft in eine saftige Frucht, als ein lautes Surren sie mit offenem Munde aufhorchen ließ.
»Das Postflugzeug!« rief die Dienerin. Da war auch Violet schon hinausgeeilt. Die Maschine schoß eben über den Hof der Hazienda, ließ in geschicktem Wurf die Post in ein aufgespanntes Netz fallen und verschwand über dem Park. Der alte Majordomo ließ das Netz zu Boden und trug den Ledersack ins Haus. Während er den Inhalt umständlich sortierte, hatte Violet schon einen Brief mit ihrer Adresse erspäht. Mit schnellem Griff nahm sie ihn an sich, riß ihn im Weitergehen auf. Schon die Marke hatte ihr den Schreiber verraten.
Während sie langsam die Treppe hinaufstieg, überflog sie den Inhalt. War es der, war es das Treppensteigen? Als sie oben war, lag helle Röte auf ihren Zügen. Doch das Lachen ihrer Augen verschwand, als sie in das Zimmer trat und Hortense sah, die auf einem Diwan lag, das Gesicht in die Hände vergraben. Violet eilte zu ihr hin.
»Miß Hortense! Ich will, ich kann nicht länger schweigen – verzeihen Sie mir –, aber ich selbst leide, wenn ich immer wieder sehen muß, wie Sie unter diesem Verhältnis zu Robert Canning leiden. Ich kenne Ihre Gefühle für ihn nicht. Nur das eine weiß ich, sehe ich täglich, daß Sie niemals das wahre Glück an seiner Seite finden werden. Zur vollen Liebe gehört doch volles Vertrauen, und das…«
Hortense ließ die Hände sinken, starrte Violet mit zusammengezogenen Brauen an.
»Miß Violet!«
Der Ton, der Ausdruck ihres Gesichts… Violet wandte sich verlegen ab. Tränen rollten über ihre Wangen. Wie sie so dastand in ihrer rührenden Hilflosigkeit, glätteten sich Hortenses Züge. Sie sprang auf, legte den Arm um die Gefährtin.
»Nicht weinen, Kleines! Ich weiß wohl, Sie meinen es gut. Doch ich glaube, Sie sorgen sich unnötig. Es wird schon alles gut werden. Robert Canning wird heute noch kommen. Er hat uns viel zu erzählen von den großen Ereignissen in Europa, die er zum Teil mit eigenen Augen gesehen hat. Aber was ist das?«
Sie bückte sich zu Boden, hob den Brief auf, der Violets Hand entglitten war. Sie warf einen Blick darauf, gab ihn lächelnd zurück.
»Sieh da! Die kleine Violet spricht schon aus Erfahrung.«
Sie eilte Violet, die sich errötend zum Tisch flüchtete, nach.
»Erzählen Sie doch! Was schreibt unser gemeinsamer Freund Stamford? In Lahore ist er, wie ich ersah. Kommt er nicht bald mal wieder hierher?«
»Ach nein, Miß Hortense! Denken Sie doch, er schreibt, daß er eine große Reise vorhabe, von der er hoffe, gesund zurückzukehren.«
»Eine große Reise? Nun, ich dachte, größere Reisen als seine jetzigen…«
»Damit meint er sicher eine gefährliche Reise.«
»Ach! Was heißt heute gefährliche Reise? Die großen Luftkreuzer kennen keine Reisegefahren mehr.«
Van der Meulen trat in das Zimmer.
»Große Reise? Wer denkt an Reisen?«
»Ich, lieber Vater! Reisen möchte ich! Und recht bald. Die Welt ist wieder ruhig geworden. Violet hat mir so viel von ihrer englischen Heimat erzählt. Ich möchte mit ihr dorthin fliegen. Und am schönsten wäre es, Pa, du kämst mit uns… und du wirst es tun, wenn wir dich herzlich bitten.«
Van der Meulen zuckte die Achseln.
»Hm! Von mir aus. Was wird Canning dazu sagen?«
»Ah! Er rief vorhin an. Er ist zurück. Er wird bald kommen.«
»Das ist interessant, Hortense. Er kommt aus Europa. Zweifellos wird er uns Näheres über den Verlauf der Kämpfe, den Umfang der Verwüstungen berichten können. Ich hörte von meinem Korrespondenten, daß ein Lebensmittelmangel droht. Ich habe schon heute morgen große Ladungen nach Europa abgehen lassen. Doch ich denke, wir gehen in den Park. Die Sonne neigt sich schon, die schlimmste Hitze ist vorbei.«
»Geh nur voraus, Pa, wir kommen gleich nach.«
Kaum hatte van der Meulen den Raum verlassen, wandte sich Hortense mit unterdrückter Erregung an Violet.
»Robert Canning wird in Kürze hier sein. Ihr werdet ihm draußen begegnen. Ich bleibe hier. Sie… werden mich entschuldigen, die Schwüle, die Hitze des Tages, ich habe Kopfschmerzen und kann ihn unmöglich begrüßen.«
Einen Augenblick stand Violet überlegend. Dann glitt ein zufriedenes Lächeln über ihr Gesicht. »Ich glaube auch, es wird schon gut werden.«
Sie traf van der Meulen am Parktor, wo er die Straße nach Norden entlangschaute.
»Die Staubwolke dort hinten wird Canning sein.«
Ein paar Minuten später hielt dessen Auto vor dem Tor. Van der Meulen öffnete, schritt ihm entgegen.
»Ich begrüße Ihre glückliche Rückkunft, mein Lieber. Sie sind ein kühner Geschäftsmann, daß Sie sich in dieser Zeit in den Hexenkessel hineinwagten. Sie werden uns sicher viel erzählen können. Vielleicht waren Sie Zeuge von Kämpfen…«
»…Die große Schlacht über der Katalaunischen Ebene, van der Meulen! Ja, ja! Sie sehen mich staunend an. Ein Zufall ließ mich Zeuge sein. Doch davon später. Wo ist Hortense? Ah, guten Tag, Miß Violet. Hortense? Wo ist sie?«
»Miß Hortense läßt um Entschuldigung bitten, Mr. Canning. Die Schwüle, die Hitze dieses Tages verursachten ihr unerträgliche Kopfschmerzen. Sie…«
Canning warf einen schnellen Seitenblick auf van der Meulen, der mit erstauntem Gesicht zu Violet schaute.
»Ah! Ich bedauere sie außerordentlich.« Canning biß sich nervös auf die Lippen. »Ich hoffe, daß… das wohl bald vorübergehen wird und ich noch Gelegenheit haben werde, Hortense zu sehen.«
Während van der Meulen und Canning in dem japanischen Lusthaus saßen, das an dem Parkweiher stand, war Violet in das Haus zurückgegangen, für Erfrischungen zu sorgen. Ein paarmal klopfte sie an die verschlossene Tür Hortenses. Umsonst…
Als sie zu dem Pavillon zurückkehrte, fühlte sie die dunklen Augen Cannings fragend auf sich gerichtet. Sein Besuch dehnte sich schon über Gebühr aus. Umsonst harrte er auf Hortenses Erscheinen.
Als Canning endlich abfuhr, suchten seine Augen vergeblich die lange Fensterreihe ab.
Das Herannahen starker weißer Streitkräfte aus Nordamerika veranlaßte General Serrato, den Befehlshaber der südamerikanischen Luftstreitkräfte, zum erneuten Eingreifen. War es ihm gelungen, das Land zu säubern, die roten Geschwader bis auf den Isthmus von Panama zu drängen, so bot sich jetzt vielleicht die Gelegenheit, im Zusammenspiel mit den nordamerikanischen Formationen dem Gegner die entscheidende Niederlage beizubringen, die den Krieg auch auf diesem Kontinent beenden konnte.
Immerhin mußte der Kampf schwer werden, da die Roten durch die vom Norden her versprengten Geschwader verstärkt waren.
Trotzdem wollte Serrato es wagen. Noch am selben Abend stieß er vor.
Er hoffte, die rote Luftflotte überraschend angreifen zu können.
Die Meldungen der vorausgeschickten Aufklärungsflugzeuge bekräftigten ihn in seiner Hoffnung.
Ein großer Teil der roten Geschwader war auf Coiba, einer kleinen Insel südlich des Isthmus, niedergegangen. Der rote Führer war dabei, Apparate und Mannschaften der schwerbeschädigten Flugzeuge auf andere zu übernehmen, die leichter beschädigten auszubessern. Ihn dort zu überraschen und vernichtend zu schlagen, mußte das Ziel von General Serrato sein.
Mit abgeblendeten Lichtern, in dichter Formation, stieß seine Luftflotte in weit nach West ausholendem Bogen vor.
Die roten Patrouillenflugzeuge merkten zu spät das Herannahen des Feindes. Noch ehe die auf der Insel sich erhoben und kampfbereit gemacht hatten, war Serrato heran.
Wohl warfen sich die ungeordneten roten Geschwader todesmutig dem Angreifer entgegen. Ein heißer, erbitterter Kampf entstand, und manche Maschine Serratos stürzte brennend ab. Doch auf die Dauer ließ der Widerstand der Roten immer mehr nach. Ihre Verluste wurden größer und größer.
Schon umklammerten die Flügel der südamerikanischen Luftwaffe den Feind, da war auch schon ein mächtiges nordamerikanisches Geschwader heran und schloß den Ring, aus dem es kein Entrinnen mehr gab.
Über Coiba eingekesselt, stürzten die letzten roten Maschinen unter den Salven der amerikanischen Bordgeschütze in die Tiefe, auf den Felsen in feuriger Glut zerschellend. Und der Brand fraß weiter, ergriff alles Brennbare. Ein paar Bomben noch auf die anderen Flugzeuge, die manövrierunfähig auf der Insel lagen, vollendeten die gänzliche Vernichtung.
Die Sieger näherten sich, soweit es möglich war, der Stätte des Todes. Die Riesengluten da unten verhinderten eine Landung.
Der Sieg der vereinigten süd- und nordamerikanischen Luftflotten war vollständig. Die Radioberichte über die Vernichtungsschlacht von Coiba lösten ungeheuren Jubel aus. Besonders wurde General Serrato gefeiert.
Noch lange leuchtete als Siegesfackel das brennende Coiba. Als der Brand erloschen war, wo einst schönes, grünes Eiland gewesen, eine wüste, schwarze Trümmerfläche, gemieden von Menschen und Tieren.
Sie standen zur Reise bereit.
»Es ist unmöglich, daß das Mädchen noch im Hause ist. Sie ist schon in der ersten Nacht entflohen, wenn es mir auch ein Rätsel ist, wie sie es bewerkstelligt hat. Wenn das Schicksal es will, werden wir ihr wieder begegnen.«
Dr. Stamford öffnete Gorm die Tür. Doch dieser zögerte. Seine Augen gingen wie suchend durch das Haus, als müsse die Tänzerin noch im letzten Augenblick erscheinen. Dann strich er sich wie abwesend über die Augen.
»Was ist das, was alle meine Gedanken so an dieses Mädchen fesselt? Sind es Schicksalsfäden, die mich an dieses Geschöpf knüpfen? Es muß so sein! Ich fühle es, soviel ich mich auch dagegen wehre. Sie, der Sie so lange hier gelebt, so tief in die Mysterien dieses Landes geschaut haben, müßten es begreifen, mich verstehen…«
Stamfords Augen hafteten auf den vom überstandenen Fieber noch bleichen Zügen Gorms. Langsam kam es von seinen Lippen:
»Das Karma nennt es der fromme Buddhajünger hier im Lande, unwandelbar jedem von Anbeginn der Zeiten bestimmt. Es kann auch das Schicksal der einzelnen Menschen untrennbar verknüpfen. Die Bande trotzen dem Wechsel der Jahrtausende. Was auch kommen mag, die das Karma bindet, werden sich immer wieder finden.«
»Ich weiß es! Ich fühle, daß es nicht nur Mitleid ist, das ich für das Schicksal der Ärmsten hege, und finde keine Ruhe. Ich fühle, wie die Last ihres traurigen Schicksals sich auf meine Schultern legt, ich dulde und leide mit ihr.«
Stamford nickte. »Alles, was Sie sagen, verrieten Sie mir schon in Ihren Fieberträumen. Majadevi, die Tänzerin!… Immer wieder kam der Name von Ihren Lippen.«
»Ich würde sie suchen über die ganze Welt, wenn mich nicht die andere, die große Aufgabe riefe.«
»Kommen Sie, Freund! Denken Sie immer, daß das Karma nicht trügt. Vergessen Sie aber auch nicht, daß es sich nicht gegen seinen Willen meistern läßt… Kommen Sie! Das Kursflugzeug wartet nicht.«
In eiliger Fahrt brachte sie der Wagen zum Flugplatz. Die Maschine stand startbereit. In schnellem Flug überquerten sie die schneeigen Kämme des Himalaja und landeten im oberen Industale in Dargu, bevor noch die Sonne merklich gesunken war.
Auf Saumtieren erreichten sie noch am Spätabend Suru, ein einsames Lamakloster in den Bergen. Nach einer kurzen Begrüßung des Abtes, der Weland Gorm als alten Freund willkommen hieß, begaben sie sich zur Ruhe.
Am nächsten Morgen setzten sie ihre Reise fort. Immer steiler wurde der Pfad, an rauschenden Wassern entlang. Jetzt erblickten sie ein einsames Seitental, allseitig von schneeigen Gipfeln eingeschlossen.
Da lag sie vor ihnen, die Stätte, an der Gorm, vor der Welt verborgen, seit Monaten schaffte. Sie waren in seiner Flugwerft.
Die Bark Constanza lief mit Südkurs durch den Pazifik. Es war der dritte Tag ihrer Reise von San Salvador nach Buenaventura. Auf der Höhe von Coiba meldete der Koch dem Kapitän, daß der erste Süßwassertank leer, der zweite leck und zum größten Teil ausgelaufen sei. El Capitan Miguel Garcia sah den Koch erst eine Weile sprachlos an. Als er die Sprache wiedergefunden hatte, fluchte er eine Viertelstunde lang alle Donnerwetter des Himmels auf das Schiff, den Reeder, die Fässer herunter. Dann begab er sich in die unteren Räume, besah sich den Schaden und fluchte nochmals eine Viertelstunde. Der Koch, der den Vorschlag machte, Coiba anzulaufen, rettete sich nur durch einen Sprung vor dem Schlag, den ihm der Kapitän zugedacht.
Langsam stieg Garcia die Treppe wieder nach oben. An Backbord sah er mit bloßem Auge die Umrisse der Insel. Er überlegte lange. Der nächste Hafen, der in Betracht kam, war zu weit. Der geringe Wasservorrat hielt nicht so lange vor.
»Ruder hart backbord!« brüllte er dem Rudergast zu. Er erinnerte sich dunkel einer Bucht der Insel, wo gut an Land zu kommen war.
Eine Stunde später ließ die Bark eine halbe Seemeile vom Ufer entfernt den Anker fallen. Nur ungern hatte der Kapitän sich zu diesem Manöver entschlossen. Seit der großen Luftschlacht war das kleine Eiland in Verruf gekommen. War auch die ganze Insel durch Feuer vollkommen verwüstet, so konnte er doch hoffen, ein paar Süßwasserbrunnen zu finden, die durch das Feuer nicht versiegt waren.
Ein Boot wurde flottgemacht und stieß an Land. Kapitän Garcia war selbst dabei. Mit einer halben Flasche Rum hatte er seine Bedenken beschwichtigt, den Fuß auf die verrufene Insel zu setzen.
Die kleine Expedition hatte Glück. An der Stelle einer früheren Fischereisiedlung unweit des Strandes fand man einen Brunnen, der genügend gutes Wasser gab. Während das Boot hin- und herfuhr, das Naß an Bord zu bringen, streifte Kapitän Garcia am Strande entlang. Tiefer in das Innere wagte er sich trotz der Rumflasche nicht.
Ein weißschimmernder Fleck zog ihn an. Er ging darauf los, fand große Massen geschmolzenen Aluminiums, das von den roten Flugzeugen herrührte, die hier in Massen vernichtet waren. Der Gedanke kam ihm, ein Stück des Metalls loszubrechen und als Andenken mitzunehmen. Während er sich bemühte, einen Brocken zu lockern, fühlte er allmählich eine intensive Wärme unter seinen Sohlen, die ihn aufmerken ließ.
Er blickte nach unten. Da war nichts zu sehen. Wo er stand, war steiniger Boden. Nach einer Weile verspürte er die Wärme immer stärker. Verwundert bückte er sich, legte die Hand auf die Erde. Das Gestein war sehr warm.
Er tastete weiter um sich. Der Boden wurde bald wärmer, bald kälter. Endlich glaubte er die Richtung gefunden zu haben. Er machte ein paar Schritte nach vorn, bückte sich wieder, fühlte mit der Hand, zog sie mit einem Schrei zurück und blies sich auf die Finger, als hätte er glühendes Eisen angefaßt. Dann sprang er hastig ein paar Schritte zurück.
Kopfschüttelnd stand er da. Er wußte keinen Rat. Was konnte das sein? Er faßte sich an den Kopf, ob er träume oder wache. So schnell ihn die Füße trugen, lief er zu den Matrosen, die Wasser schöpften. Er hieß sie alles stehen und liegen lassen und mit ihm kommen.
Die Matrosen folgten ihm langsam, schüttelten den Kopf und lachten. Der Brand war wohl eher im Kopf als in den Füßen des ehrenwerten Garcia.
Er führte sie zu der Stelle, wo der Boden am heißesten war, und kommandierte sie, zu gleicher Zeit ihre Hand auf das Gestein zu legen.
Eine Sekunde nur, dann sprangen die Leute mit lautem Wehgeschrei auf, taumelten erschrocken zurück, schlenkerten ihre Hände in der Luft, tanzten, als ständen sie auf glühenden Kohlen.
Don Miguel glaubte, in seinem Leben keinen so guten Spaß vollführt zu haben. Er lachte, daß ihm die Tränen über die runden Backen liefen.
Als endlich Ruhe eingetreten war, standen sie in respektvoller Entfernung und sahen einander ratlos an.
Die Mannschaften des Bootes, das inzwischen wieder gelandet war, kamen auf den Anruf Garcias ebenfalls heran, und zur allgemeinen Freude wiederholte El Capitan denselben Scherz mit den Neuen.
Ein paar Ängstliche fingen an zu flüstern, von bösen Geistern, die auf dieser Insel weilten. Das Wort ging von einem zum andern…
Ohne Kommando, Don Miguel an der Spitze, setzte sich die ganze Gesellschaft in beschleunigtem Schritte nach den Booten hin in Bewegung. Man vergaß in der Eile, die letzten Gefäße zu füllen, stieß ab und ging an Bord.
Dort machte das geheimnisvolle Abenteuer alsbald die Runde durch die Schiffsmannschaft. Die Anker gingen hoch, das Schiff setzte seinen Kurs nach Süden. Erst als die Insel außer Sicht gekommen war, wagte man es, über den Spuk laut zu sprechen.
Drei Tage später lief die Constanza in Buenaventura ein. Garcia meldete das Erlebte dem Hafenkapitän, während die Mannschaft dafür sorgte, daß Hafen und Stadt in kurzer Zeit von dem Abenteuer erfuhren.
Die Abendzeitungen brachten schon in großer Aufmachung unter der Überschrift »Das Geheimnis von Coiba« die ersten Nachrichten. Durch Draht und Funk erfuhr es die ganze Welt. Doch nur wenige beachteten es.
Man begann erst interessiert aufzuhorchen, als einen Tag später von dem 50.000-Tonnen-Dampfer Arkadia die Funkmeldung in alle Welt ging und den Befund der Mannschaft von der Bark Constanza bestätigte.
Die Arkadia, auf dem Wege von Panama nach San Francisco, machte auf Bitten des Professors Jefferson von der Universität Chicago unweit der Insel halt. Professor Jefferson wurde an Land gebracht und fand alsbald die Stelle, die durch die Aluminiumtrümmer kenntlich war. Die Entdeckung des Kapitäns Garcia wurde in jeder Weise bestätigt. Da die Dispositionen der Arkadia nur einen kurzen Aufenthalt gestatteten, konnte Professor Jefferson eine nähere Untersuchung nicht vornehmen. Der Bericht schloß: »Es steht außer Zweifel, daß eine baldige wissenschaftliche Untersuchung des Phänomens dringend erwünscht ist. Schon jetzt könne gesagt werden, daß irgendwelche vulkanischen Einwirkungen nicht in Frage kämen.«
Der nächste Tag brachte bereits Pressenachrichten in großer Zahl. Alle möglichen gelehrten und ungelehrten Leute äußerten sich zu dem Fall. Die meiste Beachtung fand eine Erklärung des Professors Körte von der Berliner Universität, dessen Gutachten in folgenden Worten gipfelte:
»Wenn es auch ohne Untersuchungen an Ort und Stelle schwer möglich ist, eine bündige Erklärung abzugeben, so liegt der Verdacht doch sehr nahe, daß es sich hier um einen Atombrand handelt. Wie Kapitän Garcia und Professor Jefferson übereinstimmend aussagen, befinden sich dicht bei der heißen Stelle große Mengen von Trümmern zerstörter Flugzeuge. Ich nehme an, daß die Apparate dieser Schiffe, durch Bombenwurf gleichzeitig zerstört, ihre ganze Energie in solchen Mengen entluden, daß die Materie an dieser Stelle in ihrer Atomstruktur erschüttert wurde.«
Doch nur die Wissenschaftler erfaßten den Ernst dieser Worte. Die große Menge ging darüber hinweg.
Auch die Nachricht, daß von dem Physikalischen Institut in San Francisco eine Expedition nach Coiba geplant sei, fand wenig Beachtung.
Erst als einzelne Stimmen auch dies Vorkommnis mit Weland Gorm in Verbindung brachten, begann sich die öffentliche Meinung zu regen. Der tiefe Groll gegen Gorm bekam neue Nahrung.
Wo war er? Warum erschien er nicht vor der Öffentlichkeit, sich zu verteidigen?
Der großen Menge schien sein Schweigen ein Schuldbekenntnis zu sein. Kam er nicht freiwillig, mußte man ihn gewaltsam vor den Richter bringen.
Endlich war der ersehnte Frieden auf Erden eingekehrt.
Jetzt erst fanden die Zeitungen Muße und Gelegenheit, sich mit der berühmten Mondfahrt Jonas Lees zu beschäftigen, deren Tag sich vor einigen Wochen zum drittenmal gejährt hatte. Man brachte in Erinnerung daran in größeren oder kleineren Aufsätzen die Geschichte dieser Expedition.
Jonas Lee, Professor am Physikalischen Institut der Universität Cambridge, hatte damals seinen langjährigen Plan verwirklicht, in einer Wasserstoffrakete zum Mond zu fliegen. Der Flug war mit großer Sorgfalt vorbereitet.
Schon in den Jahren vorher waren mehrfach unbemannte Raketen von verschiedenen wissenschaftlichen Instituten der Welt zum Mond abgeschossen worden. Sie waren dort auch größtenteils gelandet, wie ihre Blitzeinrichtungen zur Erde zurückmeldeten. Lee war der erste gewesen, der auch Raketen konstruiert hatte, die nach ihrer Landung auf dem Monde ein Geschoß zur Erde zurücksandten. Die Ausführung war verhältnismäßig einfach, da ja die Rückrakete nur die Schwerkraft des Mondes zu überwinden hatte, die sechsmal geringer als die Erdschwere ist. Allmählich war es ihm auch gelungen, diese Rückraketen durch Bremsvorrichtungen derartig zu verbessern, daß sie vollkommen unversehrt wieder auf der Erde landeten.
Als diese Experimente wieder und immer wieder glückten, ja sogar Tiere, die in die Rückrakete eingesperrt waren, munter und gesund zurückkamen, glaubte er die Zeit gekommen, zum Bau einer bemannten Rakete schreiten zu dürfen.
Es gab zwar Wissenschaftler, die doch noch starke Zweifel äußerten, aber der kühne Geist Lees überwand alle Bedenken. Die Mittel flossen ihm von allen Seiten reichlich zu.
Der 28. Februar war der schicksalsschwere Tag. Unter der Teilnahme der ganzen Menschheit, vor den Augen einer ungeheuren Zuschauermenge stieg die Rakete, die außer Lee noch vier Gefährten an Bord hatte, zum Mondgestirn empor. Die Flugdauer dorthin war unter Berücksichtigung der geringeren Start- und Landungsgeschwindigkeiten auf zwei Tage errechnet worden.
Die beiden Tage verstrichen unter atemloser Spannung der Welt. Die Riesenrohre aller Sternwarten waren auf den Punkt an der Schattengrenze der Mondsichel gerichtet, an dem Lee planmäßig landen wollte. Der Punkt war derart ausgewählt, daß die dort gelandete Expedition den volle vierzehn Erdentage währenden Mondtag für ihre Forschungen zur Verfügung haben mußte.
In der Tat waren 48 Stunden nach dem Aufstieg Lichtsignale beobachtet worden, die nur von Lee kommen konnten. Ihre Ausgangsstelle lag aber fast 20 Breitengrade nördlicher als der Punkt, an dem die Landung planmäßig vor sich gehen sollte. In einer Zone, wo die Wärme des langen Mondtages kaum noch den Nullpunkt überschreiten konnte. Bis auf diesen Umstand war die erste Hälfte des Fluges offenbar geglückt. Man beobachtete Lees Lichtzeichen, bis seine Landungsstelle in den vollen Sonnenschein trat und weitere Lichtsignale unmöglich wurden.
Doch vergeblich wartete man auf die Rückkehr der kühnen Weltraumfahrer. Auch Lichtsignale wurden später, als die Landungsstelle schon wieder im Dunkel lag, nicht mehr beobachtet. Man Wußte, wieviel Vorrat an Lebensmitteln und Atmungsluft die Rakete mitgenommen hatte, und konnte danach mit Sicherheit sagen, wie lange ein Aufenthalt auf dem Monde möglich war.
Nach dem Ablauf einer aufs äußerste bemessenen Frist mußte man es als sicher betrachten, daß die kühnen Weltraumforscher ihr Unternehmen mit dem Leben bezahlt hatten.
Doch es dauerte noch lange, bevor das allgemeine Interesse abflaute. Bestand doch immerhin die Möglichkeit, daß Lee doch glücklich vom Mond abgekommen und auf der Erde gelandet sei. Aber in einer Gegend, die noch fern von jedem Verkehr lag, so daß eine Kunde lange Zeit brauchte, um zu den Menschen zu dringen.
Jetzt war auch diese Hoffnung, längst hinfällig geworden. Doch als vor zwei Wochen der Erinnerungstag wiedergekommen war; hatten die Zeitungen es nicht versäumt, die Erinnerungen an jenen kühnen Versuch wieder wachzurufen, der der einzige dieser Art geblieben war. Wohl hatte man sich auch an anderen Orten der Welt mit gleichen Plänen getragen, die Arbeiten teils schon begonnen. Das Schicksal Lees nahm allen den Mut, kein anderer wagte es, den Flug zu wiederholen.
Am 14. März stand im Morgenblatt der ›Times‹ im lokalen Teil folgender Polizeibericht:
»London, den 14. März. Heute früh in der vierten Morgenstunde wurden auf einer Bank im Hydepark die Leichen von fünf unbekannten männlichen Personen gefunden. Todesursache unbekannt.«
Das Mittagsblatt der Zeitung brachte anknüpfend an diesen Bericht einen neuen:
»London, den 14. März. Der Coroner hat als Todesursache bei den fünf heute früh im Hydepark Gefundenen Tod durch Erfrieren festgestellt. In den Kleidern eines der Toten wurde eine Brieftasche gefunden, die früher einmal im Besitz des Professors Jonas Lee gewesen sein muß.«
Das Abendblatt brachte auf der ersten Seite über den Vorfall unter einer breitgedruckten Überschrift:
»Rätselhafte Mystifikation«
folgenden Bericht:
»Bei einem der Toten wurde ein Tagebuch gefunden. Der Inhalt ist so geschrieben, als ob der Besitzer eine Fahrt zum Mond gemacht und dort nach längerem Aufenthalt den Tod gefunden hätte. Wären die Aufzeichnungen nicht als grobe Mystifikation zu betrachten, so müßte der Tote Professor Jonas Lee selbst sein.«
Diese Meldung, die auch in anderen Zeitungen stand, erregte großes Aufsehen.
Die zehnte Abendstunde war eben angebrochen, als in allen Redaktionen das Telefon schrillte:
»Hier Pressebüro des Polizeipräsidiums. Die fünf Toten aus dem Hydepark sind agnosziert als Professor Jonas Lee und seine Begleiter. Verwandte und Freunde haben sie mit Sicherheit wiedererkannt. Die Autopsie hat den ersten Befund, Kältetod, bestätigt.«
Kaum hatten die Redaktionen die Nachricht für den Druck Weitergegeben, schon sausten die Reporter zur Pressekonferenz im Polizeipräsidium. Galt es doch, für die Morgenblätter ausführliche Berichte über dies unglaubliche Ereignis zu bringen.
Zur selben Stunde hatten auch alle Radiostationen die Nachricht über die ganze Welt verbreitet, wo sie bis in die entferntesten Gegenden hinein größtes Aufsehen erregte.
»Meine Herren«, der Polizeipräsident begrüßte die dichtgedrängte Schar der Berichterstatter, die sein Amtszimmer bis auf den letzten Platz füllten. »Meine Herren, ich möchte vermeiden, irgendeine persönliche Erklärung über das außerordentliche Geschehnis abzugeben. Ich will Ihnen den Fall von seiner ersten Meldung an genau erzählen und überlasse es Ihnen, Ihre Schlüsse zu ziehen; vielleicht, daß es irgendeinem von Ihnen gelingt, eine einigermaßen plausible Erklärung zu finden. Ich selbst muß gestehen, daß ich vergeblich die Lösung des Rätsels versucht habe.
Also hören Sie bitte!
Ich kam, wie üblich, heute morgen gegen 8 Uhr hierher, erledigte schnell das Dringlichste und nahm dann die Berichte der einzelnen Polizeiwachen über die Vorfälle der Nacht in die Hand. Ich atmete erleichtert auf, als ich zu Ende war und nichts von Belang entdeckt hatte. Dem Bericht von der Auffindung der fünf Leichen hatte ich wenig Bedeutung beigelegt. Ich fragte, ohne mir viel dabei zu denken, beiläufig meinen Sekretär, ob es in der Nacht sehr kalt gewesen sei. Der verneinte und behauptete, es sei so um null Grad gewesen.
Das machte mich stutzig. Ich las noch einmal den Bericht jener Polizeiwache. Da stand zum Schluß: anscheinend erfroren. Nun, daß fünf erwachsene Männer bei null Grad auf einer Bank erfrieren, erschien mir wenig glaubwürdig. Ich verlangte den Bericht der Wetterwarte. Dieser bestätigte, daß das Thermometer in der Nacht nur einen halben Grad unter Null gesunken war.
Der Fall begann mich zu interessieren. So, daß ich selbst zum Schauhaus fuhr, ihn näher zu untersuchen. Zu meinem Erstaunen bestätigte der Arzt des Schauhauses als Todesursache Kältetod.
Ich wollte mir eben die den Toten abgenommenen Sachen ansehen, da erreichte mich die Nachricht von jenem Vorfall – Sie wissen ja, der Mord an Lord Milligan –, und zwang mich, sofort hinzufahren. Es wurde Nachmittag, bevor ich zum Schauhaus zurückkam. Ich ließ mir die Hinterlassenschaft der fünf Männer bringen.
Wäre nicht der Gedanke, daß man jemals etwas von der Leeschen Expedition, wiedersehen würde, absurd gewesen, würde ich selbstverständlich nach diesen Papieren die Toten agnosziert haben. So mußten wir an eine Mystifikation glauben. Doch je länger ich mich mit den Papieren beschäftigte, desto größer wurden meine Zweifel. Das Nächstliegende war, Verwandte, Freunde der Toten, die Namen waren uns ja bekannt, herbeizurufen. Ich tat das. –
Meine Herren! Sie können versichert sein, daß mich selten etwas so erschüttert hat wie der Augenblick, in dem Lees Witwe an die Leiche ihres Gatten trat, sich mit einem Schrei darüber warf und in Weinkrämpfe verfiel. Nun bestand kein Zweifel mehr. Ähnliche Szenen spielten sich ab, als Freunde und Verwandte in den anderen Toten die Teilnehmer der Expedition wiedererkannten.
Nachdem die grenzenlose Überraschung, die ungeheure Erregung ein wenig gewichen war, begegneten wir uns alle in der Frage: Wie kamen die Toten in den Hydepark?
Meine Herren! Das Rätsel der Leeschen Expedition dürfte mit diesem tragischen Abschluß gelöst sein. Bliebe die neue Frage, das neue, noch größere Rätsel:
Wer brachte die Leichen nach London?
Meine Herren, ich bin gespannt auf Ihren Bericht in den Morgenblättern. Es bleiben Ihnen noch drei Stunden, Ihren Scharfsinn zu versuchen.«
Auf der Terrasse seiner Hazienda saß der alte Stamford im Gespräch mit seinem Neffen Dr. Sidney Stamford.
»Nein, mein lieber Sidney! Santa Marguerita verkaufen? Das muß ich mir noch sehr überlegen! So schnell gibt man einen Besitz nicht auf, den der Urgroßvater gerodet hat. Du weißt doch, Señor Canning bot mir das Doppelte des Wertes, und doch tat ich’s nicht, auch auf die Gefahr hin, mir seine bittere Feindschaft zuzuziehen. Der Brand auf Coiba soll auch die Pampas bedrohen? – Nun, ich denke, diese Mär wird wenig Glauben finden, und wenn auch tausend Sachverständige es behaupten. Ich will deinem Freunde Weland nicht zu nahe treten. Wissenschaftliche Irrtümer sind ja schon öfter passiert. Es wäre doch schade um die gute alte Erde, wenn sie ausgerechnet auf ihre alten Tage, statt weiter zu erkalten, wieder glühend werden sollte…«
Er lachte aus vollem Halse. Auch die sechs anderen Männer in dem Raum, des alten Stamford Söhne, stimmten ein.
»Übrigens ein merkwürdig schweigsamer, düsterer Geselle, dein Freund Weland! Ist er immer so?«
Sidney Stamford wollte antworten: Nein! Erst seit er den Brand auf Coiba gesehen, hat sich sein Wesen verändert. Doch er hielt seine Worte zurück, wußte er doch, daß die anderen ihn nicht verstehen würden. So sagte er leichthin:
»Er hat viel Schweres erlebt… lassen wir ihn! Doch jetzt will ich nach Buena Vista zu van der Meulen hinüberreiten. Am Abend werde ich wieder hier sein.«
Während Sidney Stamford an der Parkmauer von Buena Vista entlangritt, spähte er angestrengt durch das grüne Gewirr der Blätter. Vielleicht, daß er Violet sehen, sie allein sprechen konnte. Ein Abschied auf längere Zeit stand bevor.
Gorm – er hatte ihn bei seinen Verwandten unter dem Namen Weland eingeführt –, Gorm plante Neues, Unerhörtes. Sein Riesengeist trug sich mit Unternehmungen, vor deren Größe und Kühnheit Sidney Stamford verstummte.
In jenen Tagen von Lahore hatte der Einsame in seinem Lebensretter einen Freund gefunden, dem er sich rückhaltlos offenbarte. Nur langsam faßte es dieser. Und als ihm aufgegangen war, was Gorm gefunden und ersonnen, hatte er sich ihm vorbehaltlos mit Haut und Haar verschrieben.
Und doch – als er um sich schaute und überblickte, was er aufgeben, verlassen mußte, tauchte immer wieder die geliebte Gestalt Violets auf. Sie noch einmal sehen, noch einmal sprechen, war sein Herzenswunsch.
Und es traf sich gut. Die kurze Fahrt zum Mond, von der sie die Opfer der verunglückten Expedition nach London zurückbrachten, war als Probefahrt gedacht. Doch bevor ein neuer Flug unternommen wurde, wollte Gorm selbst nach Amerika fliegen. Die Nachricht von Coiba beunruhigte ihn. Die Reise nach dem Gran Chaco ließ sich damit leicht verbinden.
Der Besuch in Coiba! Gorms Befürchtungen erwiesen sich nur als zu gerechtfertigt… Er sah den Atombrand, die große Gefahr und fand kein Mittel, sie zu bannen. Erschüttert, entmutigt stand er auf dem verhängnisvollen Eiland.
Sidney Stamford wollte die Gefahr nicht für ganz so groß halten. Sein Glaube an Gorm ließ ihn nicht verzweifeln. Immer wieder versuchte er sich mit dem Gedanken zu trösten, daß dieser doch vielleicht einmal einen Weg finden würde, dies Unheil aus der Welt zu schaffen.
Violet… Er hielt sein Pferd an. Durch das Laubdach einer Sykomore, deren Äste bis zum Boden niederhingen, schimmerte es weiß.
Violet oder Hortense? Eine der beiden mußte es wohl sein. Er machte sein Pferd fest, sprang auf gut Glück über die Mauer, näherte sich vorsichtig dem Baum. Nichts regte sich. Behutsam bog er die Zweige auseinander und sah Violet, die in einer Hängematte eingeschlummert war.
Leise trat er auf sie zu, wollte sie wecken. Da übermannte ihn das Gefühl. Er beugte sich zu der Schlafenden hinab und küßte sie auf den Mund.
Das Mädchen richtete sich erschrocken auf, wollte einen Schrei ausstoßen, da schloß er ihr mit einem neuen Kuß den Mund.
»Ich bin’s, liebe kleine Violet!« flüsterte er, »Sidney Stamford.«
»Sidney!?« Ohne zu wissen, was sie tat, schlang sie ihre Arme um seinen Hals… hörte trunken vor Glück die Worte des geliebten Mannes.
Erst der Ruf »Violet!«, von fernher klingend, riß sie aus ihrem Rausch. Und als käme ihr jetzt erst zum Bewußtsein, was geschehen, wandte sie sich, von dunkler Röte übergossen, zur Seite. Tränen standen in ihren Augen.
»Liebe kleine Violet!« klang’s wieder in ihr Ohr. Sein Arm legte sich um ihre Schulter. Doch da riß sie sich los, lief wie gehetzt auf das Haus zu.
Langsam folgte ihr Stamford.
»Hallo, Doktor Stamford! Hallo!«
Er wandte sich um, sah Hortense auf sich zukommen. Schnell war er bei ihr, begrüßte sie mit herzlichem Händedruck.
»Wo kommen Sie her, Doktor? Wir glaubten Sie tief in Indien.«
»Es traf sich, daß ich mit einem Freund nach den Staaten fahren mußte. Nun, ich benutzte die Gelegenheit, meine Verwandten in Santa Marguerita zu besuchen.«
»Und erinnerten sich auch Ihrer alten Freunde hier. Das ist nett von Ihnen. Die kleine Patientin von damals wird sich freuen, den Freund Doktor wiederzusehen. Wir anderen, Violet und ich – mein Vater ist zur Zeit nicht hier –, natürlich ebenfalls. Doch wie kamen Sie in den Park? War das Tor auf?«
Stamford geriet in schwere Verlegenheit.
»Nein!« sagte er so harmlos wie möglich, »ich sprang über die Mauer, den Weg abzukürzen.«
»Ah! Dann müßten Sie eigentlich Violet begegnet sein. Haben Sie sie nicht gesehen?«
Einen Augenblick suchte Stamford nach Worten. Dann schob er den Gedanken an eine Ausflucht beiseite.
»Ja, Miß Hortense! Ich gestehe es, ich traf Violet.«
»Und…?« fragte Hortense mit verstecktem Lächeln.
»Ja… und dann… lief sie plötzlich fort.«
»Sie lief fort?« Hortense weidete sich an der Verlegenheit Stamfords. »Das finde ich merkwürdig, einen lieben Besuch so schlecht zu behandeln… Oder sollte sie Gründe haben? Ich sehe, mein lieber Doktor, Ihre Verlegenheit deutlich auf Ihrem Gesicht, nun, wir werden sehen. Doch jetzt erzählen Sie von Ihren Reisen. Sie werden manches Interessante gesehen, erlebt haben.«
Stamford, froh, auf ein anderes Thema zu kommen, erzählte in seiner frischen Weise von seinem indischen Aufenthalt, während sie auf das Haus zuschritten. Als sie es betraten, war es Stamford nicht ganz wohl ums Herz.
Violet! Wie würde sie…
Hortense mochte wohl seine Gedanken erraten haben. Sie ließ Stamford durch einen Diener in den Gartensaal geleiten, schickte dann Violet mit einem Auftrag dorthin.
Als sie dann eine Zeitlang später anklopfte, erscholl ihr ein doppelt froher Gruß entgegen. Sie konnte zwei Glücklichen die Hand schütteln.
An der Spitze des Waldes, der sich wie ein Keil in die Canningsche Besitzung einschob, stand Gorm. Er hatte zu Pferd die weiten Fluren Santa Margueritas in stundenlangem Ritt durchstreift, um loszukommen von den peinigenden Gedanken an Coiba… Vergeblich! Der Druck lastete unvermindert auf ihm.
Auch das würde man ihm als Schuld anrechnen! Er kannte die Welt nur zu gut. Geächtet, verfemt, mußte er sich unter fremdem Namen im Freundeshaus verbergen, während der wahre Schuldige hier vor ihm in ungestörtem Reichtum und Glück lebte.
Wie war Canning in den Besitz seiner Berechnungen gekommen? Ein Teufel mußte ihm das Mittel gegeben haben! Er fand, solange er auch schon darüber grübelte, keine Erklärung. Und er mußte sie finden, sonst würde es ihm nie gelingen, den wahren Schuldigen zu entlarven.
Er hatte sein Pferd angebunden. Lange stand er an einen Baum gelehnt.
Der Anblick der lachenden, reichen Fluren, die Canning mit dem Judaslohn erworben, ließ ihn sich verzehren vor Bitterkeit und Haß. Immer wieder der Gedanke: Wo finde ich den Schlüssel, der diesem Schurken mein Geheimnis erschloß?
Der blutrote Glanz der untergehenden Sonne mahnte ihn zum Aufbruch. Er war, ohne auf den Weg zu achten, durch die Pampa geritten. Trat jetzt die Dunkelheit ein, mußte es schwer sein, den Rückweg zu finden. Er stieg aufs Pferd und wandte sich nach Süden. War er erst einmal aus dem dichten Walde, konnte er die Richtung leichter einhalten. Eine kurze Zeitlang würde ihm die Sonne die Himmelsrichtung noch weisen.
Als er den Wald hinter sich gelassen hatte, war das Tagesgestirn verschwunden. Schnell wachsende Dunkelheit umfing ihn. Auf der offenen Pampa setzte er sein Pferd in schnellere Gangart, ritt auf gut Glück in südliche Richtung.
Er war schon lange geritten. Nach seiner Berechnung mußte er die Häuser von Santa Marguerita längst erreicht haben. Doch nichts war zu sehen.
Er mußte sich verritten haben. Darum hielt er an, überlegte und sah nach dem Himmel. Vielleicht, daß die Sterne ihm die Richtung geben konnten. Doch die waren von dichten Wolken bedeckt.
Beim Umschauen glaubte er zu seiner Rechten weit in der Ferne einen Lichtschein zu sehen. Vielleicht ein Hirtenfeuer dort? Er wandte das Pferd ab, ritt darauf zu.
Eine halbe Stunde war er geritten, da sah er auf einer leichten Bodenerhebung deutlich das Feuer, sah auch im Hintergrund die dunklen Massen weidenden Viehs. Vaqueros! Kein Zweifel, nun war er aller Sorge enthoben.
Jetzt war er so nahe herangekommen, daß er schon die Stimmen der um das Feuer Lagernden zu verstehen glaubte. Da ließ er ein lautes Hallo erschallen, ritt näher heran.
Bei dem Anruf waren ein paar wilde Gestalten, die sich um das Feuer gelagert hatten, aufgesprungen und starrten verwundert den Reiter an.
Er sprang vom Pferd.
Einer kam ihm entgegengelaufen, bestürmte den Ankommenden mit einer Flut von Fragen.
Gorm stand Rede und Antwort. Man lud ihn ein, am Feuer niederzusitzen. Doch er lehnte ab. In Santa Marguerita würde man ihn schon vermissen…
»Unmöglich für Sie, Herr Weland, wenn ich Ihnen den Weg auch noch so gut beschreibe. Ich reite mit und bringe Sie bis ans Haus. Wäre noch schöner, wenn Tim Broker einen Fremden in den Pampas sitzen ließe. Zwei Stunden hin, eine Stunde zurück, vor Mitternacht bin ich wieder hier.« –
Sie trieben ihre Pferde an.
»Warum nehmen wir hinzu den weiteren Weg?« fragte Gorm.
»Weiter ist der Weg nicht. Es ist ja hin und her derselbe… Ah so! Jetzt verstehe ich Sie… Sie denken an zwei Stunden und eine Stunde! Nun, das ist sehr einfach. Hinzu reiten wir im Schritt. Da können wir um so länger plaudern. Rückzu geht’s im Galopp.«
Gorm mußte lachen. Die unbefangene Unterhaltung mit dem Vaquero tat ihm wohl, verscheuchte die finsteren Gedanken. Sie kamen nach Santa Marguerita, ehe er es dachte.
Aus dem etwas verworrenen Gespräch hatte Gorm so viel entnommen, daß sein Begleiter mancherlei Schicksale durchgemacht hatte. Ein Allerweltskerl! Halb Mechaniker, Schlosser, Techniker, Seemann, Luftfahrer. Bald hier, bald dort. Zuletzt von einem deutschen Schiff in Buenos Aires weggelaufen. Er hatte einem Maat eine handgreifliche Antwort gegeben… Keine Papiere für die Heimfahrt. In Buenos Aires in allen denkbaren Stellungen, war er schließlich als Vaquero gelandet…
Sie waren an der Umzäunung der Hazienda angekommen. Tim Broker donnerte gegen das Tor. Die Hunde schlugen an, Schritte näherten sich.
Es war einer der Söhne Stamfords, der den verspäteten Gast einließ. Man hatte sich wegen seines langen Ausbleibens schon Sorge gemacht. Mit ein paar herzlichen Worten verabschiedete sich Gorm von Tim Broker und versprach, ihn, bevor er fortfuhr, noch einmal wiederzusehen. –
Die anderen hatten sich schon zur Ruhe begeben. Gorm und Sidney Stamford saßen allein. Jeder hatte seine Erlebnisse erzählt. Jetzt wollten sie auch zur Ruhe gehen. Zerstreut griff Sidney Stamford nach der Zeitung.
Da! Seine Faust fiel schwer auf den Tisch. War’s möglich? Gorm schaute verwundert auf den Freund, der in sichtlicher Erregung war.
»Was ist Ihnen, Stamford?«
Der ließ die Zeitung sinken. Erstaunen, Betroffenheit kämpfte in seinen Zügen.
»Eine sonderbare Nachricht, Gorm. Majadevi…«
»Majadevi? Was ist mit ihr?« Erregt unterbrach er ihn.
»Hören Sie, was hier steht:
Buenos Aires. In der Psychologischen Vereinigung tritt seit einigen Tagen der indische Jogi Sarata mit seinem Medium Majadevi auf. Die Vorstellungen, die vor einem großen Kreis hervorragender Personen stattfinden, erregen das größte Aufsehen, die Leistungen des Mediums grenzen an das Wunderbare…«
»Wär’s möglich?« Gorm ergriff die Zeitung, las selbst die Nachricht, strich sich über die Stirn, schloß die Augen.
»Karma! Das Karma…«, hörte er die Stimme des Freundes, »es läßt sie nicht auseinanderkommen, die seinen Ruf vernommen haben. Hören sie ihn noch klingen, dann folgen sie dem Gebot.«
Gorm war aufgesprungen.
»Ich fühle die Last stärker als je… dieses Mädchen Majadevi… wo immer ich auch bin, meine Gedanken kommen nicht los von ihr.«
»So werden wir morgen nach Buenos Aires fahren. Wir werden einer Sitzung beiwohnen. Was dann weiter geschehen wird, nur das Karma weiß es.«
England war stolz darauf, die erste Hubschraubersternwarte der Welt zu besitzen. Über dem Meridian von Greenwich stand sie in fünfzehn Kilometer Höhe bewegungslos im Äther, von Hubschraubern gehalten und getragen. Ein gewaltiger Bau aus Aluminium und Glas, der ein vollkommenes Observatorium mit den stärksten Teleskopen enthielt. Im Wetteifer mit anderen Ländern hatte England ein solches Wunderwerk zuerst fertiggestellt. Die amerikanische und die deutsche Hubschrauberstation konnten erst einige Zeit später in Betrieb genommen werden.
Für die astronomische Forschung bedeuteten diese Stationen einen ungeheuren Fortschritt. Hier oben, jenseits von Wind und Wetter, über atmosphärische Störungen erhaben, in dünnster, schlierenfreier Luft, konnte man bei den teleskopischen Beobachtungen Vergrößerungen stärksten Ausmaßes benutzen. Das Auge des Beobachters sah hier die Objekte der Sternenwelt zwanzigtausendmal näher, als sie wirklich waren. So manche Erscheinung, so lange ein Streitobjekt, mußte jetzt ihre Klärung finden.
In der großen Kuppelhalle der Greenwicher Hubschrauberwarte trat Professor Moore vom Okular des großen Refraktors zurück.
»Nun, mein lieber Lee, sind wir in der Lage, ziemlich genau die Stelle zu sehen, an der Ihr Oheim Jonas Lee scheiterte.«
Während der Professor sich entfernte, begab sich der junge Gelehrte an das Okular. Er hatte die Tagebuchaufzeichnungen seines Oheims wohl im Gedächtnis. Dort an jener Stelle, wo eine steile Kraterwand zackige Schatten warf, mußte der Ort der Katastrophe sein. Doch vergeblich spähte er nach Überresten der verunglückten Rakete.
Ein Stück mangelhaften Materials an einer der seitlichen Steuerdüsen war die Ursache der Katastrophe gewesen. Das Schiff war durch das unregelmäßige Arbeiten der Düsen aus der planmäßigen Richtung weit nach Norden getrieben. Ferner entsprang daraus ein übermäßig hartes Aufsetzen bei der Landung.
Die Insassen waren aber noch mit heilen Gliedern davongekommen. Voll böser Ahnungen hatten sie sich an die Untersuchung der Rakete gemacht. Schon glaubte man, daß die Einrichtungen unversehrt seien, gab der Welt durch Lichtsignale von der glücklichen Ankunft Kunde, da entdeckte Jonas Lee, daß die Wasserstoffbehälter leck geschlagen waren.
Über das, was da oben weiter geschehen, schwieg das Tagebuch. Die letzten Aufzeichnungen, die Lee mit zitternder Hand geschrieben hatte, lauteten:
»Alle meine Gefährten tot… ich der letzte Überlebende… Noch Sauerstoff für eine Stunde – «
Die Zeit von der Landung bis zum Tode – wie furchtbar, wie schrecklich mußte sie für Jonas Lee und seine Gefährten gewesen sein!
Und dennoch! Ronald Lee trat zur Seite, blickte in das schimmernde Firmament – und dennoch… Wenn auch hundertfältiger Tod auf dem Wege zu euch lauert, keine Gefahr wollte ich scheuen, zu euch zu gelangen, den Schleier des Geheimnisses, der euch umgibt, zu lüften…
Wie einen Gott beneide ich diesen Unbekannten, der eine Macht besitzt, die ihn hin und her trägt. Den Unbekannten, der die fünf Todesopfer zurück zur Heimat brachte.
War’s überhaupt ein Bewohner dieser Erde? War’s einer, der aus Weltenfernen kam? –
Sein Dienst war zu Ende. Das Verbindungsflugzeug brachte Ronald Lee nach London zurück. Hier rief ihn ein Brief der Witwe von Jonas Lee nach deren Heim.
Er saß ihr gegenüber. Vor ihm ein verschnürtes Bündel von Dokumenten mit der Aufschrift: »Nach meinem Tode meinem Neffen Ronald Lee zu übergeben.«
Erst nachdem sie die Leiche ihres Gatten mit eigenen Augen gesehen, waren die letzten Hoffnungen der Witwe geschwunden. Jetzt erst hatte sie die Kraft gefunden, den Schreibtisch des Verstorbenen zu öffnen, in dem, wie er ihr gesagt hatte, sein Nachlaß verschlossen war. Unter anderem hatte sie auch dieses Bündel gefunden, hatte Ronald Lee zu sich gerufen. –
Und dann saß er allein in dem Zimmer, knüpfte mit zagen Händen das Band auf, das das Bündel umschlang…
Saß und las… Der Abend brach herein, als er das letzte Blatt aus der Hand legte.
Welche seelische Not, welche furchtbaren Zweifel mußten Jonas Lee die letzten Wochen vor seinem Flug gequält haben! Diese Blätter hier erzählten viel mehr, als die nackten Worte sagten. –
Auch das war jetzt klar. Der Unbekannte, der zum Mond geflogen und dabei auf der Rückreise die Toten mitgenommen hatte – kein anderer als Weland Gorm konnte es sein… Wieder eine Tat dieses Genies! Und dieser Mann, allen Ruhm verschmähend, verschwieg sie, hielt seinen Namen im dunkeln.
Unbegreiflich! Nur so zu erklären, daß Gorm, verbittert, angeekelt durch das Geheul der Meute, die ihn als Schuldigen ächten wollte, es verschmähte, der Menschheit Kunde zu geben von seinem neuen Erfolg…
Kurze Zeit vor dem Tag der Abfahrt war Weland Gorm, der alte Freund Lees, zu ihm gekommen, ihn zu warnen vor dem gefährlichen Weg und ihm den gefahrloseren zu zeigen. Ein Raumschiff, getrieben durch Elektronenenergie, ein sichereres, besseres Mittel, die Fahrt zu unternehmen. Gorm hatte bei der Weiterentwicklung seiner Erfindung diesen Weg entdeckt. Er selbst – mit andere Plänen im Kopf – wollte das Problem erst später verwirklichen. In Sorge um den Freund war er zu ihm geeilt, hatte ihm selbstlos seine Ideen und Berechnungen zur Verfügung gestellt, in der Hoffnung, Lee von dem gefährlichen Flug mit einer Wasserstoffrakete abzuhalten.
Lee hatte staunend den Freund beglückwünscht. Der Gormsche Weg war die Lösung des Problems! So klar, so einleuchtend! Gewiß, ein Raumschiff, nach diesem Prinzip konstruiert, mußte viel schneller, viel sicherer seinen Weg zurücklegen und bot auch Aussichten auf viel längere, weitere Fahrten.
Er hatte Gorm allein gelassen, war mit sich selbst zu Rat gegangen… Die eigenen Pläne verwerfen? In letzter Stunde vom Flug zurücktreten?
Das Lachen der Welt! Es klang ihm schon in den Ohren. Er als Feigling verspottet! Andere, Kühnere, die an seiner Statt das Wagnis unternahmen, mochten das Ziel vor ihm erreichen…
Dann war er zu Gorm zurückgekehrt.
»Ich fliege doch! Mag’s kommen, wie es wolle!«
Vergeblich hatte Gorm nochmals versucht, den Freund umzustimmen, doch dieser war fest geblieben.
Gorm war geschieden. Hatte seine Formeln dagelassen. Vielleicht daß Lee doch noch anderen Sinnes wurde, wenn er in ihrem Besitz blieb. –
Diese Berechnungen – ihm vom Oheim überkommen –, er durfte frei über sie verfügen. Stand es doch da ausdrücklich geschrieben:
»Es ist Gorms Idee, die ich in den Nächten vor meinem Flug durchgerechnet und bis zur Konstruktion geformt habe. Komme ich nicht zurück, gehören sie dir! Du wirst derjenige sein, der den Namen Lee besser, glücklicher zu Ruhm und Erfolg führt…«
Fassungslos starrte Ronald Lee in die Weite.
Die Idee, die er schon lange in sich getragen hatte, hier wurde ihm die Möglichkeit einer Verwirklichung geboten… Und Gorm? –
Trotz seiner Beziehungen in Buenos Aires war es Dr. Stamford nicht möglich gewesen, Zutritt zu den Darbietungen des Inders zu erlangen. Alle Karten zu den letzten Vorstellungen waren im voraus vergriffen. Erst in letzter Stunde glückte es ihm noch, zwei Bekannte zu veranlassen, ihm ihre Karten abzulassen.
Sie waren unter den letzten, die in den kleinen Saal traten. Sie hatten gehofft, daß die Vorstellungen bei abgeschwächtem Licht vor sich gehen würden, denn sie wollten es unbedingt vermeiden, von Sarata und Majadevi erkannt zu werden. Für alle Fälle hatten sie sich jedoch so gut wie möglich unkenntlich gemacht, wenngleich dies nicht genügte, einen, der sie gut kannte, auf die Dauer zu täuschen. Leider war der Saal beleuchtet wie immer und würde es auch, wie sie hörten, während der Vorstellung bleiben. Es gelang ihnen jedoch, weit zurückliegende Plätze zu bekommen. Es waren ungefähr dreißig bis vierzig Personen in dem Raum.
Mit dem Glockenschlag öffnete sich eine im Hintergrund gelegene Tür. Sarata trat ein, hielt in schlechtem Englisch eine kurze Ansprache. Die beiden Freunde hätten den Alten kaum wiedererkannt, wenn sie nicht genau gewußt hätten, daß er es war. Wo war das Lumpenkleid geblieben, das er in Lahore trug? Der hagere Körper war in fantastisch prächtige Gewänder gehüllt. Den Kopf zierte ein weißer Turban von kolossaler Größe.
Als er seine Ansprache geendet, trat das Medium in den Saal, Majadevi. Auch sie war kaum wiederzuerkennen in den prunkvollen Seidengewändern. Kaum war sie in den Raum getreten, verzögerte sich ihr Schritt, als wolle sie stehenbleiben, die Augen wie in Trance starr geradeaus gerichtet. Ein sensibles Zucken lief über die Muskeln ihres Gesichtes, als suche sie etwas zu fühlen, was ihren Blicken verborgen war.
Im gleichen Augenblick legte Stamford seine Hand schwer auf Gorms Arm.
»Raffen Sie sich zusammen!« flüsterte er ihm zu. »Leisten Sie heftigsten Widerstand! Sie müssen Ihre Gedanken aufs stärkste nach anderer Richtung konzentrieren, sonst… verderben Sie alles. Unsere Fahrt! Denken Sie daran… Denken Sie! Ich werden Ihnen helfen.«
Gorm gelang es nur schwer, dem Rat zu folgen. Doch unter dem Druck der Hand Stamfords fühlte er nach und nach, wie die Spannung in ihm schwächer wurde.
Majadevi war langsam neben den Inder getreten, der ihr Zögern nicht bemerkt hatte.
Die Vorführung begann mit telepathischen Tricks, wie sie die großen Taschenspieler zu bringen pflegen. Sarata und sein Medium bedienten sich dabei der englischen Sprache, die Majadevi geläufig zu beherrschen schien. Die Zuschauer konnten sich nicht allzusehr für diese Darbietung erwärmen.
Nach einer kleinen Pause begannen Experimente mit Personen aus dem Publikum. Alsbald wurden lebhafte Ausrufe der Verwunderung, des Staunens laut. Hier, wo jeder schwindelhafte Trick ausgeschlossen war, zeigte das Medium Gaben, die an das Übernatürliche grenzten.
Das Medium hatte während dieser Zeit mit verbundenen Augen auf einem Stuhl neben dem Tisch des Inders gesessen. Jetzt erklärte dieser, er werde zu einigen besonders schwierigen Versuchen übergehen.
Ein Ruhebett wurde in den Raum gerollt. Von Sarata geleitet, legte sich das Mädchen darauf. Dieser entfernte die Binde von ihren Augen und blieb eine Weile über sie gebeugt. Es war klar, daß er sie jetzt in den Tiefschlaf versetzte. Ehe er nun begann, bat er, nur wenige Fragen zu stellen, um die Kräfte des Mediums nicht allzusehr anzustrengen.
Einer aus dem Publikum rief:
»Was wird mit Coiba?«
Sekundenlange Stille… dann kam es eintönig, in abgebrochenen Sätzen von den Lippen des Mädchens:
»Alles Menschenwerk, den Brand zu löschen, wird vergeblich sein. Ein großer Schrecken wird durch die Welt gehen… Ich sehe, wie gar mancher sich rüstet, zu fliehen… und dann… ein Gott kommt vom Himmel herab zur Erde… der senkt sich nieder über Coiba… die Flügel rauschen um seine Schultern… er streckt die Hand aus… der Brand erlischt… Die Menschen knien vor ihm… ihre Dankgesänge steigen zu ihm empor… doch er wendet sich ab… ich sehe ihn nicht mehr…«
Ihre Arme hatten sich erhoben, bewegten sich, als griffen sie nach einem Gegenstand. Man sah, wie es in ihrem Gesicht zuckte wie in Angst und Not… Dann schlossen sich plötzlich die Hände, ein frohes, glückliches Lächeln trat in ihr Gesicht.
Der eintönige Klang der Stimme war verschwunden. Fast schrie sie die Worte:
»Jetzt sehe ich ihn wieder. Er kommt zu mir… nimmt mich mit sich…«
Die Zuhörer sahen sich fragend an. Man sah die Zweifel in vielen Mienen. Und doch schienen sie alle unter einem unerklärlichen Bann zu stehen. Jeder fühlte das Außergewöhnliche dieser Worte.
Der Inder hatte sich unmerklich näher und näher an das Medium herangeschoben. Man sah, wie es in seinem Gesicht trotz aller Selbstbeherrschung arbeitete. Auch ihn schienen die Worte tief erregt zu haben. Jetzt streckte er die Hand aus und strich dem Medium, das wieder zurückgesunken war, über die Stirn. Er flüsterte in fremder Sprache eine Weile, bis die tiefen Atemzüge des Mädchens zeigten, daß sie wieder in voller Trance war.
»Nur noch eine Frage«, wandte sich Sarata jetzt zum Publikum, »kann ich den Herrschaften gestatten. Irgend etwas muß auf das Medium außerordentlich störend wirken. Eine große Anstrengung würde von nachteiligen Folgen für ihre Gesundheit sein.«
Ein Dutzend Fragen scholl ihm entgegen. Der Inder zuckte die Achseln.
»Meine Herrschaften, ich möchte nicht den Verdacht erwecken, daß ich mir eine besonders genehme Frage herausnehme. Ich bitte Sie, sich selbst darüber zu einigen, welche von den gestellten Fragen ich an das Medium richten soll.«
Geraume Zeit herrschte lautes Stirnmengewirr in dem Raum. Endlich hatte man sich auf die Frage geeinigt: »Wo ist Gorm?«
»Wo ist Gorm?« wiederholte der Inder, innerlich lächelnd. Die Frage war ihm auf seinen Reisen schon mehr als einmal vorgelegt worden. Er wandte sich zu dem Mädchen und stellte in englischer Sprache die Frage.
Alles starrte gespannt auf Majadevi.
Diese lag wie tot, die Lippen geschlossen. Über die Augen Saratas lief ein nervöses Zucken. Er trat ein paar Schritte näher an Majadevi heran, wiederholte die Frage.
Wiederum keine Antwort. Nur der Inder sah an den leichten Bewegungen der Stirnhärchen, daß es dahinter arbeitete. Woher dieser Widerstand, fragte er sich. Er wandte sich mit ein paar entschuldigenden Worten an das Publikum und ließ dabei seine Blicke scharf über die Gesichter gleiten. Als er über die hinterste Reihe blickte, durchzuckte ihn ein heftiger Schreck.
Die beiden Augen, in die er da schaute… nie wieder im Leben würde er den harten Blick vergessen. Seine Hand glitt in die Tasche, umklammerte eine kleine Elfenbeinkugel… Er wandte sich um, schloß sekundenlang die Augen. Alle Gedanken auf diese Kugel gerichtet, machte er sich mit heftiger Anstrengung frei von dem Bann.
Ein Wettkampf zweier stärkster Kräfte.
Er trat dicht neben das Medium, ergriff ihre Hand, hielt sie lange in der seinen. Fragte dann, jedes Wort betonend, die alte Frage:
»Wo ist Gorm?«
Da war es, als wenn das Medium von stärksten Fieberschauern überfallen wäre. Die Glieder schlugen zuckend hin und her. Die Lippen öffneten sich und schlossen sich wieder. Ein grauenhafter Kampf, in dem alle Nerven des Mädchens hin und her gerissen wurden.
Auch der Zuschauer bemächtigte sich große Erregung.
»Genug! Genug!« schrie es von allen Seiten. Einige der Vordersten sprangen auf, eilten auf den Inder zu.
Der ließ die Hand des Mediums fallen, stand tief atmend. Der Vorderste, der in seine Augen blickte, fuhr erschrocken zurück, als hätte ihn der Blick eines rasenden Tieres getroffen.
In dem allgemeinen Durcheinander fiel es nicht auf, daß die beiden Freunde sich durch eine Seitentür entfernten. Nur der Inder hatte ihr Verschwinden bemerkt. Schnell hatte er sich wieder in der Gewalt.
»Meine Herrschaften! Ich bedaure sehr, daß eine stärkere Indisposition des Mediums mich zum Abbruch der Vorstellung zwingt. Doch zum Beweis, daß dem Medium nichts Ernstliches zugestoßen ist, sehen Sie hierher!«
Es beugte sich zu Majadevi, strich ihr ein paarmal leise über die Schläfen. Sie schlug die Augen auf, sah sich um, stand auf. Verneigte sich vor den Umstehenden und schritt durch die Tür, durch die sie eingetreten war, wieder hinaus.
Ronald Lee saß in seiner Werkstatt. Jede freie Minute, die ihm der Dienst im Observatorium ließ, hatte er seit jenen Tagen, an denen er die Papiere seines Oheims in die Hände bekommen hatte, dazu benutzt, sich in dessen Gedankengänge einzuleben.
Immer wieder hatte er die Berechnungen und Konstruktionen durchgearbeitet und war dann selbst zur zeichnerischen Konstruktion eines Raumschiffes geschritten. Dies hatte er in verschiedenen Typen variiert. Rechnung und Konstruktion stimmten stets überein.
In einem billigen Mietsraum hatte er sich mit notdürftigen Mitteln eine Werkstatt geschaffen, den Bau eines Modells unter Aufopferung des letzten Shilling durchgesetzt. Er stand davor, betrachtete seine Schöpfung. Er sah, wie die Strahlen der Frühlingssonne um die blanken Metallteile spielten, und fuhr liebkosend über sein Werk.
Und wenn keiner an dich glaubt, so tue ich es. Einmal wird doch der Tag kommen, wo dein starker Bruder den Flug ins All antritt. Den Namen »Jonas Lee« in blanken Lettern an seinem Bug… den Namen des ersten Pioniers der Raumschiffahrt soll er zu neuem Ruhme führen…
Wer gewußt hätte, mit welchen Fehlschlägen, Enttäuschungen Ronald Lee ununterbrochen kämpfte, hätte dessen erfolgbewußte Miene, dessen siegesgewisse Worte schwer begriffen.
Es war Sonntag. Den Tag der Ruhe wollte er benutzen, an Violet, seine Schwester, zu schreiben. Von Kindheit an in engster geschwisterlicher Liebe mit ihr verbunden, war er gewohnt, all das, was ihn bewegte, ihr anzuvertrauen. Sie wußte bereits vom Erbe des Oheims, doch hatte er sie gebeten, darüber zu schweigen. Jetzt schrieb er ihr nach langer Zeit all das, was er inzwischen getan hatte, und verschwieg ihr nichts von den Enttäuschungen… Er ließ aber klar durchblicken, daß auch nichts ihm die Hoffnungen auf ein glückliches Zuendebringen seiner Pläne rauben könne.
Er bat sie scherzend, ihm doch dort unten ein Konsortium von mammonbeschwerten Interessenten zusammenzubringen. Billig sei der Spaß nicht, weshalb es unbedingt ein Konsortium sein müsse. So einige hunderttausend Pfund dürften nötig sein. Der Brief schloß: »Indem ich Dich vor mir sehe, mit dem Klingelbeutel die Hauptavenuen von Buenos Aires abwandelnd, verbleibe ich in alter Liebe Dein Ronald.«
»Der arme Ronald!« sagte Violet in betrübtem Tone, als sie den Brief zu Ende gelesen hatte.
»Warum, Miß Violet? Was ist mit Ihrem Bruder?« Hortense neigte sich zu ihr und schaute sie fragend an.
»Ach! Der dumme Junge! Diese Idee, nach den Sternen zu fliegen. Ist es nicht genug, daß unser Oheim elendiglich zugrunde gehen mußte. Und nun will er auch… und ich soll ihm noch das Geld zusammenbetteln. Ich werde ihm aber einen Brief schreiben…«
»Wie? Was?« Hortense lächelte. »Ihr Bruder Ronald, auch er? Das ist ja, als wenn das eine Krankheit in Ihrer Familie wäre. Fehlte nur noch, daß auch Sie mir entflögen… hinauf zu den Sternen.«
»Ach, liebe Miß Hortense, Sie spotten! Und wissen doch gar nicht, daß es dem Jungen so bitter ernst ist. Hier, lesen Sie doch selbst.«
Hortense las. Und je weiter sie las, desto ernster wurde ihr Gesicht. Als sie zu Ende gelesen, sah sie Violet mit unverhohlenem Interesse an.
»Miß Violet, entschuldigen Sie. Ich hielt das alles mehr für Scherz. Die Arbeiten Ihres Bruders interessieren mich sehr. Doch verstehe ich manches nicht. Vielleicht haben Sie noch den vorigen Brief, an den er hier anknüpft. Wenn es Ihnen nicht unangenehm ist, möchte ich Sie bitten, mir auch den zum Lesen zu geben.«
»Ach, Miß Hortense! Nun machen Sie auch noch solche Sachen. Ich will ihn ja gern holen. Aber es ist und bleibt doch schrecklich, daß Ronald nun vielleicht gar auch dasselbe Schicksal haben könnte wie mein Oheim Jonas.«
Nach kurzer Zeit war sie wieder da, brachte Hortense den Brief.
Während die beiden Mädchen heftig disputierend die Briefe besprachen, ließ van der Meulen plötzlich die Zeitung sinken. Eine kurze Notiz da unten ganz zum Schluß:
»Professor van de Vrient aus Leiden, von einer Reise nach Batavia den Rückweg über Osten nehmend, besuchte Coiba. Er äußerte die stärksten Bedenken über die Gefahr, die zunächst den amerikanischen Kontinenten, später vielleicht der ganzen Erde drohen könnte…«
Bei dem Namen ›van de Vrient‹ hatte van der Meulen aufgemerkt. Er kannte ihn von der Heimat her sehr gut und wußte, daß dieser, ein ernster Wissenschaftler, kein Wort sprach, das er nicht voll vertreten konnte. Van der Meulen sann angestrengt nach. Plötzlich, als wäre ihm eine Idee gekommen, sprang er auf.
»Die Briefe!«
Die beiden Mädchen schauten ihn halb erschrocken, halb erstaunt an. Violet erhob sich, reichte ihm die beiden Schriftstücke. Van der Meulen ging an seinen Platz zurück, las und las. Die beiden Mädchen waren verstummt, schauten sich an und wußten nicht, was dieser plötzliche Wechsel in van der Meulens Stimmung zu bedeuten hatte. Sie sahen, wie er immer wieder von neuem die Briefe las –
Endlich wandte er sich um.
»Miß Violet! Sie würden mir einen Dienst leisten, wenn Sie Ihren Bruder Ronald bitten wollten, hierherzukommen und unser Gast zu sein.«
»Mr. van der Meulen…«, stotterte Violet, »ich verstehe nicht, ich begreife nicht. Ich glaube, Sie scherzen…«
»Warum sollte ich scherzen, Miß Violet? Schreiben Sie, wie ich es Ihnen sagte.«
»Oh, das wäre ja köstlich… Ronald hier! Ihn wiedersehen nach so langer Zeit, wie würde ich mich freuen…« Violet tanzte und sprang vor Freude im Zimmer auf und ab.
»Und Sie, Miß Hortense, auch Sie werden sich freuen, wenn Sie ihn sehen. Wenn er nur erst hier wäre, der liebe, dumme Junge…«
Ein Diener trat mit einem Brief in der Hand ein, schritt auf Hortense van der Meulen zu. Sie sah schon von weitem an der Form des Umschlages, woher der Brief kam, und deutete auf ihren Vater, der ihn öffnete und las.
»Liebe Hortense!… Ah, Verzeihung, Hortense, der Brief ist ja an dich…«
»Oh, bitte, lieber Vater, Geheimnisse stehen sicher nicht darin. Lies nur weiter… Was ist’s denn, eine Einladung?«
Van der Meulen nickte.
»Ja! Eine interessante Sache. Hört mal, ihr Mädchen! Wir lasen doch in der Zeitung von dem Auftreten dieses rätselhaften indischen Paares in Buenos Aires. Die Leistungen des Mediums sind ja phänomenal…«
»Und?« unterbrach ihn Hortense. »Und? Was schreibt Robert Canning darüber?«
»Denkt euch nur, er hat, wie er schreibt, es mit größter Mühe vermocht, den Inder dahin zu bringen, daß er mit seinem Medium hier in Cannings Haus eine Privatseance geben wird. Morgen abend um acht Uhr wird die Vorstellung stattfinden. Wir sind allesamt eingeladen.«
»Oh, wie nett von Mr. Canning!« Violet klatschte in die Hände. »Wie habe ich mir immer gewünscht, einer solchen Sitzung beizuwohnen.«
»Nun, da wird uns ja wohl nichts anderes übrigbleiben, als der Einladung zu folgen«, erwiderte Hortense lachend.
»Abgemacht«, sagte van der Meulen. »Ich werde dem Boten Bescheid mitgeben.«
Es war am Spätnachmittag des folgenden Tages. Auf dem weiten Hof von Santa Marguerita waren die Familienmitglieder versammelt. Sidney Stamford und sein Freund Weland drückten jedem noch einmal die Hand und stiegen in ihr Flugzeug.
Der Abschied war etwas schnell gekommen. Gegen Mittag waren die beiden aus der Stadt zurückgekehrt und hatten erklärt, schleunigst abreisen zu müssen.
Eine Stunde später hatte Sidney Stamford in dem Maschinenschuppen eine ziemlich lange Unterredung mit Tim Broker gehabt. Als sie sich trennten, hatte Tim eiligen Schrittes den Weg zu der Pferdekoppel eingeschlagen. In einem wirren Gemisch von Spanisch und friesischem Platt murmelte er verrücktes Zeug…
»Ist mir’s doch wie dem Akkumulator, dem ich mal hundert statt zwanzig Ampere in den Bauch jagte, der ging aus allen Fugen… und ich… ich platze… Großartig!… Junge, das gibt ein Ding!«
Mit einem Jubelruf warf er seinen Riesensombrero in die Luft.
»Endlich mal ein Grund, wo Tim Broker mit Anstand den Anker fallen lassen kann!…«
An der Koppel angelangt, wählte er mit Bedacht den besten Renner aus, fing ihn, schwang sich darauf. In voller Karriere jagte er nach Norden. Nach zwanzig Kilometern war der Gaul über und über mit Schweiß bedeckt. Jetzt ritt er dem Walde zu. Durch eine breite Schneise sah er eine weite Lichtung, eine ebene Waldwiese.
Tim Broker hielt an, sprang zur Erde.
Möchte wissen, wo man auf der Welt einen schöneren versteckten Landungsplatz für ein Flugzeug hätte, als diese Lichtung hier… Pferde muß ich noch haben… Ja, da draußen weiden ja genug. Aber die Sättel, wo kriege ich die her? Ich brauche keinen Sattel, aber die anderen Herrschaften… Nun, dazu habe ich noch Zeit… bis die Nacht kommt, werde ich auch die Sättel haben.
Er warf sich ins Gras und schaute unverwandt nach Süden. –
Ah! Da sind sie schon! Er sprang auf, brach einen Ast ab, befestigte seinen Poncho daran und winkte damit heftig nach oben.
Ein kurzes Manöver des Flugzeugs zeigte ihm, daß er verstanden war. Die Sonne sank unter den Horizont. Der Hubschrauber ging tief hinunter, folgte der Schneise und setzte in der Lichtung auf.
»Schönes Plätzchen hier, meine Herren!« begrüßte Broker Gorm und Stamford. »Selbst der schlimmste Pamperosturm würde den Apparat nicht losreißen.«
»Und die Pferde?« unterbrach ihn Stamford.
Broker machte eine wegwerfende Bewegung.
»Pferde gibt’s hier überall. Mit dem hier…«, er zeigte auf seinen Lasso, »…fange ich, soviel Sie haben wollen.«
»Gut, lieber Tim! Vergessen Sie nicht, daß wir uns unbedingt auf Sie verlassen. Es blieb alles so, wie ich’s Ihnen heute mittag sagte.«
Tim Broker nickte.
»Der Teufel soll mich holen, wenn’s an mir liegen sollte.«
Die Schatten der Dämmerung lagen bereits über Buena Vista, als van der Meulen mit Hortense und Violet nach Cannings Hazienda fuhr. Mit einem geheimen Unbehagen hatte Hortense die Nachricht von der Einladung empfangen.
Sie hatten den Tee in Cannings Park genommen und gingen jetzt ins Haus. Van der Meulen schaltete den Radioapparat ein, um die letzten Börsenberichte zu hören. Canning bat Hortense, mit ihm in die Bibliothek zu gehen, die kürzlich angekommene Büchersendung zu besichtigen.
Interessiert betrachtete sie die schönen Werke, die auf dem Tisch aufgestapelt waren.
Canning kam zu ihr und legte den Arm um ihre Schulter. Sein Mund flüsterte Liebesworte in ihr Ohr. Sie suchte sich freizumachen. Das alte Gefühl von Freude und Schreck, das sie stets empfand, wenn sie mit ihm allein war, wurde wieder in ihr wach. Wehrlos, schwach stand sie da. Mit einer verzweifelten Bewegung entwand sie sich ihm. »Nein! Lassen Sie mich, Roberto – «
Sie trat zum Fenster, sog tief atmend die kühle Abendluft ein. Die Leere, die Angst, der ganze schmachvolle Jammer der vergangenen Tage und Wochen überfiel sie.
»Hortense, seien Sie nicht grausam!« Canning suchte ihre Hand zu fassen. Sie entzog sie ihm.
»Hortense!« Cannings Stimme klang weich. »Ihre Kälte kränkt mich. Womit habe ich das verdient?«
Hortense fühlte, wie seine Lippen ihr Haar streiften. In ihrem Ohr klangen die schmeichelnden Töne, deren Zauber sie immer wieder erlag.
»Um meiner Seelenruhe willen lassen Sie mich… Etwas Unerklärliches ist in mir vorgegangen, etwas Fremdes ist zwischen uns getreten, etwas, was mir Entsetzen einflößt, wenn ich…«
»Entsetzen?« Cannings Stimme zitterte. Er war erblaßt.
»Ja, Entsetzen!« wiederholte sie deutlicher, unerbittlich gegen sich selbst. »Was es ist? Ich weiß es nicht, weiß nur, daß ich darunter leide wie unter einer Marter.«
»Hortense, Sie müssen mir eine Erklärung geben, Sie sind es mir schuldig. Schenken Sie mir ein wenig Vertrauen, lassen Sie mich teilnehmen…« Canning wollte auf sie zutreten, doch sie streckte ihm abwehrend die Hand entgegen.
»Verzeihen Sie mir, Hortense, wenn mein Wunsch, Ihnen zu helfen… ich will mich bezwingen… Sie äußerten doch mehrfach, Sie möchten gern reisen. Wenn Sie nicht warten wollen, bis wir verheiratet sind, ich wüßte nichts Schöneres, als mit Ihnen…«
»Verzeihung, Mr. Canning, Mr. van der Meulen wünscht Sie zu sprechen.« Violet hatte den Vorhang weit zur Seite geschoben.
»Wir kommen sofort«, rief Hortense wie erlöst. Ein dankbarer Blick streifte Violet, als sie an ihr vorüberschritt.
Van der Meulen stellte das Radio ab, als Canning eintrat. »Denken Sie sich, Don Roberto, die letzten Nachrichten vom Isthmus brachten wieder längere Berichte über den Preissturz am Grundstücksmarkt da oben.«
»Wieso? – Warum?« fragte Canning. »Ist etwas Neues, Wichtiges auf Coiba vorgegangen? Der Brand gefährlicher…«
»Nein, durchaus nicht. – Aber irgendein paar Hasenfüße auf dem Festland Coiba gegenüber, haben Hals über Kopf ihren Besitz verkauft, verwirren auch anderen den Kopf. Man will auch festgestellt haben, daß Agenten aus der Union diese Beunruhigung durch Ausstreuung schlimmer Gerüchte geflissentlich steigern. Die verkauften Besitzungen sind fast ausnahmslos für ein Butterbrot in die Hände von Nordamerikanern übergegangen.«
»Man scheint danach in den Staaten die Gefahr von Coiba nicht sehr tragisch zu nehmen«, erwiderte Canning.
»Scheint mir auch so, Don Roberto. Man verläßt sich anscheinend darauf, daß, wenn die sogenannte Gefahr wirklich zu groß ist, der Brand mit den einfachsten natürlichen Mitteln gelöscht werden muß, nämlich mit Wasser.«
»Aber Vater!« mischte sich Hortense ein, »das wenigstens ist mir aus dem Bericht deines Freundes van de Vrient klar geworden, daß ein Atombrand nicht mit Wasser zu löschen ist, und wäre es auch der ganze Pazifik.«
»Hortense hat recht, Mr. van der Meulen. Handelt es sich tatsächlich um einen Atombrand auf Coiba, so würde ihm mit Wasser nicht beizukommen sein. Die Idee ist absurd«, warf Canning ein.
»Denkt, wie ihr wollt«, sagte van der Meulen. – »Doch halt… vielleicht erfahren wir noch heute abend die Lösung des Rätsels…«
»Wie meinen Sie, Mr. van der Meulen?«
»Nun, wir werden einfach das allwissende Medium Majadevi befragen. Bin neugierig, wie sie sich zu der Frage stellen wird. Als kluge Pythia wird sie wohl etwas delphisch antworten.«
»Die Frage ist nicht nötig.« Canning zog ein Zeitungsblatt aus der Tasche, reichte es van der Meulen. »In der letzten Sitzung in Buenos Aires wurde diese Frage bereits an das Medium gerichtet. Ein Teilnehmer hat die Antworten des Mediums mitgeschrieben und in der Zeitung veröffentlicht.«
Van der Meulen nahm das Blatt und las den Zeitungsbericht vor. Lachte dann laut los. »Nun, da wären wir ja ein ganzes Stück klüger. – Gott schickt einen Engel, der mit seinen Flügeln den Brand ausweht. Ja, ja! Schade, Don Roberto! Die gespannte Neugierde, mit der ich diese Majadevi erwartete, ist durch diese etwas reichlich kindliche Antwort um einige Grade gesunken.« -
»Mag sein, Mr. van der Meulen, daß die Worte des Mediums sich gedruckt etwas naiv ausnehmen. Wenn Sie aber weiterlesen, werden Sie finden, daß der Eindruck der gesprochenen Worte auf die Teilnehmer der Sitzung sehr stark gewesen ist. Wie überhaupt…«
»Lassen wir den Streit, Don Roberto, wir werden ja gleich mit eigenen Augen und Ohren das Wundermädchen kennenlernen.«
»Gewiß, ich denke, der Inder wird bald anfangen können. Gehen wir!«
Canning wandte sich lachend zu den Damen. »Der Kerl ist von einer exemplarischen Häßlichkeit. Wie der zu der schönen Enkelin kommt, erscheint mir reichlich dunkel. Denn diese Majadevi ist ein hervorragend schönes Geschöpf. Der Alte ist übrigens sehr besorgt um sie. Mein Majordomo wollte ihn in der oberen Etage installieren, die Enkelin im Erdgeschoß. Der Inder protestierte aber so lange, daß ich mich schließlich ins Mittel legen mußte. Nun sind sie beide im Erdgeschoß einlogiert. Wie schon gesagt, Sarata hütet das Mädchen wie seinen Augapfel, wie’s scheint. Gehen wir gleich in den großen Speisesaal!«
Dort fanden sie zu ihrem Erstaunen das Medium allein auf einem Stuhle sitzend.
Beim Eintritt der Gesellschaft erhob sich das Mädchen, ging ein paar Schritte auf sie zu und erklärte in ziemlich geläufigem Englisch, ihr Großvater sei nach unten gegangen, noch etwas zu holen.
Hortense trat mit Violet auf die Fremde zu und reichte ihr die Hand. Vergebens suchte sie nach passenden Worten, um eine Unterhaltung anzuknüpfen. Sie, die Weltgewandte, wußte dem seltsamen Gast gegenüber nur ein paar banale Redensarten zu finden.
Die Fremde sprach nur wenige Worte, zeigte überhaupt eine seltsame Zurückhaltung. Das blasse Oval des schönen Gesichtes blieb Starr. Die Augen, jetzt teilnahmslos, fast leer der Blick, jetzt unruhig umhersuchend wie in Erwartung oder – Furcht. Und doch lag über der schlanken, fast kindlichen Gestalt ein seltsamer Liebreiz.
Violet in ihrer impulsiven Art glaubte den Bann brechen zu können. Sie schob ihren Arm unter den Majadevis, zog sie in mutwilliger Gangart der Glasveranda zu, wo der Radioapparat gerade noch die letzten Takte eines Tanzes hören ließ. Dabei sprudelte sie über von lustigem Geplauder. Die Fremde folgte nur schwach widerstrebend. Ihre leichtgebräunten Wangen röteten sich, als ob sie eine schamhafte Schüchternheit überwinden müsse. In ihren Augen leuchtete es hell auf, ein Schein von Freude zuckte über ihre Züge.
Dann blieb das Mädchen plötzlich stehen. Seine Augen blickten in zögernder, wortloser Angst zu dem gegenüberliegenden Saaleingang, durch den eben Sarata trat.
Der Inder trat zu dem Mädchen und sprach ein paar Worte in indischer Sprache zu ihr. Majadevi nickte und schritt aus dem Saal.
»Während meine Enkelin sich umkleidet, darf ich den Herrschaften vielleicht ein paar Worte über ihr Schicksal sagen.
Ich hatte eine einzige Tochter, mit der ich eine Zeitlang in Peschawar lebte. Ein russischer Kaufmann, der öfters nach Peschawar kam, heiratete sie und nahm sie mit sich nach Andijan. In dem großen Aufstand sind die beiden ums Leben gekommen. Ich befand mich auf der Reise zu ihnen. Als ich nach Andijan kam, fand ich Majadevi bei mitleidigen Leuten, die sich des verwaisten, hungrigen Geschöpfes angenommen hatten.
Das arme Kind, es war damals vierzehn Jahre alt, kannte mich nicht wieder und folgte mir nur widerstrebend. Es war durch die schrecklichen Ereignisse halb wahnsinnig geworden. Man hatte Majadevi bewußtlos in den Armen der toten Mutter gefunden. Ich begab mich mit ihr nach Lahore. –
Natürlich hörten auch wir in Lahore von dem aufsehenerregenden Flug Jonas Lees zum Mond und der Wahrscheinlichkeit, daß er dort umgekommen sei.
Es war am Abend vor jenem Tage, an dem die Leichen Lees und seiner Gefährten im Hydepark in London gefunden wurden. Ein paar Bekannte waren bei mir. Wir sprachen über allerlei, aber ganz bestimmt nicht über Lee, der doch stark in Vergessenheit geraten war. Majadevi saß in einer Ecke und schlief anscheinend. Plötzlich fing sie an zu sprechen. Ihre Worte, wie im Schlaf gesprochen, erschienen uns als wirre Träume. Sie redete von einem Mann, der im feurigen Wagen zum Himmel fuhr… auf dem großen, blanken Stern haltmachte… fünf tote Männer, die dort begraben lagen, mit sich in seinen Wagen nahm, sie zur Erde zurückbrachte, zur Heimat. –
Wir lachten, denn das, was ich Ihnen so kurz sagte, erzählte sie in langen, weitschweifigen Sätzen. Nachdem sie geendet, trat ich zu ihr, wollte sie wecken. Sie schlug die Augen auf, sah mich verständnislos an, als ich sie fragte, was ihr Kauderwelsch zu bedeuten habe. Sie behauptete, von all dem Gesagten nichts zu wissen.
Als am nächsten Abend die Radiostationen uns die Nachricht von dem Fund im Hydepark brachten, kam uns allen sofort das sonderbare Benehmen Majadevis in Erinnerung.«
Der Inder hielt inne und wandte sich zur Tür, durch die Majadevi eintrat. Sie schritt bis zur Mitte des Saales, blieb dann stehen. Die Arme hatte sie über der Brust gekreuzt, den Kopf leicht geneigt.
»Haben die Herrschaften irgendwelche besonderen Wünsche?«
Canning blickte fragend um sich. »Nein – doch verfolgen Sie vielleicht ein ähnliches Programm wie in Buenos Aires. Ich meine, fangen Sie mit den telepathischen Tricks, oder wie Sie es nennen wollen, an.«
Der Inder verbeugte sich, trat zu Majadevi, legte kurz die Hand auf ihre Stirn. Dann zeigte er in allerdings verblüffender Art telepathische Experimente schwierigster Art.
»Goddam«, brummte van der Meulen gedankenverloren vor sich hin. »Verflucht feine Tricks! Der Teufel weiß, wie sie es machen. Hokuspokus bleibt’s doch! Aber jetzt werde ich mal das Orakel fragen.« Er zwinkerte den anderen vertraulich zu.
Alte Jugenderinnerungen waren in ihm aufgetaucht. Seine Heimat, ein kleines holländisches Fischerdörfchen… seine Geschwister… seine Eltern.
Er fragte durch den Mund des Inders. Die anderen konnten die Richtigkeit der Beantwortung nicht nachprüfen, da ihnen diese kleinen Jugenderinnerungen van der Meulens nicht bekannt waren. Doch sahen sie mit einer leichten Schadenfreude, wie bei den Antworten des Mediums Erstaunen, Verwunderung sich immer stärker auf van der Meulens Gesicht ausprägten.
»Kinder, ist so was möglich?! – Es stimmt! Stimmt alles, was das Mädchen sagt. Wie kann einer das erklären?« Seine Stirn zog sich in Falten, vielleicht, daß der schlaue Alte sich vorher erkundigt hätte? Nein, ausgeschlossen, das meiste wußte außer ihm kein Mensch.
»Doch jetzt noch eine Frage, über die wir alle Bescheid wissen. – Wo war…«, er legte die Hand auf Cannings Schulter, »dieser Herr hier vor drei Wochen?«
Der Inder wiederholte die Frage an das Medium. Ein unmerkliches nervöses Zucken ging über Cannings Gesicht. Er schloß die Augen, konzentrierte mit stärkster Willensanstrengung seine Sinne auf Amsterdam und London. Zwang die wohlbekannten Städtebilder, Straßen, Hotels, Bekannte vor sein geistiges Auge. Er biß die Zähne aufeinander, flüsterte unhörbar – »Der Osten… ich kenne ihn nicht… er ist verschwunden… ein graues Nebelmeer dort… nichts zu sehen für mich… für sie… keine Stadt dort, die ich kenne – « Seine Reise, so wie er sie den anderen erzählt hatte, er zwang sich, sie körperlich zu erleben… Er landete in Amsterdam, besuchte die bekannten Geschäftshäuser, fuhr dann über den Kanal nach London. Nichts existierte in seiner Einbildung als diese beiden Städte, die Geschäfte, die er in den Handelshäusern abschloß – die Theaterbesuche –, er saß in der Oper, hörte die Musik, glaubte sie so deutlich zu vernehmen, daß sein Ohr in dem Genuß schwelgte – keinen Orient gab’s, keine Stadt, die er dort besucht hätte.
Canning achtete nicht darauf, daß Sarata zu dem Mädchen getreten war, als dessen Antwort ausblieb. Der wiederholte die Frage leise, eindringlich. Er warf Canning einen mißtrauischen Blick zu. Das nervöse Arbeiten in den Zügen des Mediums machte ihn stutzig. Er ergriff ihre Hand, fühlte, wie Majadevi einen schweren Kampf mit einem fremden, starken Willen kämpfte. Er wandte sich voll zu Canning. Durch die halbgeschlossenen Augenlider schickte er einen langen, durchdringenden Blick auf ihn.
Die anderen merkten nichts von diesem versteckten Ringen. Sie warteten mit Ungeduld auf die Antwort des Mediums. –
Endlich öffnete Majadevi die Lippen. »Ein Flugschiff, darin ein Mann… Es ist der Herr, dem es gehört, dem dies Haus gehört – das Schiff fliegt nach Norden über ein großes Wasser – der nächste Tag – die Sonne geht auf, das Schiff wendet nach Osten, der Sonne entgegen – eine Stadt am Meer – goldene Minarette – das Schiff landet – ein Mann kommt… der Mann, ich… wer ist’s, ich…« Das Gesicht, der ganze Körper des Mediums bebte in heftigster Erregung.
»Goldene Minarette in London!? Ha, ha!« Van der Meulen konnte sich nicht halten. Er wandte sich mit triumphierendem Lachen an Canning. »Diesmal hat aber die Pythia gründlich danebengeraten. Allerdings, Konstantinopel – London, ihre Lage hat eine entfernte Ähnlichkeit… Nur die Minarette! Ha, ha, Don Roberto, Minarette in London!«
Canning wandte sich van der Meulen zu. Mit einer gewissen Anstrengung öffnete er die fest aufeinandergepreßten Kiefer, zwang sich zu einem Lächeln. Hortense allein war es, der die starke innere Erregung Cannings auffiel, die die kleinen Schweißtropfen auf seiner Stirn bemerkte. Ihr Blick ging zu dem Inder, sie sah das versteckte hämische Lächeln, mit dem er auf Canning schielte. Eine tiefe innere Unruhe ergriff sie. Was war das? –
Jetzt stand Canning auf, trat zu Sarata.
»Ein kleiner Irrtum… nun, es schadet nichts, ein Irrtum…« Er sah den Inder bedeutungsvoll an. Der schien protestieren zu wollen. Da stand Canning vor ihm. »Ein Irrtum Majadevis! Doch Frage und Antwort sind bedeutungslos, die Verwechslung… nun, ich denke, Majadevi wird durch den Tanz stark ermüdet sein. Doch eine Frage noch, die ich selbst gern gestellt hätte.«
Der Inder verbeugte sich, trat zu dem Mädchen.
»Wie sah der Mann aus, der zum Mond fuhr und von dort die Leiche von Jonas Lee zur Erde brachte?«
Alle horchten interessiert auf. Der Inder wiederholte die Frage an das Medium. Kaum, daß das letzte Wort verklungen war, begann sie zu sprechen. Ein froher, glücklicher Zug war auf ihr Gesicht getreten, halb singend kamen die Worte: »Der große Held, sein mächtiges Haupt überragt die andern – die hageren Wangen sind bleich – über der breiten Stirn blondes Haar – der stolze Mund ist fest geschlossen, er hütet die tiefen Geheimnisse des Herzens. – Er schreitet daher, ein Kämpfer – « Ihre Stimme wurde schwächer, leise, fast flüsternd sprach sie weiter, doch in anderer Zunge. Die Zuhörer schauten den Inder fragend an, das Medium sprach unverkennbar in russischer Sprache.
Jetzt stellte Canning einzelne genaue Fragen nach dem Äußern des Mannes, wie sie ungefähr ein Steckbrief enthält. Je mehr Fragen gestellt wurden, desto schärfer horchte der Inder auf. Die aus Frage und Antwort gezeichnete Beschreibung weckte Erinnerungen an eine Person, die er von ganzer Seele haßte. Die übrigen erwarteten mit unverhohlener Neugierde und Spannung die Aufklärung dieses seltsamen Spieles. Endlich gab Canning dem Inder ein Zeichen, daß er genug gehört hatte, daß die Vorstellung beendet sei.
Sarata trat an das Medium heran, strich leise über dessen Stirn. Das Mädchen schlug die Augen auf. Hortense und Violet wollte auf sie zutreten, der Inder streckte ihnen abwehrend die Hand entgegen und hielt, wie um eine Anrede zu verhüten, den Finger auf die Lippen. Er legte den Arm Majadevis in den seinen und schritt mit ihr zur Tür. Violet stellte sich in den Weg, wollte doch ein Wort an das Mädchen richten. Ihr freundlicher, mitleidsvoller Blick traf auf das alte teilnahmslose Gesicht, sah in leere, glanzlose Augen, die wesenlos an ihr vorbeischauten. Violet sah das Gesicht des Alten, sah das versteckte spöttische Lächeln des verhaßten Menschen… ein Zittern ging durch ihren Körper, wie angewurzelt blieb sie stehen.
Van der Meulen und Hortense hatten sich neugierig zu Canning gewandt.
»Wer ist der Mann, den Sie in diesem geheimnisvollen Mondfahrer vermuten, Don Roberto? Aus Ihren Fragen war doch zu schließen, daß Sie eine bestimmte Person im Auge hatten. Dürfen wir wissen…?«
»Der Mann ist Weland Gorm.«
»Gorm? Wie? Gorm hatten Sie im Auge? Weshalb ihn? Wie kommen Sie auf den?«
Canning zuckte die Achseln. »Ich glaube, für den Physiker dürfte diese Ansicht nicht sehr fern liegen… Daß dieser unbekannte Weltenfahrer mit einer Rakete, wie sie Lee benutzt hat, geflogen sein sollte, war mir von vornherein zweifelhaft. Derartige Unternehmungen sind und bleiben mit einem großen Risiko verbunden. Das Projekt der Zukunft ist doch, ein Raumschiff zu bauen, das durch Elektronen getrieben wird.«
»Und Sie glaubten, Gorm hätte auch dies Problem gelöst?«
Canning nickte. »Dieses Rätsel… wer brachte die Leiche Lees zur Erde? Immer wieder habe ich darüber nachgedacht. Ein Verdacht, ich kann, ich will ihn nicht weiter erklären oder begründen, wies auf Gorm. Ich erinnere nur an die mystischen Umstände, unter denen dies rätselhafte Ereignis vonstatten ging… Nun, einerlei, die Gelegenheit heute… Die doch mehrfach bewiesenen starken Gaben des Mediums forderten mich direkt heraus dazu, mir in irgendeiner Weise Gewißheit zu verschaffen. Gewißheit? Ja, wer wüßte, was an den rätselhaften Leistungen dieses Mediums echt und was unecht ist?«
»Aber wie stimmte denn die Beschreibung des Mediums mit dem Aussehen Gorms überein?« fragte Hortense.
Canning wiegte den Kopf.
»Für mich, der in Gorm den Weltraumfahrer vermutet, ist er’s. Die Beschreibung stimmt ziemlich genau mit dem Bild überein, das ich von ihm in meiner Erinnerung habe.«
Noch lange sprach man über Majadevi und Gorm. Dann mahnte van der Meulen zum Aufbruch. »Ich fliege bei Tagesanbruch nach Buenos Aires und möchte nicht den Schlaf entbehren.«
Eine Viertelstunde später rollte das Auto van der Meulens Buena Vista zu.
Der Brand auf Coiba war jetzt das Tagesgespräch der Welt! Hatte man die Angelegenheit zunächst nur für einen müßigen Gelehrtenstreit gehalten, so war doch allmählich der ungeheure Ernst der Sache zutage getreten. Kaum noch einer, der sich der drohenden Gefahr verschloß.
Ein Atombrand war auf dem Felseneiland im Gange. Kein Zweifel daran war mehr möglich. Ihn löschen!? Das war die Frage, die alle Gemüter bewegte.
Die breiten ungebildeten Massen hielten trotz aller Gegenbeweise unbeirrbar an dem nach ihrer Meinung besten Mittel fest: Feuer muß mit Wasser gelöscht werden! Den Ozean in den Brandherd geleitet! Wo gab’s einen Brand, den der Ozean nicht löschen könnte? Löschte er doch die größten, stärksten Vulkane, die aus dem Seeboden emporbrachen.
Die Gelehrten wehrten sich aufs äußerste gegen diesen naiven Vorschlag. Da tauchte in der Presse die Nachricht auf, jener Professor Körte in Berlin, der zuerst den Charakter des Brandes richtig erkannte, habe sich dahin geäußert, daß hier nur eine Operation helfen könne. Er hatte diesen Brand auf Coiba mit einem Krebsgeschwür in einem sonst noch gesunden Organismus verglichen.
Kaum, daß die Nachricht bekannt, war er in seinem Hause von den Berichterstattern überrannt worden. Unmöglich, sich des Ansturms zu erwehren. So teilte er diesen seine Ansicht mit.
Ein Mittel, über dessen radikale Wirkung er jedoch seine Zweifel nicht verhehlte. Seine Meinung war: Wenn möglich, den Brandherd aus dem Felsen der Insel herauszuarbeiten, den infizierten Boden en bloc – hier hielt er inne und machte lächelnd mit der Rechten eine Bewegung zum Zenit.
Die Berichterstatter starrten ihn ratlos fragend an.
»Nun ja!« fuhr Professor Körte fort, »wenn ein Krebsgeschwür herausgeschnitten ist, vernichtet man es. Den herausgearbeiteten Feuerblock vernichten… ja, könnten wir das, so brauchten wir die ganze Operation nicht. Also, da auf der Erde seines Bleibens keine Statt ist, hinweg mit ihm! Natürlich! Hinweg! Wohin? Nun… am besten zu der großen Feuerkugel über uns, zur Sonne! Dort kann er sicherlich kein Unheil anrichten…«
Ob das möglich wäre? Oh, das wäre möglich. »Stellen Sie sich ein Raketenschiff größten Ausmaßes vor. An ihm befestigt der gefährliche Felsblock… die Rakete wird zur Sonne abgeschossen… die Sache wäre erledigt…«
Seinen Worten folgte ein wirres, aufgeregtes Durcheinander. Einige stürzten schon zur Tür, die Nachricht brühwarm ihren Blättern mitzuteilen. Da hielt sie ein Zuruf Körtes zurück.
»Meine Herren!« Das Gesicht des Gelehrten war tiefernst geworden. »Ich habe Ihnen diese Unterredung gewährt, weil ich einfach keine Möglichkeit sah, sie zu vermeiden. Was ich Ihnen soeben sagte, wäre allerdings eine Lösung, die uns von der Sorge befreien könnte. Doch – und ich bitte Sie, das in Ihren Berichten nicht zu verheimlichen – erkläre ich Ihnen ausdrücklich, daß meine Hoffnungen, ein solcher Plan könne gelingen, sehr gering sind. Ich habe starke Zweifel, ob eine solche Operation überhaupt noch möglich ist… ob nicht vielleicht der Boden auf Coiba auch schon auf größere Entfernungen von dem Brandherde aus derart infiziert ist, daß das Herausarbeiten der kranken Stellen unmöglich ist. Weiter dürfte es wohl kaum möglich sein, eine Rakete zu bauen, und zwar so schnell zu bauen, die geeignet wäre, bis zur Sonne zu fliegen…«
»Aber zum Mond!« hatte da einer der Berichterstatter dazwischengerufen.
»Zum Mond? Ja, ja, mein Herr, der Gedanke liegt nahe. Doch vergessen Sie nicht die eventuellen Folgen. Nehmen wir an, die Rakete käme mit ihrer Last auf dem Mondgestirn an. Es wäre ja nicht ausgeschlossen, daß vielleicht der Atombrand in der Weltraumkälte erlöschen würde. Doch ich habe da starke Zweifel. Gesetzt nun den Fall, die Weltraumkälte hätte keinen Einfluß, der Felsbrocken käme glühend zum Mond… da bestände doch die große Wahrscheinlichkeit, daß dort oben der Brand auf das Mondmassiv übergriffe, und unseren früheren oder späteren Nachkommen würde eine zweite Sonne am Himmel leuchten. Die Folgen, meine Herren…«
Einige der zuhinterst Stehenden hatten bereits den Raum verlassen. Kaum merkten es die anderen, stürzten sie denen nach. Jeder wollte der erste sein. Im Augenblick war der Raum leer, der Professor stand allein.
Ein paar Stunden später waren seine Worte in der ganzen Welt bekannt. Und wieder einige Stunden später kam die Nachricht, daß der südafrikanische Milliardär William Harrod in Johannesburg, der sein riesiges Vermögen aus Diamanten- und Goldminen gewonnen hatte, den Bau eines Raketenschiffes im Sinne Körtes in Angriff genommen habe.
Alle Welt horchte auf. Man wußte, daß Harrod in dem neuentstandenen afrikanischen Industriezentrum schon früher den Bau eines riesenhaften Raketenschiffes beabsichtigt hatte. Ja, es war sogar schon mit dem Bau begonnen worden, als Jonas Lee seine Fahrt unternahm. Der unglückliche Ausgang von dessen Expedition nahm Harrod und vielen anderen, die sich mit ähnlichen Plänen trugen, die Lust. Es war klar, daß diese Idee noch starker Verbesserungen bedurfte.
Wer jedoch glaubte, daß Harrod, ebenso wie die übrigen, den Plan gänzlich aufgegeben habe, irrte. Ohne daß die Welt etwas davon erfuhr, arbeiteten in seinen Versuchswerkstätten unaufhörlich geschickte Konstrukteure an dem Problem weiter. Und doch hätte auch er es eines Tages beinahe aufgegeben.
Auf einer Reise war er mit Robert Canning zusammengetroffen. Die beiden wurden schnell näher bekannt. Im Vertrauen machte Harrod Canning, in dem er zu seinem Erstaunen einen äußerst tüchtigen Physiker erkannte, mit seinen Plänen bekannt. Der zeigte jedoch für die Idee Harrods merkwürdig wenig Interesse. Immerhin folgte er einer Einladung nach Johannesburg, besichtigte dort die Werft, hielt auch mit seiner Anerkennung für die zweifellos tüchtige Arbeit nicht zurück. Als sie beide dann allein waren, offenbarte er Harrod, was ihn selbst schon seit langem bewegte. Ein Raumschiff, getrieben durch Elektronenenergie! Nur so könne man gefahrlos die kühnsten, weitesten Fahrten in die Sternenwelt unternehmen. Hingerissen von seinen eigenen Worten, entwickelte Canning die fantastischsten Pläne.
Harrod schaute ihn stumm an. Dieser Mann! Das Feuer, das hinter diesen kalten Zügen verborgen gewesen, jetzt war es durchgebrochen. Er stürmte in dem weiten Gemach hin und her. Schrie immer wieder: »Nur das ist der Weg! Kein anderer! Oh, wer den fände!… Ich…« Da hielt er ein, starrte um sich. Als seine Blicke auf Harrod trafen, schien er zusammenzuschrecken; er zwang sich zur Ruhe. Schwer atmend ließ er sich in einen Sessel fallen.
»Ja, Mr. Harrod, ich glaubte lange, den Weg finden zu können. Doch…«, hier drehte er sich mit einem resignierten Blick zur Seite, »meine Kraft reichte nicht aus. Und doch…«, er schlug mit der Faust auf den Tisch, »noch gebe ich die Hoffnung nicht auf. Vielleicht, daß doch noch einmal die glückliche Stunde kommt, die nur den rechten Weg offenbart.«
Als sie schieden, bat Canning Harrod, die Arbeiten unbedingt fortzusetzen. »Vielleicht, daß…«
Als jetzt die Nachricht von dem geplanten Bau Harrods in die Welt drang, schüttelte man den Kopf. Wie lange sollte das dauern, bis Harrod eine Rakete gebaut hatte, die fähig wäre, den Pestbrocken bis zum Monde zu tragen. Ohne Rücksicht auf die vielen Warnungen, die man gegenüber dem Plan, den gefährlichen Brocken zum Monde zu schießen, äußerte – im Anschluß an jenes berühmte Interview mit Körte waren die Folgen eines Mondbrandes überall des langen und breiten erörtert worden –, hatte man sich in der südafrikanischen Union entschlossen, den Plan durchzuführen. Die Gefahr eines glühenden Mondes war jedenfalls geringer als die einer glühenden Erde.
Einige Wochen waren vergangen, da kam die Nachricht, daß Harrods Raumschiff sich der Vollendung nähere. Jedermann faßte sich an den Kopf. Wie war das möglich? Die Welt wollte es nicht glauben. Da brachten die Fernsehsender zum Beweise Ansichten von Harrods Werft. Von der Riesenrakete, die da äußerlich fertig stand.
Eine ungeheure Spannung ergriff die ganze Welt. Man begann die Tage zu zählen, bis zu jenem, an dem, wie Harrold versprochen, der Bau fertig sein und die Rakete mit ihrer verderblichen Ladung von der Erde abgeschickt werden sollte. Schon strömten aus aller Welt die Neugierigen nach Coiba. Auch die Arbeiten dort erregten das größte Interesse. Zwar brachten Presse und Fernsehen täglich Bildberichte von den Vorgängen auf der Insel. Aber das genügte doch vielen nicht, die selbst an Ort und Stelle den geheimnisvollen Brand sehen wollten.
Das wurde ihnen jedoch keineswegs leicht gemacht. Die Absperrung wurde streng gehandhabt. Immer wieder schoben die Wachmannschaften die Neugierigen zurück. Den wenigsten aus dieser Menge gelang es, hin und wieder einen flüchtigen Blick auf die Brandstelle zu werfen. Diese lag dicht am Meer, war bei Springflut kaum 50 Meter vom Wasser entfernt.
Ein Gewirr von Maschinen und Menschen. Bunt durcheinander die blauen Kittel der Arbeiter und die weißen Mäntel der Physiker. Unaufhörlich schnitten und schrammten die diamantbewehrten Stähle der Maschinen um den infizierten Fleck herum einen Spalt in das Gestein. Ständig kontrollierten die Physiker mit Thermometern empfindlichster Art die Temperaturen zu beiden Seiten der Schrammspalte. Gaben danach ihre Anweisungen, den Schnitt nach dieser oder jener Richtung abzulenken.
Denn darum ging es ja, und darum drehte sich alles. Man hatte den Umfang des Atomzerfalles, der Temperaturerhöhung zwar auf der Oberfläche vor Beginn der Arbeiten genau ermittelt. Aber man wußte nicht, wie die Infektion weiter in der Tiefe verlief. Wurde der Brandherd dort breiter oder schmäler? Das war die Frage, die von Beginn der Arbeiten an alle Herzen bewegte. Wurde er schmäler, dann war Hoffnung vorhanden, den ganzen Brandherd in Form eines transportablen Felsblocks aus dem Gestein herauszuholen. Wurde er breiter – fast hoffnungslos waren dann die Aussichten.
Man war bereits ein Meter in das Gestein eingedrungen, und bis jetzt war alles über Erwarten gut gegangen. Zweifellos wurde der Brandherd nach unten hin schnell schmäler. Die Meinung einiger Gelehrter, daß er sich von oben her halbkugelig in das Gestein hineingefressen habe, schien sich zu bewahrheiten. Traf das auch weiter zu, dann würde man den ganzen Brandflecken in spätestens zwei Tagen freigelegt haben einen Block von etwa acht Kubikmeter Inhalt, mit dessen Entfernung von der Erde das Unheil gebannt wäre.
Im Arbeitszimmer Cannings saßen der Hausherr und Sarata schon seit geraumer Zeit im Gespräch.
»Ihre Majadevi sprach von diesem Mondfahrer wie ein Backfisch von einem Filmhelden. Ich bleibe dabei, sie muß ihn irgendmal wirklich gesehen oder gar kennengelernt haben.« Der Alte wollte verneinen, doch Canning ließ ihn nicht zu Worte kommen.
»Und Sie auch, mein lieber Freund! Ich sah nur zu gut, wie Ihre Aufmerksamkeit stärker wurde, je mehr sich das Bild des Mannes aus meinen Fragen und Majadevis Antworten herausschälte. Decken Sie Ihre Karten ruhig auf… Sie kennen Gorm!«
Vergeblich suchte der Inder nach einer ausweichenden Antwort. Cannings Blick haftete fest in seinem Gesicht.
»Es wäre möglich, doch ich versichere Ihnen, der Name des Mannes, an den ich dachte, war mir bis jetzt unbekannt. Daß es Gorm sei, wenn Sie es sagen… ich will nicht bestreiten, daß…«
»Wie und wo sind Sie und Majadevi mit Gorm zusammengetroffen? Erzählen Sie ruhig. Was es auch ist, es wird bei mir Geheimnis bleiben, wenn Sie es wünschen. Mein Wort darauf!«
Der Inder gab nach. Er erzählte von jenem Zusammentreffen in Lahore, wobei er alles verschwieg, was für ihn ungünstig war.
Dann sprach er von der Sitzung in Buenos Aires.
»Wie? Was? Gorm war in Buenos Aires?« Canning starrte den Alten erstaunt an. »In Begleitung eines anderen Mannes? Wer war das? Derselbe wie der in Lahore? Merkwürdig! Aber es war doch eine Kleinigkeit, den Namen dieses Mannes in Lahore festzustellen, Sie sagten doch, daß er dort ansässig gewesen sei, daß er in einem Haus in der Vorstadt eine Wohnung gehabt habe.«
Der Inder griff in seine Tasche, suchte unter den Papieren, die er herausgenommen hatte, und entfaltete einen kleinen Zettel.
»Der Mann, so sagte man mir, als ich mich erkundigte, heißt Dr. Sydney Stamford.«
»Stamford?« Canning war aufgesprungen, ging erregt hin und her. »Stamford? Ein Nachbar von mir, ein Haziendabesitzer, mit dem ich auf schlechtem Fuß stehe, heißt Stamford… Ah, ich erinnere mich, ein Verwandter von ihm ist Arzt. Er war, wie ich zufällig hörte, öfters Gast bei dem alten Stamford, und der sollte mit Gorm in Buenos Aires gewesen sein? Ah, jetzt verstehe ich, die werden auf der Durchreise nach Santa Marguerita über Buenos Aires gekommen sein. Sie sind vielleicht jetzt drüben bei dem alten Stamford.«
Sarata erhob sich jäh.
»Es ist, verzeihen Sie, Senor Canning, eine unerklärliche Unruhe, die mich plötzlich befallen hat. Gestatten Sie, daß ich mich auf kurze Zeit entferne.«
Canning sah dem Wegeilenden verwundert nach. Was ist mit ihm? Was hat er?
Noch dachte er nach, da wurde die Tür aufgerissen, der Inder stürzte herein. Der Turban war ihm vom Kopf gefallen, die Haare zerrauft, das pockennarbige Gesicht grün und gelb vor Wut.
»Sie ist fort! – Sie ist geraubt – Majadevi!« schrie er. Der Schaum stand ihm auf den Lippen. Wie ein Rasender rannte er in dem Raum hin und her, stieß in allen möglichen Sprachen die heftigsten Verwünschungen aus.
»Sind Sie des Teufels? Das Mädchen geraubt? Aus meinem Hause geraubt? Undenkbar! Wie kommen Sie auf…«
»Sie sagten es ja selbst… Stamford, Gorm, sie sind hier in der Nähe. Schon einmal in Lahore… niemand anders als…«
»Ah!« Canning war aufgesprungen. »Bei Gott, ich glaube, ich tat Ihnen unrecht. Nach dem, was Sie mir vorher erzählten… doch jetzt auf! Ist es so, dann können sie nicht weit sein.« Canning eilte, von dem Alten begleitet, hinaus. In kurzer Zeit war die Dienerschaft versammelt. Ein paar aufklärende Worte, dann begann man, von der Hundemeute unterstützt, den Park und die Umgebung des Hauses abzusuchen. Das helle Mondlicht erleichterte die Arbeit. Auch Canning und der Inder beteiligten sich aufs eifrigste.
Vom nördlichen Parktor erscholl plötzlich lautes Rufen. Canning eilte dahin.
»Hufspuren!« riefen ihm die Diener entgegen. »Die Spuren kommen von Norden her, führen auch wieder dahin zurück.«
»Zwei Autos herbei!« schrie Canning.
»Fremde Pferde, Senor Canning«, redete ihn der Majordomo an, »von unseren Tieren können es keine gewesen sein.« Die Wagen kamen. Canning mit einem Dutzend seiner Leute sprang in den ersten.
»Den Spuren nach«, rief Canning. Die Wagen setzten sich in Bewegung. Die Hufspuren waren im hellen Mondlicht leicht zu erkennen. Da hielt der erste Wagen an. Die Spuren der drei Pferde, die man bisher verfolgt hatte, waren plötzlich in die einer großen Pferdeherde eingemündet, die ihren Weg, von Westen kommend, nach Osten, dem Flusse zu, nahm.
Doch nur ein kurzes Stück. Dann, als seien die Tiere in Schrecken oder Verwirrung gesetzt, gingen die Spuren nach allen Seiten auseinander. Unmöglich, aus der Unzahl der Pferdetritte die Spuren der Verfolgten herauszufinden. Weiteres Suchen wäre nutzlos gewesen. Der Inder beschwor trotzdem Canning, die Suche fortzusetzen, doch der lehnte ab, schüttelte mißmutig den Kopf. »Es wäre ein blinder Zufall, wenn wir unter den vielen Hunderten die rechte Spur fänden.«
Er gedachte die Sache anders anzufassen. Zu Hause angelangt, schickte er einige seiner gewandtesten Leute aus, die Santa Marguerita beobachten und melden sollten, ob Sidney Stamford dort weile. Im Laufe des Morgens kamen die Boten zurück. Dr. Stamford war allerdings mit einem Freunde in Santa Marguerita gewesen, doch waren sie schon am Mittag des vergangenen Tages in einem Flugzeug fortgeflogen.
»Wer hätte gedacht, Mr. Harrod, daß sich schon so bald die Gelegenheit finden würde, die Früchte Ihrer Arbeiten praktisch zu verwerten. Ich habe keinen Zweifel, daß Ihre Rakete den Pestbrocken zum Mond bringt.«
»Ohne Zweifel, Mr. Canning. Man hätte ruhig ein schwereres Stück aus dem Boden herausarbeiten können. Die Tragkraft der Rakete ist groß genug.«
»So würde, vorausgesetzt, daß auch alles andere gut geht. Ihnen, Mr. Harrod, für ewige Zeiten der Ruhm gebühren, die Welt vor dem größten Unheil rechtzeitig bewahrt zu haben.«
»Immer noch etwas pessimistisch, Mr. Canning?« Er zuckte die Achseln.
»Gewiß«, sagte er, »die Messungen ergeben allerdings nicht den geringsten Anhalt, daß weitere Teile des Bodens infiziert sind, aber…«
»Ihr ›Aber‹ hin, Ihr ›Aber‹ her! Ich denke zuversichtlicher als Sie. Doch die Mittagsstunde bricht an. Das Transportflugzeug muß jeden Augenblick seine Ankunft melden. Ich muß zum Arbeitsplatz, wo die verschiedenen Kommissionen, Presseabordnungen – Gott weiß, was alles hier zu diesem Tage herbeigeströmt ist – schon versammelt sind. Nach Hunderttausenden zählen die Neugierigen zu Wasser, Luft und Land.«
Er deutete mit dem Arm auf das Hinterland der Insel, das sie von ihrem erhöhten Stand gut überschauen konnten. Seine Hand schlug einen Kreis nach der Wasserfläche des Atlantiks hin. Ein Anblick, wie wenn Riesenscharen von Seevögeln sich da niedergelassen hätten. Wohin man schaute, ein Gewimmel von Land- und Wasserflugzeugen.
Noch hatten sie den Strand nicht erreicht, da erscholl lauter Lärm. Aufgeregt liefen die Menschen hin und her.
Canning hob sein Glas und entdeckte im blauen Äther ein schimmerndes Pünktchen…
»Die Rakete! Die Rakete… da kommt sie schon…« hörte er die Leute am Strand rufen.
Jetzt war der Punkt im Äther auch mit bloßem Auge sichtbar, wurde schnell größer. Canning nahm das Glas wieder vor die Augen.
Ein Flugzeug. Dem Umriß nach eine große Transportmaschine. Unter ihr ein schimmerndes Etwas von unbestimmten Formen. Schnell kam es näher, stand jetzt senkrecht über dem Strand und senkte sich langsam.
Ein Transportflugzeug der größten und kräftigsten Art war es, wie sie erst seit kurzer Zeit gebaut wurden. Unter ihm, an schweren Stahltrossen hängend, ein schimmernder Aluminiumkörper von der Gestalt einer Granate. Während die Maschine sich tief und immer tiefer senkte, wuchsen auch die Umrisse der unter ihr hängenden Last. Meter um Meter kam sie herab. Immer langsamer würde der Abstieg. Ein Knistern in den Balken und Trägern. Jetzt setzte sie auf einer Plattform auf – ein wuchtiger Bau, wohl 20 Meter breit und doppelt so hoch. Prasselnd fielen die vom Transporter abgeworfenen Trossen zur Erde.
Canning kletterte auf die Plattform, trat an den Flugkörper heran. Wie prüfend glitt seine Hand über die starken Aluminiumplatten. Er klopfte mit den Knöcheln dagegen. In dumpfem Glockenton erklang die Metallwand. Da stand sie vor ihm, die Riesenrakete, die die Kraft besaß, den Block zum Mond zu tragen.
Den Block. Der lag, umklammert von starken Ketten, so wie ihn der Kran aus seiner Grube gehoben hatte. Seit mehreren Stunden schon lag er so, das Ziel von tausend Kameraobjektiven. In allen Siedlungen, wo Menschen lebten, zeigte der Fernsehschirm jetzt den unheilschwangeren Brocken. Wie roter Rost schien es hier und da auf seiner Oberfläche zu liegen… Rostflecken? Glutflecken? An einzelnen Stellen erstrahlten sie bereits in tiefer Rotglut. Hohe Zeit, den verderblichen Brandherd von der Erde fortzuschaffen.
Wieder hörte man Motorengeräusch vom Strande her. Ein zweites Transportflugzeug, vom gleichen Typ wie das erste, sank auf die Meeresfläche hinab und machte neben dem ersten am Strande fest. Eine Laufbrücke wurde zum Ufer geschoben. Passagiere kamen an Land. Monteure, Techniker, Arbeiter, die sogleich mit der Ausladung begannen. Sie schafften die gewaltigen Behälter an Land, die den flüssigen Wasserstoff und Sauerstoff für den Antrieb der Rakete enthielten. Dann setzten sie die Monteure im Innern des Flugkörpers an Ort und Stelle ein und verbanden sie mit den Rohrleitungen zu den Treibdüsen.
Die Sonne sank ins Meer. Im blendenden Licht mächtiger Scheinwerfer ging die Arbeit ununterbrochen weiter. –
Die Mitternacht kam näher. Um 23:30 Uhr war die letzte Probe. Hähne wurden geöffnet. Zischend entwich das Gas aus den Düsen. Alles in Ordnung. Die Rakete war startbereit.
William Harrod verfolgte die Arbeiten mit der Uhr in der Hand. Er gab seine Befehle, die nicht nur von seinen Leuten gehört wurden. Von den Mikrofonen der Radiosender aufgenommen, erklangen sie auch gleichzeitig über die ganze Erde. Zusammen mit den Sendungen des Bildfunks verfolgten Millionen von Menschen, was hier auf Coiba vorging.
23:45 Uhr…
»Den Block einsetzen!« kam das Kommando von Harrods Lippen.
Der schwere Baukran rollte heran, umklammerte mit stählernen Fingern den Block, schob ihn durch die weitgeöffneten Ladeluken in den Mittelraum der Rakete.
23:55 Uhr.
»Alle Mann von Bord!« schrie die Stimme Harrods. Die letzten Monteure kletterten aus dem Bauch der Rakete. Sorgfältig wurden alle Luken verschlossen und verschraubt.
Alle Scheinwerfer richteten ihre Lichtkegel auf die schimmernde Riesengranate. Jeder Niet, jede Naht ihres Baues war in allen Einzelheiten zu erkennen, wurde durch den Bildfunk über Meere und Länder weitergegeben.
In schimmernder Sternenpracht wölbte sich der Tropenhimmel. Am Firmament stand die leuchtende Scheibe des fast vollen Mondes.
24 Uhr.
In der Linken hielt Harrod das Chronometer. Mit der Rechten betätigte er den Kontakt, der die Treibdüsen in Gang setzte.
Ein kurzes Klicken und Knacken… Ein Aufblitzen von Funken. Im gleichen Moment schossen Feuerströme aus den Düsen der Rakete nach unten und beleckten das Fachwerk der Plattform.
Ein Schüttern ging durch den mächtigen Flugkörper, ein Rucken. Genau in der Richtung, welche die Schräge der Plattform ihm gab, stieg er majestätisch empor, einen sprudelnden, brausenden Feuerschein hinter sich herziehend.
Die Menschen standen und starrten. Verfolgten mit heißen Blicken das immer schneller emporeilende Geschoß. Sie starrten, bis auch dem schärfsten Glas die rote Lohe der arbeitenden Treibdüsen entschwand…
Dann brach es los. Die Hunderttausende, die in atemloser Spannung den Vorgängen gefolgt waren, schienen wie außer sich geraten. Die Luft erbebte von dem Schreien und Rufen der erregten Massen. Immer wieder erklang der Name Harrods.
William Harrod ließ das Chronometer in die Tasche gleiten. Mit unverhohlenem Stolz erwehrte er sich der Beglückwünschungen, die ihm von allen Seiten entgegengebracht wurden. Auch Canning trat zu ihm, reichte ihm die Hand.
»Höchste Zeit, Mr. Harrod, daß wir den Block loswurden. Wenige Wochen später hätten wir ihn keiner Rakete mehr anvertrauen können. Jetzt, in spätestens achtundvierzig Stunden, wird der neutrale Punkt zwischen Erde und Mond erreicht sein, dann mag die Rakete zum Teufel gehen. Die Erde ist die Sorge los. Der Mond mag sehen, wie er sich mit dem Geschenk abfindet. Die großen Sternwarten werden uns nicht lange im Ungewissen lassen.«
Die alten Bedenken, die er hegte, hielt er zurück, als er das freudestrahlende Gesicht Harrods sah.
Die Refraktoren der Sternwarten und besonders der neuen schwebenden Weltraumstationen beobachteten den Flug der Rakete ununterbrochen. Dann kam die Meldung, daß die Rakete den neutralen Punkt überschritten habe, daß jetzt ihr Absturz zum Monde begänne. Eine Rückkehr zur Erde war ausgeschlossen! Nach wie vor blieben die Riesenrohre auf den dunklen Teil des Trabanten gerichtet, waren die Fernrohrkameras bereit, jedes Lichtsignal aufzuzeichnen.
Sechs Stunden später kam die neue Meldung der Sternwarten. Die Rakete war auf dem Mond gelandet, das Signal ihrer Blitzlichtladung hatte ihre Ankunft am Nordrande des Mare serenum deutlich gemeldet.
Millionen von Menschen atmeten auf, ledig der furchtbaren Last. Nur ein geringer Teil war es, der die pessimistischen Bedenken achtete, die hie und da laut wurden.
Die Kommission auf Coiba, die dort ständig weitere Untersuchungen anstellte, gab in der letzten Zeit nur beruhigende Berichte: »Keine neue Temperaturerhöhung!« lautete ihr tägliches Bulletin.
Ungeteilt wandte sich das öffentliche Interesse den Vorgängen auf dem Monde zu. Die Frage beschäftigte alle Geister: Wird der Brand auf das Mondmassiv übergreifen oder nicht… oder ist er auf der Fahrt unter dem Einfluß der Weltraumkälte erloschen? Ein heftiger Gelehrtenstreit entspann sich darüber.
»Der Mond eine zweite Sonne«, »Tropenklima an den Polen«, »Der Unterschied von Tag und Nacht hört auf«, »Kein Wechsel der Jahreszeiten mehr«… das waren einige der alarmierenden Überschriften, unter denen die Weltpresse den Lesern die Zukunft schilderte.
Kam das ganze Mondmassiv wirklich im Laufe der nächsten Zeit auf solche Glut, das heißt bis auf eine Temperatur gleich der Sonnentemperatur, dann waren auf der Erde mit Sicherheit einschneidende klimatische Veränderungen zu erwarten. Dann war in der Tat die Weltordnung, die so viele hundert Millionen Jahre auf der Erde herrschte, ernstlich bedroht, und alles Leben würde sich auf ganz veränderte Verhältnisse einstellen müssen. Tag und Nacht waren die größten Fernrohre der Erde auf jenen Punkt der Mondscheibe gerichtet, von dem die Rakete ihre Ankunft durch Blitzlicht gemeldet hatte.
Jetzt, eine Woche nach der Landung der Rakete, ließ sich noch nichts feststellen. Das gab eine gewisse Beruhigung, denn wäre der Block inzwischen schon auf helle Weißglut gekommen, hätte man ihn sehen müssen. Aber die Landungsstelle blieb nach wie vor dunkel.
Immer mehr gewann die Meinung an Boden, daß der Brand im Block durch die Weltraumkälte und die veränderten physikalischen Verhältnisse am Ersticken, daß alle Gefahr endgültig gebannt sei.
Das Postflugzeug, von Buenos Aires kommend, das die Niederlassungen im nördlichen Gran Chaco versorgte, senkte sich auf dem Außenhof von Buena Vista zur Erde. Ein einzelner Passagier sprang heraus. Der Steward reichte ihm sein Gepäck… adelante! Das Flugzeug stieß wieder nach oben.
Hortense, die mit Violet von einem Morgenritt in die Pampas zurückkehrte, hatte die Landung des Flugzeuges gesehen… Menschen? Sonst hielt ja das Flugzeug nicht, sondern warf die Post in das Netz ab.
»Sehen Sie doch einmal nach, Miß Violet!«
Das Mädchen sprang vom Pferd, trat durch das kleine Mauertor in den Hof. Kaum daß sie auf den Hof gelangt war, hörte Hortense einen lauten Schrei.
»Ronald, du bist es? Wo kommst du her? Wir erwarteten dich ja erst morgen, wie ist das möglich?«
Hortense stieg ebenfalls ab und trat in den Torweg. Sie sah, wie Violet am Halse eines hochgewachsenen Mannes hing, ihn immer wieder küßte, lachte und weinte.
Hortense verhielt unwillkürlich den Schritt, blickte mit einem gewissen Neidgefühl auf die Gruppe.
Die Glückliche! Alles liebt sie, alle Herzen fliegen ihr zu. Sidney Stamford, ihr Bruder, ich und der Vater, die Dienerschaft, alles…
Und ich? Ist mein Herz so liebeleer, daß es auch keine Liebe wecken kann?
Robert Canning, er liebt mich, er sagt es…
Ich, liebe ich ihn nicht? Nein, die Tage seiner Abwesenheit haben mir vollkommene Klarheit gegeben.
Der Zauber, der von ihm ausging, wenn er in meiner Nähe war, auch der ist geschwunden. Ich fühlte mich fast krank, fürchte jede Berührung mit ihm. Ich kann es, so sehr ich mich beherrsche, nicht verbergen.
Ich weiß, er leidet darunter… Und ich vermag doch nicht das geringste Mitleid mit ihm zu fühlen. –
»Ah! Miß Hortense! Mein Bruder Ronald ist gekommen.«
Violet stand mit ausgestreckten Händen zwischen Hortense und dem Bruder und wußte nicht, zu wem sie zuerst gehen sollte. Die beiden anderen lachten über die heitere Situation, beschleunigten ihre Schritte, ihre Hände fanden sich zur Begrüßung. Violet in ihrer freudigen Zerstreutheit legte ihre Hände noch darauf, wurde erst durch das Lachen der anderen darauf aufmerksam. Dann lachte sie selbst, daß es weit über den Hof schallte.
»Ach, Miß Hortense! Diese Überraschung! Aber ich sagte Ihnen ja schon, bei Ronald muß man sich auf alles gefaßt machen. Er kommt einfach vierundzwanzig Stunden früher. Wenn er später gekommen wäre, wär’s zu begreifen. Aber vierundzwanzig Stunden früher?«
Ihr Bruder wollte noch etwas sagen. Sie fiel ihm in die Rede. »Schweig nur! Ich weiß, du findest für alles eine Ausrede.«
»Doch jetzt ins Haus, Violet! Unser Gast wird sich nach einer Erfrischung sehnen, und dann wird er erzählen.«
»Aber natürlich! Gott, wie ich das vergessen konnte, du Ärmster.« Sie ergriff den Arm ihres Bruders und wollte ihn mit sich ziehen.
»Einen Augenblick, Violet! Dies eine Gepäckstück nehme ich lieber selbst mit.«
»Das große Stück? Warum?« fragte sie.
»Nun, das ist mein Raumschiff.«
»Was? Wie? Dein Raumschiff ist da drin? Damit willst du…?«
»Damit will ich zum Mond fliegen! Jawohl, Violet.« Ronald Lee brach in ein schallendes Gelächter aus.
»Ronald! Ich sehe, du bist der alte geblieben«, schmollte Violet, »was soll das nun wieder…?«
»Ah!« wandte Hortense sich an Ronald Lee, »Sie meinen das Modell, nicht wahr, ist es nicht so?«
»Gewiß, mein gnädiges Fräulein! Das Modell. Ich möchte mich auf keinen Fall davon trennen.«
»Ah, das ist interessant.« Hortense richtete ihre Augen auf den großen Holzkoffer. »Natürlich… ich verstehe. Das ist strengstes Geheimnis. Wir werden schützend den Transport geleiten. Kommen Sie, Miß Violet!«
Und dann saßen sie in dem kühlen Frühstücksraum in langer, lebhafter Unterhaltung. Es war, als ob ein neuer Geist mit dem Eintritt Ronalds seinen Einzug in das Haus gehalten hätte. Selbst der ernste alte van der Meulen, angeregt von dem frohen Geplauder, lachte des öfteren sein stilles Lachen. Nach beendeter Mahlzeit war Ronald der Einladung van der Meulens gefolgt und mit ihm in sein Arbeitszimmer getreten. –
Schon stundenlang dauerte die Unterredung darin. Violet strich immer wieder mit klopfendem Herzen an der Tür vorbei, konnte sich nur mit Mühe bezwingen, das Ohr nicht an das Schlüsselloch zu halten und zu horchen. Auch Hortense war von einer seltsamen Unruhe ergriffen.
Endlich, eine Ewigkeit schien schon vergangen, öffnete sich die Tür. Ronald Lee trat heraus, sein Gesicht war bleich, doch die Augen leuchteten in heller Siegerfreude.
Hortense ging unwillkürlich ein paar Schritte auf ihn zu, in ihren Augen drängte die stumme Frage: Wie ist’s geworden?
Ronald Lee streckte ihr die Hände entgegen.
»Die große Güte Ihres Vaters wird es mir erlauben, meine Pläne in die Tat umzusetzen, Miß van der Meulen.«
Hortense drückte impulsiv seine Hände stärker.
»Ich freue mich, Mr. Lee, freue mich mit Ihnen auf die Zeit, die jetzt kommen wird.«
»Ich taxiere, Hortense, daß du Schülerin von Mr. Lee werden willst«, lachte van der Meulen, der in die Tür getreten war. »Hüten Sie Ihr Geheimnis, Mr. Lee!« –
Der Bau war beschlossen. Ein Raumschiff sollte es werden, den älteren, bisher bekannten und benutzten Wasserstoffraketen in seinen Leistungen unendlich überlegen. Nicht mehr die auspuffenden Verbrennungsgase sollten dies neue Schiff durch den Raum treiben. Elektronen, die, durch die Gormsche Energie frei gemacht, beinahe mit Lichtgeschwindigkeit von den Triebflächen ausgestoßen wurden, sollte die Energie für den Flug liefern.
In der Unterredung der beiden Männer war es Lee gelungen, durch die Kraft der Überzeugung, die aus seinen Worten klang, den skeptischen Alten ganz für sich zu gewinnen.
Als die Kostenfrage zur Sprache gekommen war, hatte Ronald Lee nur zögernd die hohe Summe genannt, im stillen gefürchtet, daß daran zu guter Letzt vielleicht noch alles scheitern könne. Doch van der Meulen hatte nur stillschweigend genickt.
Noch in der Nacht waren Angestellte van der Meulens in Buenos Aires fieberhaft beschäftigt, nach seinen telefonischen Direktiven die Bestellungen auszuführen, die für den Bau einer Werft in Buena Vista notwendig waren. Im Laufe der nächsten Tage kamen schon die ersten Transportflugschiffe an.
Am Nachmittag kam Canning nach Buena Vista. Er wußte, daß Ronald Lee erwartet wurde. Er hatte jedoch von vornherein stärkste Bedenken geäußert.
Als er auf dem Außenhof landete, sah er zu seinem Erstaunen Hortense und van der Meulen mit einem Fremden in lebhaftem Gespräch vor großen Stapeln von Baumaterialien aller Art stehen. Eine größere Anzahl von Arbeitern war auf dem Platz beschäftigt Sie schleppten Balken, Bretter, Träger und dergleichen zu verschiedenen Stellen hin.
Er trat auf die Gruppe zu, küßte Hortense die Hand und begrüßte van der Meulen.
»Mr. Ronald Lee«, stellte van der Meulen den Fremden vor. »Sie sehen uns schon in bester Arbeit, Don Roberto.«
»Ah! Wär’s möglich! Sie haben sich so schnell entschlossen?« Er deutete auf die Arbeiter. »Sie bauen gar schon?«
Wie mißtrauisch gingen seine Augen von einem zum anderen.
»Nun!« lachte van der Meulen, »Mr. Lee kam schon gestern. Wir hatten eine Unterredung, und… hier sehen Sie das Ergebnis. Wir bauen das neueste Raumschiff, das heißt zunächst die Werft.«
»Also doch!« Canning zuckte die Achseln, wandte sich dann zu Lee. »Verzeihen Sie, mein Herr, wenn ich offen rede. Ich habe, freilich ohne Ihre Pläne zu kennen, Mr. van der Meulen gewarnt. Ich bin selbst Physiker und halte nach dem jetzigen Stand der Wissenschaft ein derartiges Unternehmen für verfrüht. Aber vielleicht werde ich meine Meinung ändern, wenn ich mit Ihren Plänen genauer bekannt sein werde – das heißt, ich will keineswegs in Ihr Geheimnis eindringen. Selbstverständlich müssen Sie die größte Zurückhaltung üben…«
Ronald Lee warf einen fragenden Seitenblick auf van der Meulen. Dieser zögerte einen Augenblick, sprach dann:
»Nun, die Grundzüge Ihrer Erfindung sind wohl kein Geheimnis. Man beschäftigt sich ja schon lange mit diesen Theorien. Nur eins – aber schließlich auch das mag die Welt erfahren – das eine, zweifellos Interessanteste – das alles beruht auf Gormschen Ideen. Das gab für mich den Ausschlag.«
»Wie? Ich verstehe nicht… Gorm? Was hat der hiermit zu tun?« Cannings Gesicht war von einer unnatürlichen Blässe überzogen. Er stotterte, war fassungslos.
Die anderen sahen ihn erstaunt an. Er fühlte die unausgesprochenen Fragen, die in ihren Blicken lagen, und vermochte doch nicht, seine Selbstbeherrschung so schnell wiederzugewinnen. Er wandte sich an Lee.
»Das ist allerdings ein äußerst interessantes Faktum. So interessant und verblüffend, daß Sie als Physiker meine große Überraschung verstehen werden. Vielleicht haben Sie später einmal die Güte, mir etwas, und wäre es nur andeutungsweise, davon zu erzählen. Schon allein interessant, daß Sie Gorm kennen! Wo ist er? Wie geht es ihm, dem Weltflüchtling? Ich kenne ihn aus meinen Jugendjahren von Leiden her.«
»Gorm? Ich kenne ihn nicht! Ich weiß nicht, wo er ist.«
»Ein neues Rätsel. Sie kennen ihn gar nicht und haben doch Gormsche Ideen?… Aber hier ist nicht der Platz, wir werden darüber viel zu sprechen haben…«
Die Dinnerglocke rief zu Tisch. Canning bot Hortense den Arm, schritt mit ihr vor den anderen dem Hause zu. –
Mitternacht war schon herbeigekommen, als Canning sein Flugzeug bestieg. In den Ledersessel zurückgelehnt, überdachte er die Erlebnisse dieses Nachmittags. Nur mit Mühe gelang es ihm, seine Gedanken zu ordnen.
Gorm! Er schrie den Namen laut hinaus. Wieder Gorm, aus dessen Genie der große Gedanke geboren war.
Lee allein? Gewiß, er hatte zweifellos Großes geleistet, die Gormschen Formeln bis zur Konstruktion weiterentwickelt, doch allein wäre der nie auf diesen kühnen Gedanken gekommen.
Er selbst! Wie oft hatte er das Problem, das ja in der Luft lag, in schlaflosen Nächten durchdacht. Niemals war es ihm möglich gewesen, auch nur den Weg, der zu einer Formel führen konnte, zu sehen.
Es war ihm gelungen, mit van der Meulen allein zu sprechen. Er hatte ihn unmerklich auszuhorchen versucht und auch bald herausgebracht, was der wußte. Aber gerade das, worauf es ankam, das hatte van der Meulen auch nicht gewußt.
Die Gormsche Formel! Hätte er die! Was Lee konnte, würde auch er können… Der Gedanke ließ ihn nicht los.
Als der Morgen kam, sprang er auf. Wie mechanisch lenkten seine Schritte zu den Kellerräumen. Dort lag ein kleines, aber wohlausgestattetes Laboratorium. Wenn ihn auch die Verwaltung seiner ausgedehnten Besitzungen stark in Anspruch nahm, so fand er doch noch immer Zeit, sich in großen und kleinen Experimenten mit allen möglichen Problemen zu beschäftigen. Die Gormsche Idee in erster Linie war es, die ihn hier festschmiedete.
Hinter dessen Geheimnis zu kommen, war sein höchstes Ziel! Die Formeln und Konstruktionen für die Verwertung der Elektronenenergie… Wohl hundertmal hatte er geglaubt, alle Zusammenhänge ergründet zu haben, immer wieder war es ein Trugschluß gewesen. Dann hatte er mit dem grausamen Schicksal gehadert, das ihm wohl den Geist, aber nicht die Kraft gab, Großes zu leisten.
Diese Gormsche Formel, auf die Lee sein Werk gründete. Er brach in ein verzweifeltes Lachen aus. Die ganze Nacht hatte er davon geträumt, im Traume immer wieder gesprochen… Was Lee kann, kann ich auch.
Ja! War das so sicher? Würde das Schicksal ihn nicht wieder narren? Er schloß die Tür eines schweren Panzerschrankes auf, öffnete ein Kästchen, entnahm ihm einen kleinen Metallapparat.
Ah! Das eine gab mir doch das Schicksal, eine Erfindung, die kein anderer nachzuahmen vermag. Dies Geschenk, ein Wink des Schicksals! Ich will ihm folgen! Wieder folgen, wie schon einmal… und ganze Arbeit soll dann gemacht werden.
Die Gormsche Formel, Lees Berechnungen und Konstruktionen, sie sollen mein werden!
Mit liebevollen Blicken betrachtete er alle Einzelheiten des kleinen Apparates, wie etwa ein Meisterdieb seine aus erlesenem Material gefertigten Einbruchswerkzeuge, wie einen zuverlässigen Freund.
Er barg ihn in seiner Tasche, verschloß sorgfältig die Tür des Kellers und ging nach oben.
In der Nähe des Hauses in der Vorstadt von Lahore, in dem Stamford eine Zeitlang gewohnt, hatte sich ein alter Bettler niedergelassen, der die Vorbeigehenden mit kriecherischen Bitten um Gaben ansprach.
Als der Abend kam, erhob er sich und schlich langsam die Straße hinunter. Draußen vor dem Tore schien er alle Gebrechen von sich zu werfen, schritt rüstig weiter.
Ein kostbarer Tag war verloren. Er hatte im stillen gehofft, daß Doktor Stamford wieder hier wohnen würde. Dann hätte er ihn nicht aus den Augen verloren, wäre ihm Tag und Nacht auf den Fersen geblieben, um so vielleicht die Spur zu Majadevis Aufenthalt zu finden.
Unter einem Baume schlug er sein Nachtlager auf. Noch einmal machte er die Probe. Majadevi war wieder hier im Lande, weit oben im Norden – der telepathische Konnex, der ihn seit langem mit ihr verband, hatte es ihn sicher erfühlen lassen.
Noch ehe die Sonne sich erhob, sprang er auf, warf das Bettlergewand ab, holte aus seinem Bündel einen Anzug, wie ihn die Händler trugen. Er wollte bei seinem Suchen nach Majadevi in der Rolle eines Wollkäufers auftreten…
Da stand er auf dem Flugplatz, bestieg das erste Kursflugzeug, das nach Norden ging.
Während des Fluges kam ihm ein Gedanke. Er wandte sich an den Steward und fragte ihn nach drei Personen, die vor kurzem ebenfalls mit dieser Linie nach Norden geflogen seien. Er beschrieb dem Steward genau das Aussehen von Gorm, Stamford und Majadevi. Ob der Steward sie vielleicht gesehen habe und sich ihrer erinnern könne.
Der Steward verneinte und wollte weitergehen. Dann, als fiele ihm etwas ein, drehte er sich nochmals um.
»Wann wären die Leute geflogen? Vor einigen Tagen? Nein! Ich erinnere mich aber, daß vor einigen Wochen zwei Passagiere an Bord waren, auf die die Beschreibung wohl paßt. Es waren Westländer, die mir durch ihre Größe auffielen. Sie waren selbst für Westländer große Männer.«
Im Augenblick hatte Sarata die Lage erfaßt. »Sie waren damals ohne das Mädchen? Nicht wahr?«
Der Steward nickte. »Gewiß!«
»Ah! Wissen Sie noch, wie weit sie flogen? Wo sie ausgestiegen sind?«
»Gewiß! In Dargu.«
»Nun, das genügt mir.« Er drückte dem Steward ein Geldstück in die Hand und ging in die Kabine. Hier atmete er erleichtert auf. Ein großer Teil seiner Arbeit war ihm abgenommen. Von Dargu aus würde ihm die Suche leichter werden. Westländer hielten sich nicht häufig in diesem Hochgebirge auf. –
In Dargu verließ er das Flugzeug.
Schon am Abend wußte er, daß der eine der beiden Fremden bisweilen in das Kloster Suru kam. Unverzüglich machte er sich auf den Weg dorthin.
Kaum, daß der nächste Morgen anbrach, umschlich er das Kloster und den Garten, die von einer gemeinsamen Mauer umgeben waren. Alle Türen waren verschlossen. Nur auf Klopfen wurden sie durch den Pförtner geöffnet. Er überlegte lange. Sollte er klopfen, sich erkundigen, sollte er hier auf gut Glück warten in der Hoffnung, daß Gorm wieder einmal hierherkäme?
Eine leichte Staubwolke dort hinten auf dem Weg nach Osten ließ ihn aufmerken. Er suchte sich zu verbergen, sprang über die Mauer, die teilweise verfallen und niedrig war, und versteckte sich im Gebüsch. – Durch die schattigen Gänge des Gartens bewegte sich die Gestalt eines Mannes. Die hageren Glieder umschloß das gelbe Mönchsgewand. Häufig blieb er stehen, murmelte wirre Worte vor sich hin. Die Arme, zum Himmel erhoben, gestikulierten wild durch die Luft. Er ging ein paar Schritte weiter, dasselbe Schauspiel wiederholte sich…
Jetzt schoß er plötzlich wie ein Blitz hinter die hinabhängenden Zweige eines Baumes und blieb verschwunden. Nach einer Weile bogen sich die Zweige weit auseinander… der Irre starrte mit weitgeöffneten Augen, in denen tödliches Entsetzen stand, nach Sarata, der eben über die Mauer gesprungen und in dem dichten Gebüsch verschwunden war.
Das Gesicht des Mannes schien wie erstarrt in hilfloser Angst. Vergeblich sah er sich nach allen Seiten um, wohin er flüchten könne. Er wollte schreien, öffnete den Mund, schlug sich mit der Hand darauf, wagte es nicht. Seine Hände umklammerten den Stamm des Baumes, als trügen ihn die zitternden Knie nicht länger…
Da horchte er plötzlich auf. Die Tür, die zum Kloster führte, hatte sich geöffnet. Der Abt, an seiner Seite ein Westländer, trat in den Garten.
Der Mann hinter dem Baume sah, wie der Inder jetzt die Zweige auseinanderbog, mit haßerfüllten Blicken nach den beiden schaute. Sah, wie er die Fäuste ballte, sich bückte, als setzte er zu einem Sprung an. Der Mann hinter dem Baum fuhr sich über die Augen. Der irre Blick darin verlor sein Flackern.
Jetzt reichte der Abt dem Fremden die Hände, als wolle er sich verabschieden, sprach noch ein paar Worte, machte das heilige Zeichen über ihn und ging ins Kloster zurück. Der andere schritt auf dem Wege weiter, der zu einem Tor der Umzäunung führte.
Kaum war er in die Nähe des Gebüsches gekommen, in dem Sarata sich versteckt hatte, als die Zweige sich öffneten. Der Inder sprang heraus, stürzte mit hocherhobenem Arm auf den Fremden los. Doch schneller war der Mann hinter dem Baum hervorgestürmt. In dem Augenblick, als der Inder die Faust mit dem Dolch nach unten stoßen wollte, umklammerten zwei Hände seinen Hals.
»Canning! Mörder! Ich habe dich! Jetzt ist die Reihe an dir, Canning! Jetzt mußt du hinab in die Tiefe…«
Der Irre hob den Inder wie eine leichte Feder empor und schleuderte ihn in großem Bogen von sich. Dann brach er in ein gräßliches Lachen aus. »Ha, ha! Jetzt magst du da unten schwimmen… ein Jahr schwamm ich in dem großen Ozean… bis ich hierherkam… Schwimme auch, Canning… schwimme!… Jetzt bist du dran! Schwimme, Canning!… Schwimme, Canning… Du darfst noch nicht ertrinken… Schwimme!«
Der Fremde stand sprachlos, schien nicht zu wissen, was das zu bedeuten hatte.
»Zurück, Awaloff!« Er schob den Irren zur Seite, trat an den Inder heran und beugte sich über ihn.
»Ah! Du bist’s, du Schurke! Jetzt verstehe ich’s.«
Sarata, nur leicht betäubt, wandte den Kopf, richtete sich langsam auf.
Mit einem Satz war Awaloff neben ihm, entriß ihm den Dolch und wollte zustoßen. Da fiel ihm Gorm in den Arm. Ein wütendes Ringen entspann sich. Die Kräfte des Irren schienen sich verdreifacht zu haben. Schaum stand ihm vor dem Mund. Mit aller Gewalt suchte er sich von Gorm loszumachen.
»Canning! Canning! Er muß sterben!« Immer wieder schrie er.
Endlich war es Gorm gelungen, seine rechte Hand zu erfassen, ihm den Dolch zu entwinden. Er schleuderte die Waffe von sich, ergriff Awaloffs Arm. Redete beruhigend auf ihn ein. Nur langsam fügte er sich. Dann gaben seine überspannten Nerven plötzlich nach; mit einem leisen Wimmern sank er zu Boden.
Auf den Lärm hin eilten einige Mönche aus dem Kloster herbei. Gorm übergab ihnen Awaloff, wollte sich zu Sarata wenden… Da sprang dieser auf und war, ehe man ihn ergreifen konnte, verschwunden.
»Hallo! Achtung da unten!« brüllte die Stimme des Vorarbeiters von dem hohen Gerüst. Ronald Lee, in eine Zeichnung vertieft, schaute hoch. Das Blatt fiel zur Erde. In wilden Sprüngen eilte er vorwärts. Er wollte »Hortense!« schreien, doch die Stimme versagte ihm. Die Last der eisernen Träger da oben, auf den einzelnen Balken vom Kran falsch aufgesetzt… der Balken knisterte und brach… Die Eisenlast, von der Kette schon gelöst, begann zu stürzen.
Hortense stand ahnungslos unweit des Gerüstes.
Sie stieß einen lauten Schrei aus. Zwei Arme hatten sie umschlungen, trugen sie wie ein leichtes Bündel hinweg, noch ehe sie wußte, was geschah.
Ein donnerartiges Krachen ertönte, die Masse der einzelnen Träger löste sich, hart auf das Mauerwerk schlagend. In hohem Bogen sprangen die Eisenstücke mit zermalmender Wucht nach allen Seiten und schlugen, was da stand an Geräten und Werkzeugen, in tausend Stücke…
Durch die Überraschung, das furchtbare Krachen verlor Hortense einen Augenblick die Besinnung. Als sie wieder zu sich kam, starrte sie in ein Gesicht, das unter der Sonnenbräunung tief erblaßt war.
»Mr. Lee! Was ist geschehen? Ich bin…« Sie wollte sich freimachen, sank wieder zurück. Der Mann drückte sie fester an sich, strich ihr mit der freien Hand das Haar zurück, das ihr ins Gesicht gefallen war.
»Beruhigen Sie sich«, mit Gewalt gab er seiner Stimme einen ruhigen Klang, »beruhigen Sie sich, Miß Hortense. Ein kleiner Unfall da oben, ein Balken brach. Sie hörten den Warnungsruf nicht. Ich sprang hinzu, riß Sie zur Seite. Ich griff wohl zu unsanft zu. Verzeihen Sie mein Ungestüm!«
Unter seinen Worten hatte sie sich aufgerichtet, machte sich langsam frei. Ihr Blick ging von oben nach unten. Da, wo sie eben noch gestanden hatte, neben der Karre, lag ein Gewirr schwerer Eisenstücke, die Karre war zertrümmert. Ein Schauer lief durch ihren Körper. Langsam wandte sie sich um, reichte Lee die Hand und verließ den Platz.
Die Arbeiter der Werft hatten ihren Chef noch niemals so erregt gesehen wie jetzt. Die Ruhe Ronald Lees war beinahe sprichwörtlich geworden. Jetzt erlebten sie etwas, was sie wohl niemals für möglich gehalten hätten. Das Donnerwetter, das auf den Kranführer herunterprasselte, überstieg alles, was sie in einem solchen Fall bisher mit angehört hatten.
Trotz der großen Beschleunigung, mit der gearbeitet wurde, war dies der erste ernstliche Unfall. Wie ein Pilz wuchs die Werft aus der Erde. Van der Meulen drängte selbst auf größtmögliche Beschleunigung. Seine großen Geldmittel kannten kein Hindernis, doch nichts von dem allen hätte Lee zu diesen übermenschlichen Anstrengungen veranlassen können. Das, was ihn immer wieder in seiner Tätigkeit anspornte, war das Interesse, das Hortense seinen Arbeiten zuwandte.
Van der Meulen hatte recht gehabt. Sie war seine Schülerin, seine Gehilfin geworden. Vom Morgen bis zum Abend, trotz glühenden Sonnenbrandes, war sie fast ständig beim Bau. Die Abende sahen fast regelmäßig die Bewohner der Hazienda um den großen Tisch versammelt, auf dem die Pläne ausgebreitet waren.
An diesem Morgen kam Hortense nicht wieder. Ronald Lee wurde immer unruhiger, immer zerstreuter, je länger die Stunden sich hinzogen. Kaum, daß er noch die vielen Fragen beantworten konnte, die seine Bauleute an ihn richteten. Wie eine Erlösung begrüßte er den Klang der Mittagsglocke.
Als er in das Speisezimmer trat, sah er Hortense hinter ihrem Vater stehen. Sie legte mit einer stummen Bewegung den Finger auf den Mund, deutete mit der anderen Hand auf ihren Vater.
Ronald Lee verbeugte sich kurz. Die Mahlzeit verlief außergewöhnlich schweigsam. Vergeblich bemühte sich der alte van der Meulen, das Gespräch in Fluß zu bringen. Endlich riß ihm die Geduld.
»Hallo, Kinder! Ich sehe, ihr arbeitet zuviel. Heute nachmittag wird gefeiert. Ruhig, Hortense! Ich wünsche es. Eure Gesichter zeigen mir, daß ihr abgespannt, überarbeitet seid. Wir werden, wenn die schlimmste Hitze vorbei ist, einen Ritt in die Pampas machen und vielleicht auch bei Canning vorsprechen.« –
Van der Meulen war mit den anderen kaum fortgeritten, als Cannings Auto vorfuhr. Der Hausmeister trat ihm entgegen, hob bedauernd die Hände hoch.
»Vor einer halben Stunde sind sämtliche Herrschaften in die Pampas geritten.«
»Wohin?«
Der Majordomo zuckte die Achseln. »Ein Ziel haben sie nicht angegeben. Mr. van der Meulen sagte nur, daß man vielleicht Mr. Canning besuchen werde.«
»Das ist sehr bedauerlich, José. Sie zu suchen, hat wohl keinen Zweck. Ich werde nach Hause zurückkehren und warten, bis sie kommen. Doch eilt das nicht. Laß mir ein Glas Eiswasser in das Speisezimmer bringen.«
Während der Alte ging, den Auftrag weiterzugeben, begab sich Canning in das Speisezimmer, warf sich in einen Stuhl, griff nach den Zeitungen. Nicht lange, und eine Dienerin brachte den kühlen Trank. Kaum hatte sie den Raum verlassen, erhob sich Canning, schritt durch das angrenzende Gemach in das Eckzimmer, wo die Pläne lagen. Mit ein paar raschen Blicken hatte er sich informiert. Sie betrafen ausschließlich den Bau der Werft, enthielten für ihn nichts von Wichtigkeit.
Nebenan lag das Zimmer Ronald Lees. Canning drückte auf den Türknopf. Die Tür war verschlossen. Hastig griff er in die Tasche, öffnete sein Taschenmesser. Ein dietrichartiger Haken war daran. Er führte ihn ins Schloß. Ein leises Knacken, die Tür ging auf.
Seine Augen spähten gierig in die Runde. Wo?
Ein paar Truhen, ein großer Wandschrank, sie waren verschlossen. Was sollte er tun? Wo hatte Lee sein Geheimnis verwahrt?
Eine eiserne Kassette sollte es sein. Das hatte er von van der Meulen gesprächsweise erfahren.
Er trat neben den Wandschrank. Sein Fuß stieß gegen ein Hindernis. Er bückte sich, jubelte innerlich auf. Da stand die Kassette, fest mit dem Boden verschraubt.
Er griff in die Tasche, zog den kleinen, blitzenden Apparat heraus. Die Gelegenheit war günstig. Von oben, von der Seite, mochte die Lage sein, wie sie wollte, sein Strahlapparat konnte die Dokumente auf den Film bannen.
In einem Augenblick war es getan.
Er verließ das Zimmer, versperrte das Schloß und ging langsam, ein Lied vor sich hinpfeifend, durch die Zimmerflucht zu seinem Platz zurück.
Er konnte gewiß sein, daß niemand in der Zwischenzeit das Zimmer betreten hatte. Hastig stürzte er den kühlen Trank hinab. Unten an der Haustür begegnete er wieder dem alten José, winkte ihm zu und sprang in seinen Wagen.
Er mochte wohl eine Stunde wieder zu Hause sein, als van der Meulen mit seiner Gesellschaft angeritten kam. In Erwartung der Gäste hatte Canning eine festlich geschmückte Tafel herrichten lassen. Er selbst war in glänzender Stimmung. Bei dem Mahl riß seine übermütig sprühende Laune auch die anderen mit.
Nach der Mahlzeit saßen sie auf der Glasveranda. Durch die offenen Fenster drang die kühle Abendluft.
»Eine Frage, Don Roberto!« wandte sich van der Meulen an Canning. »Ich sprach heute morgen mit Mr. Lee über die Möglichkeit, daß das Mondgestirn durch das üble Geschenk, das wir ihm mit der Rakete zuschickten, infiziert werden und auch in Brand geraten könnte. Die Frage wird von allen Gelehrten sehr vorsichtig behandelt. Die Ansichten widersprechen sich. Auch Mr. Lee wollte sich auf keine der beiden Ansichten festlegen.«
Canning zuckte die Achseln. »Wer kann das wissen? Doch gedulden wir uns noch eine Zeit. Wenn Mr. Lee sein Schiff fertig hat, wird wohl die erste Fahrt zum Mond gehen. Dann werden wir die Antwort auf diese Frage hören. Mir erscheint die andere viel wichtiger, ob die Kur auf Coiba von bleibendem Erfolg sein wird. Die Gelehrten, die sich dort dauernd zur Beobachtung aufhalten, scheinen verschiedener Meinung zu sein. Ich weiß nicht, ob die Gefahr für Coiba und für unsere alte Erde behoben ist.«
»Nun«, erwiderte van der Meulen, »da denkt Mr. Lee ähnlich.«
»Ah! Sie halten die Operation für verfehlt?« wandte sich Canning an Lee.
»Ja, Mr. Canning! Meiner Meinung nach ist der Boden dort auf weite Strecken infiziert. Der Atomzerfall mag jetzt noch nicht bemerkbar sein. Er wird sich aber bemerkbar machen. Früher oder später.«
Canning wiegte den Kopf. »So steht also das Ende unserer schönen Welt unweigerlich fest?«
Lee antwortete zögernd.
»Das erscheint mir theoretisch als sicher. Ich hoffe nur, ich möchte sogar sagen, ich habe die feste Hoffnung, daß die Natur selbst ein Heilmittel geben wird.«
»Wie soll ich das verstehen?« fragte Canning.
»Ich denke«, versetzte Lee nach einigem Überlegen, »daß es dem ewig gerechten Walten der Natur widerstrebt, den Menschen ein Mittel zu geben, das ihre Existenz vernichtet. Sie wird, wenn die Zeit gekommen ist, der Menschheit auch das Gegenmittel geben. Nur ist die Frage, wie lange das noch dauern wird. Die Natur schafft nicht sprunghaft, ihre Entwicklung geht langsam. Generationen mögen vergehen, ehe die Rettung kommt.«
»Das heißt also, die amerikanischen Kontinente könnten auf einer späteren ›geretteten‹ Welt von der Landkarte verschwunden sein?«
»Es könnte sein, Mr. Canning, wenn ich es auch nicht hoffen möchte.«
»Pfui, Mr. Lee! Sagen Sie das nicht zu laut. Sonst würden ja unsere Haziendas hier demnächst keinen Pfennig mehr wert sein«, erwiderte van der Meulen.
»Nun, mag es sein, wie es wolle«, entgegnete Canning, »es dürfte sich empfehlen, sich rechtzeitig nach einem anderen Unterkommen umzusehen. Suchen wir also als moderne Konquistadoren nach Neuland. Da wäre der Mond. Dieser kommt jedoch nicht in Frage, weil er ohne Atmosphäre und Wasser ist. Vom Mars wissen wir jetzt durch die Beobachtung der Hubschraubersternwarten, daß er nur im äußersten Notfall als Siedlungsgebiet in Betracht käme. Unsere Vorfahren machten freilich gern fantastische Fahrten dorthin. Das Nächstliegende in doppeltem Sinne ist die Venus.«
»Gewiß!« versetzte Lee. »Sie allein kommt zunächst in Betracht. Die Lebensbedingungen dort entsprechen ungefähr denen auf der Erde. Wasser, Atmosphäre, Wärme. Es ist alles da, was wir brauchen, und, das Wichtigste, es sind keine Menschen da.«
»Das ist auch meine Meinung!« fiel van der Meulen ein. »Und es kann für mich keinem Zweifel unterliegen, daß wir die Venus als Ziel unserer großen Fahrt wählen.«
»Unserer? Mr. van der Meulen, wollen Sie etwa selbst in Ihren alten Tagen noch Konquistador werden?« fragte Canning.
»Warum nicht, Don Roberto? Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Ich denke, wenn Gott will, da oben eine Hazienda zu gründen, die ausgedehntere Grenzen haben soll als unser ganzer Gran Chaco.«
Canning lachte. »Wollen Sie da oben Saurier züchten, van der Meulen, oder wie stellen Sie sich die Sache vor?«
»Wenn ihr Fleisch ein gutes Beefsteak gibt, warum nicht?« erwiderte van der Meulen halb im Ernst, halb im Scherz. »Ich taxiere aber, daß da, wo Menschen leben können, auch Viehherden existieren können… gibt’s die da oben, um so besser. Gibt’s die nicht, werde ich sie dahin exportieren.«
Sehr spät brachen die Gäste auf.
Lange noch stand Canning in seinem Laboratorium und studierte die entwickelten Filme. Dann verschloß er seinen kleinen Zauberapparat sorgfältig in dem Panzerschrank. –
Diesmal hast du ganze Arbeit gemacht…
Am nächsten Morgen saß Canning am Teetisch. Der Lautsprecher im Hintergrunde des Gemaches brachte die Tagesneuigkeiten. Er las die Zeitung, hörte nur zerstreut hin…
Coiba! – Die Hand, die mit dem Teelöffel in der Tasse rührte, hielt an. Die Augen gingen erwartungsvoll zu dem Apparat.
»Im Laufe des gestrigen Nachmittags wurde an einer Stelle, die unweit der alten Brandstätte liegt, ein neuer Brandherd gefunden.«
Auf Cannings Gesicht war eine leichte Blässe getreten. Der Löffel fiel klirrend aus seiner Hand.
Ich ahnte es, sprach er vor sich hin.
Der Radiosprecher meldete weiter:
»Wenn die schlimme Meldung, die wir jetzt bringen, spät kommt, so findet das seine Begründung darin, daß man sich zunächst über den Charakter des Brandes nicht klar war. Die Leitung der Kommission zögerte, eine Meldung in der Welt zu verbreiten, bevor die Natur des Phänomens klar erkannt war…«
In das Weitere, was Coiba meldete, schrillte ein Telefonanruf Harrods aus Coiba. Canning riß den Hörer ans Ohr und lauschte. Es waren nur wenige Worte, die Harrod sprach.
»Well, Mr. Harrod! Ich komme, fliege sofort ab.«
Auf die Welt wirkte die Meldung aus Coiba wie ein Donnerschlag. In erster Linie waren es die amerikanischen Kontinente, der mittelamerikanische Isthmus im besonderen, die in größte Unruhe gestürzt wurden. Ein Heer von Reportern begab sich nach Coiba.
Die Frage bewegte alle: War es ein neuer Brand, der, ähnlich entstanden wie der erste, bisher unbemerkt geblieben war, oder war es ein neues Pestgeschwür, gebildet aus dem verseuchten Organismus des Bodens? Man klammerte sich an die erste Auffassung. Denn traf das zweite zu, war der Boden vergiftet, dann war alles hoffnungslos, dann mußte das Weltenende kommen…
Die Kommission auf Coiba gab auf diesbezügliche Anfragen keine klare Auskunft. Bis in die entlegensten Teile der Welt drang die verhängnisvolle Kunde. –
Gorm… der Name tauchte wieder auf. Wieder und wieder die alten Verwünschungen gegen den Schuldigen –
»Nein! Nein, mein lieber Sohn! Nichts sollst du fürchten. Nichts darf dein Herz beschweren. Verachte das häßliche Geschrei der Massen. Du wärest frei von Schuld und Fehl, wenn der Brand auch die ganze Welt verschlänge. Unsere heiligen Offenbarungen, denen nichts verborgen ist, wissen hiervon. Millionen Geschlechter werden vergehen, ehe das Erdgestirn, in feuriger Lohe geläutert, in neuer, verjüngter Gestalt seine Wiedergeburt erlebt. Was jetzt geschieht, ist nicht das Ende. Ein sterblicher Mensch – du bist es – wird der Retter sein!«
Gorm schüttelte den Kopf. Die Worte des greisen Abtes vermochten nicht die schwere Last, die ihn drückte, zu mindern. Auch ihn hatte die Nachricht von dem neuen Brand aufs tiefste erschüttert. Auch er hatte sich der vagen Hoffnung hingegeben, daß die Gefahr durch die Operation behoben sei, hatte die quälenden Gedanken trotz schwerster Bedenken damit zu bannen gesucht.
»Deine Worte, ehrwürdiger Vater, bringen mir keinen Trost. Vergeblich habe ich Tag und Nacht gegrübelt. Die Kräfte, die das Schicksal mir gab, sind zu schwach, diese Aufgabe zu lösen. Ich scheide schweren Herzens von dir. Auch unser Schützling – Awaloff –, daß die Verwirrung seines Geistes nicht weichen will! Sein Leben ist kostbar für mich! Ist er doch der einzige lebende Zeuge des schlimmsten aller Verbrechen, das an der Menschheit jemals begangen wurde.«
»Wenn auch sein Geist noch verdunkelt ist, das Unstete, Wilde ist von ihm gewichen. Er ist ruhiger geworden. Ein harmloser Kranker. Vielleicht, daß die Zeit ihm Genesung bringt. Die Zeit, das große Heilmittel der Natur. Auch für Coiba wird sie den Tag bringen, an dem der Brand erlischt, und dir wird sie den Tag heraufführen, der dich entsühnt von dem Haß der Welt…«
Gorm war geschieden. Er eilte, zur Werft zu kommen, ungeduldig neuer Nachrichten von Coiba harrend.
»Gut, daß Sie kommen, Mr. Canning!« begrüßte Harrod den eben seinem Flugzeug Entsteigenden.
»Gehen wir sofort zu der neuen Brandstelle. Ihr Urteil ist mir mehr wert als das der ganzen Kommission. So viele Köpfe, so viele Meinungen. Unterwegs werde ich Ihnen erzählen, wie man zu dem Fund kam. Zwei junge Arbeiter badeten gestern morgen im Meer. Als die Flut kam, gingen sie höher am Strand hinauf, legten sich hin, um sich an der Sonne zu trocknen. Plötzlich springt der eine auf, schimpft, flucht, sein Rücken ist verbrannt. Er denkt zunächst, daß im Sand ein Stück Eisen lag, das durch die Sonne stark erhitzt war, beugt sich, scharrt den Sand weg… Da schreit er wieder auf, bläst sich die Finger. Der andere lacht, kniet auch nieder, greift in den Sand – tanzt im selben Augenblick wie der erste, die verbrannten Finger in der Luft schlenkernd. Sie werfen die Kleider über, laufen zu Dr. Goldwin, dem Leiter der Kommission.
Man begibt sich sofort zu dem angegebenen Ort, stellt Untersuchungen an, konstatiert einen neuen Brand. Man will zunächst nicht daran glauben, daß es Atombrand sei. Denkt an irgendwelche vulkanischen Erscheinungen, die hier zutage treten. Schließlich kann man sich aber doch nicht der Tatsache verschließen, daß zweifellos ein Atombrand vorliegen müsse.
Die erste Frage: Wie ist der Brand entstanden? Die zweite Frage: Kann man ihm in ähnlicher Weise beikommen wie dem ersten? Von Ihrem Urteil erwarte ich die Entscheidung, Mr. Canning.«
Unwillkürlich war Harrod stehengeblieben und schaute Canning an. Der schüttelte den Kopf.
»Die Antwort will ich Ihnen jetzt schon geben. Meine erste Diagnose bewahrheitet sich. Der Brand ist unlöschbar. Der Atomzerfall hat so weit gegriffen, daß ihm mit bekannten menschlichen Mitteln nicht mehr beizukommen ist.«
Die scharfen, kräftigen Züge Harrods erbleichten.
»Das wäre…?«
»Der Beginn des Weltenbrands!«
Schweigend legten sie den Rest des Weges zurück. An der Stelle des neuen Brandes hatte man, soweit möglich, ein Loch gegraben. Der Boden war hier nicht Felsen, sondern bestand aus Erde, mit Steingeröll gemischt. Canning beugte sich zu dem Erdhaufen am Rande der Grube, ergriff einen Klumpen, wog ihn in der Hand, nahm dann noch ein paar andere, verglich sie.
»Eine Metallader, Mr. Harrod! Gehen wir in das Laboratorium, wo ich ihren Charakter feststellen will.«
Als sie an der alten Brandstelle vorbeikamen, blieb Canning stehen. Er stieg in die Grube hinab und begann, den Boden systematisch Stückchen für Stückchen abzusuchen.
»Nichts zu finden hier!« murmelte er. »Die Messungen der Kommission scheinen richtig zu sein…«
Er wollte eben wieder nach oben steigen, da wandte er sich noch einmal zur Sohle der Grube. Der Boden bestand aus gewachsenem Stein. Er ließ sich einen Meißel geben, trat zu einer Stelle, wo das rötliche Gestein einen grauen Schimmer zeigte. Mit kräftigen Hieben schlug er ein paar Brocken ab, zog ein Vergrößerungsglas aus der Tasche und betrachtete aufs schärfste die Vertiefung.
Da! Ein graues, unendlich feines Äderchen. Mit dem Meißel brach er ein paar Stückchen ab, wickelte sie sorgfältig in ein Tuch und stieg nach oben.
»Was haben Sie da? Was ist das?« fragte ihn Harrod neugierig. »War die Stelle warm?«
Canning schüttelte den Kopf. »Nein! Und doch vermute ich, daß von hier aus die Infektion weitergegriffen hat.«
Unbekümmert um die Mitglieder der Kommission schritt er, von Harrod begleitet, zum Laboratorium. Schnell war das spezifische Gewicht der Brocken festgestellt. Kein Zweifel mehr. Es handelte sich um ein hochwertiges Bleierz.
»Ich nehme an, Doktor«, wandte er sich an den Kommissionsleiter, »daß Sie ein Metallsuchgerät hier haben.«
Dieser besann sich einen Augenblick, was ein leises Lächeln auf Cannings Züge lockte. Ein Angestellter brachte das Gewünschte, Canning nahm das Instrument zur Hand, schritt zu dem ersten Brandherd und stellte es ein.
»Wie Sie sehen, Mr. Harrod, zeigt der Apparat Metall an. Doch jetzt weiter!« Er beugte sich zum Boden, bewegte sich, den Blick starr auf den Zeiger des Instrumentes gerichtet, bald nach rechts, bald nach links ausweichend der Stelle des neuen Brandherdes zu.
»Die Sache ist klar, Mr. Harrod. Eine Metallader zieht sich von der alten zur neuen Brandstelle hin und darüber hinaus. Die Infektion folgt ihr. Wer weiß, wie weit sie schon fortgeschritten ist. Hier Abhilfe zu schaffen, sind menschliche Kräfte zu schwach.«
Während die Radiowellen das niederschmetternde Resultat der Untersuchungen in alle Welt trugen, saßen Canning und Harrod an Bord der Yacht des letzteren, die sie in den Golf hinaustrug. Canning, in einen Sessel zurückgelehnt, blies äußerlich scheinbar ruhig den Rauch seiner Zigarre in die Luft. Harrod durchmaß den engen Raum mit hastigen Schritten. Sein Atem ging heftig. Hin und wieder blieb er stehen, starrte halb ungläubig, halb ratlos in Cannings gleichmütiges Gesicht. Der sprach, sprach lange. –
»Jeden anderen, der mir so etwas sagte, würde ich mit eigenen Händen zur Tür hinauswerfen. Sie? Sie wollen die Gormsche Kraft weitergeführt haben! So weit, daß der Traum der Zukunft, Raumschiffe damit zu treiben, Wirklichkeit geworden wäre?«
»Es ist so, wie ich Ihnen sagte, Mr. Harrod!«
»Und warum sagen Sie das erst jetzt?«
»Nun«, sagte Canning, »ich dachte, der Augenblick wäre recht glücklich gewählt. Im Bewußtsein, daß die Erde in absehbarer Zeit ein Feuerball wird, dürfte es ein tröstlicher Gedanke sein, das Mittel zur Flucht zu wissen. Doch lassen wir den Scherz. Ich sage es heute, einfach, weil ich erst seit kurzem das Problem vollständig gelöst habe.«
»Wie kam das? Ein glücklicher Zufall? Gewiß, Sie arbeiteten ja schon lange daran. Wie kamen Sie hinter das Geheimnis?«
Canning schaute an Harrod vorbei. Sein Blick ging über die weite Wasserfläche des Ozeans.
»Wie ich dazu kam, Mr. Harrod? Es war vor wenigen Wochen. Ich stand vor der Frage…«, seine Stimme verlor ihren Klang, fast murmelnd kamen die Worte aus seinem Munde, »…allem ein Ende zu machen… Ich sah… mußte sehen, daß ein anderer das Problem des Raumschiffes, getrieben von Gormscher Kraft – die Idee, die mich Tag und Nacht schon seit Jahren bewegte –, daß ein anderer dieses Problem gelöst hat.«
Als wäre der Blitz neben ihm eingeschlagen, sprang Harrod zurück und starrte Canning an.
»Was«, stammelten seine Lippen, »ein anderer? Und der lebt? Was tut er?«
»Er baut.«
»Und Sie kennen ihn? Wer ist er? Spannen Sie mich nicht auf die Folter! Seinen Namen?!«
»Es ist der Engländer Ronald Lee, ein Neffe jenes Jonas Lee. Van der Meulen, Ihr ›Freund‹, hat ihn zu sich kommen lassen. Auf seinem Besitztum Buena Vista im Gran Chao wird die Werft errichtet.«
»Und kein Mensch weiß etwas davon? Ahnt es?«
»Nein, Mr. Harrod, niemand weiß es bisher außer den engsten Angehörigen van der Meulens. Man will das Geheimnis so lange wie möglich wahren.«
»Zuviel! Zuviel, was Sie da sagen! Ich weiß nicht, was ich zuerst fragen soll… Erzählen Sie weiter!«
»Der Tag, an dem mich van der Meulen in das Geheimnis einweihte, ich werde ihn nie vergessen. Nur mit Mühe vermochte ich meine Fassung zu bewahren. Ich entfernte mich bald, innerlich zerschlagen… Ich kam zu Hause an, ging in mein Laboratorium. Zwei Tage, zwei Nächte saß ich. Ich aß nicht, ich schlief nicht, künstlich hielt ich mich aufrecht. Da, in letzter Stunde, als Körper und Geist zusammenzubrechen drohten, fand ich die Spur, den Weg, der zum Ziele führte. Ich hatte noch eben die Kraft, ein paar Formeln zu Papier zu bringen. Dann fiel ich zusammen. Kaum erwacht, stürzte ich mich wieder in die Arbeit, fürchtend, es sei ein Traum gewesen. Mit ausgeruhten Sinnen überprüfte ich alles. Es war kein Trug, der rechte Weg war gefunden.«
»Jetzt?« Harrod drängte näher zu ihm heran, sah ihm voll ins Gesicht. Canning gab den Blick ruhig zurück.
»Jetzt werde ich vielleicht auch bauen.«
»Ah!« Harrod trat einen Schritt zurück. »Und die Leute in Buena Vista?«
Canning kniff die Augen zusammen. Sein Blick ging unverwandt über die Wellen des Ozeans, die an dem Saum des Strandes hinaufleckten. Immer wieder ausholend, als wollten sie die Insel überströmen, hinwegreißen, immer wieder ohnmächtig zurückrollend. Ein Bild des Lebens, seiner Liebe…
Lange wartete Harrod vergeblich auf Antwort.
»Und die in Buena Vista?« wiederholte er die Frage.
»Buena Vista… Ja! Ja, hätte ich es nie gesehen, es wäre wohl besser für mich. Doch einerlei! Wie es auch kommen mag…« Canning sprang auf, »es muß ein Ende haben!«
»Und dann, Mr. Canning?« Drängend kam die Frage aus Harrods Mund.
»Dann werde ich wissen, ob ich mit Ihnen, Mr. Harrod, das Raumschiff baue, das uns hinwegführt zu einer neuen Welt.«
Harrod streckte ihm die Rechte entgegen. »Möge es so kommen! Dann soll der Ruhm, vor allen anderen zuerst in dem neuen Raumschiff zu fliegen, Ihnen sicher sein. Mein Wort darauf! Meine Werft steht von heute an in Erwartung ihres neuen Herrn.«
»Allerdings, Mr. Lee, jetzt beuge ich mich Ihrem Urteil. Was uns da eben Mr. Canning erzählte, dürfte wohl überzeugend für jedermann sein. Und doch sehe ich die Gefahr des Weltbrandes nicht so groß wie ihr gelehrten Köpfe. Das wäre ja noch schöner, wenn unsere schöne Welt verbrennen sollte, weil da ein paar Flugzeuge mit ihren Waffen explodierten.«
»Du denkst wohl da wieder an das Löschen mit dem Ozean, Vater«, wandte sich Hortense lachend ihm zu.
»Das nicht, Hortense! Unser Herr Lehrer…«, er deutete lächelnd auf Ronald Lee, »hat es fertiggebracht, den dunklen Kopf zu erleuchten. Aber so wahr ich hier sitze, gemacht wird das Experiment doch! Dafür wird die blinde Menschheit schon sorgen… zumal es ja gar nicht so große Schwierigkeiten machen wird.«
»Nun, mögen sie! Es wird jedenfalls ein schönes Schauspiel werden«, sagte Hortense und wandte sich dann zu Lee.
Sie erhob sich, nickte den anderen leicht zu und ging mit Lee aus dem Zimmer. Canning sandte dem Paar einen finsteren Blick nach.
»Ja, ja, Mr. Canning!« lachte van der Meulen, »Hortense entwickelt sich zu einem perfekten Ingenieur. Keine anderen Gedanken hat sie als die Werft, den Bau des Schiffes.«
»Ich sehe… Leider! Kaum, daß Hortense mir einen Blick, ein paar Worte gönnt.« Er sah kurz nach Violet hinüber, die sich, verlegen erhob und hinausging.
»Ein Wort unter uns Männern, Mr. van der Meulen! Sie selbst hatten das Glück, eine geliebte Gattin zu besitzen. Sie werden sich der schönen Zeit Ihres Brautstandes erinnern. Vergleichen Sie, und Sie werden einsehen, daß das Verhältnis zwischen Hortense und mir sich in einer Weise entwickelt hat…«
Van der Meulen strich sich den Bart und nickte nur stumm vor sich hin.
»Ihr Schweigen sagt mir genug – «, Canning ging erregt im Raum auf und ab. »Wäre meine Liebe zu Hortense nicht so groß, schon längst hätte ich dem allen ein Ende gemacht.«
»Ich sehe es ein. Sie haben recht, Don Roberto. Doch ich kann und will mich nicht einmengen. Hortense ist mein einziges Kind. Sie muß allein entscheiden. Sprechen Sie mit ihr. Ich will hoffen, daß sich alles zum Guten wenden wird. Doch wenn sie ihre Liebe gewandelt hat – ein Zwang von meiner Seite ist ausgeschlossen.«
»Gut, Mr. van der Meulen. Vielleicht, daß Hortense sich herabläßt, mir eine Unterredung zu gewähren, daß sie die Gesellschaft dieses Lee auf kurze Zeit entbehren kann«, setzte er in halbem Tone hinzu.
»Don Roberto! Den Vorwurf, der in Ihren Worten lag, muß ich zurückweisen. Hortense van der Meulen vergißt sich nicht! Ich werde selbst gehen, sie hierherschicken.«
Zu einer Ewigkeit dehnte sich die Zeit für Violet, die in Hortenses Zimmer saß und sie erwartete. Van der Meulen hatte ein Pferd bestiegen und war fortgeritten.
Schon seit einer halben Stunde waren die beiden allein in dem Teeraum. Unerträglich war die Spannung! Violets Herz war bei Hortense. Sie wußte, welch schweren Kampf sie kämpfte.
Hortense… Würde sie dem alten Zauber wieder unterliegen?
Violets Hände falteten sich, als müsse sie den Himmel bitten, der geliebten Freundin beizustehen.
Ein polterndes Geräusch drinnen riß sie auf. Mit zitternden Knien eilte sie zu der Tür. Da sprang diese auf. Canning stürmte heraus. Fast hätte er sie umgerissen. Mit ein paar Sprüngen war sie in dem Zimmer.
»Hortense! Liebe Hortense!« Violet kniete neben ihr.
»Alles wird gut werden«, flüsterte sie ihr ins Ohr. »Er ist fort, dieser Mann! Nie werden Sie ihn wiedersehen.«
In dieser Stunde erreichte Harrod in Johannesburg das Radiogramm Cannings:
»Wir bauen!«
Gorm und Sidney Stamford saßen in der Abendkühle vor der Wellblechhütte. An der Ecke des Hauses hinter einer Schutzwand ruhte Majadevi auf einem Liegestuhl. Die beiden unterhielten sich in deutscher Sprache, die Majadevi nicht beherrschte.
»Woher der plötzliche Rückfall?« fragte Gorm mit einem besorgten Blick zu der Schläferin. »Seit zwei Tagen ist ihr Zustand wieder schlechter geworden. Ich stehe vor einem Rätsel.«
»Der Arzt findet das erklärlich. Sie dürfen nicht vergessen, Gorm, daß Majadevi erst kurze Zeit bei uns in Sicherheit ist. Mit Rückfällen muß man rechnen. Man weiß ja nicht, wie lange die Ärmste in den Händen dieses alten Halunken gewesen ist. Es wäre mir sehr wertvoll, das zu wissen. Aber wie schon immer gesagt, muß ich warnen, allzusehr in sie zu dringen. Ich bin überzeugt, hätten wir sie nicht dem Inder weggenommen, würde sie bald ein trauriges Ende gefunden haben. Die Bande, mit denen sie der Alte an sich gekettet hatte, sind so stark, daß es noch langer Zeit bedarf, ehe ich die letzten Hemmungen bei ihr überwinden werde. Meine Kraft reicht nur aus, sie durch unausgesetztes Beeinflussen ihres Willens vor heimlichem Entfernen zu bewahren. Ihre Seelenkraft ist durch die jahrelange Hörigkeit, in der sie der Inder gehalten hat, so geschwächt, daß ihr mit nachhaltiger Wirkung noch nicht beizukommen ist.«
»Unerklärlich!« erwiderte Gorm, den Kopf schüttelnd. »Der Inder muß über gewaltige Kräfte verfügen.«
»Zugegeben, Gorm! Doch dürfen Sie nicht vergessen, daß junge Menschen in dem Alter Majadevis sehr leicht telepathisch zu beeinflussen sind. Zumal ganz offensichtlich Majadevi, bevor sie in die Hände des Inders kam, schon schwere Erschütterungen, veranlaßt durch irgendwelche besonderen Ereignisse, durchgemacht haben muß.«
»Ich will Ihnen nicht widersprechen, Stamford. Sie sind Spezialist in diesen Dingen. Sie sind ja auch während Ihrer langen Studienjahre hier in Indien so tief in die Mysterien indischer Jogikünste eingedrungen, daß in Ihnen selbst übernatürliche Kräfte wach geworden sind.«
»Übernatürlich höchstens vom Standpunkt des Westländers, Gorm. Noch immer steckt im Abendland die metaphysische Wissenschaft in den Kinderschuhen. Wer wie ich Gelegenheit hatte, seine Studien an den Quellen zu treiben, findet für all diese Wunder eine natürliche Erklärung.«
Gorm wandte sich mit einem Ruck nach Majadevi um. Sie erhob sich, als wolle sie fortgehen. Stamford streckte seine Rechte nach ihr aus, verharrte eine Zeitlang so. Da wandte sich das Mädchen, sank auf ihr Lager zurück.
»Die Meinung, die ich Ihnen vorhin entwickelte, ist vom ärztlichen Standpunkt aus durchaus gerechtfertigt. Ich möchte aber annehmen, daß hier noch andere Gründe vorliegen. Majadevi steht erneut unter dem Einfluß des Inders! Es ist unzweifelhaft, daß er irgendwo hier in der Nähe steckt. Ihr Zusammentreffen mit ihm in dem Klostergarten beweist es. Es wird ihm nicht schwergefallen sein, von dort aus unseren Aufenthaltsort zu ermitteln.«
»Allerdings, Stamford. Das ist durchaus möglich. Ich bewundere nur die Frechheit dieses Kerls, sich in unsere Nähe zu wagen.«
»Nun«, sagte Stamford, »für Sarata bedeutet Majadevi einen kostbaren Besitz. Ihn aufzugeben wird ihm nicht leichtfallen.«
Gorm trat zu dem Lager des Mädchens, setzte sich neben sie. Er ergriff ihre Hand und strich ihr leise über das blasse Gesicht. Majadevi schlug die Augen auf. Eine Weile schaute sie ihn starr an. Dann, als hätte sie ihn erkannt, belebte sich ihr Blick. Es zuckte um ihren Mund. Ihre Hände umklammerten seine Rechte, drückten sie… doch kurz nur, dann fiel sie langsam in ihren apathischen Zustand zurück.
Stamford winkte Gorm zu sich.
»Ich habe mir einen Plan ausgedacht, der vielleicht einen Ausweg bietet.« Mit gedämpfter Stimme sprach er auf Gorm ein. Dieser schien Bedenken zu haben, fügte sich dann.
Während Stamford an seinem Platz sitzen blieb, ging Gorm in das Haus. Hier traf er Tim Broker, der in der kurzen Zeit ein unentbehrliches Faktotum geworden war. Es schien nichts zu geben, was er nicht verstand, dabei war er zu jeder Zeit dienstbereit.
Doch was Gorm ihm jetzt erzählte, schien nur schwer in seinen Schädel einzugehen. Immer wieder griff er sich an den Kopf. Das eine war ihm jedenfalls klar, daß seine Aufgabe Geschicklichkeit und Mut erforderte und seine Fäuste voraussichtlich gute Arbeit bekamen. Das war ihm genug, um mit Freuden auf alle Weisungen Gorms einzugehen.
»Wir gehen zum Raumschiff. Denke daran, daß wir dir wahrscheinlich nicht zu Hilfe kommen können.« Gorm nahm ein paar Instrumente, verließ die Hütte und ging mit Stamford zur Werft. Diese lag hinter einem Felsvorsprung, so daß es unmöglich war, von hier aus das Wellblechhaus und die Vorgänge dort im Auge zu behalten.
Zum Schein hantierten sie emsig an der Rudereinrichtung des mächtigen Aluminiumkörpers, der fast fertig auf dem Stapel lag.
Immer wieder hielt Gorm inne. Die Ungewißheit peinigte ihn. Seine Gedanken kamen nicht los von dem, was sich vielleicht dort hinten abspielte. Immer wieder mahnte Stamford: »Wir werden vielleicht von ihm gesehen – wahrscheinlich sogar. Bemeistern Sie Ihre Ungeduld! Ich hoffe, es wird gut ausgehen.« –
Kaum, daß Gorm die Hütte verlassen hatte, eilte Tim Broker in den anschließenden Geräteschuppen und holte sich eine lange Leine, die er kunstgerecht zu einem Lasso schlang.
»Lebendig soll der Kerl bleiben«, brummte er vor sich hin. »Da ist mir der Strick das liebste…« Dann war er am Fenster und starrte auf das Mädchen, das auf seinem Lager ruhte. Geduld war nicht Tims stärkste Seite.
Er mußte lange warten.
Wäre es nicht der Herr selbst, der mir das alles erzählte, ich würde ja glauben, man wolle mich zum besten haben… »Du mußt dir denken, es riefe jemand mit der Seele«, hatte der Herr gesagt. Na! Das soll der Deubel begreifen!
Da, wahrhaftig! Er preßte sein Gesicht an die Fensterscheibe. Majadevi hatte sich erhoben. Sie stand einen Augenblick, streckte wie abweisend die Hände aus. Dann… die Arme sanken hernieder. Den Kopf gebeugt, schritt sie langsam, als zwinge sie eine äußere Gewalt, um das Haus herum. Nun begann sie dem Abhang nach den Felswänden hin zuzuschreiten.
Vom Hinterfenster des Hauses konnte Tim Broker den Weg ein großes Stück verfolgen.
Kaum war das Mädchen am Fuß der Klippen angekommen, kroch Tim mit der Geschwindigkeit eines Wiesels den Weg hinan und hielt sich dabei immer im Schatten des dichten Gestrüpps zur Seite. Am Fuß der Felswand sah er das Mädchen wieder, wie es wie eine Schlafwandelnde einen halsbrecherischen steinigen Pfad emporklomm, der nur für Schwindelfreie gangbar war.
Der Schein des schwindenden Tageslichtes fiel voll auf die Felswand. Wollte er nicht gesehen werden, mußte er hier liegenbleiben und warten, bis Majadevi oben angekommen war. –
Tage und Nächte, ununterbrochen, ohne Schlaf, kaum daß seine Lippen Speise berührten – lag Sarata hinter dem Felsgrat auf der Lauer. Ununterbrochen sandte sein Gehirn stärkste Wellen aus, arbeitete, die gelockerten Fesseln Majadevis fester zu knüpfen. Als er jetzt endlich – schon wollte er verzweifeln – Majadevi auf sich zukommen sah, vergaß er alle Vorsicht. Die ungeheure Anstrengung hatte ihn stark ermüdet. Sein Auge sah nichts als das Mädchen. Nur daß er ab und zu durch das Glas einen Blick nach der Werft sandte, wo Stamford und Gorm emsig arbeiteten. Er vergaß die Vorsicht so weit, daß er Majadevi die letzten Schritte entgegeneilte, sie an sich riß und zu dem Pfad führte, der sich am Hang entlangzog.
An einer Stelle angekommen, wo der Weg so schmal wurde, daß nur einer bequem gehen konnte, zwang er Majadevi, vor sich herzugehen, sie zur schärfsten Eile anspornend.
Da plötzlich sah er etwas Dunkles über seinem Kopf schweben. Noch ehe er begriff, was es war, schlang sich ein Strick um seinen Hals und riß ihn zu Boden. Der starke Aufprall auf den Felsboden betäubte ihn vollends. Er fühlte nicht, wie geschickte Hände ihm Arme und Füße zusammenschnürten.
»Ging ja tadellos!« brummte Tim Broker vor sich hin. »Der läuft nicht weg. Leben tut er auch – hoffentlich –, aber jetzt?!«
»Miß Majadevi!« Tim bemühte sich, seiner Stimme einen gewissen Schmelz zu verleihen.
Sie hörte nicht und schritt weiter. Noch einmal derselbe Ruf, etwas lauter, aus Tims Munde. Doch wieder ohne Erfolg.
Tim Broker beschleunigte seine Schritte. Er brummte vor sich hin: »Was soll ich jetzt machen? Sie will nicht, wie’s scheint… der Herr hat von so was nichts erzählt… ist aber doch ausgeschlossen, daß ich das arme Ding allein da weiterlaufen lasse. Mit Gewalt festhalten?«
Ratlos schritt er hinter ihr her. Ein Stückchen weiter vor ihnen verbreiterte der Pfad sich wieder. Er dachte, so kann’s gelingen. An der breiten Stelle angekommen, sprang er an Majadevi vorbei, stellte sich ihr mit ausgebreiteten Armen in den Weg.
Mit klopfendem Herzen sah er, wie sie weiterschritt, als wäre er nicht da. Jetzt! Sie stieß ihn an, schreckte zusammen. Ein lauter Schrei aus ihrem Munde. Wimmernd sank sie nieder. Fast zitterten Tim die Glieder. Was hatte er da getan?
Da, in seiner höchsten Not, fiel ihm der Vaqueropfiff der Pampas ein. Er schob die Finger zwischen die Lippen, stieß einen schrillen Pfiff aus, der in vielfachem Widerhall von den Felswänden zurückgeworfen wurde. Noch ein paarmal denselben Pfiff.
Der Doktor müßte ihn kennen, flüsterte er vor sich hin, er müßte wissen, daß ein Mann in Not ist…
Eine Weile verharrte er, wollte eben wieder pfeifen, da sah er den Herrn im schnellen Lauf den Weg entlangeilen, Dr. Stamford dicht hinter ihm. Dieser blieb bei dem Inder stehen, während Gorm auf Majadevi zuschritt.
»Was ist’s?« kam es keuchend von seinen Lippen. Tim stotterte ein paar unverständliche Worte. Gorm beugte sich zu der Liegenden. Wie eine Feder hob er sie auf und trug sie den Weg hinab.
»Soweit wäre alles gelungen«, sagte Stamford, als sie in dem Wellblechhaus wieder zusammensaßen. »Tim hat seine Aufgabe gelöst. Jetzt wäre die Reihe an mir. Was dann mit diesem Halunken zu tun ist, weiß ich im Augenblick nicht. Jedenfalls reizt mich meine Aufgabe aufs höchste. Ich hatte noch nie Gelegenheit, meine Kräfte an einem so starken Gegner zu versuchen. Sarata war sicher früher in seinem Leben Jogi. Ein anderer könnte solche Kräfte nicht haben. Er ist dann wegen irgendwelchen schlechten Handlungen aus dem Stande ausgestoßen worden. Doch versuchen wir es! Tim, nimm ihm die Fesseln ab. Wach ist er, wenn er auch die Augen schließt. Nun hebe ihn auf und setze ihn hier auf den Stuhl mir gegenüber.«
Als Sarata seiner Fesseln ledig war, schlug er die Augen auf und schaute alle mit haßerfüllten Blicken an.
»Laßt mich allein!« sagte Stamford.
»Allein mit dem?« fragte Gorm.
»Ja! Es muß sein. Eure Anwesenheit würde mich stören. Er hat keine Waffe bei sich. Seine Fäuste fürchte ich nicht.«
Während Tim Broker an der Tür Wache hielt, ging Gorm vor dem Hause erregt auf und ab.
Die beiden da drinnen kämpften. Ein Zweikampf unerhörter Art. Stumm, wortlos, regungslos standen die beiden Kämpfer sich gegenüber. Nur die Augen, in denen sich die Waffen der Seele spiegelten, waren ineinander verfangen. Jede Phase des Kampfes, jeder Angriff, jede Deckung kam in ihrem Spiel zum Ausdruck.
Ein langer, ein schwerer Kampf. Je länger er dauerte, desto größer waren die Ungeduld, desto stärker die Zweifel in Gorm. Wer von den beiden würde siegen, wessen Kraft würde erlahmen?
Endlich! Gorm hörte die Tür des Zimmers gehen. Er eilte ins Haus. Stamford trat ihm entgegen, hochaufgerichtet, die bleiche Stirn naß von der übergroßen Anstrengung, das Lächeln des Siegers um die Lippen. Hastig ergriff Gorm dessen Hand und drückte sie. »Es ist gelungen, ich sehe es!«
Stamford nickte, trat ins Freie, seine Brust hob sich in tiefen Atemzügen. Gierig sog er die eiskalte Nachtluft ein, die von den Schneegipfeln der Berge hinunterstrich. Gorm ließ ihn gewähren. Er ging, von Tim Broker gefolgt, ins Zimmer. Der Inder lag in den Stuhl zurückgelehnt. Die Augen starr, teilnahmslos zur Decke gerichtet. Auch auf seinem Gesicht lag tiefe Erschöpfung.
Stamford trat ein.
»Von ihm ist vorläufig nichts mehr zu befürchten. Wir könnten ihn vielleicht hier lassen. Doch seine Gegenwart dürfte für Majadevi nicht günstig sein. Deshalb bleiben wir bei unserem Plan. Sagen Sie Tim Bescheid.«
Tim hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Er sollte den Alten zum nächsten Flughafen bringen, ihm einen Flugschein für die nordamerikanische Linie besorgen, ihn an Bord begleiten und dann zurückkehren. Der Alte würde ihm willenlos folgen, würde keinen Versuch machen, zu fliehen…
Nach so vielen wunderbaren Dingen, die er bei seinem neuen Herrn schon erlebt, hatte Tim sich vorgenommen, sich über nichts mehr zu wundern. Jetzt kam er mit seinem Vorsatz ins Wanken. Er hatte an der Tür scharf gelauscht. Kein Wort war zwischen den beiden da drinnen gewechselt worden – und doch war der alte Schurke jetzt friedlich wie ein Lamm. Wie war das zugegangen? Was hatte Stamford mit ihm gemacht? Kopfschüttelnd ging er hinaus, sich zur Reise vorzubereiten.
»Fühlen Sie sich wieder stark, lieber Freund?« wandte sich Gorm an Stamford.
Der nickte. »Ah… Sie meinen?«
»Ja! Wer weiß, wie das Schicksal dieses Menschen noch sein wird. Es wäre zu wünschen, daß wir ihm nie wieder begegnen. Die Gelegenheit, Näheres über Majadevis Schicksal durch ihn zu erfahren, dürfte so günstig nicht wiederkehren.«
»Selbstverständlich! Wie gut, daß Sie daran denken, Gorm. Gewiß, es wäre vielleicht im Laufe der Zeit möglich gewesen, von Majadevi selbst ihr Schicksal zu erfahren, doch so ist es besser.«
Er trat zu dem Inder, strich ihm leise über Stirn und Augen. Die schlossen sich. Dann stellte er an ihn die Fragen, die Gorm ihm zuflüsterte.
Sarata schwieg…
»Oho! Noch hat er Kraft, sich zu wehren!« murmelte Stamford vor sich hin. »Interessant! Irgendwo in seinem Bewußtsein gibt es noch versteckte Hemmungen…«
Er legte seine Linke auf die Stirn Saratas und ergriff mit seiner Rechten dessen Hand.
»Diese letzten Barrikaden werden schnell beseitigt sein.«
Nach einer Weile begann er wieder zu fragen. Die Lippen des Alten öffneten sich. Tonlos kam die Antwort aus seinem Mund. Gorm horchte gespannt. Je weiter das Frage-und-Antwort-Spiel ging, desto finsterer wurde seine Miene. –
Tim Broker trat ein, zur Reise fertig. Gorm nickte Stamford zu. »Es ist genug! Er kann gehen!«
Jetzt beugte sich Stamford zu dem Alten hinab und sprach zu ihm, leise, eindringlich.
»Du wirst deinem Begleiter folgen und wirst alles tun, was er sagt. Du wirst an Bord des Flugzeuges gehen, das nach den Staaten fliegt. In Frisco wirst du aussteigen, dich in die indische Kolonie begeben und dort wohnen! Die Mittel zu deinem Unterhalt stecken in deinem Kleid. Du hast mich verstanden und wirst alles tun, wie ich es befohlen habe. Steh auf!« Stamford deutete auf Tim Broker. »Hier ist der Mann, der dich begleiten wird.«
Der Alte trat zu Tim und verließ mit ihm das Haus.
Shelby, der Assistent des Professors Moore, trat in den Observationsraum der Greenwicher Hubschraubersternwarte. Er ging zu dem Okular des Refraktors. Zu seinem Erstaunen saß Professor Moore nicht davor. Sein Auge ging suchend umher und entdeckte im dunklen Hintergrund den Professor an der Radioempfangsstation.
»Was ist, Mr. Moore? Eine wichtige Nachricht? Sie sind so…«
»Ein Rätsel, Shelby, das mich schon seit einer halben Stunde hier festhält. Ich empfing Lissabon. Nach Beendigung des Gesprächs wollte ich unsere Londoner Welle einstellen. Da, plötzlich, ein neuer, jedoch unverständlicher Empfang im Apparat: Offenbar ein ständig sich wiederholendes Rufzeichen. Woher mag es nur kommen?«
Interessiert trat Shelby an den Apparat und prüfte die Einstellung. Nach der Wellenlänge zu urteilen, konnten die Rufzeichen nur aus Lissabon stammen. Augenblicklich herrschte Stille.
Doch plötzlich… Shelbys Hand hielt inne. Wieder klangen Zeichen aus dem Lautsprecher des Empfängers.
»Hören Sie?« flüsterte Moore seinem Assistenten zu, »wieder dieselben Töne…« Und erst jetzt merkte er, daß inzwischen eine ganz andere Wellenlänge eingestellt war. Er sprang auf und starrte den Assistenten an.
»Was ist das? Wo sind wir? Dieselben Zeichen auch auf anderen Wellen?«
Er hielt inne und sah, wie Shelby den Einstellknopf weiterdrehte, weiter, immer weiter – und trotzdem klangen die Töne fort… Jetzt wieder Stille.
Shelby griff sich an den Kopf. »Eine Störung in der Anlage? Unmöglich! Woher diese Wellen?«
Moore warf den Kopf zurück, schaute zum Himmel, streckte die Hand empor.
»Wäre alles in Ordnung, müßten sie von da oben kommen, senkrecht! Sonst wäre es nicht möglich, daß wir sie bei jeder Einstellung des Geräts vernähmen.«
Der Assistent nickte stumm. Auch sein Blick ging nach oben.
»Senkrecht?« murmelte er vor sich hin. »Senkrecht? Vom Zenit her? Die Sonne neigt sich schon nach Westen… Im Zenit die Venus? Nein, es kann nicht sein! Unmöglich! Es muß doch ein Fehler in der Anlage sein! Rufen wir Berlin an!«
Moore nickte. »Guter Gedanke! Die Berliner Luftsternwarte hat die gleichen Instrumente, die gleiche Einrichtung wie wir.« Er stellte Sendung und Empfang auf Berlin, rief an.
Professor Franke war selbst am Apparat. Mit hastigen Worten erklärten ihm Moore seine und Shelbys Beobachtungen und gab ihm die Wellenlängen, auf denen Greenwich die rätselhaften Zeichen empfangen hatte.
»Beobachten Sie! In einer Viertelstunde rufe ich wieder an.«
Professor Moore stellte den Empfänger wieder auf jene Welle. Kaum war der Apparat eingestellt, wurden die rätselhaften Rufzeichen von neuem vernehmbar. Shelby schaltete die Magnetophonanlage ein und nahm die Rufzeichen auf das Tonband auf, um sie jederzeit wiedergeben zu können. Eine Pause trat ein.
Sie riefen Berlin an. Dieselben Beobachtungen auch dort. Professor Franke, um eine Erklärung gefragt, gab seine Meinung dahin, daß die Rufsignale anscheinend aus dem Weltraum kämen, und zwar von jener Stelle, wo die Venus stand.
Schon eine Stunde später brachten Hubschrauber Reserveapparate zu den beiden Sternwarten von London und Berlin, so daß es möglich wurde, die merkwürdigen Zeichen ununterbrochen zu verfolgen und dabei doch die Verständigung untereinander aufrechtzuerhalten.
Was die beiden Gelehrten im Radio-Meinungsaustausch über das Phänomen harmlos untereinander besprochen hatten, als säßen sie einander in einem Zimmer gegenüber, hatten nicht eine, sondern Dutzende von anderen Empfangsstationen aufgenommen und mehr oder weniger mißverstanden.
Die Abendblätter überboten sich in den übertriebensten Nachrichten. Sie überholten dabei weit die Tatsachen.
»Der Rufzeichenverkehr mit den Venusbewohnern!«… »Bedeutsame Nachrichten von Bewohnern eines fernen Gestirns!«… »Der Besuch von Bewohnern anderer Sterne zu erwarten!«… Diese und ähnliche Überschriften brachten das Publikum in wilden Taumel. Man wurde kaum etwas ernüchtert, als die offiziellen Meldungen der Greenwicher und Berliner Station mitteilten, was wirklich geschehen war.
Als die Signale für Moore und Franke nicht mehr zu vernehmen waren, hatten sie sorgfältig ihre Magnetophonaufnahmen verglichen. Mit größter Spannung erwarteten sie den nächsten Tag, der sie wieder in den Strahlungsbereich jenes Gestirns bringen mußte.
Sie beendeten die Unterhaltung in der festen Überzeugung, daß diese Rufzeichen von Menschen, den Bewohnern eines anderen Weltkörpers, herrühren mußten, die eine Verständigung mit den Bewohnern der Erde suchten. Das war auch der Inhalt ihrer Mitteilung an die übrigen Sternwarten der Welt, die nun ihrerseits, soweit es die Stellung der Gestirne zuließ, die Beobachtungen aufzunehmen versuchten.
Nach vielen überraschenden Ereignissen der letzten Zeit ein neuer Alarm, der die Welt in Atem hielt, bis wieder schlimme Nachrichten von Coiba die Aufmerksamkeit dorthin lenkten.
In der mittelamerikanischen Union war die Zahl der Stimmen, die den von jedem Gelehrten als absurd erklärten Gedanken, Coiba mit Wasser zu löschen, trotz alledem verfochten, immer mehr angeschwollen. Im Bundesparlament häufte sich die Zahl der Interpellationen, die die Regierung drängten, diesen Plan auszuführen. Schließlich gab die Regierung in Panama nach in der Erwägung, wenn auch dieser Versuch wenig erfolgreich sei, so diene er doch zur Beruhigung der erregten Öffentlichkeit.
Keine warnende Stimme wurde gehört. In Verfolgung des Beschlusses wurde ein Expeditionsschiff ausgerüstet, das alles mit sich führte, um den Bau eines Kanals von der See zu der Brandstelle in Angriff zu nehmen. Die Zustimmung aus aller Welt zeigte, daß der weitaus größte Teil des Publikums diesem Plan vollen Beifall zollte. Unter größtem allgemeinem Interesse wurde auf Coiba der erste Spatenstich getan.
Da knallte in die schon genügend verwirrten Köpfe eine Nachricht aus Johannesburg.
Der ›Witwaters Advertiser‹ ein kleinstes Lokalblättchen des Minengebiets, brachte unter seiner Rubrik »Neuestes aus der Umgebung« die in ihrer lakonischen Kürze fast erheiternd wirkende verblüffende Notiz:
»Auf der Werft Mr. William Harrods wurde gestern der Kiel zu einem Raumschiff gelegt, das zur Venus fliegen soll.«
Ein Reporter des ›Pretoria Herald‹, den der Zufall in diese Gegend verschlagen hatte, las die Nachricht und faßte sich an den Kopf. Er dachte bei sich, der Redakteur des ›Witwaters Advertiser‹ habe wohl einen Sonnenstich erlitten, beschloß aber aus einer plötzlichen Laune heraus, bei der Redaktion persönlich anzufragen.
Dort spielte sich gerade eine etwas erregte Szene ab. William Harrod stand vor dem Redakteur, der bleich und zitternd den Zornesausbruch des Gefürchteten über sich ergehen ließ.
Am Morgen des Tages war ein Bote der Redaktion, der im Büro Harrods eine Besorgung zu erledigen hatte, in dem Gebäude umhergeirrt. Er war zufällig in ein Zimmer geraten, das an Harrods Arbeitszimmer stieß und hatte dort in der Hoffnung, daß einer käme, gewartet und dabei eine Unterhaltung zwischen Harrod und Canning mit angehört.
Doch allmählich war ihm der Boden zu heiß geworden. Als da drinnen die Stimmen verstummten, war er hinausgeschlichen, war in die Kneipe geeilt, wo der Redakteur des ›Witwaters Advertiser‹ seinen Whisky zu trinken pflegte, und hatte dem brühwarm alles erzählt.
Zur Belohnung hatte ihm der Redakteur eine mächtige Maulschelle versetzt und ihn väterlich ermahnt, nie wieder zu lauschen. Außerdem sei alles Unsinn, was er gehört haben wolle. Doch unter der Einwirkung weiterer Whiskys hatte er die Nachricht in den ›Advertiser‹ gebracht.
»Einen Widerruf! Sofort in der nächsten Ausgabe, sonst wirst du mich kennenlernen.« Harrods Stimme überschlug sich vor Wut. Unter Tränen versicherte der Redakteur, daß er das tun würde.
Mit einigen Flüchen verließ Harrod die Redaktionsstube. Draußen an der Tür prallte er beinahe gegen einen Fremden, der schnell ein Notizbuch in der Tasche verschwinden ließ, sich mit einer Entschuldigung umwandte und vor Harrod das Haus verließ.
Ein Lauscher? schoß es Harrod durch den Sinn. Verteufelt! Dann wäre alles umsonst.
»Hallo, Sir! Wohin der Weg? Was suchen Sie hier?«
»Oh, Mr. Harrod«, erwiderte der, indem er auf einen Hubschrauber zuschritt, der am Wege hielt. »Nichts Besonderes. Ich kam in Geschäften und fahre jetzt wieder ab.«
»Geschäfte, Sir? Was für Geschäfte?«
»Oh!« Der Fremde schwang sich in sein Flugzeug.
»Halt, Sir!« Die Stimme Harrods klang drohend. »Sie standen vor der Tür der Redaktionsstube. Ich habe Verdacht, daß Ihre Geschäfte…«
Statt einer Antwort rückte der Fremde den Starthebel an. Die Hubschraube fiel an, und der Apparat erhob sich.
»Das Geschäft, Mr. Harrod, war das beste, das ich je gemacht habe. Eine Million ist es mir wert, das Geheimnis von Harrods Werft. Ha, ha…« Seine weiteren Worte verklangen im Rauschen der Motoren.
Es dauerte eine ganze Weile, ehe Harrod den Vorrat seiner Flüche erschöpfte. Schließlich wurde er ruhiger.
Mögen sie es denn wissen, die Narren! Früher oder später erfahren sie’s ja doch. Ich möchte dabei sein, wenn die Bombe in Buena Vista einschlägt.
Er stieß den unglücklichen Redakteur des ›Advertiser‹, den sein Mißgeschick in seine Nähe führte, zur Seite, daß die Wand der Wellblechbude dröhnte.
»Sie können sich den Widerruf sparen! Nicht mehr notwendig! Aber wir sprechen uns noch.« –
Zwei Stunden später riß man sich in Pretoria die Extrablätter des ›Pretoria Herald‹ aus den Händen. Überall auf den Straßen bildeten sich Gruppen und besprachen die neueste Nachricht. Harrods Name war in aller Mund.
»Three cheers for Mr. Harrod!«… »Das Banner der Südafrikanischen Union auf der Venus aufgepflanzt«, lautete die Überschrift der nächsten Ausgabe der Zeitungen. Ein Taumel in der Stadt, der sich über die ganze Union hin fortpflanzte. Harrod war der Held des Tages. Unumwunden hatte er auf die Tausende von Anfragen alles zugegeben. Der Redakteur des ›Witwaters Advertiser‹ machte in diesen Tagen sein Glück. Wochenlang druckte er noch die Zeitungsnummer nach, worin jene erste Nachricht gestanden hatte, um dem Ansturm derer zu genügen, die um jeden Preis diesen historischen Erstdruck erwerben wollten.
Drei Sensationen innerhalb kurzer Zeit: Coiba – die rätselhaften Zeichen von der Venus – der Plan Harrods… Man vergaß fast die folgenschwerste, Coiba, in dem Gedanken an die beiden anderen. Die Zeitungen brauchten sich in diesen Tagen um Stoff nicht zu sorgen –
Es war der Tag, an dem der ›Pretoria Herald‹ seine Nachricht brachte. Ronald Lee kam durch den Park von Buena Vista und wollte nach kurzer Ruhe wieder zu der Werft gehen. Wenn er den Gang der bisherigen Arbeiten überschaute, so kam ihm alles wie ein Märchen vor.
Als wären Zauberhände am Werk, ging der Bau vorwärts. Märchenhaftes Glück für ihn war die Reise hierher. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeitete er auf der Werft. Dann kamen die schönen Stunden im Hause van der Meulens. Unvergeßlich würde ihm stets die Erinnerung an diese reizvollen Abende im Kreise der Familie bleiben.
Hortense – ihr Bild, wie er es damals bei seiner Ankunft in dem Torbogen zuerst gesehen – anders hatte er es sich aus Violets Briefen gemalt. Das Zusammensein am ersten Abend hatte den ersten Eindruck vertieft. Das war nicht die glückliche Braut, das war nicht die stolze Weltdame. Das nervöse Spiel ihrer Mienen, ihr sprunghaftes Wesen, ihre wechselnden Stimmungen… Wo waren die Gründe für diesen Zwiespalt ihrer Natur?
Nicht lange, dann glaubte er sie zu erraten. Jener erste Besuch Cannings hatte ihm einen Blick in das Dunkel gestattet, das über ihrem Wesen lag. Er staunte. Er begriff es nicht, was dieses schöne, junge Geschöpf abhielt, die Last, unter der ihre Seele litt, mit kräftigem Entschluß von sich zu werfen.
Er litt mit ihr. Wie eine Last drückte das Leid ihrer Seele auch ihn. Es drängte ihn innerlich, ihr zu helfen. –
Wie jubelte sein Herz, als Violet ihm den Bruch Hortenses mit Canning mitteilte.
Jetzt erst, befreit von drückender Fessel, bot sie das Bild, wie er sich’s geträumt hatte.
Nicht genug, daß sie sich fast ständig auf dem Werftplatz aufhielt. Jetzt verlangte sie auch von ihm, in die physikalischen Geheimnisse, in alle technischen Einzelheiten seiner Pläne eingeweiht zu werden. Als sie ihm die Bitte vortrug, hatte er gelächelt und es für eine gute Laune genommen. Doch er hatte sich geirrt.
Die abendliche gemütliche Unterhaltung wurde tatsächlich ernster Unterricht. Die überraschenden Fortschritte, die sie machte, zeigten ihm, welch energischer Geist, welch scharfer Verstand in ihr wohnten. –
Als er sich dem Werftplatz näherte, sah ihn Hortense von weitem. Sie kam ihm, eine Zeichnung in der Hand, eilig entgegengeschritten.
»Es stimmt nicht! Es stimmt nicht, Mr. Lee! Die Maße der unteren Aluminiumplatten entsprechen nicht der Bestellung.«
»Sind sie stärker oder schwächer?« fragte Lee halb belustigt, halb ernst.
»Stärker! Beinahe einen Millimeter stärker!«
Lees Blick hing an ihren Zügen. Wie sie da vor ihm stand, in dem weißen Kittel, das Gesicht gerötet von der inneren Erregung, die Augen blitzend – es kostete Lee Mühe, den angenommenen Ernst zu bewahren.
»Der Schaden ist nicht schlimm. Die Differenz in dem Eigengewicht des Schiffes ist zu geringfügig.«
Sie schritten auf den Stapel Platten zu, die hier frisch ausgeladen waren.
»Miß Hortense! Mr. Lee! Señor van der Meulen wünscht Sie sofort zu sprechen.« Der Majordomo stand vor ihnen.
»Hallo, José! Was ist’s?« fragte Hortense.
Der wiegte den grauen Kopf. »Señor van der Meulen war sehr erregt.«
»Nun, eilen wir! Kommen Sie, Mr. Lee!«
Am Eingang des Hauses trafen sie auf Violet, die sich ihnen anschloß. Sie traten in das Arbeitszimmer van der Meulens. Der, als sähe er sie nicht, lief wie ein Rasender auf und ab. Seine Brust ging stürmisch. Sein Gesicht war blaß, die Stirnadern geschwollen.
»Vater!« Hortense eilte zu ihm und legte ihre Hand auf seinen Arm. Dieser, als käme ihm ihre Gegenwart erst jetzt zum Bewußtsein, starrte sie mit wirren Blicken an. Dann wandte er sich zu Lee und schaute ihn an, als wolle er in seinem Innersten lesen.
»Was ist?…« Er schrie es, öffnete seine Faust. Ein zerknülltes Papier. Er glättete es.
»Hier! Da lest! Das Unmögliche, das Unglaubliche!« – Hortense las die Worte, die der Magnetograph aufgezeichnet, die Meldung des ›Pretoria Herald‹. Bei den letzten Worten entsank ihr das Blatt. Ihre Augen gingen zu Lee. Ratlos, wie hilfesuchend blickte sie ihn an. Er schien äußerlich ruhig. Nur seine Augen verrieten, wie die Worte auf ihn gewirkt hatten. Ruhig sprach er:
»Ich würde es für eine Tatarennachricht halten, wäre nicht der Name Harrod damit verbunden.«
»Sie haben recht, Mr. Lee! Harrod! Sein Name! Ich zweifle nicht an dem Ernst der Nachricht. Ich habe nur eine Erklärung. Er hat irgendwie herausbekommen, was hier vorgeht. Er tut’s mir zum Trotz. Er will die Schlappe, die ich ihm vor Jahren versetzte, wieder wettmachen…«
Er stöhnte auf und begann mit großen Schritten hin- und herzulaufen. »Ist’s wahr, William Harrod, dann hast du’s mir mit Zinsen vergolten!«
Lee schüttelte den Kopf. »Unmöglich, Mr. van der Meulen. Bauten wir eine Wasserstoffrakete, würde ich Ihre Erklärung für Harrods Handeln begreifen.«
»Sie haben recht, Mr. Lee! Unmöglich, Vater, daß Harrod oder seine Mitarbeiter die Elektronenenergie in irgendeiner Form beherrschen. Nehmen wir an, die Nachricht wäre in allen Stücken wahr, so gibt’s nur eine Erklärung. Ein anderer, ein Großer muß es sein… einer, dem es in glücklicher Stunde gelang, das Problem zu lösen, hat sich mit Harrod zu diesem Plan verbündet.«
Lee schüttelte den Kopf. »Es muß so sein, wie Sie sagen, Miß Hortense. Keine andere Erklärung… Und doch! Ich kann nicht daran glauben. Keiner, außer Gorm, ist bei dem heutigen Stand der Wissenschaft fähig, das Problem zu lösen…«
Mit einem Ruck blieb van der Meulen stehen. »Gorm…«
»Gorm und Harrod, Mr. van der Meulen – nein!«
»Nein? Nun, wenn nicht Gorm selbst, irgendein anderer, der seine Berechnungen kennt. Wie Gorm sie Ihrem Onkel Jonas gab, könnte er sie doch auch einem anderen mitgeteilt haben.«
Lee stand einen Augenblick überlegend.
»Die Möglichkeit besteht. Ich kenne Gorm nicht. Und doch… das kann ich nicht glauben!«
Van der Meulen machte eine fragende Bewegung. Lee, wie um sich der drängenden, fragenden Blicke, die auf ihm hafteten, zu erwehren, schloß die Augen. Ein tiefer Atemzug. Die graublauen Augen gingen scharf in die Runde. Dann kamen die Worte schroff, hart aus seinem Munde.
»Wer Harrod das Geheimnis der Elektronenkraft gab, hat’s gestohlen!«
»Gestohlen?« schrie Hortense.
»Ja! Gorm oder mir!«
Als hätte ein Peitschenhieb sie getroffen, zuckte Hortense zusammen. Sie starrte Lee an. Der sah zur Seite, wandte sich an Violet, die weinend, hilflos zu ihm drängte und strich ihr leise über das Haar.
Dann sprach van der Meulen:
»Von morgen an arbeiten wir in drei Schichten!«
Lees Augen blitzten auf, kräftig erwiderte er den Handschlag, den ihm van der Meulen bot.
Am nächsten Morgen brachte das offizielle Büro der Regierung der Vereinigten Staaten von Südamerika folgende Meldung:
Infolge der gestrigen Nachrichten aus Südafrika hält die Regierung der Vereinigten Staaten von Südamerika den Zeitpunkt für gekommen, den Bürgern der Südamerikanischen Union die Mitteilung zu machen, daß die Arbeiten Señor van der Meulens, ein mit Elektronenenergie getriebenes Raumschiff zu bauen, so weit vorgeschritten sind, daß das Flugschiff in absehbarer Zeit einen Probeflug antreten wird.
Die Welt verhielt den Atem. Das gestrige unerhörte Ereignis war überholt, übertrumpft. In der Südafrikanischen Union war die Erregung auf Siedehitze gesteigert und überschlug sich fast.
Schwindel! Bluff! Gestohlen! Die Ehre der jungen Nation berührt! Selbst die Gemäßigten sprachen von Anmaßung, verlangten schnelle Untersuchung.
Die Meldungen der offiziellen Büros schienen bestrebt, die Gemüter zu besänftigen, gossen jedoch nur Öl in die Flammen. Sie schlossen mit der Erklärung, daß auf jeden Fall die Priorität auf Seiten der Südafrika-Union wäre und wiesen darauf hin, daß die, die es wagten, ein ähnliches Unternehmen ins Werk zu setzen, die volle Verantwortung dafür zu tragen hätten.
Die Heere von Berichterstattern rannten hier und dort gegen undurchdringliche Mauern… Das war die erste Folge. Die Werft in Johannesburg, die Werft in Buena Vista waren durch stärkste Sicherungsmaßregeln geschützt, im weiten Umkreis zu Luft und Land abgesperrt und von todbringenden Hindernissen umgeben.
Zwei kleinste Lokalzeitungen, in Transvaal der ›Witwaters Advertiser‹ in Gran Chaco der ›Monitore del Vermejo‹, erhoben sich in wenigen Tagen zu Blättern von Weltbedeutung.
Ebenso wie der Botschafter der Südamerikanischen Union in Kapstadt hatte der der Südafrikanischen Union in Buenos Aires einen längeren Besuch im Auswärtigen Amt gemacht. Die Folge davon war, daß die offiziellen Blätter der beiden Regierungen sich über alles, was den Bau der Raumschiffe betraf, ausschwiegen. Die beiden kleinen Lokalblätter waren die Organe der beiden um die Wette bauenden Werften geworden. Sie wurden die Herolde, welche die Taten Harrods und van der Meulens der Welt verkündeten, wobei es häufig geschah, daß die Herolde selbst in argen Streit gerieten und sich mit schärfsten Waffen bekämpften.
Während sich die Welt in den mannigfachsten Vermutungen erging, wie das Wettbauen der beiden Konkurrenten Harrod und van der Meulen enden würde, wer zuerst den Flug zur Venus antreten würde und wer das Rätsel dieser mystischen Nachrichten von dem Nachtgestirn lösen würde, brachte der Berliner Funkdienst folgende überraschende Mitteilung:
»Es ist durch genaue Rahmenpeilungen festgestellt, daß die rätselhaften Zeichen, die von den schwebenden Sternwarten von Greenwich und Berlin aufgenommen wurden, zweifellos von der Venus kommen. Ferner ist es gelungen, den Sinn dieser Zeichen zu ermitteln. Es sind Bildtelegramme in Kartesischen Koordinaten.«
Kopfschüttelnd, ungläubig hörte jedermann diese Kunde. Nur wenige gab es, die überhaupt verstanden, was die Erklärung bedeuten solle. Da kam am nächsten Tag die Radiomeldung aus Berlin, daß in Abänderung des Abendprogramms Professor Franke von der Berliner Warte einen Vortrag über seine Beobachtungen halten werde.
Kaum war jemals ein Vortrag des Rundfunks mit größerer Spannung, größerem Interesse erwartet worden. Es waren Millionen, die in der Abendstunde am Lautsprecher saßen.
»Meine Herrschaften! Die Presse hat sich in der letzten Zeit schon genügend darüber ausgelassen, mit welchen Schwierigkeiten es verknüpft ist, wenn zwei Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen, einander gegenübersitzen und sich verständigen wollen. Es ist das eine tatsächliche Unmöglichkeit. Und doch gibt es Menschen, die imstande sind, diese Unmöglichkeit zu überwinden. Das sind die Leute der den meisten von Ihnen so unsympathischen Wissenschaft, der Mathematik.
Wenn ich die Behauptung aufgestellt habe, daß es uns möglich geworden ist, die Zeichen von der Venus zu entziffern, so werde ich bei dem Versuch, es Ihnen zu beweisen, wohl von vielen schlecht verstanden werden. Doch auf die Gefahr hin, Mißverständnis oder Unglauben zu begegnen, werde ich doch kurz erzählen, wie wir zu der Entdeckung gekommen sind.
Jener Lehrsatz des Pythagoras, den wohl die meisten von Ihnen in Erinnerung haben, gab den Schlüssel, das Geheimnis zu lösen. Die Wesen dort oben – ich möchte hier die bestimmte Vermutung aussprechen, daß sie uns technisch weit voraus sind –, gaben mit ihren Signalen zunächst pythagoreische Zahlen…
Ich gestehe, es dauerte lange, bis wir hinter den Sinn ihrer Botschaft kamen. Doch dann, als wir sie begriffen, sahen wir auch schon den Weg, der zur Verständigung führen mußte. Es gelang uns, auf Wellen von zehn Zentimetern Länge Rücksignale zu geben, die dort oben verstanden und sinngemäß erwidert wurden.
Ich betone, meine Herrschaften, mathematische Zeichen! Für jeden, der damit Bescheid weiß, mußte die zwingende Folge sein, weiterhin Formeln der Kegelschnitte, der Hyperbel, der Parabel zu gehen, und danach diese Kurven Punkt für Punkt in einer Koordinatendarstellung zu senden.
Damit hatten wir die Fundamente, das Material, um in Bildern unsere Gedanken auszutauschen. Ich erinnere Sie an viele in der Kultur hochentwickelte Völker, die ebenfalls nur Bilderschriften hatten.
Eine Verständigung in Bildern!… Ja, da sehe ich bei vielen ein bedenkliches Kopfschütteln. Eine solche Verständigung muß doch im höchsten Grade beschränkt sein. Das ist richtig. Ein Gedankenaustausch, wie er zwischen zwei gebildeten Menschen gleicher Sprache sonst üblich, ist auf diese Weise ausgeschlossen. Jahre würden vergehen, ehe die Verständigung solche Fortschritte machte, daß ein Meinungsaustausch von beiden Seiten möglich wäre.
Und doch erkläre ich, daß es uns zu einer besonderen Genugtuung gereicht, wenn es den Beamten der Berliner Warte gelungen ist, den Schlüssel zu finden, die ersten gegenseitigen Verlautbarungen zu fixieren!
›Wenig!‹ werden viele von Ihnen sagen. Und doch, ich sage es mit Stolz, es ist unendlich viel! Sie alle haben natürlich den lebhaften Wunsch, etwas von dem Inhalt unserer Bildunterhaltung zu hören. Nun, unser Gespräch drehte sich hauptsächlich um Dinge der Technik. Ist doch der Stand der Technik ein Gradmesser für den Stand der Kultur.
Sehr bald war es uns klar, daß die Technik und damit die Kultur bei jenen viel höher entwickelt ist als bei uns. Ich würde zu weit gehen, wenn ich Ihnen das im einzelnen erklären wollte. Wie unendlich sie uns technisch überlegen sind, wird Ihnen klar sein, wenn ich Ihnen folgendes sage:
Die Wesen da oben, ich bezeichnete sie als Menschen wie wir, sind nicht etwa Bewohner der Venus – es sind Menschen, die aus einem anderen Sonnensystem dorthin gekommen sind. Verstehen Sie wohl, nicht von einem anderen unserer Planeten, sondern von einem Planeten eines anderen Sonnensystems.
Denken Sie an unsere jetzigen ersten Versuche, in die Sternenwelt zu fahren. Zum Mond – zur Venus – zum Mars. Fahrten, die nach Lichtsekunden, nach Lichtminuten rechneten… Und jene: wie viele Lichtjahre weit war ihre Fahrt! Uraniden! Menschen, die unter anderem Himmel gewohnt haben. Solche Fahrt hat ein Ziel, das für uns noch in grauer Ferne liegt.
Ich weiß, wie sich jetzt Ihnen allen die Frage aufdrängt: Weshalb kommen sie, wenn sie schon einmal so weit geflogen sind, nicht zur Erde? Hierauf kann ich Ihnen nur unbestimmte Auskunft geben. Die Versuche jener Menschen, uns ihr Schicksal durch Bildtelegramme verständlich zu machen, sind naturgemäß durch die Art dieses Ausdrucksmittels sehr behindert. Was ich Ihnen jetzt sage, beruht nur auf Vermutungen, ein zwingender Beweis dafür ist nicht möglich. Doch glaube ich mit unseren Annahmen nicht fehlzugehen. Zeigte sich doch bei jenen schwer verständlichen Bildern eine gute Übereinstimmung zwischen unseren Deutungen und denen der Kollegen von der englischen Warte. Von beiden Seiten wurden die Zeichen folgendermaßen gedeutet:
Jene Weltenfahrer hatten wohl die Absicht, Gestirne anderer Sonnensysteme zu Forschungszwecken aufzusuchen. Dabei kamen sie zur Venus. Nirgends bisher hatten sie Menschen gefunden. Da, auf der Erde – ihre wunderbar entwickelten optischen Hilfsmittel zeigten es ihnen sicher an –, stellten sie ihnen wesensähnliche Geschöpfe fest… Und da, das Ziel vor Augen, ereignete sich irgendein Unheil… Ich selbst deute die Zeichen dafür als körperliches Versagen der Weltraumfahrer, die englischen Kollegen für eine Beschädigung ihres Raumschiffes.
Das eine oder das andere, vielleicht auch beides zusammen war der Grund, weshalb sie ihre Fahrt nicht fortsetzen konnten.
Vermutungen, meine Hörer! Vermutungen nur! Aber sie erfahren eine gewisse Unterstützung durch den Umstand, daß jene Weltenfahrer ihre Reise tatsächlich nicht fortsetzen. In dieser, wie Sie verstehen werden, prekären Situation muß die Menschheit es aufs lebhafteste begrüßen, daß man jetzt an zwei Stellen der Erde Raumschiffe baut, mit denen sich die Venus erreichen lassen wird.
Wir dürfen also hoffen, in absehbarer Zeit mit diesen uns so überlegenen Wesen in unmittelbare Berührung zu kommen. Unsterblicher Ruhm gebührt dem, dem das als erstem gelingt.
Über die weiteren Folgen will ich schweigen. Jeder von Ihnen kann sich wohl ausmalen, von welch ungeheurem Vorteil sie für uns sein müssen.«
Die Morgenpresse brachte die Ausführungen des Professors Franke mit zahlreichen Kommentaren versehen. Die eine Frage stand in allen Blättern:
Die Uraniden – ihr Wissen, ihre Schätze, wer würde sie gewinnen?
Canning hatte seine Geschäfte in Pretoria erledigt. Die neuen Arbeiter, die er angeworben hatte, waren schon unterwegs nach Johannesburg. Langsam schlenderte er durch die Vorstadt dem Flugplatz zu. Als er an dem Viertel vorbeikam, in dem die Exoten wohnten, sah er an einer Straßenecke eine kleine Menschenansammlung.
Neugierig schritt er darauf zu. Ah! In einem Kreis von braunen, schwarzen, gelben Zuschauern hockte ein Inder, ein Schlangenbeschwörer. Erinnerungen an Bilder, die er in Indien gesehen hatte, tauchten in ihm auf.
Ein alter Mann, den Kopf vom Turban umhüllt, saß mit gekreuzten Beinen auf der Erde. Vor ihm tanzten nach dem Klange der Flöte, die der Alte spielte, zwei kleine Schlangen. Canning wollte weitergehen, da – er verhielt seinen Schritt –, der Alte hatte die Flöte abgesetzt und hielt bettelnd einen Teller den Zuschauern hin.
Das Gesicht! Canning überlegte. Wo hatte er das schon gesehen… Es war ihm doch bekannt? Er ging ein paar Schritte zur Seite und stand wartend. Nach einer Weile erhob sich der Inder. Die Umstehenden zerstreuten sich. Der Alte hängte sich den Schlangenkorb um und ging.
Sarata?! In dieser Situation? Noch vor kurzem war es ganz anders. Wo war das Mädchen? Dieser Wechsel, dieses Hinabsinken zum Straßengaukler… Und doch! Er mußte es sein!
Er folgte ihm. An einem menschenleeren Platz trat er neben ihm.
»Sarata?«
Der Alte wandte sich mit einem Ruck um, starrte Canning an.
»Sarata! Sind Sie es? Erkennen Sie mich nicht wieder?«
Der Alte schloß die Augen. Canning sah, wie er angestrengt nachdachte.
»Sie waren doch in meinem Hause. Sie gaben dort eine Vorstellung…«
Der Inder ließ die Hand sinken, schaute prüfend in Cannings Gesicht. Der Ausdruck seiner Augen verriet, daß die Erinnerung zurückzukehren begann.
»Mr. Canning! Ah! Ich weiß, Sie waren bei mir in der großen Stadt, die am Meere lag. Luden mich ein, zu Ihnen zu kommen. Ja! Ich weiß, weiß alles.«
»Aber warum sind Sie jetzt allein? Wo ist Majadevi, Ihre Enkelin?«
»Majadevi?… Enkelin?« Der Inder machte eine lächelnde Grimasse. »Sarata hatte nie eine Enkelin. Majadevi? Ich kenne sie nicht, habe sie nie gekannt.«
Der Alte ist betrunken, dachte Canning im stillen. Suchte nach einem Wort, sich zu verabschieden. Sarata, als errate er seine Gedanken, drängte näher an ihn heran.
»Wir saßen in dem schönen, hellen Gemach. Sprachen… wissen Sie noch…« Er hob den Finger. Sein Lachen klang halb verschmitzt, halb blöd. Fast wie ein Irrer sprach er und sah sich dabei scheu um, als fürchte er, belauscht zu werden. »Der Mann… wissen Sie… der Mann…«, seine Stimme klang heiser gedämpft, er deutete zum Himmel, »der da oben war… Sie wollten wissen, wie er aussah… wo er war. Ich kenne ihn auch, Sie wissen es«, setzte er mit wichtigtuender Miene hinzu.
»Ja, ja. Ich weiß! Doch es ist gut.« Er griff in die Tasche nach einem Geldstück, wollte es dem Alten geben und fortgehen. Der hielt das Geldstück in der Hand, betrachtete es und schüttelte den Kopf.
»Zu wenig, Señor! Zu wenig! Sie müssen mir mehr geben, viel mehr… Sarata weiß es jetzt, weiß, wo der wohnt… Sarata war bei ihm…«
Das rätselhafte Benehmen des Alten! Sein Geist mußte stark verwirrt sein. Alles törichtes Gerede! Canning griff nochmals in die Tasche. Er hatte nur den einen Wunsch, den Alten loszuwerden.
Da fing der wieder an. »…Sarata weiß auch, was er jetzt macht… Saratas Augen haben gesehen das schöne, große Schiff…« Er reckte sich auf, deutete zum Himmel. »Dorthin will er… alles ist fertig.«
Cannings Augen bohrten sich in die des Alten und suchten darin zu lesen, was wahr, was leere Worte seien.
»So sagen Sie es doch! Wo ist Gorm? Was tut er?«
Der Inder zuckte bei dem Namen zusammen. In seinen Augen blitzte es auf. Seine Stirn zog sich kraus.
»Ja! Ja!« stieß er heiser heraus. »Gorm? Ja! So hieß er… Und der andere, der immer bei ihm ist…?«
»Sie meinen Stamford?«
»Ja, ja, Stamford! So heißt er, ein schönes Schiff haben sie sich gebaut. Sie wollen weg! Weg von der Erde. Weit geht ihre Fahrt…«
Canning überlegte kurz. Die Mitteilungen des Alten, so unsinnig sie ihm auch vorkamen, erregten sein Interesse. Länger hier zu bleiben, gestattete ihm seine Zeit nicht. Was tun? Sarata mitnehmen? Wenn sich herausstellte, daß mit dem Alten nichts anzufangen war, konnte er ihm ja immer wieder den Laufpaß geben.
»Ist Majadevi auch hier?« fragte er.
»Majadevi?« Sarata schaute ihn fragend an. »Wer ist Majadevi?«
»Willst du mich zum besten haben? Du bist betrunken. Majadevi, deine Enkelin… das Medium, mit dem du umherzogst. Sie war doch mit in meinem Hause. Sie entfloh oder wurde geraubt…«
»Majadevi? Majadevi?« Der Inder schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht… weiß nur… in Ihrem Hause… Ich hatte etwas… es war ein kostbarer Schatz. Ich verlor ihn, er wurde mir gestohlen, zwei Männer raubten ihn mir…«
»Sarata! Was ist Ihnen? Wissen Sie das alles nicht mehr? Wissen Sie nicht mehr, daß Gorm und Stamford Majadevi mit sich nahmen?«
Durch die Gestalt des Alten ging ein Zittern. Er faßte Cannings Arm, klammerte sich daran.
»Der Schatz, der mir geraubt… Majadevi!… Das Mädchen…«
Seine Augen begannen plötzlich zu rollen. Ein unheimliches Feuer glühte darin. Die Fäuste geballt, die Zähne aufeinandergebissen, stand er da, als wollte er sich auf irgend jemand stürzen. Zischend kamen die Worte von seinen Lippen. »Ja! Gorm… Stamford, sie raubten mir den Schatz… Majadevi. Ah, jetzt weiß ich’s wieder… jetzt weiß ich’s wieder. Dieser Mensch… Stamford!… Ah, ich weiß nicht, ob ich den mehr hassen muß oder den anderen. Und jetzt, jetzt weiß ich auch wieder das andere. Gorm raubte mir Majadevi – und Stamford raubte mir das Gedächtnis, er störte meine Sinne… er verriegelte die Erinnerung, als ich, bezwungen von ihm, wehrlos dalag. Er bezwang mich, der Blonde bezwang mich, Sarata, den Jogi…«
Canning stand ratlos. Was war das alles? Was sprach der für unverständliche Dinge? Ein paar Vorübergehende, denen das sonderbare Benehmen des Inders auffiel, blieben stehen und schauten spöttisch lächelnd auf die Gruppe.
Der Szene muß ein Ende werden, sagte sich Canning. Ich nehme ihn mit! Er ergriff Saratas Arm und rief einen vorüberfahrenden Wagen an: »Zum Flugplatz!«
Wieder lag Coiba im Brennpunkt des Interesses. Wieder waren aus allen Zonen Scharen von Berichterstattern und Neugierigen dorthin gekommen. In der Voraussicht dieses Zustromes hatte man die umfassendsten Vorsichtsmaßregeln getroffen.
Der Kanal vom Meer zu dem Brandherd war vollendet. Ein schmaler Betondamm hielt die Wogen des Ozeans noch zurück.
Der Kanalbau! Ein kleines Stück nur vom Wasser zum Feuer. Man hatte allgemein geglaubt, in kurzer Zeit würde er fertiggestellt sein. Zehn Meter breit, zehn Meter tief, kaum hundert Meter lang. Die Arbeiten, mit den modernsten Maschinen ausgeführt, schienen ein Kinderspiel! Auch die Bauleitung hatte mit einer knappen Spanne gerechnet.
Doch da kam die Überraschung. Kaum war man einige Meter in die Tiefe vorgestoßen, da wurde die Temperatur immer höher, schließlich unerträglich. Es zeigte sich, daß der Boden stark metallisch durchsetzt war. In den Erzadern hatte sich der Brand wie in einer Lunte fortgepflanzt.
Das Betreten der Baugrube wurde für Menschen trotz aller Schutzmaßnahmen, wie Bleimäntel und dergleichen, unmöglich. Der Boden war an den heißen Stellen im höchsten Grade radioaktiv. Die Strahlungen riefen schwerste Gesundheitsschädigungen, ja Todesfälle hervor. Die Arbeitsweise mußte daraufhin vollkommen geändert werden. Selbst wenn man in dieses brennende, strahlende Gestein Bohrlöcher in der üblichen Weise hätte treiben können, wäre es doch unmöglich gewesen, sie mit Sprengstoffen zu laden. Jeder bekannte Explosivstoff detonierte von selbst, sowie er in den Bereich dieser Strahlung kam.
Die Arbeiten wurden ausgesetzt, bis neue Maschinen und Hilfsmittel zur Stelle waren. Das dauerte geraume Zeit. Der Plan war, von niedrigstehenden Hubschraubern aus die Kanalsohle mit starken Sprengstoffbomben zu bearbeiten. War eine genügende Bodenmenge zertrümmert, griffen elektrische Baggermaschinen, die an den Hubschraubern hingen, die Geröllmassen und transportierten sie sofort ins Meer ab.
Fast die ganze Gelehrtenwelt stand kopf, als dies Verfahren bekannt wurde. Nach ihrer Meinung wurde gerade das Gegenteil von dem erreicht, was man beabsichtigte. Der infizierte Boden, an andere Stellen transportiert, mußte auch dort seine verderbliche Wirkung ausüben. Doch vergeblich waren ihre Mahnrufe. Alle Welt klammerte sich an das alte Gesetz: Feuer wird mit Wasser gelöscht.
Die Bauleitung selbst erlebte auch bald eine unangenehme Überraschung. Sorglos hatte man das ausgebaggerte Material nicht weit von der Küste in das Meer versenkt. Je mehr es wurde, desto stärker wurde auch der Wasserdampf, der Nebel, der sich an der Oberfläche des Wassers bildete.
Man transportierte das Material weiter in den Ozean hinein, suchte tiefste Stellen für seine Versenkung. Nicht lange, und auch dort gab es dasselbe Resultat. Es wurde der Bauleitung einigermaßen bedenklich zumute. Das zuerst versenkte Material schien keineswegs durch den Ozean gelöscht zu werden. In unverminderter Stärke lagen die Wasserdämpfe über jener Stelle.
Dabei gingen die Arbeiten nur langsam voran. Das Material der Baggergreifer nutzte sich auffallend schnell ab. Ganze Schiffsladungen von Ersatzteilen mußten herbeibeordert werden.
In die Presse war von alledem nicht allzuviel gedrungen. Man hatte, angeblich aus Sicherheitsgründen, die Arbeitsstellen nach allen Seiten hin in weitem Kreise abgesperrt.
Endlich war es gelungen, den Kanal so, wie er projektiert war, fertigzustellen. Einladungen an alle möglichen Regierungen waren ergangen. Doch nur wenige hatten einen Vertreter gesandt. Wirklich vollzählig waren nur die der Bundesstaaten des Isthmus. Vollzählig war natürlich auch die Schar der Vertreter der Presse und der Radioagenturen. Die Sendestationen befanden sich in hoch im Äther stehenden Hubschraubern, da in geringen Höhen die radioaktive Strahlung des Brandherdes die Kurzwellen der Sender unwirksam gemacht hätte. –
Ein klarer, heller Sommertag. Weithin war die Sicht nach allen Seiten. Nur da, wo die Geröllmassen im Ozean versenkt waren, lagerten dichte Nebelschwaden über der Oberfläche.
Die elfte Morgenstunde. Ein Zeichen der Bauleitung, daß der Luftraum für die Flugzeuge freigegeben werde. Wenige Minuten vergingen, und wie Heuschrecken schossen die Flugzeuge von allen Seiten herzu. Kaum, daß sie zur Ruhe gekommen waren, erfolgte ein zweites Zeichen. Alle Augen waren auf den Damm gerichtet, an dem sich die Wasser des Pazifik im Höchststand der Flut brachen.
Ein Schüttern, ein Zittern. Die starke Betonwand geriet ins Wanken, stürzte, von der Sprengladung zerrissen, zusammen. Über die Trümmer hinweg brachen die Wogen des Ozeans in den Kanal. Das ganze Schauspiel währte nur Sekunden.
Vergeblich suchte das Auge noch etwas zu erhaschen. Riesige Mengen von Wasserdampf entströmten dem Erdboden, wurden dichter und dichter, ballten sich zu Nebeln, stiegen in die Höhe, breiteten sich aus. Nach ein paar Stunden waren der Ozean, die Insel unter einer undurchdringlichen Dampfwolke verborgen.
Die Phalanx der Beobachtungsflugzeuge bröckelte immer mehr ab. Der Blick auf die beiden Nebelbänke im Pazifik gab zu denken. Wie lange konnte es dauern, bis der Brand gelöscht, die Nebel verschwunden waren? Nur die Zeit konnte die Antwort darauf geben. Doch je länger es dauerte, desto größer wurde die Zahl der Stimmen, die begannen, das Unternehmen in Grund und Boden zu verdammen. Die Ansicht der Gelehrten bekam von Tag zu Tag mehr Anhänger.
Der Brandherd wurde der Herd ungeheurer Wolkenbildungen. Der Wind trieb sie zum Festland, wo sie ihre Wassermassen in katastrophalen Regengüssen entluden. Es traf alles ein, wie es die Wissenschaft vorausgesagt hatte. Die Existenz der Staaten des mittelamerikanischen Isthmus schien aufs ernsteste bedroht.
Wie immer suchte man nach einem, auf den man die Schuld abwälzen konnte. Keiner, die Bauleitung eingeschlossen, wollte die Verantwortung auf sich nehmen. Das Drama wurde zur Tragikomödie, als sophistische Ankläger auftraten, die auch hierfür Gorm verantwortlich machten.
»Da ist er schon wieder… der Kerl!« Tim Broker holte ein Fernglas aus dem Haus und trat hinter einen Schuppen, wo er nicht gesehen werden konnte. Das Glas auf die nördliche Felswand gerichtet, murmelte er vor sich hin.
»Er nimmt immer denselben Weg, den der alte Inder benutzte, ich dachte auch zuerst, er wäre es wieder… doch er ist es nicht. Dieser hier ist viel größer… Dreimal war ich schon hinter ihm her, konnte ihn aber nicht einholen. Wäre vielleicht doch besser gewesen, ich hätte ihm eine Kugel nachgeschickt. Gutes hat der Kerl sicher nicht im Sinn.«
»Hallo, Tim!« Stamford war neben ihn getreten, klopfte ihm auf die Schulter. »Was suchst du so eifrig?«
Statt einer Antwort ergriff Broker Stamfords Arm und zog ihn hinter die Schuppenwand.
»Gut, daß Sie kommen, Doktor. Hier mein Feldstecher. Nehmen Sie ihn schnell, sehen Sie auf den Weg an der Felswand… Nehmen Sie ungefähr die Stelle, wo ich den alten Inder damals mit dem Lasso fing.«
»Ein Mann? Ich sehe ihn. Was hat er vor? Was denkst du? Der Pfad wird selten begangen, aber Hirten, die zu ihren Herden gehen, benutzen ihn zuweilen.«
»Es ist jetzt schon der zweite Tag, daß ich den da oben umherstreifen sehe. Das erstemal begegnete ich ihm gestern morgen, als ich selbst auf dem Weg ging. Da fiel er mir nicht besonders auf. Als ich ihn aber nachmittags wieder da oben sah, hatte ich Verdacht… Ich stieg nach oben. Als ich ankam, war er verschwunden. Auch heute morgen sah ich ihn. Er war schon den steilen Richtweg, der hier zur Werft führt, ein gutes Stück heruntergeklettert. Ich pirschte mich vorsichtig an ihn heran und war schon auf kurze Entfernung bei ihm, da sah er mich und nahm Reißaus. Seitdem habe ich den Weg an der Wand ständig beobachtet… Sehen Sie, jetzt ist er am Richtweg und klettert herunter.«
Stamford eilte in das Haus und holte ein scharfes Fernglas. Kaum hatte er es auf den Mann gerichtet, stieß er einen Ausruf der Überraschung aus.
»Wär’s möglich? Awaloff? Er müßte heimlich aus Suru entwichen sein. Aber wie hat er den Weg zu uns entdeckt? Was will er hier? Doch einerlei! Wir müssen ihn festhalten. Ich werde den Felsenpfad vom unteren Tal her überwachen. Du wartest eine Weile, bis ich ungefähr dort sein kann. Dann steigst du den Richtweg hinauf. Bleibt er stehen, nimmst du ihn mit herunter zur Werft. Läuft er fort, muß er mir begegnen.« –
Stamford war auf seinem Platz angekommen und ging langsam den Felspfad hinab. Als er um eine Ecke bog, sah er Awaloff eiligen Schrittes auf sich zukommen. Stamford überschaute die Lage. Sie war nicht ganz ungefährlich. Leistete Awaloff Widerstand, so war es leicht möglich, daß einer den steilen Hang hinunterstürzte. Er wollte es mit einer Überraschung versuchen. Schnell trat er zurück und wartete, bis er Awaloffs Schritte hörte. Dann trat er hervor und tat, als begrüße er einen Bekannten. Er zog den Hut, verbeugte sich.
»Ah, guten Tag, Herr Awaloff. Ich begrüße Sie. Sie wollen, wie ich vermute, Herrn Gorm besuchen…«
Der andere hatte ihn bei den ersten Worten angestarrt wie ein gehetztes Tier. Er hatte sich zurückwenden wollen, um zu fliehen. Doch je länger Stamford sprach, desto ruhiger wurde er. Als er sagte, Gorm erwarte ihn mit Freuden, lief ein heller Schimmer über sein Gesicht. Harmlos ergriff er Stamfords Hand, die er ihm entgegenstreckte, und trat zu ihm.
»Kommen Sie, Herr Awaloff! Dieser Weg ist bequemer.« Stamford schob im Vorwärtsschreiten seinen Arm unter den Awaloffs und ging mit ihm auf den Felsweg zu. Er hatte wohl bemerkt, wie Awaloffs Gesicht sich bei dem Namen Gorm verklärte. Danach richtete Stamford sein Verhalten. Während er mit Awaloff plauderte, fiel immer wieder der Name Gorm von seinen Lippen.
So kamen sie zur Werft. Gorm trat eben aus dem Haus, als sie anlangten. Kaum hatte Awaloff ihn gesehen, stürmte er auf ihn zu und sprudelte eine Menge von Worten heraus, die unverständlich blieben. Es war ein Durcheinander von englischen und russischen Lauten.
Gorm runzelte die Brauen und schaute unwillig auf Awaloff.
»Was soll das?« fragte er, »wie kommt der hierher?«
Stamford erzählte ihm die Beobachtungen Tims, wie er dann durch das Glas Awaloff erkannt und ihn hierhergebracht hatte. Gorm bedeutete Awaloff, sich auf die Bank vor der Tür zu setzen, und ging mit Stamford abseits.
»Er muß aus Suru entwichen sein. Schon gestern, sagte Tim, habe er ihn gesehen? Ich wundere mich, daß noch keine Nachricht aus Suru da ist.«
Stamford nickte.
»Unmöglich, daß er hierbleiben kann. Wir müssen ihn wieder zurückbringen. Nicht allein, daß wir uns unnötige Schwierigkeiten auf den Hals laden, sein krankhafter Zustand dürfte auch auf Majadevi ungünstige Wirkungen haben. Ich fürchte nur, es wird nicht leicht sein. Der einzige, der irgendwelchen Einfluß auf ihn hat, sind Sie, Gorm. Versuchen Sie’s zunächst mit Güte.«
Sie wandten sich um und gingen auf Awaloff zu. Der, als ahne er schon, was sie beschlossen, kam ihnen entgegen, die Hände bittend ausgestreckt.
»Hierbleiben, hierbleiben, bei dir bleiben! Bei dir ist es gut… die bösen Geister, sie fürchten dich… sie können nicht zu mir kommen… können mich nicht quälen… Ich soll immer schwimmen…« Er machte mit ausgebreiteten Armen heftige Bewegungen. »…Immer muß ich schwimmen in dem großen Meer, nicht zurück! Hierbleiben… bei dir bleiben!«
Gorm wandte sich zu Awaloff und sprach langsam.
»Sie müssen sich gedulden, Freund Awaloff. Hier oben können Sie nicht bleiben. Sie müssen noch warten. Später werden Sie zu uns kommen. Jetzt müssen Sie zurück zu den frommen Männern.«
Von der Werft her kam Majadevi und ging dem Hause zu. Gorm verstummte, wechselte einen Blick mit Stamford. Sie schauten beide zu dem Mädchen, wollten warten, bis sie ins Haus getreten sei. Doch sie hielt an, ließ sich auf der Bank nieder, auf der Awaloff eben gesessen.
»Kommen Sie, Awaloff!« Gorm sprach es mit strenger Stimme. »Sie müssen jetzt gehen.«
»Nein! Nein!« schrie der, hob verzweifelt die Arme empor, »nicht von dir fort! Du bist der Starke. Bei dir ist es gut!«
Flehend gingen seine Blicke von Gorm zu Stamford. Der schüttelte den Kopf.
»Unmöglich, Gorm! Er kann nicht hierbleiben.« Er tat einen Schritt vor, als wolle er ihn am Arm ergreifen. Awaloff sprang zurück. Seine Augen gingen umher, als suche er ein Versteck, einen Zufluchtsort. Da sah er Majadevi. Mit ein paar wilden Sprüngen eilte er zu ihr hin.
Die beiden anderen erschraken… Was würde jetzt kommen? Sie wollten ihm nach. Da war Awaloff schon bei ihr, sank zu Boden, umklammerte Majadevis Knie. Wirre, stammelnde Bitten kamen aus seinem Munde.
Gorm glaubte schon den Aufschrei der Erschreckten zu hören. Doch ihre Hände hoben sich, strichen Awaloff das wirre Haupthaar aus der Stirn. Die verzerrten, schrecklichen Züge des Mannes glätteten sich, der angstvolle Blick wurde ruhiger. Er begann zu sprechen… leise, zart. Russische Worte kamen von seinen Lippen. Majadevi hob den Kopf, das Ohr geneigt, als sauge es wohlig die vertrauten Laute der Muttersprache ein.
Die beiden anderen waren stehengeblieben. Was sollten sie tun? Awaloff wegreißen? Sie hatten das Herz nicht dazu –
Jetzt sprach das Mädchen zu Awaloff, auch in russischer Sprache. Awaloff hob den Kopf, ein unendlich glückliches Lächeln lag in den verwüsteten Zügen. Tränen rollten aus seinen Augen. Er küßte ihre Hände immer wieder und sank zu Boden. Wie ein Hund legte er sich zu Füßen Majadevis nieder.
»Warum wollt ihr den armen Mann fortjagen? Er ist kein böser Mann. Ich fürchte mich nicht vor ihm. Er ist gut und lieb. Ich habe viel Mitleid mit ihm…«
Sie sah Gorm bittend an. »Sie werden ihn nicht fortschicken, nicht wahr, Sie werden es nicht tun. Auch Sie nicht, Mister Stamford. Lassen Sie ihn hierbleiben. Er ist groß und stark. Er wird euch helfen und mich beschützen, wenn ihr fortgeht.«
Gorm und Stamford tauschten einen nachdenklichen Blick.
»Wer wird dich allein lassen, Majadevi?« Gorm trat näher an sie heran, ergriff ihre Hand. »Ich? Nein! Wo ich bin, wirst du sein. Ich werde dein Beschützer sein.«
Sie streckte ihm beide Arme entgegen, nahm seine Hände, legte ihr Gesicht daran. »Ich soll immer bei Ihnen bleiben? Oh, das ist schön, ich bin glücklich, immer bei Ihnen bleiben…«
»Bei Ihnen bleiben…« Awaloff richtete sich hoch. »Ich will auch bei Ihnen bleiben…« Er ergriff Majadevis Hand.
Die Augen des Arztes waren keinen Moment von Majadevi gewichen. Vielleicht war dies ein Weg, der schneller, leichter zum Ziel führte, Majadevi gesunden zu lassen. »Ich glaube, Gorm, es dürfte in der Tat das beste sein, wenn wir Awaloff hier lassen, wenigstens für die nächste Zeit. Es hat den Anschein, als könne er…«, seine Augen deuteten auf Majadevi, »…hier günstig wirken. Irgendeine Beschäftigung wird es ja für ihn geben. Sie kann auch für ihn gute Folgen haben.«
»Aber später?« fragte Gorm, zur Seite gewandt.
Stamford zuckte die Achseln. »Das wollen wir der Zeit überlassen.«
Der Schrecken wütete in Mittelamerika. Das Land war von Regengüssen überschwemmt. Jeder Betrieb stockte. Die Felder waren in morastige Sümpfe verwandelt, die Ernten vernichtet. Krankheiten und Hungersnot herrschten. Das waren die Folgen jenes verhängnisvollen Experimentes. Ein großer Teil der Bewohner hatte schon die Hoffnung aufgegeben, daß es dort jemals wieder anders werden könnte und war ausgewandert.
Nicht besser, sondern schlechter wurde es von Tag zu Tag. Nur unter dem Licht stärkster Scheinwerfer konnten die Schiffe noch die Kanäle von Panama und Nicaragua passieren… Auswandern! Noch gab es Platz genug in der Welt. Aber wie, wenn der Brand sich immer weiter ausdehnte, die beiden Kontinente ergriff? –
Der Bau der beiden Raumschiffe in Transvaal und im Gran Chaco ging weiter. Ihr Flug, eine interessante Studienfahrt bisher, konnte jetzt das Mittel werden, die Erdbewohner zu neuen, sicheren Wohnstätten zu bringen, wenn wirklich einmal das Ende der Erde kommen sollte: Mit doppeltem Interesse blickten aller Augen jetzt auf jene beiden Werften, auf denen die Raumschiffe gebaut wurden. Doch nur wenig von den Fortschritten der Bauten drang in die Öffentlichkeit. Kühne Reporter überflogen wohl die Werften und fotografierten, was sich mit Fernlinsen erraffen ließ.
Doch die Ausbeute war karg. Man sah nur immer wieder die Granatenform der Schiffskörper, mehr nicht. Auf alle erdenkliche Weise versuchte man Spione einzuschmuggeln, die mit verborgenen Miniaturapparaten interessante Bilder aufnehmen sollten. Die Abwehrsysteme auf beiden Werften funktionierten so tadellos, daß jeder Versuch scheiterte. In der Hauptsache gegen eine Spionage der Konkurrenzwerft eingerichtet, fand diese Organisation ihre stärkste Betätigung gegen die neugierigen Pressevertreter. –
Canning kam von der Werft und schritt dem Verwaltungsgebäude zu. Oben am Fenster stand Harrod und winkte ihm. »Schnell, Mr. Canning! Ich habe etwas für Sie.« Er eilte die Treppe hinauf. Da stand Harrod. »Was ist’s? Etwas Neues aus Buena Vista?«
Harrod nickte und deutete auf das Nebenzimmer. Seine Stimme sank zum Flüsterton.
»Shelton ist zurück. Eben werden die Aufnahmen von seinem Körper da drin gemacht. Glänzend, Ihre Idee! Das Fotografieren auf dem Körper. Das Resultat seiner Reise übersteigt alle meine Erwartungen. Sein Bericht ist so günstig wie möglich. Ich beschäftige Shelton schon jahrelang. Er ist unbedingt zuverlässig. Ein tüchtiger Techniker nebenbei. Wir haben den Vorsprung drüben nicht nur eingeholt, wir sind ihnen schon voraus. Wenn nicht etwas Besonderes eintritt, werden wir zuerst starten.«
Triumphierendes Lachen in Cannings Gesicht. »Das wäre ja wirklich über alle Maßen erfreulich, ich bin auf die Fotos gespannt.«
Ein Diener trat ein und brachte einen Stoß Briefe. Ein großes Kuvert mit dem Staatssiegel war dabei. Harrod öffnete es zuerst.
Er lachte. »In Kapstadt beginnt man endlich zu begreifen, daß unser Werk mehr bedeutet als einen wissenschaftlichen Sport.« Er las weiter. »Und hier… Hören Sie, Mr. Canning! Man stellt die Unterstützung der Regierung in pekuniärer und moralischer Form in Aussicht. Hält es für wünschenswert, wenn wir die Vorbereitungen für den Bau weiterer Schiffe treffen. Nun, ihre Ratschläge kommen post festum. Immerhin ist es nicht von der Hand zu weisen, daß sich die Regierung hinter uns stellt. Man weiß ja nicht, was die Zeit noch bringen wird.«
»Weiter nichts?« fragte Canning.
»Doch! Hier! Eine private Mitteilung des Staatssekretärs, daß Ihrer Aufnahme als Staatsbürger der Südafrikanischen Union nichts im Wege stehe, der Bürgerbrief Ihnen demnächst zugehen werde. Mein Gedanke, daß Sie südafrikanischer Bürger werden müßten, ist unbedingt richtig. Unser ganzes Unternehmen bekommt einen anderen, für die Volksmeinung besseren Anstrich, wenn alles als reine Leistung südafrikanischen Geistes und südafrikanischer Arbeit erscheint. Warten wir deshalb noch die kurze Zeit, bevor wir Ihren Namen als den des Erfinders der Öffentlichkeit bekanntgeben.« –
»Endlich!« fuhr es Canning heraus. »Diese ewige Plackerei mit Kleinigkeiten! Die drei Tage Urlaub mußten schwer erkämpft werden. Harrods Vertrauen zu seinen Konstrukteuren scheint doch nicht so groß zu sein. Er möchte mich am liebsten hier festketten. Und dabei ist alles so gut im Fluß, daß es auch ohne mich geht.«
Er begab sich in den oberen Teil des Hauses.
»Fertig, Sarata?« rief er in das halbdunkle Gemach.
Der Inder sprang auf.
»Fertig, Mr. Canning. Schon lange. Ich fürchtete schon, wir kämen zu spät. Ich fragte sie, rief nach ihr, und sie…« Er richtete sich hoch auf, Stolz auf dem häßlichen Gesicht. »Sie hörte meine Stimme über Meere und Länder hinweg. Majadevi ist noch auf der Erde. Wo sie ist, ist Gorm.«
»Erfuhrst du mehr? Deine wunderbare Kraft, vermochte sie nicht mehr?«
Sarata schüttelte den Kopf. »Nein! Nur kurz war die Spanne. Stamfords Riegel verschloß sie wieder…«
Ein paar Minuten später saßen sie in Cannings Privatflugzeug. Auf dem Flughafen von Bombay landeten sie. Canning entließ den Piloten. Allein mit Sarata setzte er den Flug fort. –
Der nächste Abend. Die Sonne war hinter den Schneegipfeln des Himalaja versunken. Schon seit zwei Stunden kreuzten sie in Höhen, die das Geräusch der Turbinen nicht zur Erde dringen ließen. Sie waren selbst für schärfste Gläser nicht sichtbar.
»Es wird Zeit, Mr. Canning, herunterzugehen. Den letzten Rest des Tageslichts müssen wir ausnutzen.«
In kurzen Spiralen senkte sich das Flugzeug langsam herunter. Der Inder saß am Boden neben dem Auswurfsloch. Canning, ein scharfes Nachtglas vor den Augen, starrte auf die im Dämmer liegende Landschaft. Mit Hilfe des Glases konnte er alle Einzelheiten unten erkennen.
Da stand das Wellblechhaus, in Bungalowart errichtet. Ein paar Schuppen daneben. In einer kleinen Senke lag die Werft und das Raumschiff. Deutlich erblickte er die Formen des Baues. Sie unterschieden sich kaum von denen in Harrods Werft.
Verflucht, daß das alles so eng zusammengedrängt war. Unmöglich, das Haus zu vernichten und die Werft zu schonen. Was hätte er darum gegeben, das Schiff von der Erde aus zu sehen, seine Einzelheiten zu studieren.
»Es ist Zeit, Mr. Canning!« zischte ihm der Inder mit heiserer Stimme zu. »Sonst sehen sie uns, entrinnen zu guter Letzt noch. Noch sind sie alle im Hause. Wir sahen sie doch genau.«
Canning zögerte immer noch. Die Werft betreten, das Raumschiff sehen… Wie hatte Gorm die Energie gemeistert? Wie hatte er die strahlenden, das Schiff treibenden Flächen angeordnet?
»Es tritt einer aus dem Hause!« schrie der Inder, »zu spät, wenn nicht…«
Mit einem Sprung war Canning bei ihm, schob einen Sicherungsflügel zurück. Vom Kiel der Maschine löste sich ein großes, dunkles Gebilde, mit der anderen Hand riß er am Hebel der Vertikalsteuerung. Jäh schoß das Schiff nach oben.
Da! Die Riesenbombe schlug am Boden auf. Eine riesige Feuersäule stieg hoch, die nach allen Seiten hin ihre Flammen warf. Dunkle Brocken dazwischen. Schwere, dicke Qualmwolken, die nach allen Seiten auseinandergetrieben wurden, sich mit rasender Schnelligkeit ausdehnten, alle Sicht verbargen.
»Die Bombe saß.« Frohlockend rief es der Inder, sprang zum Fenster, starrte hinaus. Ein heftiger Stoß warf ihn zurück. Er taumelte, stürzte. Canning, der sich festhalten wollte, fiel über ihn.
Das Flugzeug, von einem Orkan ergriffen, kam aus dem Gleichgewicht, schwankte heftig… Eine Bö, die es von der Seite her packte, warf es in rasenden Wirbeln auf die eisbedeckten Felsgipfel zu.
Im letzten Augenblick raffte sich Canning auf, stürzte zur Steuerung… ein paar Griffe. Allmählich gehorchte das Flugzeug dem Steuer, hob sich langsam. Schon waren die drohenden Felszacken vor ihm, da riß eine letzte verzweifelte Anstrengung seiner Hubschraube es noch eben über den Felskamm hinweg.
»Gerettet!« Die blutleeren Lippen Cannings flüsterten das Wort. »Gerettet! Und die andern?«
Ein Schauer überrieselte ihn. Das Bild seiner Fahrt über den Atlantik tauchte vor ihm auf. Der Name Awaloff drängte sich auf seine Lippen. Sein starker Wille hatte es vermocht, die Erinnerung auszulöschen. Zum ersten Male seit langem, erschüttert von dem Erlebten, war sein Geist schwach geworden, ließ die alten Bilder wieder über die Schwelle der Erinnerung treten.
Sein Blick ging zu Sarata, der, noch halb betäubt von dem Sturz, fragend um sich starrte.
»Wo sind wir? Was ist?«
»Wir fliegen nach Südafrika. Morgen abend werden wir in Johannesburg sein.«
Der Inder rieb sich die Stirn. »Und die da unten?« fragte er. »Sind tot!« sagte Canning. Er hatte sich wieder vollständig in der Gewalt.
Professor Franke saß mit seinem Mitarbeiterstab zu einer Konferenz versammelt. Ein Stapel Blätter war vor ihnen, der von Hand zu Hand ging.
»Sie sehen, meine Herren, daß Greenwich, von Kleinigkeiten abgesehen, dieselben Resultate in der Verständigung mit den Uraniden hat. Das ist ein außerordentlicher Vorteil. Das Zusammenarbeiten der beiden Warten wird uns bei den neuen Versuchen einer Verständigung von großem Nutzen sein. Nur eines ist, was mir Sorge macht. Die Zeichen kamen in der letzten Zeit so spärlich, daß ich fürchte, irgend etwas ist nicht in Ordnung. Es wäre doch jammerschade, wenn unsere Verständigung gerade jetzt, wo wir sie mit dem viel vollkommeneren Bildfunk betreiben wollen, ins Stocken käme.
Sie wissen ja, wie wir von hier aus zuerst den Gedanken der synchron laufenden Bildwalzen in unserer Zeichenunterhaltung vorbrachten, wie die ihn da oben überraschend schnell erfaßten. Der Gedanke war allerdings schneller gefaßt als ausgeführt. Es dauerte acht Tage, bis die Zylinder hier und dort synchron liefen.«
Er wies auf ein Bild an der Wand. Eine Landschaft im Sonnenschein. Im Hintergrunde der Riesenbau eines Raumschiffes. Daneben eine leichte Hütte.
Im Vordergrunde ein einzelner, breit ausladender Baum, in dessen Schatten einige Menschen auf Ruhebänken lagen. Das Bild erweckte den Eindruck, als ob es sich hier nicht um Ruhende, sondern um Kranke handle.
Zu Füßen des Baumes auf der Erde sitzend ein Mann, der aus verschiedenen Gefäßen anscheinend eine Medizin mischte. Zwar waren die Züge des Mannes im Schatten des Baumes nicht scharf erkennbar, doch schienen sie keine wesentlichen Unterschiede von den Zügen irdischer Menschen aufzuweisen. Der leichtbekleidete Oberkörper ließ erkennen, daß es ein sehr kräftig entwickelter, großer Mensch sein müsse. Der Schnitt des Gesichts wurde durch das starke Haupthaar, den Bartwuchs etwas verdeckt.
»Sie tun gut, Herr Professor, dies historische Dokument in sicheren Verschluß zu nehmen. Wenn es ja auch in der ganzen Welt durch das Rundfunkbild jedem vor Augen gekommen ist, so könnte es doch einem der unzähligen Liebhaber, die das Bild zu jedem Preis von uns erwerben wollen, einfallen, es ohne Geld zu kaufen.«
Ein anderes Bild. Eine tiefe Felsschlucht bei Sonnenuntergang. An der Berglehne eine Reihe Erhöhungen. Es konnten Erdhügel, konnten Steine sein. Die Form der Hügel war etwas länglich. Verglich man den Stand der Sonne mit der Anordnung, so lag der Gedanke sehr nahe, daß es sich um Gräber handelte; Gräber von Leuten der Expedition. Die Form der Gräber, an der einen Seite etwas höher als der anderen, ihre Richtung legte den Schluß nahe, daß man die Toten mit dem Gesicht nach Sonnenaufgang begraben hatte.
Das dritte, letzte Bild! Ein offenes Zelt. In der Öffnung eine hohe Männergestalt in weißem Kittel. Hinter ihm ein Tischchen mit Instrumenten. Vor ihm, von der Sonne grell beleuchtet, ein Mann, ein Riese von Gestalt. Das mächtige Haupt umgeben von dichtem, hellem Haarwuchs. Der Körper wie in Schmerzen zusammengekrümmt. Das Gesicht leicht verzerrt. Seine Rechte deutete auf einen Korb, der mit Früchten gefüllt war. Seine Linke trug eine Frucht in Form eines Apfels. Die Augen des Mannes im Zelteingang schauten finster darauf hin.
»Meine Herren! Dieses Bild kann nur mit Absicht so dargestellt sein. Ich finde hierfür, mag auch Greenwich abweichender Meinung sein, nur eine Deutung. Die Weltenfahrer haben ahnungslos von den Früchten, die sie auf der Venus fanden, gegessen. Eine dieser Früchte – es muß die sein, die der Mann in seiner Linken hält – ist giftig. Der Zusammenhang mit den anderen Kranken, vielleicht gar mit den Toten, ist nicht völlig klar zu erkennen. Die Vermutung ist jedenfalls nicht von der Hand zu weisen, daß eine solche Verbindung besteht.
Derjenige, der uns die Bilder gab – ich will nur hoffen, daß er nicht auch erkrankt ist –, wollte uns damit eine Erklärung, eine Warnung geben.
Die paar Landschaftsbilder, die er uns übermittelte, zeigen uns eigentlich nichts Besonderes. Die Weltenfahrer leben dort auf dem gemeldeten Breitengrad in der nördlichen gemäßigten Zone der Venus. Für den Längengrad hätte ein Erdenbewohner, der dahin käme, nur die so auffällig gezackten Kämme des großen Meridiangebirges dort zum Anhalt.
Was wir weiter im Bildfunk erwarten, ich möchte sagen, selbstverständlich erwarten, irgendein schlimmer Zufall muß den Mann am Sender gestört haben – das ist ausgeblieben. Einen Film! Daß die Uraniden bei dem Stande ihrer Technik den plastischen Farbfilm in Vollendung beherrschen, ist wohl selbstverständlich. Daß sie auf ihrer Fahrt Filme mitgenommen, auch unterwegs aufgenommen haben, ist kaum zu bezweifeln.
Es wäre der stärkste Schlag für mich, wenn weitere Zeichen so spät kämen, daß infolge der Venusdrehung wir sie nicht empfangen könnten, sondern die schwebenden Sternwarten der amerikanischen Ostküste die Glücklichen wären. Doch vergeblich hatte ich darüber nachgesonnen, wie wir in unserer Bildersprache diesen Uraniden unseren Wunsch klarmachen könnten.«
Ein Assistent stand auf.
»Wie wäre es, wenn wir ihnen einen unserer neuesten Lehrfilme über den Stand unserer Metallurgie zeigten. Ich halte diesen Zweig unserer Technik deshalb für besonders geeignet, weil wir gerade an der Schwelle zwischen der Stahlzeit und der kommenden Zeit des Leichtmetalls stehen. In einer solchen Sendung von unserer Seite liegt nach meiner Meinung eine ausgesprochene Frage dahin: auf welchem Stand der Metallurgie seid ihr?«
»Gut!« rief Professor Franke, »der Vorschlag läßt sich hören. Ein passender Film wird sich beschaffen lassen. Warten wir indes auf weitere Zeichen.«
Doch die Zeit verrann. Schweigen da oben. Eine Stunde später brachte ein Botenschiff den verlangten Film. Der Assistent stellte die Sendestation ein, ließ den Film rollen. –
Der Film war abgelaufen. Gespannt wartete alles auf die Antwort. Es dauerte eine geraume Weile. Die Fluoreszenzscheibe blieb dunkel.
Endlich blitzte es auf dem Schirm auf. Alles war aufgesprungen, drängte herzu. Ein bedrucktes oder beschriebenes Blatt. Eine Menge kleiner Zeichen, die wohl als Schriftzeichen anzusehen waren.
Der Aufnahmeapparat der Warte filmte alles, was auf der Fluoreszenzscheibe erschien. Vielleicht, daß später einmal der Schlüssel für diese Zeichen gefunden würde.
Ein paar Minuten waren vergangen. Das Blatt verschwand. Das lebende Bild begann zu rollen.
Die Zuschauer, alle Wissenschaftler von Rang, zitterten vor Erregung. Ihre Nerven waren aufs höchste gespannt, ihre Augen gruben sich in die Bilder… Träume von zukünftigen Tagen irdischer Technik… hier mußten sie verwirklicht sein, mußten als Teile oder gar nur als Bausteine einer unendlich hohen Technik bildhaft werden.
Was zu sehen war, übertraf alle Erwartung. Kaum daß das Auge die Wunder dieser Höchstleistung denkenden Geistes zu fassen vermochte. Vieles, für das die Begriffe fehlten, blieb unverständlich.
In atemloser Spannung verharrte alles, blieb in stummer, staunender Bewunderung noch lange, als längst das letzte Bild des Filmes erloschen war. –
Ein Räuspern hier und da. Bewegung kam in die Menschen. Einige erhoben sich. Da! Die Fluoreszenzscheibe leuchtete wieder auf. Aller Augen wandten sich dahin.
Ein neuer Film?
Nein! Eine Direktübertragung!
In einen Liegestuhl zurückgelehnt sah man die Gestalt eines älteren Mannes. Die klugen Augen unter der hohen Stirn, die durchgeistigten Züge verrieten den Gelehrten. Neben ihm auf einem Tischchen lag ein umfangreiches Buch.
Er blätterte darin langsam. Man sah Bilder, ohne Einzelheiten zu erkennen. Blätter, anscheinend mit mathematischen Zeichen bedeckt. Die Augen des Mannes waren in weite Fernen gerichtet, als blicke er zu denen, die das Buch sehen sollten.
Nach einer Weile ließ die Hand das Buch los und sank schlaff herunter. Er schloß die Augen. Seine Züge verzogen sich schmerzhaft. Die Decke über seiner Brust hob sich unter schweren, stoßweisen Atemzügen.
Nach einer Weile schlug er die Augen wieder auf. Der Blick ging wie in fernste Fernen. Die Hand tastete sich nach einer Schale mit Früchten. Die Finger ergriffen einen schönen Apfel. Er hob ihn hoch, warf ihn von sich. Seine Blicke drückten Abscheu, Widerwillen aus… Dann fiel er in den lethargischen Zustand zurück.
Plötzlich war das Bild verschwunden. Noch lange verharrten die Versammelten um Professor Franke regungslos in Erwartung neuer Zeichen. Die Scheibe blieb dunkel.
Schrilles Glockensignal. Verbindung mit Greenwich! Professor Moore rief Franke an. Der ergriff den Hörer. Ein lebhaftes Zwiegespräch. Die anderen verstanden nur bruchstückweise den Inhalt der Unterhaltung, warteten neugierig auf das Ende.
Endlich legte Professor Franke den Hörer fort.
»Nun, meine Herren, diesmal gehen unsere Meinungen über das Gesehene nicht auseinander. Die Zeichen und Bilder waren so deutlich, daß ein Mißverständnis nicht aufkommen konnte. Trotzdem sind wir dahin übereingekommen, unsere Berichte vollkommen unabhängig voneinander abzufassen und bekanntzugeben.«
Am nächsten Abend brachten Presse- und Radioagenturen die Berichte der Berliner und Greenwicher Luftsternwarten.
Die Welt stürzte sich darauf. Nach langem Harren war die Neugierde aufs höchste gestiegen. Man verschlang die Berichte. Den einen wie den anderen. Nur geringe Abweichungen in der Fassung gab es. Der Inhalt, die Auslegung der Zeichen, war vollkommen übereinstimmend.
Am nächsten Tage waren alle großen Stationen auf die Berliner Welle eingestellt. Berlin gab die Kopien des Uranidenfilmes, der Venusbilder an die anderen Stationen, die sie wiederum aufnahmen und ihrerseits durch den lokalen Bildfunk und die Kinos verbreiteten.
Millionen Köpfe – Millionen Kritiker! Die Auslegung der Warten von Greenwich und Berlin, daß die Uraniden, durch den Genuß unbekannter Früchte vergiftet, dem Tode verfallen seien, unterlagen der scharfen Prüfung jedes einzelnen. Die Folge war ein heftiger Meinungsstreit – das Resultat dieser Debatten schließlich in der Hauptsache doch die vollkommene Anerkennung dieser Deutung.
Doch war der Streit hierüber beendet, entflammte er sofort von neuem über die Deutung des Uranidenfilmes.
Es war klar, daß hier Technik gezeigt wurde, die ganz andere als irdische Metalle zum Gegenstand hatte. Auch der nicht technisch Gebildete konnte aus den Filmbildern sehen, daß es sich nicht um Stahl, sondern um eine neue, auf der Erde unbekannte Metallegierung handelte. Woraus die bestand, darüber gab der Film keine direkte Auskunft. Doch aus einigen Bildern von den Einrichtungen der Laboratorien und Fabrikräume war zu erkennen, daß das Ausgangsmaterial nicht aus Metallgestein, sondern direkt aus der Atmosphäre gewonnen wurde.
Die eine Meinung ging dahin, daß es sich hier um eine Atmosphäre handle, die ein auf der Erde unbekanntes Gas als Beimengung enthalten müsse. Die andere griff die von der Theorie schon längst aufgestellte Behauptung auf, daß auch die Erdatmosphäre den Grundstoff für diese neue Metallurgie enthalte. Zweifellos würde man ihn auch eines Tages finden. Die Uraniden wären eben weiter und hätten ihn schon aus ihrer Atmosphäre, die der Erde glich, isoliert.
Darüber war man sich einig, daß der zweite wichtige Bestandteil dieser Legierung der Wasserstoff sei, dessen Metallcharakter ja schon seit langem erkannt war. Jedenfalls beruhte die Metallurgie der Uraniden auf der chemischen Verbindung oder Legierung zweier Gase, die bei ihrer Vereinigung eine solche Verdichtung erfuhren, daß das Ergebnis eben ein geradezu ideales Baumetall von kaum glaublichen Eigenschaften war.
Daraus entsprangen die verblüffenden technischen Leistungen, die der Film zeigte. Leistungen, die die modernste irdische Technik in ihren kühnsten Plänen nicht erträumte.
Fabrikanlagen mit größter Produktion waren auf kleinstem Raum errichtet, die Maschinen fast nur Miniaturgebilde. Kaum ein Mensch, der sie bediente. Hier war der Mensch nicht mehr der Sklave, sondern der Herr der Maschinen.
In allen Lebenslagen waren sie dienstbar. Das neue Leichtmetall gab die Möglichkeit, den Menschen so ziemlich jede Handbetätigung zu ersparen. Für alle kleinsten wie größten Arbeiten sprangen Heinzelmännchen, Zwerggebilde von Maschinen, ein.
Vieles von dem, was der Film zeigte, war für die Beschauer kaum begreiflich. Vieles blieb unverständlich. Erst die Schlußbilder brachten eine gewisse Aufklärung. Man bekam einen Begriff, wie die gänzlich veränderte Technik auch die Lebenshaltung der Menschen geändert und verbessert hatte. Man sah, wie die Erzeugnisse der Fabrik, wie die in der Fabrik Beschäftigten die Räume verließen. Man sah den Transport der Produkte nach anderen Stätten, die Beschäftigten bei der Heimkehr.
Flugzeuge von geringer Größe transportierten Riesenlasten nach allen Seiten. Die Straßen schienen ohne jedes Verkehrsmittel. Es sei denn, daß man die in bewegliche Bahnen zerlegte Straßenfläche als Verkehrsmittel ansprechen wollte. Flugschiffe von den größten bis zu den kleinsten Typen beförderten die Menschenmassen, die die Stadt aufsuchten, sie verließen. Überwunden war hier schon die Zeit der Massentransportmittel. Frei wie der Vogel bewegte sich der einzelne durch die Luft seinem Ziele zu. Kaum zu erkennen waren auf den Filmbildern die Treibmittel, die das ermöglichten.
Die Geschäfte konzentriert auf wenige große Blocks, umgeben von einem Kranz von Bürohäusern und Vergnügungsstätten. Keine Riesenstadt mehr wie früher. Nur ein verhältnismäßig kleines Zentrum, drumherum weit ausgedehnte Gartenstädte. Die Entwicklung war hier bereits weit über das hinausgediehen, was man auf der Erde erst anstrebte.
Alles war nur ein durch Zufall gegebener Umriß der Lebensführung der Uraniden. Einen tieferen Einblick in ihre Kultur, ihre Lebensgewohnheiten, ihre soziale Schichtung gaben die Filmbilder nicht.
Würde man nicht später weitere Bilder, die darüber Aufschluß gaben, erwarten können? Mit Ungeduld harrte man auf neue Mitteilungen aus Greenwich und Berlin.
Alles hing davon ab, ob die Ansicht derer richtig war, die die letzte Sendung von der Venus dahin deuteten, daß die Uraniden bis auf den einen tot und dieser letzte schwer erkrankt sei. Starb er, dann hoffte man vergeblich. Doch hier regte sich schon eine neue Hoffnung. Wie lange konnte es dauern, dann traten die ersten, von Elektronen getriebenen Raumschiffe der Erde ihren kühnen Flug an. Schon sprang die Fantasie weiter. Die Fahrten der beiden Rivalen gewannen jetzt ein ganz besonderes Interesse.
Wer würde der erste sein, der auf die Venus käme? – Wer würde das Erbe der Uraniden heben?
Die hermetische Absperrung auf Buena Vista war von Tag zu Tag undurchdringlicher geworden. Nicht allein die Gegenspionage befürchtete man. Der Wettbewerb der beiden Werften hatte so scharfe Formen angenommen, die Öffentlichkeit so erregt, daß man sich gegen Attentatsversuche sichern zu müssen glaubte. Konnte man solche auch nicht von den Konkurrenten selbst erwarten, so gab es doch Wirrköpfe genug, denen so etwas zuzutrauen war.
Der Geist des alten van der Meulen arbeitete unablässig daran, neueste, raffinierteste Sicherungsmaßregeln zu erdenken. Sein alter Haß gegen Harrod, den Urheber dieses unsinnigen Wettbauens, stieg von Tag zu Tag. Schon längst war keine Rede mehr davon, Probeflüge zu veranstalten. Bedeuteten sie doch nur Zeitverlust. Sobald der letzte Hammerschlag getan war, sollte die große Fahrt angetreten werden.
Der letzte Hammerschlag! Noch Tagen nur zählte man die Zeit bis dahin. Die Stunde wußten nur van der Meulen – Ronald Lee – Hortense. Selbst der Regierung in Buenos Aires hatte man sie verschwiegen. Die hatte, um nicht gegen die Regierung in Kapstadt zurückzustehen, das Unternehmen für ein nationales erklärt und sich mit ihrer ganzen Macht dahinter gestellt, sogar besondere Verfügungen getroffen, die den Bau in Buena Vista fördern und sichern sollten. Der Kampf der Presse in den beiden Ländern nahm Formen an, die schon mehrmals diplomatisches Einschreiten nötig gemacht hatten. Ein Fremder hätte den Eindruck bekommen können, Südamerika und Südafrika wären im Kriegszustand. –
»So wäre denn alles in Ordnung, Mr. Canning. Hier überreiche ich Ihnen den Bürgerbrief. Eben brachte ihn ein Kurier hierher. Sie sind jetzt Bürger der Südafrika-Union. Der nationale Charakter unseres Unternehmens ist jetzt außer allem Zweifel.«
Canning stand sekundenlang stumm. Langsam streckte er die Hand aus, nahm das Dokument.
Harrod kam auf ihn zugeschritten, klopfte ihm auf die Schulter: »Die nächste Ausgabe des Advertiser wird wie ganz nebensächlich im lokalen Teil die kurze Nachricht bringen, daß Mr. Robert Canning, nach dessen Plänen das Raumschiff Stern von Südafrika gebaut wird, Bürger der Union ist.« –
Die Nachrichten über Canning, die in Südafrika volle Befriedigung auslösten, erregten in Südamerika peinliches Aufsehen. Der Name Cannings war durch seine Unternehmungen im Gran Chaco weithin bekannt. Man wunderte sich, verstand seinen Schritt nicht.
Buena Vista! Man saß gerade bei der Mittagstafel, als der Radioapparat die Meldung brachte. Wäre ein Blitz zwischen ihnen eingeschlagen, die Wirkung hätte kaum größer sein können. Van der Meulen sprang auf.
»Undenkbar! Unmöglich! Canning… er…« Hochrot im Gesicht, schwer atmend riß er den Kragen auf, als wäre er am Ersticken.
Hortense war in ihren Stuhl zurückgesunken, das Gesicht tief erblaßt, die Augen geschlossen. Violet war mit einem Schrei aufgesprungen, zu Hortense geeilt und schlug die Arme um sie.
Ronald Lee blieb als einziger äußerlich ruhig. Sein Gesicht war unverändert. Nur ein leichtes Zucken, Funkeln lag in den Augen.
»Das ist also die Erklärung!« schrie van der Meulen. Die Worte kamen abgehackt, stoßweise von seinen Lippen. »Ich wußte ja schon lange, daß er mit Harrod in enger Verbindung steht. Doch daß dieser Mann so weit gehen konnte, sich mit meinem Feind zu verbünden, in heimlichem, verstecktem Kampfe unser Werk anzugreifen…
Er, Robert Canning, hat auch das Problem gelöst, aus eigener Kraft gelöst. Gerade jetzt! Wie lange muß er schon daran gearbeitet haben. Und doch sprach er nie ein Wort davon.
Weshalb dieses Mißtrauen? Diese Heimlichkeit? Oder kam ihm der Erfolg so überraschend?«
»Ja, Mr. van der Meulen!« rief Lee mit starker Stimme. »Er kam ihm, nachdem er mir’s gestohlen!«
Der Ruf, der sich jedem auf die Lippen drängen wollte, stockte… bei Lees Worten war Hortense, die eben aus der Tür schritt, mit einem Schrei zusammengebrochen…
Drei Tage später. In allen Zeitungen der Welt unter fettgedruckten Überschriften:
Der ›Witwaters Advertiser‹ meldet, der Stern von Südafrika, das Raumschiff William Harrods, wird am Sonnabend, mittags um 12 Uhr, seinen Flug nach der Venus antreten.
Die Meldung bildete das Signal für eine Völkerwanderung Abertausender von Neugierigen nach Johannesburg. Es war, als ob die Union mobilisiert wäre. Die Transportgesellschaften konnten trotz umfangreichster Vorbereitungen den Ansturm der Massen kaum bewältigen.
Tag für Tag landeten in Johannesburg Tausende von Flugschiffen, die, kaum ihrer Last ledig, sofort zurückflogen, um neue Gäste zu holen. Man rechnete aus, daß, wenn es die drei Tage in der bisherigen Art weiterging, eine Million Menschen hier zusammenkommen würde.
Das Ausland schaute mit einem gewissen Mitleid nach Buena Vista, das doch zuerst den Bau begonnen hatte und durch die Schnelligkeit der Südafrikaner geschlagen war. Die öffentliche Meinung in den Staaten griff die Nachricht mit unverhohlener Genugtuung, mit Stolz auf. Man hielt es für selbstverständlich, daß das Banner der Union Sieger in dem Wettstreit blieb.
Die südamerikanischen Zeitungen hatten einen schweren Stand. Sie mußten Spott und Hohn ihrer südafrikanischen Kollegen über sich ergehen lassen, gleichzeitig sich der unwilligen, tadelnden Zuschriften aus ihrem Leserkreise erwehren. Man wußte zwar nicht, wann das Schiff van der Meulens starten würde, doch stand fest, es würde später fliegen. –
Über der Werft von Buena Vista hingen trübe Wolken. Man sah die Unmöglichkeit, früher zu starten, sah, daß auch die stärkste Anstrengung daran nichts mehr ändern konnte. Das Gefühl der Niederlage schien die Kräfte zu lähmen. Der einzige, der mit ungebrochener Kraft weiterkämpfte, Lee, zwang auch alle anderen mit eiserner Energie zu unverminderter Arbeit.
Vergeblich drang van der Meulen in ihn.
»Wozu die nutzlosen Anstrengungen?«
Lee biß die Zähne aufeinander, um die Worte, die auf seine Lippen drängten, zurückzuhalten.
»Sieger ist, wer zuerst die Venus erreicht. Noch habe ich den Gedanken an den Sieg nicht aufgegeben.«
»Sie täuschen sich nicht, Mr. Lee?«
»Nein, Mr. van der Meulen! Ich täusche mich nicht.«
Die große Hornbrille vor den Augen, las der alte Stamford immer wieder den anderen Brief aus Indien, den Brief Sidneys. Sein grauer Kopf bewegte sich zweifelnd hin und her. Die Sache verträgt keinen großen Aufschub, muß aber doch überlegt werden…
Dieser Globetrotter Sidney, heute hier, morgen da, ich weiß nicht, was das bedeutet. Die drei besten meiner Jungen…?
Carlo, zur Zeit in Buenos Aires, Ricardo ist hier, Juan ist eben in Valparaiso gelandet, die kämen dafür vielleicht in Betracht. Die drei älteren? Nein! Louis heiratet bald, Francesco und Paolo sind so gut wie verlobt, also nur die drei Jüngsten würde ich entbehren können…
Daß sie wollen? Ich brauche sie nicht zu fragen… Auf diesen Köder beißen sie sofort an, diese Jungen!
Aber wozu lange überlegen? Erst muß ich wissen, ob van der Meulen damit einverstanden ist. Die haben doch sicher ihre Dispositionen schon getroffen…
Er klingelte. »Mein Pferd! Ich reite nach Buena Vista.«
Möchte nur wissen, warum Sidney mir das so ans Herz legt? Warum er so großen Wert darauf legt? .
Als er zwei Stunden später von van der Meulen zurück war, gingen zwei Depeschen, an Carlo in Buenos Aires und Juan in Valparaiso, ab.
Ricardo, das Riesenkind, wie er in der Familie genannt wurde – er maß reichlich sechs Fuß –, tanzte in seiner Stube einen wilden Indianertanz, daß das solide Haus in seinen Grundfesten erzitterte.
»Wir fliegen zur Venus! Hurra!« Immer wieder brach es jubelnd aus seinem Munde.
Der Morgen des Sonnabends war angebrochen, und strahlender Sonnenschein lag über Transvaal. Die Werft des Raumschiffes am Witwaters Rand lag in einem großen Talkessel eingebettet. Die Berghänge waren schwarz von Menschen. Wie ein riesiges römisches Amphitheater wirkte das Ganze.
Die Ordnungspolizei hatte wenig zu tun. Die Sehgelegenheit war so günstig, daß alle die Hunderttausende, die hier zusammengeströmt waren, auf ihre Kosten kamen.
Die Stunden dehnten sich endlos für die harrende Menge. Auf der Werft ereignete sich nichts Interessantes. Das Raumschiff war ein schimmernder Aluminiumkörper in den Formen einer Riesengranate. Es unterschied sich von dem Raketenschiff, das auf Coiba gestartet war, äußerlich nur durch seine Größe.
Endlich! Die Uhren in der Runde schlugen halb zwölf. Aus dem Verwaltungsgebäude traten acht Personen, die außer Canning den Flug mitmachten. Canning war der Führer. Den Inder Sarata nahm er zu seiner persönlichen Bedienung mit. Cannings Stellvertreter war der Chefingenieur Bruce. Der bekannte Naturforscher James Harding vom Smithsonian Institute in Kapstadt begleitete die Expedition als Arzt. Oberst Robartson, ein bekannter Jäger und Geologe, war der vierte. Die anderen waren geschickte, ausgewählte Leute der Werft, die den Bau des Stern von Südafrika genau kannten und für die Bedienung der Apparate ausersehen waren.
Im Nu waren sie von einem Schwarm von Männern und Frauen umdrängt. Verwandte, Freunde, die Abschied nehmen wollten. Ein paar Angestellte brachten das Gepäck der Passagiere in das Schiff.
Jetzt trat der Gouverneur von Transvaal, gefolgt von Harrod und Canning, zu dem Raumschiff und sprach…
Millionen Augen hier und vor den Fernsehapparaten aus aller Welt verfolgten die Zeremonie. Lautsprecher verkündeten seine Ansprache der lauschenden Menge, als er nun den Taufakt vollzog.
Der Gouverneur hatte seine Rede beendet, da fiel das Tuch, das die goldenen Buchstaben am Bug verhüllte, zur Erde. Weithin leuchtete im Sonnenschein der Name Stern von Südafrika.
Der Jubel der Massen dröhnte wie ein Orkan durch das Tal. »Three cheers for the Star of South Africa!« rollte es die Hänge entlang.
Der Gouverneur trat auf Canning zu, gab ihm einen länglichen Gegenstand in die Hand. Der schwang ihn um den Kopf. Eine Flagge entrollte sich.
»Three cheers for the Banner of South Africa!« Nun tauchten überall in der riesigen Zuschauermenge kleine und große Unionsbanner auf. Hüte wurden geschwenkt.
Wußte doch jeder, was diese Szene zu bedeuten hatte. Die Presse hatte am Tage vorher in tönenden Worten darauf hingewiesen. Diese Flagge, von Cannings Hand auf der Venus aufgepflanzt, war das Symbol, daß das neue Land südafrikanischer Boden sei.
Den Sieg vor Augen, hatte man schon die Beute verteilt. Man erinnerte an jene ersten europäischen Konquistadoren, die vor einem halben Jahrtausend die Welt eroberten, indem sie überall, wohin sie kamen, die Flagge ihres Landes aufpflanzten. Man wies mehr oder weniger versteckt darauf hin, daß es mit den modernen Raumschiffen möglich sei, alle Gebiete der neuen Welt – der Venuswelt – in kürzester Zeit zu durchstreifen, daß man also sofort Gelegenheit hätte, durch Abwerfen von Flaggen seine Hoheitsrechte zu dokumentieren.
Der Zeiger der Uhr stand nur wenige Minuten vor zwölf. Ein Trupp Polizeibeamter machte den Platz um das Schiff frei. Noch ein letztes Abschiedswinken der Passagiere. Dann verschwanden sie in dem Bauch des Stern von Südafrika, als letzter Canning.
Mit einem Händedruck nahm er von Harrod Abschied. Kaum war er verschwunden, heulte eine Sirene auf. Die eiserne Plattform, auf der das Schiff stand, begann sich unter dem Elektronenhagel rot zu färben und glühte auf. Da, ganz langsam, wie von unsichtbaren Händen gehoben, stieg der Stern von Südafrika in die Luft.
Als würden die Kräfte, die an ihm zerrten, immer stärker, beschleunigte sich immer mehr sein Flug! Noch konnte das Auge alle Einzelheiten des Schiffes erkennen. Doch immer höher stieg es. Die Geschwindigkeit, von Meter zu Meter immer stärker werdend, trieb es zu immer schnellerem Flug, zu immer höheren Höhen.
Nur ein schimmernder, heller Streifen, jetzt nur noch ein kleiner, gleißender Punkt wurde es, eben noch mit scharfem Glase sichtbar, jetzt verschwunden. –
Da löste sich der Bann, der minutenlang die Massen gefesselt hatte. Das ganze Tal glich einem brodelnden Kessel. Schreien, Jubeln, Winken; man umarmte sich. Jeder schätzte sich glücklich, diesen historischen Moment miterlebt zu haben… War er nicht ebenso groß, ja größer als jener, da Christoph Kolumbus an Bord der Santa Maria den Hafen Palos verließ, um eine neue Welt für Spanien zu erobern?
Die unzähligen Radioempfänger sorgten dafür, daß diese glorreiche Stunde gleichzeitig in den entlegensten Winkeln der Erde miterlebt wurde.
Zweimal vierundzwanzig Stunden! Vielen der Millionen, die mit aufs höchste gesteigerter Spannung warteten, eine fast zu lange Zeit.
Zweimal vierundzwanzig Stunden sollte die Fahrt des Stern von Südafrika dauern.
Unter Zugrundelegung einer absoluten Normalbeschleunigung von elf Metern in der Sekunde hatte man diese Fahrzeit errechnet. Dabei war Voraussetzung, daß über die halbe Weglänge unaufhörlich diese Beschleunigung wirken sollte, so daß der Stern von Südafrika die Wegscheide mit einer Sekundengeschwindigkeit von etwa 600 Kilometern erreichen mußte. Von hier aus würde dann die Verzögerung in der gleichen Stärke einsetzen wie bisher die Beschleunigung. Immer langsamer würde die Jagd durch den Weltraum werden, bis das Schiff stoßfrei auf seinem Ziel aufsetzte.
Der Stern von Südafrika war mit stärksten Kurzwellensendern ausgerüstet, deren gerichtete Strahlung die Heavyside-Schicht der irdischen Atmosphäre, jene in etwa 100 Kilometer Höhe liegende leitende Luftschicht, die für alle langen Wellen ein unüberwindliches Hindernis bildet, sicher durchdringen konnte…
Nach glücklicher Landung würde man sofort Nachrichten zur Erde geben, die von den schwebenden Sternwarten in Newport und Bahia aufgefangen werden sollten.
Seit jenen letzten Zeichen der Uraniden war die Erde so weit abgedreht, daß die europäischen Hubschrauberwarten Nachrichten von jener Stelle der Venus, die für die Landung in Betracht kam, nicht mehr empfangen konnten, da ja eine Verbindung nur mit gerichteten Wellen möglich war.
Jetzt kamen nur die Warten an der Ostküste der amerikanischen Kontinente in Betracht. An den Okularen ihrer Refraktoren, die ständig auf die Venus eingestellt waren, saßen die Beamten der Warten von Newport und Bahia. Die Apparate der Kurzwellenempfänger waren auf die verabredeten Acht- bzw. Zehn-Zentimeter-Wellen eingestellt.
Sechs Uhr abends! Sechs Stunden waren verstrichen, seit der Stern von Südafrika gestartet war. Die Gedanken der Millionen begleiteten die Insassen auf ihrem Flug.
Wer gedachte noch der Männer in Buena Vista? –
Auf van der Meulens Werft zeigte sich das unveränderte Bild regen Schaffens. Es war kurz vor der sechsten Abendstunde. Unter Leitung van der Meulens trugen ein paar Arbeiter einige Kisten aus dem Hause in den Jonas Lee.
Gegen Mittag waren Gäste aus Buenos Aires gekommen. Zwei unbekannte Herren. Etwas später Federico Stamford mit seinen drei jüngsten Söhnen Ricardo, Carlo und Juan.
Die letzten Kisten waren verstaut. Aus dem Hause trat van der Meulen mit seinen Gästen. Auf der Werft angelangt, nahm der eine der Herren, die aus Buenos Aires gekommen waren, aus einer Tasche ein Dokument und überreichte es Ronald Lee. Der andere entfernte von einem länglichen Gegenstand eine Hülle. Die Flagge der Vereinigten Staaten von Südamerika wurde sichtbar. Lee ergriff sie und gab sie an Ricardo Stamford weiter.
Die Arbeiter und Angestellten der Werft gerieten in Erstaunen. Was sollte das bedeuten? Ohne Zweifel wurde hier ein feierlicher Akt vollzogen. Aber zu welchem Zweck? Warum gerade zu dieser späten Stunde?
Da trat der eine der Gäste ein paar Schritte zurück und begann zu sprechen. Man sah sich gegenseitig verwundert an. Was sprach der da? »Jetzt, wo der Jonas Lee startbereit ist…« Wie kam der dazu? Tage, viele Tage würden vergehen, ehe das Raumschiff fertig war.
Je länger er sprach, desto größer wurde die Verwunderung, desto größer das grenzenlose Staunen auf den Gesichtern. Man schaute auf Ronald Lee, auf van der Meulen. Die blickten ernst, mit undurchdringlichen Mienen, zu dem Redner hin. –
Was sprach er jetzt?
»Auf ein gutes Gelingen der Fahrt, auf einen glücklichen Sieg…!« Die Augen der Leute flogen zwischen dem Redner und Ronald Lee hin und her. Der Start – jetzt – sofort… und Lee schwieg dazu? Mechanisch, wie im Traum, stimmten sie in das Hoch auf das südamerikanische Vaterland ein, mit dem der Sprecher seine Rede schloß.
Erst die lauten Kommandorufe van der Meulens brachten die Leute in die Wirklichkeit zurück.
»Hallo! Fix, Jungen! Jeder an seinen Platz! In zehn Minuten startet der Jonas Lee!«
Im Nu gab es in dem weiten Hof ein wirres Durcheinander, ein Sausen und Brausen wie in einem Bienenstock… Rufe der Überraschung, der Freude. Kaum einer, der es fassen konnte. Die Blicke gingen immer wieder zu van der Meulen, der, die Uhr in der Hand, dastand. War es wirklich Ernst?
»Noch fünf Minuten«, schrie er jetzt. »An Bord!« – »Gut, daß das Abschiednehmen schon im Hause erfolgt ist«, brummte er vor sich hin. »Ah! Violet… Natürlich, sie hat noch nicht genug, hängt dem Bruder wieder am Halse.« Er trat zu ihr, löste ihre Arme. »Genug jetzt. Miß Violet.«
Selbstvergessen reichte er noch einmal Ronald die Hand. Als er in dessen Augen sah, übermannte ihn das Gefühl. Er legte beide Hände auf seine Schultern. »Glückauf! – Auf frohes Wiedersehen, Ronald!«
»Auf frohes Wiedersehen, Ronald!« Hortenses Stimme klang neben ihnen.
Wie um seine innere Ergriffenheit zu verbergen, schob van der Meulen Lee mit einer raschen, starken Bewegung von sich, daß dieser fast taumelte. Ronald fühlte seine ausgestreckten Hände von Hortense ergriffen; die preßte sie an ihre Brust.
»Auf frohes Wiedersehen, Hortense!« Dann riß er sich los, schritt rasch zum Schiff und trat als erster ein. Ihm nach die anderen – die beiden Ingenieure Hierra und Cruzado, der eine der beiden Gäste aus Buenos Aires, Señor Enrique Royas, Professor der Geologie an der Universität Valparaiso, dann Ricardo, Juan und Carlo Stamford, jeder der Brüder mit einem Arsenal von Waffen umhängt –, als letzter Felipe Teja, der Sohn des alten José. Er war zur Bedienung der anderen bestimmt.
Kaum waren sie eingetreten, schlossen sich die Türen.
Unter dem Schiff sah man ein leichtes Glimmen des Stapels, ein sekundenlanges Schwanken des Riesenbaues, dann hob sich der Jonas Lee wie von Flügeln getragen in die Luft. Langsam – dann immer schneller werdend –, zuletzt nur wie eine riesige Sternschnuppe, die glänzende Aluminiumhaut in den Strahlen der untergehenden Sonne wie im Feuer glühend.
Zur selben Zeit meldeten die Radiostationen aus Buenos Aires: »Der ›Monitore del Vermejo‹ berichtet, daß das Raumschiff Jonas Lee soeben, das heißt sechs Stunden nach dem Abflug des Stern von Südafrika, glücklich gestartet ist.«
Im ersten Augenblick horchte die Welt auf. Nach den bisherigen Nachrichten war der Start erheblich später zu erwarten gewesen. Dann wandte sich das Interesse wieder ganz dem Flug des Stern von Südafrika zu. Würde er doch bedeutend früher sein Ziel erreichen – die Venus –, und den kostbaren Schatz, den sie barg, das Erbe der Uraniden. –
Ronald Lee trat vom Fenster des Schiffes zurück. Buena Vista war aus dem Sehkreis verschwunden.
Ein Schaben und Prasseln an den Außenwänden des Jonas Lee verriet, daß das Schiff die letzte, aus gefrorenem Stickstoff und Wasserstoff bestehende Schicht der irdischen Atmosphäre durchstieß. Vor ihnen lag der leere Weltraum.
»Lassen Sie die Steuerborddüsen stärker arbeiten, Hierra.«
Der gehorchte erstaunt dem Befehl. »Wir verlängern uns den Weg«, schwebte es ihm auf den Lippen. Und als hätte Lee in seinen Zügen gelesen, nickte er ihm lachend zu.
»Gewiß, Sie haben recht, Hierra. Und doch! Mögen Sie mich eitel nennen, ich bin nun einmal auch nur ein sterblicher Mensch. Den Triumph kann und will ich mir nicht entgehen lassen, den Gegner im Höchstgefühl seines Sieges demütigen, indem ich ihn in ehrlichem Kampf schlage, ihm die Siegespalme aus der Hand reiße.«
In den Augen Hierras blitzte es auf. »Ah! Sie wollen?…«
Ricardo Stamford, der aufmerksam zugehört hatte, trat neben sie. »Ein Wettrennen, ein Wettfliegen? Verstehe ich recht? Auge in Auge mit ihm? Glänzender Gedanke! Ah! Ihre Gesichter! Wir werden ganz ranfahren, werden sie sehen… Bravo, großartig!«
Im Nu wußte die ganze Besatzung, um was es ging.
Die Flugbahnen der beiden Raumschiffe ließen sich genau errechnen. Sechs Stunden nach dem Stern von Südafrika war der Jonas Lee von der Erde, gestartet. Um 650.000 Kilometer war der Erdball in diesen Stunden auf seiner Wanderung um die Sonne weitergekommen. Die Führer der beiden Schiffe hatten ihre Bahnen unter Berücksichtigung der Bewegungen beider Gestirne so berechnet und angesetzt, daß sie auf kürzestem Wege zu ihrem Ziele kommen mußten.
Um zu erreichen, was er wollte – den Gegner im unendlichen Äther zu finden –, mußte Ronald Lee seine Bahn nach Backbord hin verlassen. Eine Abweichung von zwei Bogenminuten nach Nordwest war bei der bekanntgewordenen Geschwindigkeit des Stern von Südafrika für den Jonas Lee notwendig, um den Kollisionspunkt beider Schiffe anzusteuern.
Die Messungen der Gestirnshöhen mußten sehr genau erfolgen, um die schwierige Aufgabe zu lösen… das Stäubchen zu finden, das der Stern von Südafrika im Weltraum bildete. Ein zeitraubendes Suchen war ausgeschlossen. Den Rest mußte die Radarpeilung besorgen. Die längst vorbereiteten Rechnungen und Messungen in der Hand, begab sich Lee mit Hierra zum Steuer.
Die Elektronenstrahler des Jonas Lee arbeiteten mit voller Kraft und gaben dem Schiff eine Sekundenbeschleunigung von zwanzig Metern. Rechnungsmäßig mußte es danach den Weg von der Erde zur Venus in 36 Stunden zurücklegen.
»Unser Plan wird uns gleichzeitig eine gute Gelegenheit bieten, die Manövrierfähigkeit des Schiffes auszuprobieren«, wandte sich Lee an Hierra. »Wir müssen die Beschleunigung aufheben, allmählich sogar zur Verzögerung übergehen und dabei das Schiff wenden.«
Hierra nickte. »Es wird ein interessanter Versuch.«
»Was sprachen Sie da?« Ricardo war’s, der mit seinen Brüdern in die Schiffszentrale trat.
Lee ließ seine Augen über die Riesengestalt Ricardos gehen und lachte. »Die zwei Zentner, die Sie augenblicklich über Ihr Erdengewicht hinaus noch mit sich schleppen müssen, mein lieber Don Ricardo, werden Sie bei dieser Gelegenheit vorübergehend loswerden.«
»Das wäre!« sagte der und ließ sich schwerfällig auf ein niedriges Tischchen nieder, sprang aber schnell wieder auf, als das Knistern der Tischbeine ihm den nahenden Bruch verriet.
»Ja, ja, mein Lieber«, lachte Lee, »für vier Zentner Gewicht ist das Tischchen nicht konstruiert.«
»Vier Zentner?« fragte der erstaunt. »Um Gottes willen, ich trage an meinen zwei schon genug. Wie kommen Sie dazu, mich auf vier Zentner zu schätzen?«
»Es müßte Ihnen doch aufgefallen sein«, antwortete Lee, »daß Ihre Knochen und Muskeln hier schon längst nicht mehr so wollen wie auf der Erde.«
Ricardo sah zu seinen Brüdern. Diese nickten. »Weiß der Teufel«, sagte er endlich, »wir alle haben schon seit Stunden eine bleierne Schwere in unseren Gliedern.«
»So geht es allen hier im Schiff. Die Sekundenbeschleunigung des Jonas Lee ist ziemlich genau doppelt so groß wie die Beschleunigung an der Erdoberfläche durch die irdische Schwere. Natürlich wiegen infolgedessen auch alle Körper im Jonas Lee jetzt doppelt soviel, als sie im Ruhezustand an der Erdoberfläche wiegen würden.«
Ricardo schlug die Hände klatschend zusammen. »Ah, Gott sei Dank, jetzt verstehe ich, warum mir alles so schwer vorkam, was ich in die Hand nahm. – Und diesen Zustand können Sie ändern, mir die zwei Zentimeter abnehmen?« Er schüttelte den Kopf.
»Ja«, versetzte Lee, »Sie werden es im Verlaufe der nächsten Stunden deutlich verspüren. Ich will, um unseren Triumph, unseren Sieg möglichst auszukosten, unsere Fahrt derartig gestalten, daß wir ganz dicht an dem Stern von Südafrika vorbeigehen und im Augenblick des Überholens ungefähr die gleiche Geschwindigkeit haben wie Mr. Canning.«
»Und die Venus?« warf Ricardo ein.
Lee zuckte die Achseln. »Erreichen wir allerdings durch diesen freiwilligen Aufenthalt ein paar Stunden später… aber selbstverständlich noch vor Canning.«
»Dann ist’s recht«, riefen die Stamfords. »Die paar Stunden wollen wir gern verschmerzen, wenn wir den Stern von Südafrika so recht behaglich Aug’ in Aug’ abwürgen.«
Hierra, der an den Meßinstrumenten gearbeitet hatte, wandte sich jetzt zu Lee.
»Dürfte Zeit sein, Mr. Lee.«
»Gut, stellen wir zunächst einmal die Beschleunigung ab.«
»Und dann«, Ricardo schaute fragend Lee an, »bleiben wir dann nicht allmählich stehen?«
Lee lachte laut. »Stehen im Äther, Don Ricardo? Vergessen Sie denn, daß es im Weltraum keine Hemmungen gibt, daß ein Körper, der einmal mit einer gewissen Geschwindigkeit fliegt, diese auch ohne weiteren Antrieb stets beibehält – sofern ihn nicht Schwerefelder der Gestirne beeinflussen?«
Ricardo schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Sie haben recht, lachen Sie über mich, das war eine dumme Frage.«
Hierra winkte Lee unbemerkt zu, deutete auf den Krafthebel und zog ihn langsam auf Nullstellung. Er umklammerte im selben Augenblick ebenso wie Lee eins der am Boden festgeschraubten Möbelstücke.
Die Brüder Stamford achteten nicht darauf. »Ah!« Juan hob die Hände. »Wie wird mir, ich fühle mich so leicht.« Mit einem frohen Ausruf sprang er auf. Doch da! Die anderen starrten ihn entgeistert an. Sein Sprung, war er so heftig gewesen? Juan war so hochgeschnellt, daß sein Kopf die Decke streifte, mit verzweifelten Armbewegungen suchte er nach einem Halt. Ricardo und Carlo wollten hinzuspringen, um ihm zu helfen. Da, Lee und Hierra lachten, daß es in der Kabine schallte. Die drei Enakskinder ruderten hilflos wie Goldfische in einem Bassin in der Luft des Raumes umher.
»Bleiben Sie nur«, rief Lee, immer noch lachend, »gleich werden Sie wieder auf festem Boden stehen.« Er winkte Hierra zu, der das Schiff inzwischen so gedreht hatte, daß es den Bug wieder der Erde zuwandte. Der stellte die Elektronenkraft wieder an.
»Langsam«, schrie ihm Lee zu. Doch der, um den Scherz ganz auszunutzen, gab den Hebeln einen kurzen, scharfen Ruck. Im selben Augenblick fielen die drei Riesenvögel mit lautem Gepolter auf den Fußboden zurück.
»Die Freude war nur kurz, mein lieber Ricardo, die vier Zentner haben Sie leider wieder.«
Der schüttelte den Kopf. »Vier Zentner, Mr. Lee, wiegt allein mein Schädel.« Er hielt die Hand an die Stirn und rieb sich die Augen. »Teufelskram, den Sie mit ehrlichen Christenmenschen da machen, Mr. Lee. Weshalb sind Sie nicht auch?« Er deutete vorsichtig mit der Hand zur Decke.
»Nun, sehr einfach, Don Ricardo, wir hielten uns eben fest.«
»Ah, dann ist’s gut, dann bin ich befriedigt. Ich glaubte schon, es läge an uns, daß wir da so hilflos wie halbflügge Vögel in der Luft rumgondelten. Aber einerlei, der Spaß war nicht übel. Schade nur, daß unser Alter nicht dabei ist.« Er brach in ein helles Gelächter aus, in das seine Brüder laut einstimmten.
»Und der Stern von Südafrika, wann werden wir ihn haben?« Lee zuckte die Achseln. »Ein paar Stunden mag es noch dauern!« Er reichte ihm ein scharfes Glas. »Übernehmen Sie den Ausguck, Don Ricardo, Sie sind Jäger und haben scharfe Augen.«
»Wir nähern uns der Wegscheide zwischen Erde und Venus. – In einer Stunde müssen wir von der Beschleunigung zur Verzögerung übergehen, Oberst Robartson. Wir werden dann wieder eine Radiomeldung nach Newport senden.«
»Gut, Mr. Canning. Da unten wird mancher vor Neugierde vergehen. Die Ängstlichen, die darauf bestanden, der Stern von Südafrika dürfe ohne Probeflug nicht starten, werden sich allmählich beruhigen. Zweifellos war es ein großes Risiko, mit einer solchen ganz neuen und noch nicht erprobten Konstruktion sofort eine so weite Fahrt zu unternehmen. Ich denke, in Buena Vista wird man jetzt nicht mehr darauf verzichten. Denn was verschlägt’s denen, ob der Jonas Lee ein paar Tage früher oder später ankommt…«
Buena Vista – Cannings Gedanken flogen dahin. Seit dem Start hatte ihn der Flug des Stern von Südafrika voll in Anspruch genommen. Unaufhörlich hatte er den Gang der Maschinen, die Steuerung, die Meßinstrumente sorgfältig beobachtet. Es war für jeden einigermaßen technisch gebildeten Menschen ein überaus gewagtes Unterfangen, ohne vorhergehende Probefahrten den Flug zu unternehmen. Nur die Furcht, der Jonas Lee könnte früher starten, hatte ihn veranlaßt, dies Risiko auf sich zu nehmen.
Ein Versagen der Maschinen war die einzige Gefahr in seinen Augen. Was sonst Gelehrte und Laien gefabelt hatten – der Äther in weiter Ferne von Boliden verseucht… die Gefahr, daß das Raumschiff mit einem dieser Weltenwanderer zusammenstieß –, Canning hatte darüber gelächelt… Die Chance eines Zusammenstoßes war so undenkbar klein, und verglich man die durchschnittlichen Geschwindigkeiten der Boliden mit der des Stern von Südafrika, schwand die Gefahr gänzlich, wenn nicht gerade der Bolide in direkter Richtung auf das Schiff zuflog. Denn sonst war jederzeit die Möglichkeit gegeben, durch seitliches Ausweichen die Gefahr zu meiden. Bedingung dafür war freilich, daß schärfster Ausguck gerade in der Fahrtrichtung gehalten wurde.
Buena Vista – Hortense – Immer wieder jene Gedankengänge, wie er sie zwingen wollte durch große Taten. Was galt ihm alles, wenn er sie nicht erränge, Hortense –
Noch sann er, da trat der Oberst zu ihm. Seine Mienen verrieten Überraschung und Besorgnis.
»Ah, Mr. Canning, Sie behandelten stets die Frage als nebensächlich… die Frage, auf unserer Fahrt eine unangenehme Begegnung mit Boliden, größeren oder kleineren Bruchstücken gewesener Gestirne, von denen das Weltall durchrast wird, zu haben. Fast möchte ich annehmen…«
»Wie!? Was sagen Sie, Colonel? Ein Bolide etwa?«
»Nehmen Sie ein Glas, Mr. Canning, und schauen Sie zu dem Steuerbordfenster hinaus. Dort unten rechts… sehen Sie nicht auch da ein glitzerndes funkelndes Etwas, das sich mit anscheinend großer Schnelligkeit schräg auf uns zu bewegt?«
Canning sah lange, setzte mehrere Male das Glas ab.
»Es ist, wie Sie sagten, Oberst Robartson – und Sie vermuten einen Boliden oder dergleichen?«
»Gewiß! Natürlich, was kann es sonst sein!?«
Canning nickte, überlegte. »Sie können recht haben, Oberst. Etwas anderes kann es nicht sein… Doch sehe ich keine Gefahr. Sobald wir merken, daß die Begegnung uns gefährlich werden könnte, werden wir die Flugrichtung ändern und ausweichen. Bleiben Sie hier zur Beobachtung, ich werde Bruce am Steuer aufmerksam machen.«
»Könnten wir nicht im Notfall die Beschleunigung steigern, Mr. Canning?«
Canning wiegte den Kopf. »Die Elektronenstrahlung arbeitet im Optimum. Eine stärkere Inanspruchnahme ihrer Leistungen dürfte nicht ungefährlich sein wegen des späteren Nachlassens ihrer Wirkung. Nur im äußersten Notfall, wenn ein Zusammenstoß mit dem Boliden unvermeidlich ist, würde ich mich dazu verstehen. Doch wir haben Zeit. In einer Viertelstunde bin ich wieder zurück.«
Oberst Robartson, jetzt allein, nahm einige Meßinstrumente, peilte die eigene Flugbahn und die des verdächtigen Körpers sorgfältig an.
»Merkwürdig, wie sich das Auge täuschen kann. Je länger ich messe, desto deutlicher sehe ich, daß der Bolide unsere Fahrt kaum kreuzen wird… er fliegt ja fast parallel mit uns.«
Er wollte zu Canning eilen, da kam der gerade zurück.
»Nun, was macht unser Freund?« rief er Robartson zu.
»Eine Frage zunächst, Mr. Canning. Hatten Sie nicht vorher auch den Eindruck, daß der Bolide schräg auf uns zukäme, unsere Bahn schneiden müßte?«
»Gewiß, unzweifelhaft! Sonst hätten wir ja keinen Grund zur Besorgnis gehabt.«
Der Oberst schüttelte den Kopf. »Und doch irrten wir uns beide. Vergleichen Sie bitte meine Messungen, und sehen Sie zu dem Boliden, der uns inzwischen ein ganzes Stück nähergerückt ist.«
Canning warf einen kurzen Blick auf die Messungen und richtete dann ein großes Fernrohr, das er mitgebracht hatte, ein. Robartsons Augen hafteten an Cannings Gesicht. Der hatte jetzt scharf eingestellt und schaute unverwandt durch das Okular.
»Nun, was sehen Sie jetzt, Mr. Canning? Fliegt der Bolide nicht fast parallel mit uns?«
Canning schwieg. Der andere wartete ungeduldig auf Antwort, wiederholte die Frage. Canning rührte sich nicht. Erstaunt sah der Oberst schärfer auf dessen Gesicht. Was war mit ihm? Das Antlitz blaß, die Lippen bebten…
»Mr. Canning! Was ist Ihnen?!«
Der gab keine Antwort. Das Auge war wie angeschmiedet an dem Okular… Jetzt ging ein Zittern durch seinen Körper, er taumelte und wäre gestürzt, wenn Robartson ihm nicht beigesprungen wäre.
»Mr. Canning! Um Gottes willen, was ist Ihnen? Eine Gefahr?«
Der schüttelte den Kopf, setzte mehrmals zum Sprechen an. Sein Gesicht war grau, die Augen erloschen, die Brust bebte in wilden Atemzügen.
»Der Jonas Lee! Er ist es…« Er schlug die Hände vors Gesicht, schritt schwankend zu einer Bank, saß kurz nieder, sprang dann wieder auf, stürzte zum Fenster, schaute mit irren Augen hinaus und schrie »Er wird uns überholen… er fliegt schneller… unser Ziel… der Sieg… er raubt uns alles.«
Oberst Robartson trat neben ihn, hielt den Schwankenden, der wie ein zu Tod Getroffener zusammenzusinken drohte…
Dann, als hätte er die Schwäche überwunden, richtete er sich auf, wandte sich um und sprang mit einem wütenden Satz zu dem Fenster. Die Arme stießen drohend nach dem nahenden Feind… Wilde Verwünschungen, Flüche gellten aus seinem Munde.
Der Oberst stand starr. Der Ausbruch Cannings ließ ihn verstummen, da kamen von allen Seiten die anderen herbeigeeilt. Sie hatten Cannings Schreie gehört.
»Was ist? Was gibt’s?« scholl es wirr aus dem Haufen.
Robartson wollte sprechen. Da drehte sich Canning um.
»Was ist?!« schrie er. Ein tolles Lachen folgte den Worten. »Da schaut!« Er stieß mit der Faust gegen das Fenster »Da kommt her! Seht doch auch… der Jonas Lee… er ist hinter uns! Eine halbe Stunde, dann hat er uns erreicht, überholt… unser Ziel, die Venus?« Er brüllte auf, wie ein zu Tod getroffenes Tier.
Dann, als wäre ihm ein Einfall gekommen, schlug er die geballte Hand vor die Stirn, seine Züge verwandelten sich plötzlich.
»Alle Mann an ihre Plätze!« rief er laut, stürmte in die Zentrale. Ebenso schnell folgte ihm der Chefingenieur Bruce. Eine dunkle Ahnung sagte ihm, was Canning vorhabe.
Der stand vor der Schalttafel. Die Rechte am Heizhebel, die Linke am Spannungsregulator. Ein Blick auf die Meßinstrumente bestätigte Bruce seine Befürchtung. Die Zeiger der beiden Instrumente lagen weit über dem roten Strich. Die Strahlungseinrichtungen des Stern von Südafrika waren bis zum äußersten angestrengt.
»Unmöglich, Sir!« Bruce legte seine Hand auf Cannings Arm, als wolle er ihn wegreißen. Der starrte ihn mit wild rollenden Augen an und stieß ihn brüsk zur Seite.
»Ich allein habe hier zu befehlen… Vergessen Sie das nicht, Mr. Bruce!«
»Wären wir beide allein, Mr. Canning, würde ich keine Einwendungen machen. Man kann nur einmal sterben. – Aber das Leben unserer Fahrtgenossen frevelhaft aufs Spiel setzen, um den Ehrgeiz des Kommandanten zu befriedigen? Nein, und tausendmal nein.«
»Hände weg vom Hebel«, brüllte Canning. »Ich allein trage die Verantwortung.«
»Hallo! Was ist das, Mr. Lee? Der Stern von Südafrika wird schneller und schneller. Den Peilungen nach hat er jetzt ungefähr die gleiche Geschwindigkeit wie wir.«
Ronald Lee schaute auf. »Keine Angst, Don Ricardo, das hatte ich fast erwartet. Mr. Canning tut das, was früher wahnwitzige Kapitäne mit ihren Schiffsmaschinen machten… die Sicherheitsventile beschweren, mit unvernünftigem Druck das Rennen zu machen… Damals riskierte man eine kleine Kesselexplosion. Jetzt…«, Lee zuckte die Achseln, »ruiniert er die Maschine… Mag der Südafrikanische Stern zum Teufel gehen… Leid täte es mir nur um die anderen, die darin sind. – Doch vielleicht läßt er seinen Wahnwitz, wenn er sieht, was jetzt der Jonas Lee tut… er tut’s ohne Gefahr.«
Er rückte an Hebeln. Ein Stoß traf das Schiff, daß beide taumelten.
»Bravo, Mr. Lee! So hat der wackere Jonas noch einige Kraftreserven zu vergeben.« Ricardo stürzte zum Beobachtungsrohr. »Der Teufel soll mich holen, wenn wir den Stern nicht in fünf Minuten haben.«
»Näher ran!« schrie Ricardo vom Fenster her. »Ich will ihn sehen, den Burschen!«
Lee ließ die Düsen an Steuerbord sekundenlang stärker arbeiten und eilte dann selbst zum Fenster. Kaum hundert Meter voneinander entfernt rasten die Schiffe wie zwei edle Renner Flanke an Flanke durch den weiten Weltraum dahin. Der Jonas Lee war nur noch ein kurzes Stück zurück. Ein brausendes Hurra der Gefährten Lees begrüßte den nahen Sieg.
Da… Lee stürzte hin zur Maschine, riß den Krafthebel vorwärts, ließ die Backborddüsen mit äußerster Kraft arbeiten.
Die anderen… ein Schrei des Entsetzens aus ihrem Munde. Der Stern von Südafrika da drüben, plötzlich herumgerissen, schoß mit ungeheurer Schnelligkeit schräg auf den Jonas Lee zu… Sekunden, dann wurde der Jonas Lee gerammt…
Ein furchtbarer Ruck, der das Schiff erzittern ließ und alle Insassen plötzlich mit ungeheurer Gewalt zur Seite schleuderte. Der Jonas Lee, der starken Steuerkraft gehorchend, suchte dem verderblichen Stoß nach Steuerbord ausweichen. Jedem stockte das Herzblut. Bruchteile von Sekunden… die Entscheidung, ob Rettung oder Vernichtung…
Schon glaubte jeder, das Ineinanderprasseln der Schiffskörper zu hören. »Da«, Lee schrie auf, deutete mit dem Arm nach den Steuerbordfenstern und sank dann im selben Augenblick halb bewußtlos zum Boden zurück.
»Gerettet«, flüsterten seine Lippen.
»Gerettet!« Einer nach dem anderen sprach’s. Sie starrten durch die Heckfenster, wo der Stern von Südafrika schräg ab von ihnen in den Äther weiterschoß.
Lee erhob sich schwerfällig, reiche Cruzado die Hand und half ihm empor. Sie taumelten zu der Schalttafel. Langsam, wie mechanisch griffen ihre Hände zu den Hebeln, um das Schiff wieder auf alten Kurs und normale Beschleunigung zu bringen.
Dann erst sahen sie sich gegenseitig an. Blasse Gesichter, verstörte Augen. Lee atmete tief auf.
»Wenn dich die Niederlage nicht wahnsinnig gemacht hat, Canning… dein Gedanke – fast muß ich ihn bewundern – lieber mit dem Gegner sterben, als ihm den Sieg überlassen.«
Einer nach dem anderen im Schiff hatte sich erhoben… Sie standen stumm, befühlten ihre Glieder.
»Hoffentlich alles heil, wie beim Jonas Lee«, rief Ronald. Ein hartes Lachen begleitete seine Worte. Dann überließ er Hierra die Führung des Schiffes, begab sich mit Cruzado, ohne dem Stern von Südafrika, der schon weit hinter ihnen lag, noch einen Blick zu schenken, an eine genaue Untersuchung des Schiffes in allen seinen Teilen. Die ungeheure Inanspruchnahme durch das schnelle Wenden… es wäre kein Wunder gewesen, wenn irgend etwas dabei zu Bruch gegangen wäre.
Eine halbe Stunde später gab die Luftsternwarte in Bahia ein chiffriertes Telegramm nach Buena Vista weiter:
»Auf halbem Weg den Stern von Südafrika überholt, R. L.«
Drei glückliche Menschen lagen sich wortlos in den Armen. Hortense war die erste, die sich von dem freudigen Banne frei machte. Sie legte den Finger auf den Mund. »Kein Mensch erfährt etwas… bevor der Jonas Lee glücklich auf der Venus gelandet ist!«
So waren sie wahr geworden, die Worte jener glücklichen Stunde. Krank, mutlos, verzweifelt hatte sie in ihrem Zimmer gelegen. Die Nachricht aus Johannesburg: Der Stern von Südafrika startet in drei Tagen, hatte mit einem Schlage alle die Hoffnungen und Wünsche langer Monate zertrümmert. Nicht allein die Zerstörung des gemeinsamen Werkes, sie fühlte selbst fast körperlich den Schlag, der ihn, Ronald, damit getroffen hatte.
Jene Worte – sein tiefstes Geheimnis, das er selbst ihr und dem Vater gegenüber verschwieg… ich fliege ja schneller als Canning, beschleunige mit zwanzig Metern in der Sekunde, während er nur mit elf Metern beschleunigen kann… Seinen Vorsprung, ich hole ihn ein, komme früher zum Ziele… mein wird der Sieg sein!
Hemmungslos war ihr überströmendes Empfinden. Sie hatte die Arme um ihn geschlungen, hatte an seiner Brust gelegen, geweint…
Das Telegramm! Auf halbem Wege hatte er ihn schon geschlagen. Immer wieder murmelten ihre Lippen die frohe Botschaft.
Wie lange? Sie würde ihn wiedersehen.
Ihre Gedanken waren nur bei ihm. Mit Ungeduld hatte sie in schlafloser Nacht den Morgen, den Beginn der Arbeit, erwartet. Sie suchte in rastloser Tätigkeit vor ihren Gedanken zu fliehen…
Sie hatte dem Vater die Erlaubnis abgerungen, an dem Flug der Buena Vista teilzunehmen – falls Ronald Lee gute Nachrichten senden würde.
Kaum, daß van der Meulen hörte, daß William Harrod sich mit dem Gedanken trüge, ein weiteres Schiff zu bauen, hatte er schon den Bau des Schwesterschiffes mit allen Mitteln beschleunigt, sogar schon Teile für einen dritten Bau bereitstellen lassen…
Jetzt hatte der Jonas Lee die Wegscheide passiert. Der nächste Morgen mußte die zweite glückliche Nachricht bringen.
»Ungefähr sechs Stunden, Dr. Gamba, dann dürfte die erste Meldung des Stern von Südafrika zu erwarten sein, wenn alles glücklich verläuft.«
»Und weitere sechs Stunden, dann dürfte auch der Jonas Lee sein Ziel erreicht haben, Herr Professor. Ein übles Spiel des Schicksals, daß es William Harrod gelang, den Stern sechs Stunden früher starten zu lassen.«
Professor Lopez, der Leiter der Luftsternwarte in Bahia, ging zu den Empfangsapparaten. Der eine war auf die Welle des Stern von Südafrika, der andere auf die des Jonas Lee eingestellt.
»Möchte wissen, was Mr. Lee in Chiffre an van der Meulen meldete? Geheimnisse kann es doch bei dem Fluge nicht geben. Die paar Worte für uns: ›An Bord alles wohl, die Fahrt verläuft gut‹, besagen doch wohl alles Nötige«, brummte Professor Lopez vor sich hin und wandte sich einem Meßtisch zu.
»Ah!« Er machte schnell kehrt und eilte zu dem Empfangsapparat für Lee. Auch Dr. Gamba lief sofort herbei. »Das Ankündigungszeichen Lees«, flüsterte er gespannt. »Wird’s wieder eine Chiffrenachricht sein?«
Der Jonas Lee fing an, die nächsten Worte kamen. Was war das?!
Die beiden Männer sahen sich sprachlos, fast verstört an. Die Hand des Assistenten, der die weiteren Worte aufgezeichnet hatte, blieb reglos… Eine Mystifikation? Oder hatten sie falsch verstanden? Eine lange Pause…
»Wie waren doch die Worte, Gamba?« kam es mühsam von Lopez’ Lippen. Dr. Gamba las die aufgezeichneten Worte: »Der Jonas Lee um 10:37 Uhr auf der Venus gelandet!« ---
»Ich denke, wir geben die Nachricht lieber dreimal, sonst glauben sie es da unten nicht«, hatte Ricardo Stamford gesagt, und hatte recht dabei. ---»Es kann nicht sein, unmöglich!« murmelte Professor Lopez vor sich hin. »Irgendein Teilnehmer, der sich einen schlechten Scherz erlaubt hat!«
»Wir dürfen sie nicht weitergeben«, setzte Gamba hinzu. »Wir wären für ewig blamiert, wenn…«
»Der Jonas Lee um 10:37 Uhr auf der Venus gelandet.« Und noch einmal, zum drittenmal, die Worte im Empfangsapparat.
Professor Lopez hielt sich die Ohren zu, lief wie ein Irrer im Raum auf und ab. »Was ist das? Was soll das… ich werde verrückt… Was sollen wir tun?«
Dr. Gamba stürzte zu dem Sender, der mit Buena Vista korrespondierte. »Ich setze mich mit van der Meulen in Verbindung.«
»Gut, mein lieber Gamba!« Professor Lopez stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
Da scholl es schon aus dem Apparat:
»Jawohl, hier van der Meulen. Wie? Die Worte noch einmal! Bravo! Hurra! Wie? Aber selbstverständlich!… sofort raus mit der Siegesbotschaft, alle Welt… Wie? Was? Sie halten die Nachricht für verfrüht, für falsch? Was sagen Sie, es wäre unmöglich?! Aber keineswegs. Es ist sogar selbstverständlich. Ich erwarte sie schon seit einer Viertelstunde.«
Lopez und Gamba sahen sich unsicher an. Lopez schüttelte immer noch den Kopf. »Ich kann es nicht fassen… Dann wäre ja der Jonas Lee viel schneller geflogen.« Er eilte zum Apparat, schrie es hinein.
»Ist er auch, warum denn auch nicht, bei seinen zwanzig Metern Beschleunigung pro Sekunde. Also nochmals, raus mit der Siegesbotschaft! Natürlich zuerst an die Regierung in Buenos Aires.«
Und so machte die Meldung wenige Minuten später ihren Weg über die Erde. Unter den Millionen, die sie vernahmen, war die Masse der Zweifler, der Ungläubigen viel größer als die der Glaubenden.
In den Staaten der Südafrikanischen Union überschlugen sich die chauvinistischen Schreie… Bluff, Lüge… Schwindel!
Doch nicht lange, dann kam die Bestätigung von einer Stelle, deren Glaubwürdigkeit außer allem Zweifel stand. Der ›Witwaters Advertiser‹ brachte folgende Nachricht: »Der Jonas Lee hat den Stern von Südafrika auf halbem Wege überholt.«
William Harrod saß in seinem Arbeitszimmer, die Tür verschlossen. Die Nachricht vom Sieg des Jonas Lee… auch er hatte sie im ersten Augenblick für Bluff, für Schwindel gehalten. Doch dann hatte er sich erinnert, wie er damals auf Cannings Rat seine Spione beauftragt hatte, herauszubekommen, ob in den Beschleunigungsziffern für die Fahrt des Jonas Lee eine Änderung vorgenommen wurde. Die hatten nur gemeldet, daß eine Beschleunigung von elf Metern pro Sekunde geplant sei. Und doch, als der Bau des Stern von Südafrika sich der Vollendung näherte, immer wieder hatte Canning gedrängt, durch fortgesetzte Spionage die Arbeiten an den Apparaten für die Elektronenstrahlung zu überwachen.
Doch stets nur das alte Ergebnis. Elf Meter pro Sekunde Beschleunigung, wie sie auch der Stern hielt.
Jetzt, da lag es vor ihm. Umsonst alles Forschen, Spionieren – schätzungsweise zwanzig Meter pro Sekunde Beschleunigung, so stand es in der Chiffremeldung Bruces’. Harrod knirschte in stummer Wut mit den Zähnen. Wieder geschlagen, van der Meulen. Er stöhnte laut auf.
Canning… was der da gedacht, getan hatte, er verstand ihn wohl. Und wär’s ihm gelungen, den Feind zu rammen, ihm im letzten Augenblick den Sieg zu entreißen, mit dem Sieger zusammen sterben… Unauslöschliche Dankbarkeit bis an sein Lebensende würde er ihm bewahrt haben. – Die anderen Männer, sie hatten ihn hindern wollen. Er nahm das Telegramm. Zwischen den Zeilen war es zu lesen, was sich da oben abgespielt hatte. Vielleicht, daß Cannings Plan gelungen wäre, wenn die anderen nicht im letzten Augenblick eingegriffen hätten. Canning war dann niedergebrochen, in wilden Tobsuchtsanfällen hatte er gerast, die Führung hatte Bruce übernommen. Ein Tag, eine halbe Nacht waren vergangen seit dieser Nachricht; er hatte sich in sein Zimmer eingeschlossen, nicht Schlaf gefunden, keine Speise und Trank angerührt. Vielleicht, daß irgendein glücklicher Zufall dem Stern zu Hilfe käme –
Nein, vollständig geschlagen. Zu Ende war der Kampf. Der Jonas Lee war viele Stunden früher gelandet, ihm gebührte die Ehre, der Ruhm, der Preis, das Erbe der Uraniden.
»Nein… halt!« Ricardo Stamford rief es laut. Er stand auf der Treppe, die, vom Jonas Lee ausgeworfen, den Boden der Venus berührte.
»Kein anderer als unser Meister, der, dem es gebührt, darf zuerst den Fuß auf den jungfräulichen Boden der Venus setzen. Voran, Mr. Lee!«
Dieser stieg langsam die Stufen hinab, trat auf den Boden. Einen Augenblick war es ihm, als schwanke er unter seinen Füßen, seine Arme gingen tastend nach vorn. Der Siegespreis, hier lag er greifbar vor ihm. Wie im Taumel beugte er sich, kniete nieder. Seine Hände griffen in die dichten Grasbüschel und zerrten an der Beute.
»Hier die Flagge!« Ricardo sprang neben Lee, reichte ihm das Banner. Der nahm es und stieß den Stock kraftvoll in die Erde. Ein leichter Windstoß entfaltete die Farben.
Sie waren am sanft abfallenden Rand eines Hochplateaus gelandet. Unter ihnen lag eine weite, baumlose, mit Gras bewachsene Ebene, durch die sich ein schmaler Wasserlauf schlängelte.
Nach Osten stieg die Landschaft zu einem steilen Höhenrücken auf, einem Ausläufer der großen Hochgebirgskette, die sich von Norden nach Süden zog.
In weiter Ferne stieß unvermittelt ein steiler, spitzer Felskegel empor, aus dessen Gipfel dünner, schwarzer Rauch quoll. Südlich davon, am Rande des Plateaus, war eine Stelle, als ständen dort die Ruinen von alten Schlössern, hier und da noch von einem von der Zeit verschonten Turm, einer übriggebliebenen Zinne überragt. Dazwischen standen einzelne gerade Säulen, wie von Menschenhand aufgerichtet. Und doch war alles nur ein Spiel der Natur – ein gewaltiges Erdbeben hatte wohl die riesigen Steinmassen umhergeschleudert, und der Zufall hatte ihnen die verschiedenen Stellungen und Lagen gegeben. Über alledem lag ein bewölkter Himmel. Nur wenige blaue Flecken waren zwischen den Wolkenhängen. Gedämpftes Sonnenlicht hing über dem Ganzen.
Minutenlang starrten alle mit neugierigen Augen auf das Bild. Die neue Welt! Und doch, solange man auch nach Neuem, Ungekanntem spähte – die Landschaft, im ganzen genommen, schien nicht anders als ein Geländeausschnitt der alten Erde. Dazu die Bäume, Sträucher und die Vogelwelt, soweit sie der Blick fassen konnte, kaum verschieden von denen der Erde.
Plötzlich riß Ricardo Stamford sein Fernglas vor die Augen und spähte in die weite Grasebene. Er schrie laut: »Ich will nicht meines Vaters Sohn sein, wenn da unten nicht eine große Büffelherde heranzieht.« Er reichte das Glas Hierra.
»Richtig«, erwiderte der. – »Nun, dann wären ja wohl Perspektiven auf eine Hazienda á la Marguerita gegeben.«
»Das erste Ziel ist erreicht, nun nicht länger säumen, jetzt gilt’s das zweite: Den Platz finden, wo die Uraniden gelandet sind. Vergessen wir nicht, in spätestens vier Stunden wird auch der Stern von Südafrika landen. Nach dem Stand der Sonne zu urteilen, dürfte nach Venusortszeit die dritte Mittagsstunde überschritten sein. Der Stern wird kurz vor Sonnenuntergang kommen. Daß er ebenfalls die nördliche Halbkugel der Venus ansteuern wird, ist selbstverständlich. Ebenso, daß er, wie wir, westlich jener Gebirgszüge zu landen suchen wird. Nach den Beobachtungen der Berliner und Londoner Warten muß sich das Lager der Uraniden westlich dieser Höhenketten befinden. Hat der Stern Glück, landet er dieser Stelle vielleicht näher als wir. Sie sehen, Eile ist geboten. Alles an Bord!«
Ein paar Minuten später hob sich der Jonas Lee in die Luft.
In langsamer Fahrt trieb das Raumschiff in geringer Höhe über das Land. Das Hochgebirge zur Rechten, suchte man aufmerksam nach jener Stelle, die die Filmbilder als Lagerplatz der Uraniden gezeigt hatte. Alle, außer Hierra, der das Schiff führte, spähten mit scharfen Gläsern das unter ihnen liegende Gelände ab, jeder ein Foto der Uranidenbilder vor sich.
Doch die Zeit verrann. Immer weiter trieb das Raumschiff nach Norden. Nichts war zu sehen.
»Vielleicht, daß eine andere Gebirgskette, die ähnlich läuft, die richtige ist, Mr. Lee«, flüsterte Ricardo ihm zu.
Ronald Lee schüttelte den Kopf. »Es kann nicht sein. Diese charakteristische Gipfelhäufung im Süden stimmt unbedingt mit den Filmbildern überein. Ich glaube nur, daß wir aus übertriebener Vorsicht zu weit westlich jenes Gebirgsmassivs suchen. Wir werden umwenden, wieder nach Süden fliegen und dabei näher östlich an das Gebirge herangehen. Jener Vulkan ist leider nicht auf dem Filmbild zu sehen, doch ich vermute fast, daß in seiner Nähe die gesuchte Stelle liegt.«
Er rief Hierra durch das Sprachrohr den Befehl zu, das Schiff zu wenden. Dann begab er sich mit Ricardo nach der Backbordseite und übernahm dort die Beobachtung.
Das Schiff trieb nach Süden und näherte sich dabei den Höhenzügen, in welche das Massiv auslief.
»Langsam fliegen!« schrie Ricardo Stamford plötzlich in das Sprachrohr, stieß Lee an.
»Da unten! Süd zu Südost! Die hohe Baumgruppe hart an der Bergnase… dahinter ein kleines Plateau… mitten darauf… sehen Sie nicht auch?«
»Das Uranidenschiff! Bei Gott, Don Ricardo, Sie haben recht! Es ist’s!«
Lee stürzte zum Sprachrohr.
»Kurs Süd zu Südost! Schneller die Fahrt!«
Jetzt kamen auch die anderen von allen Seiten herbeigestürzt. Sie hatten ebenfalls das ersehnte Ziel erspäht. Immer größer wurde die Erregung, immer ungezügelter die Spannung. Laute Rufe schwirrten durch den Raum. Kaum konnte man’s erwarten, daß die letzte kurze Strecke zurückgelegt würde. Noch lief das Raumschiff stark gebremst auf die Baumgruppe zu, da stießen schon einige die Türen auf und hielten die Treppen bereit, sie auf den Boden zu werfen.
Und dann stand das Schiff still. Ein Drängen, ein Schieben. Man vergaß Lee. Alles stürmte die Stufen hinab, eilte zu der Baumgruppe, dem Uranidenschiff.
Keiner wußte, wohin zuerst. Da stand das Zelt. Da waren noch die Lagerstätten, wo die Kranken geruht hatten. Da der Baum, in dessen Schatten der Sendeapparat jener Weltenfahrer stand.
Lee, der als letzter das Schiff verließ, blieb am Fuße der Treppe stehen. Sein Blick umfaßte die historische Stätte.
Hier also waren andere Menschen, von anderen Sternen, aus anderen Sonnensystemen gekommen, gelandet. Menschliche Wesen im Besitz weit vorgeschrittener Technik. Welche unendlichen Mittel mußten ihnen zur Verfügung gestanden haben, eine solche Fahrt zu unternehmen.
Die nächste Sonne, der Stern Alpha im Sternbild des Stiers, war mehr als vier Lichtjahre von der Erde entfernt… Was bedeutete dagegen die Fahrt des Jonas Lee von der Erde zur Venus über eine Strecke von kaum fünf Lichtminuten! Wie lange waren die Uraniden durch den Weltraum getrieben? Mit welchen Beschleunigungen, mit welchen Geschwindigkeiten hatten sie die unendliche Entfernung überwunden? Welch unvergleichliche Leistung! Welch unerhörter Wagemut!
Und hier angekommen, ihr Ziel, eine andere Erde, von Menschen bewohnt, vor den Augen… fast mit den Händen zu greifen… hier mußten sie scheitern, sterben?
Langsam näherte Ronald Lee sich der Baumgruppe. Sein Auge glitt prüfend über die Gegenstände, die da lagen. Wie lange war es her, daß lebendige Wesen hier weilten.
Waren sie gestorben? Wo waren ihre Leichen? Mochte der letzte die Toten noch begraben haben… wo war er? Wo war sein Leichnam?
Allmählich hatte sich die Erregung seiner Gefährten gelegt. Einer nach dem anderen kam herbei, berichtete, was er gesehen, zeigte einzelne Gegenstände, die er gefunden hatte. Lee schüttelte den Kopf, wies sie zurück.
»Nicht diese unwichtigen Dinge! Suchen wir nach Menschen, mögen sie lebendig oder mögen sie tot sein.«
Er zog die vergrößerten Filmbilder aus der Tasche, sah lange auf eines und suchte mit dem Glase die Gegend im Osten ab.
Hier war die Schlucht, dort der Hang mit den kleinen Hügeln. Da, etwa einen halben Kilometer entfernt, mußte die Stelle liegen.
Er winkte Professor Royas und Ricardo Stamford zu sich und schritt mit ihnen in der Richtung nach der Schlucht. Er hörte nur mit halbem Ohr auf das unaufhaltsame Plaudern Ricardos. Seine Augen waren unverwandt auf den Hang gerichtet.
»Zwölf kleine Hügel, von Osten nach Westen geschüttet.« Je näher er kam, je schneller wurde sein Schritt. Fast lief er das letzte Stück, stand dann an dem letzten der Hügel. Mechanisch ging seine Hand nach oben. Er entblößte sein Haupt und verharrte einen Augenblick. Seine Hände strichen über die Erde und zerrieben sie zwischen den Fingern.
Regen war nicht gefallen. Die Gegenstände unter dem Baum bewiesen es. Und doch, der Boden hier war feucht, frisch, wie erst vor kurzem aufgeworfen…
Der letzte hier begraben? Nein! Einer noch mußte leben, oder war er irgendwo zusammengesunken, an einem versteckten Ort? Dann mußte sein Leichnam noch da sein…
Das Bild jenes letzten – er riß es aus seiner Tasche. Hier war es, das wunderbare Antlitz. Immer wieder hatte er sich in die Züge dieses edlen Kopfes versenkt. Diese hohe Stirn mit dem hellen Haar. Dieses breite, energische Kinn, von starkem Haarwuchs umwuchert. Diese großen, ausdrucksvollen Augen… Waren sie geschlossen? Ruhten sie hier unter diesen Erdschollen?
Nein! Es war nicht möglich. Es konnte ja nicht sein. Der Mann hätte sich ja selbst begraben müssen, wenn er tatsächlich der letzte war.
Und doch! Es war etwas in Ronald Lee, das ihn nicht loskommen ließ von dem Gedanken: hier ist das Grab des letzten der zwölf! Hier ist das Grab des Mannes, den das Bild in seiner Hand darstellte.
Er wandte sich zurück zu Ricardo.
»Lassen Sie die anderen nicht näher herankommen. Es genügt, wenn Sie beide als Zeugen dienen… wenn ich jetzt die Ruhe dieses Mannes störe.«
Mit Royas’ Hilfe räumte er die Erde des Hügels zur Seite. Ricardo wollte ein paar Werkzeuge holen, doch Lee winkte ihm unwillig ab.
Und dann schreckten ihre Hände plötzlich zurück. Durch die letzte leichte Erddecke schimmerte es hell. Ein weißer Kittel. Vorsichtig, behutsam schob Lee die Erdkrumen zur Seite. Da, wo das Grab erhöht war, ein Tuch, er zog es sacht zurück… in andächtigen Schauern starrten sie in das Antlitz des Toten.
Lee murmelte wirre Worte.
»Er ist’s! Er muß es sein!« Mit zitternden Händen nahm er das Bild und legte es neben den Kopf des stillen Schläfers. Alles stimmte überein: die Stirn, das Kinn, der Mund.
Nur Stunden konnten vergangen sein, seitdem er hier begraben wurde. Unverändert, so wie er gestorben war, lag er hier. Lange standen sie vor dem Toten. Dann deckten sie das Grab schweigend wieder zu. Royas deutete auf den Grabhügel.
»Die anderen müssen zum Teil schon vor langen Tagen gestorben sein. Unverkennbar sind Regen und Tau schon öfter als einmal auf die ersten Gräber gefallen. Wer den hier begrub, der muß noch leben. Hatte er die Kraft, dieses Grab zu schaufeln, den Leichnam hierherzubringen, ihn in die Erde zu betten, er kann nicht so krank gewesen sein, daß er nicht noch am Leben sein müßte. Wir müssen ihn suchen, finden. Vielleicht, daß wir ihm helfen können.«
Lee nickte stumm. Ricardo antwortete:
»Ja, wir müssen nach ihm suchen, vielleicht sind es noch mehrere. Wo sie sind, wird auch alles sein, was wir auf dem Lagerplatz vergeblich gesucht haben. Und schnell müssen wir handeln, ehe Canning kommt.«
»Sie haben recht, Don Ricardo. Ich denke, das Suchen übernehmen Sie und Ihre Brüder als geübte Jäger. Hierra wird mit Cruzado und den übrigen den Jonas Lee zu einem Fluge über den Kontinent klarmachen und überall gemäß den Bestimmungen des Völkerrechts Flaggen werfen. Unser Besitzrecht muß unanfechtbar kenntlich gemacht sein, bevor die Leute der Südafrikanischen Union kommen.«
Während die drei Brüder Stamford sich auf die Suche begaben, trat Lee in das Raumschiff der Uraniden. Das Schiff war von gewaltigen Ausmaßen, reichlich doppelt so groß wie der Jonas Lee. Langsam durchforschte er die einzelnen Räume. Er verweilte am längsten in der Zentrale. Trotz der Größe des Schiffes waren die Maschinenanlagen bedeutend kleiner als die des Jonas Lee, der Mechanismus von einer unendlichen Einfachheit.
Staunend betrachtete Ronald Lee die einfache und doch so überaus sinnreiche Konstruktion. Aber das war alles nur möglich, wenn man einen so idealen Baustoff hatte, wie ihn die Uraniden besaßen. Er löste ein paar Schrauben, prüfte die losen Teile. Fast gewichtslos waren diese Stücke gegenüber dem Stahl, aus dem viele Teile der Maschinerie seines eigenen Schiffes bestanden. Nach welchem Verfahren wurde dieser Baustoff gewonnen? Die chemische Analyse würde kaum viel helfen. Gewiß, es mußte eine Legierung zweier Gase sein. Darüber hatte der Film keinen Zweifel gelassen. Aber auf welchem Wege wurden sie zu dieser Verbindung als starres Metall gezwungen?
Alles, die Hülle des Schiffes, die innere Einrichtung, die Gebrauchsgegenstände, bestand aus dem gleichen grauschimmernden Leichtmetall. Die Formen zeigten hochentwickelte, künstlerische Linien.
In einem Raume, der anscheinend als Messe gedient hatte, stand noch Geschirr mit Speiseresten. Es waren offensichtlich synthetische Lebensmittel. In einem Raum, der daran stieß, lagen noch Vorräte solcher Speisen.
Wie lange waren die Uraniden geflogen? Mehr als vier Lichtjahre, länger als vierzig Billionen Kilometer war ihr Weg… Die Streitfrage, um die es noch immer auf der Erde ging: war es möglich, durch fortwährende Beschleunigung die Fahrtgeschwindigkeit über die des Lichtes hinaus zu steigern… oder die andere Meinung, daß ein Raumschiff trotz aller Beschleunigungen nie die Lichtgeschwindigkeit erreichte, daß aber die Zeit für die Weltenfahrer stillstand, diese Streitfrage war für die Uraniden durch ihre Fahrt gelöst. War sie in dem letzten Sinne entschieden, so waren sie ja nur wenige Tage unterwegs gewesen, während auf ihrem Heimatstern gleichzeitig viele Jahre verflossen. Aber wo war ein Anhaltspunkt, wie war die Frage gelöst? Aus den noch vorhandenen Lebensmitteln war zunächst kein sicherer Schluß zu ziehen. Erst durch eine chemische Untersuchung konnte man der Frage näherkommen.
Eine Überraschung bot eine kleine Kabine, anscheinend der Wohnraum des Kommandanten. Einige Bilder hingen an den Wänden. Familienangehörige vermutlich. Zwei Frauenköpfe, ein paar Kinderfiguren. Gewisse Ähnlichkeiten in den Zügen der Kinder ließen auf Verwandtschaft mit dem Führer schließen. Die natürlichen Farben der Bilder zeigten eine Bevorzugung der bläulichen und violetten Töne und brachten etwas Fremdartiges in die Figuren, obwohl die Gesichtsbildung durchaus derjenigen irdischer Menschen entsprach.
Lee staunte und überlegte. Aber freilich, es mußte so sein. Die Uraniden wohnten ja im Schein einer viel heißeren Sonne. Viel weiter nach der blauen Seite des Farbenspektrums hin lag das Strahlungsmaximum jenes Feuerballes, der ihren Planeten beleuchtete. Ebenso wie das Menschenauge sich in unendlich langer Entwicklung der Sonnenstrahlung angepaßt hatte, deren Höchstwert im Grüngelb liegt, so das Auge dieser Uraniden an die stärkere blaue Strahlung ihrer Sonne.
Auch ihre Körpergröße unterschied sich von der irdischer Menschen. Wohl um Haupteslänge mußten sie diese durchschnittlich überragen. Untrüglich ging das aus den Abmessungen der Möbelstücke hervor. Die im allgemeinen verblüffende Übereinstimmung dieser Sternenmenschen mit den Erdbewohnern war nur so zu erklären, daß ihr Heimatstern ganz ähnliche physikalische Verhältnisse und Lebensbedingungen bieten mußte wie die Erde. Nur dann konnten dort nach dem Grundsatz von der Universalität der Naturgesetze menschengleiche Wesen entstehen.
Lange stand Lee vor den Bildern dieser Uraniden. Wie mochten diese jetzt des kühnen Mannes gedenken, des Vaters, des Gatten. War es den Weltraumfahrern möglich gewesen, in Radioverbindung mit dem Heimatstern zu bleiben? Wußten die Angehörigen, welch trauriges Schicksal ihre Lieben ereilte? Unüberbrückbar für irdische Technik blieb diese Riesenentfernung.
Wie wohlig war das Gefühl für ihn und seine Genossen, mit den Angehörigen auf der Erde jederzeit Nachrichten austauschen zu können… Hortense! Seine Gedanken flogen zu ihr. Mit zärtlicher Ungeduld erwartete er schon längst Antwort auf seine Siegesmeldung. Seine Gedanken gingen weiter. Wie lange würde es dauern, und sie kam mit van der Meulen und Violet hierher. Sein Glück wäre dann vollkommen.
Er durchsuchte noch einmal das ganze Schiff. All sein Interesse war darauf gerichtet, die Ursache zu entdecken, die jene zur Notlandung hier auf der Venus genötigt hatte. Eine Notlandung mußte es gewesen sein, denn sonst hätten sie die im Verhältnis zu ihrer Riesenfahrt winzig kleine Strecke bis zur Erde auch noch zurückgelegt. Sorgfältig prüfte er jeden Teil, jeden Hebel der Apparatur… und wurde an sich selber irre. Da mußten doch wichtige Teile des Triebwerkes fehlen… Hatte man sie herausgenommen, um sie zu reparieren? Oder wo waren sie geblieben? Vergeblich suchte er die Lösung des Rätsels. Er trat jetzt in die Öffnung der Außentür. Sein Blick ging zu dem zweiten Empfangsapparat aus dem Jonas Lee, den Hierra hier aufgestellt hatte. Er sah schärfer hin. Der Fernschreiber arbeitete. Er eilte hinzu, nahm das Papierband in die Hand und las…
Der Glückwunsch aus Buena Vista… die Namen van der Meulen, Hortense, Violet… die Buena Vista startbereit. Das war das wichtigste. In 36 Stunden würde sie landen. Seine Gedanken verwoben sich mit dem Schiff. Es war in allen seinen Teilen gebaut wie der Jonas Lee. Sein Kapitän Juan Urdaneda war ein unbedingt zuverlässiger, tüchtiger Ingenieur. Er würde seine Leute sicher hierherführen…
Doch vorher würde Canning kommen. Dies Zusammentreffen von Menschen, die gemeinsames Schicksal zu verbinden und nicht loszulassen schien – ein Konflikt mit den Männern des Stern von Südafrika –, er konnte ihm ruhiger entgegensehen. Die Verstärkung seiner Macht durch das zweite Schiff war in jeder Beziehung wertvoll, da weitere Schiffe aus der Südafrikanischen Union vorläufig nicht zu erwarten waren.
Sein Auge ging zur Sonne. Sie neigte sich dem Saume der riesigen Ebene im Westen zu. Bevor das Tageslicht schwand, mußten sie wieder da sein, seine Gefährten.
Ob Ricardo und seine Brüder etwas gefunden hatten? Die Frage war so wichtig! Und doch gab es in seinem Innern kaum einen stärkeren Grad der Spannung. Alles, was sein Hirn aus dem hier Geschehenen kombinierte, ließ ihn nur wenig hoffen.
Vielleicht ist es besser so, murmelte er resigniert. Er ist der Größere. Er weiß, was der Menschheit gebührt. Die Erfahrung steht auf seiner Seite.
Ronald Lee schritt zu dem einzelnen Baum, unter dem die Kranken gelegen hatten. Unter einer Glasglocke lag ein Apfel. Er nahm ihn in die Hand. Eine köstliche Frucht dem Äußeren nach und doch die Bilder, dies warnende Weisen und Deuten auf die Frucht. Ein Erdbewohner hätte vielleicht ein Kreuz dabei gemacht.
Von diesen Früchten hatten die Uraniden gegessen. Ahnungslos, getäuscht durch das prächtige Aussehen, den würzigen Duft. Jeder seiner Gefährten hatte den Apfel gesehen, jeder den anderen gewarnt. Gedankenverloren steckte er ihn in die Tasche. Wenn der Jonas Lee zurückkam, wollte er die Frucht für eine spätere chemische Untersuchung konservieren.
Der Jonas Lee! Da kam er von Süden herangeflogen, schwebte wenige Sekunden später über seinem Kopf und landete. Ein paar tausend Flaggen in den Farben der Südamerikanischen Union hatte man über Nova America abgeworfen, völkerrechtlich das Land dadurch in Besitz genommen.
Hierra gab einen kurzen Bericht, doch nicht viel Neues konnte er erzählen. Der Flug des Jonas Lee war in geringer Höhe mit solcher Schnelligkeit vor sich gegangen, daß sie kaum mehr als bei ihrer ersten Landung festgestellt hatten. Das eine war sicher, daß es sich hier um einen auf allen Seiten von breiten Weltmeeren umgebenen Venusteil von etwa der Größe Afrikas handelte, dessen schmale Südspitze eben noch in die Äquatorialzone hineinreichte. Das Land war von großen Wäldern und Grasebenen bedeckt, die von zahlreichen Flüssen durchzogen waren. Die Hochgebirgskette verflachte sich nach Süden zu.
Während Hierra noch sprach, näherten sich vom südlichen Waldrande her Ricardo und seine Brüder. Näherkommend schwenkte Ricardo die Hand und wies auf die Brüder, die unter der Last einer geschossenen Antilope keuchten.
»Die einzige Beute! Sonst nichts. Keine Spur, kein Zeichen, daß, wo wir gesucht hatten, Uraniden gewesen wären.«
Während Lee mit Hierra in das Raumschiff zurückging, um die formelle Besitzergreifung von Nova America der Regierung in Buenos Aires zu melden, zündeten die Brüder ein Feuer an. Wenige Minuten später drehte sich ein großes Stück Fleisch am Spieß über den Flammen.
Die Nacht brach herein… die erste Nacht auf der Venus.
»Der Stern von Südafrika kann nicht mehr weit sein, Mr. Lee«, sagte Professor Royas und trat mit ihm ins Freie. »Es wäre vielleicht besser, das Feuer zu löschen. Denn warum sollen wir jenen die Landung erleichtern. Sie werden bei dieser Beleuchtung große Schwierigkeiten haben, den Lagerplatz der Uraniden anzusteuern.«
Lee überlegte einen Augenblick und wollte dann den Befehl geben, das Feuer zu löschen. Da brach ein heller Blitz aus den. Wolken. Alles sprang auf und schaute nach oben.
»Ein Scheinwerfer des Stern von Südafrika!« rief Hierra, »nichts anderes kann es sein!« Er brummte vor sich hin: »Der Braten kann uns vielleicht teuer zu stehen kommen.«
Ein paar erwartungsvolle Sekunden, dann senkte es sich schwarz und massig aus den Wolken herab. Nur etwa zwei Kilometer nach Norden von dem Jonas Lee entfernt setzte der Stern von Südafrika auf den Venusboden auf.
Auch der Stern landete glücklich. Durch die offene Tür betraten die Insassen den Venusboden. Doch hier gab es kein frohes Jubeln und Hurrarufen. Wohl steckte Canning den Flaggenstock in den Boden und brachte drei Hochrufe auf das Unionbanner aus. Doch das Echo seiner Genossen war nur schwach. Alle hatten, als das Schiff die Wolkenwand durchstieß, den Feuerschein am Venusboden gesehen. Das helle Licht ihrer Scheinwerfer hatte ihnen gezeigt, daß es wahr geworden: der Jonas Lee war am Lagerplatz der Uraniden gelandet.
Die Dunkelheit verbot ein Besichtigen der Umgebung. Bedrückt, mit verdrossenen Gesichtern begab sich einer nach dem anderen von der Mannschaft des Stern von Südafrika zur Ruhe.
Canning stand am Sendeapparat. Seine Gedanken weilten bei William Harrod, dem er soeben die Nachricht von der Landung übermittelt hatte. Im stillen hatte er gehofft, daß Lee vielleicht den Platz, an dem das Uranidenschiff gelandet war, noch nicht gefunden hätte. Daß er selbst vielleicht doch noch das Glück haben könnte, wenigstens dies Ziel als erster zu erreichen, das Erbe der Uraniden.
Wieder die harte Hand des Schicksals, wie er sie in seinem Leben schon so oft gespürt hatte. Diese technischen Meisterwerke, diese für Menschengeist noch unerreichbaren technischen Leistungen… Sicher noch viel mehr, als der Film gezeigt hatte, bot die Hinterlassenschaft der Uraniden… Und der, der ihm schon so viel raubte, Ronald Lee, war in ihrem Besitz.
Seine Gedanken gingen zu seinem kostbaren Schatz, seinem treuen Diener, dem Strahler. Er hatte ihn bei sich. Doch wie ihn hier verwenden? Unmöglich!… Halt! Er sprang auf. Der andere Diener… Auch er war bisher treu und gut. Sarata… Vielleicht, daß er…
Er ging in seine Kabine, wo der Inder in einer Ecke am Boden sein Lager aufgesucht hatte, und sprach mit ihm.
Dieser nickte und verließ das Schiff. Er schritt in der Richtung des Uranidenlagers in die dunkle Nacht. –
»Hallo! Hallo, Juan!… Wahrhaftig, der Kerl schläft.«
Ricardo beugte sich zu Boden, rüttelte den Bruder. »Du bist mir ein schöner Wachtposten. Den Jonas Lee mit seinen sämtlichen Insassen hätten die stehlen können. Ich will hoffen, daß du noch nicht lange eingeschlafen bist. Schweig nur um Gottes willen still, daß die anderen nichts erfahren. Marsch ins Schiff! Ich löse dich ab… Juan! Hörst du denn nicht? Verstehst du mich denn nicht?«
Er trat erstaunt einen Schritt zurück. Der Bruder schien in einem bleiernen Schlaf gelegen zu haben und schien mit Mühe das Bewußtsein wiederzuerlangen. Jetzt reckte er sich, erhob sich halb und sank dann, wie der Ermüdung nachgebend, wieder zurück.
»Juan! Was soll das? Ich kenne dich nicht wieder… Oder bist du krank?«
Er griff seinem Bruder unter die Arme und hob ihn empor. Der taumelte, stützte sich schwer gegen einen Baum.
»Juan, du bist krank?«
Der Bruder schüttelte den Kopf, strich sich mit der Hand schwer über die Stirn.
»Krank? Nein, Ricardo… Ich bin nur sehr müde… mein Kopf… er ist so schwer…«
»Hast du Fieber?« unterbrach ihn Ricardo. Er nahm seine Hand, fühlte den Puls und schüttelte dann den Kopf.
»Nein, der Puls ist durchaus in Ordnung. Doch komm! Setze dich hier an den Baumstamm… Die kühle Nachtluft wird dir besser tun als der Aufenthalt im Schiff. Und nun berichte! Wie hast du dein Übelbefinden zuerst verspürt? Wie kam das über dich?«
Juan Stamford besann sich eine Weile, dann sagte er:
»Ich mochte wohl seit einer Stunde hier den Wachtposten übernommen haben. In der Richtung nach Norden glaubte ich ein paarmal ein leises Geräusch zu hören, als nähere sich irgendein Tier. Doch dann war es wieder still. Ich hörte nichts mehr… und dann wieder…« Er sann lange, sprach dann mit abgerissenen Worten, »dann war mir’s, als lege sich etwas Dunkles, Schweres über mich. Meine Sinne begannen zu schwinden… ich wehrte mich vergeblich… und dann… war’s ein Traum… war’s Wirklichkeit?… Noch hatte ich Spuren von Bewußtsein, dann sprach eine fremde Stimme zu mir. Fragte mich… ich antwortete…«
»Du hast geträumt, Juan. Die Fülle der Ereignisse der letzten Stunden hat deinen Geist übermüdet.«
Juan schüttelte den Kopf. »Immer mehr sagte ich, es war kein Traum… war Wirklichkeit… Aber nein, es kann ja nicht sein…«
»Gewiß! Du hast geträumt! Nichts anderes. Geh jetzt in das Schiff, schlafe! Der morgige Tag wird vielleicht einige Überraschungen bringen.«
Ricardo schaute dem Bruder, der langsam dem Raumschiff zuschritt, nachdenklich nach. Seine Augen gingen ein paarmal mißtrauisch nach Norden.
Ich werde das doch morgen früh Mr. Lee mitteilen. –
»Die andern haben nichts gefunden, Mr. Canning.«
»Nichts?« stieß dieser mit heiserer Stimme heraus. »Unmöglich! Da steht ja noch das Uranidenschiff.«
Sarata zuckte die Achseln. »Ich kann nur sagen, was jener Tölpel mir im Tiefschlaf verriet. Gewiß. Man hat allerlei Gegenstände gefunden, aber nichts von Belang…«
»Belang! Was willst du damit sagen? Von Belang ist alles, was die da zurückgelassen haben.«
»Nein! Ich meinte das, worauf die Welt so gespannt, so neugierig ist. Die Filme! Die Dokumente! Dinge, die von besonderem technischem Wert sind.«
Canning schaute den Inder mißtrauisch an.
»Wie willst du das festgestellt haben?«
»Nun«, sagte Sarata, »man hat schon stundenlang danach gesucht und nichts gefunden.«
»Ah!« Canning trat erstaunt einen Schritt auf den Inder zu. »Dann leben also noch einer oder mehrere von der Besatzung des Uranidenschiffes, die diese Dinge mitgenommen haben?«
»Es muß so sein, Mr. Canning. Denn wohin wären sie sonst verschwunden?«
»Gut! Gut!« murmelte Canning vor sich hin. »Noch bietet das Schicksal eine Chance. Auch wir werden suchen, sobald der Tag anbricht. Vielleicht, daß wir glücklicher sind… Halt, Sarata!«
Ein plötzlicher Gedanke war in Canning aufgeblitzt. Er ergriff den Inder heftig an der Schulter.
»Deine Kunst, warum sollen wir sie hier nicht versuchen? Vielleicht, daß sie uns hilft, uns einen Fingerzeig gibt…«
Der Inder zögerte einen Augenblick. »Sarata ist müde, später…«
»Nein! Sofort! Jetzt sofort! Ich lasse dich nicht. Wo befindet sich der Schatz der Uraniden? Die Frage, du wirst, du mußt sie beantworten können.«
Unter den zwingenden Blicken Cannings gab der Inder nach. Er setzte sich mit gekreuzten Beinen auf die Erde. Seine Rechte umklammerte die Elfenbeinkugel.
Minuten verstrichen. Seine Pupillen wurden starr. Der Atem ging kaum merkbar. Er lag im magnetischen Schlaf. Da plötzlich, der Körper bebte in konvulsivischen Zuckungen. Die weit geöffneten Augen verrieten Schrecken und Entsetzen. Der Mund stammelte wirre Rufe.
Canning sah besorgt den eigentümlichen Zustand des Inders und suchte vergeblich den Grund dafür zu erraten. Dann plötzlich, als wolle er flüchten vor einer Gefahr, sprang der Inder auf und klammerte sich an Cannings Schultern.
Der entsann sich früherer hypnotischer Experimente. Ein Versuch… vielleicht, daß es gelänge, den Inder zu wecken. Er nahm dessen rechten Arm. Seine Linke strich über die Stirn Saratas, die, wie von Angstschweiß bedeckt, kalt und naß war.
»Wach auf! Wach auf!« gab er im Geist den Befehl. Endlich… es war gelungen. Sarata wurde ruhiger. Die Starre seines Körpers löste sich. Er sank zu Boden. Canning kniete neben ihm nieder.
»Sage mir, was du sahst. Der Schatz der Uraniden! Wo ist er? Wer hat ihn?«
Da! Kaum, daß die Frage an sein Ohr gedrungen, fing Sarata wieder an zu zittern. Seine Augen füllten sich mit Entsetzen, Schrecken. Seine Hände gingen abwehrend zu Canning.
»Niemals fragen Sie wieder! Niemals! Ich müßte sterben, wenn ich das Bild noch einmal sähe…«
»Sarata! Bist du ein Kind? Diese Frage, wie kann sie dich so erregen? Was sahst du? Sprich!«
»Niemals wirst du’s erfahren!« Der Inder sprang auf. Wie von Furien gehetzt, lief er davon und verschwand im Raumschiff.
Ronald Lee saß in seiner Kabine. Vergeblich hatte er Schlaf gesucht.
Der Schatz der Uraniden! Schon längst hatte er die Nachricht zur Erde gegeben von dem Verschwinden der wichtigsten, kostbarsten Teile des Schatzes, von dem vergeblichen Suchen nach ihrem Verbleib.
Er verwarf die Grübeleien, die sich ihm aufdrängten, ihn wieder martern wollten! Trotz allen Zweifeln, der kleine Funke Hoffnung, daß er sie doch noch fände…
Wenn nicht morgen, übermorgen… Lebte noch einer der Uraniden, konnte er nicht allzuweit sein. Der kleine Funke Hoffnung war in ihm… Jetzt war Canning da. Sollte er vielleicht der Glückliche sein?
Alles in ihm wallte auf, sträubte sich gegen den Gedanken… Diesem Canning das Suchen verbieten! War es nicht Lees Recht? Stand es nicht in seiner Macht? Zwar war er Engländer geblieben. Aber die südamerikanische Regierung hatte ihm weitgehende Vollmacht gegeben. Doch was tun, wenn jener sich weigerte?
Er ging zur Kabine Hierras, weckte ihn und sprach lange mit ihm. Dann begaben sie sich zu dem Radiosender, schickten einen chiffrierten Ruf an die Regierung in Buenos Aires. Die Verhandlung dauerte lange. Je länger sie dauerte, desto deutlicher fühlte Lee, wie man einer strikten Beantwortung seiner Frage, erforderlichenfalls mit Waffengewalt den lästigen Gegner fernzuhalten, auswich.
»Lassen wir’s genug sein, Señor Hierra. Wir werden nicht klüger dabei. Man will die Verantwortung nicht tragen, das ist deutlich zu erkennen. Man will uns keinen direkten Auftrag geben, hier notfalls Gewalt anzuwenden. Mir selbst, Sie werden mir’s glauben, wäre es natürlich auch in höchstem Grade unerwünscht, mit den anderen, mögen sie auch unsere Nebenbuhler sein, in blutigen Streit zu geraten. Haben sie doch ebenso wie wir ein so kühnes, gefährliches Unternehmen vollendet… Und doch! Es wäre nicht ausgeschlossen, daß es die Lage verlangte… Gewalt… Jedenfalls will ich insofern nach der Weisung der Regierung handeln und morgen früh Professor Royas zu Mr. Canning schicken. Es trifft sich gut, daß Royas ein Bekannter von Oberst Robartson ist. Robartson ist ein vernünftiger, anständiger Charakter. Vielleicht, daß sich durch seine Vermittlung alles zum Guten wendet…«
»Ah! Sie wollen uns besuchen, Mr. Royas. Welche Ehre! Ich hatte Sie trotz unserer alten Bekanntschaft kaum erwartet.«
»Oh!« erwiderte der Professor lachend, schüttelte dem Oberst kräftig die Hand. »Der Wirt muß doch seine Gäste begrüßen.«
Oberst Robartson verzog ein wenig das Gesicht, die eine Hälfte wie lachend, die andere wie ernst.
»Wirt? Gäste? Mein lieber Royas, Sie betrachten uns als Ihre Gäste?«
»Nun, gewiß, Mr. Robartson. Wir sind die Herren des Landes. Es ist von uns in formeller Weise in Besitz genommen…«
»Und wir sind ungebetene, unerwünschte Gäste in Ihrem neuen Reich?«
»Nun, mein lieber Oberst, nicht ganz. Unerwünscht, ungebeten… wie man’s nimmt.«
»Es hängt von unserem Verhalten ab, wollten Sie sagen«, vollendete Robartson dessen Worte.
»Das trifft wohl zu, Colonel. Und Ihrem Kommandanten, Mr. Canning, das zu sagen, bin ich hierhergekommen.«
Oberst Robartson machte ein bedenkliches Gesicht.
»Ich will mich mit Ihnen, lieber Royas, nicht in einen Streit einlassen, ob Ihr Standpunkt richtig ist oder nicht. Ich möchte Ihnen nur sagen, daß Sie bei Mr. Canning unbedingt auf Widerstand stoßen werden. Er hat mit uns den Fall schon besprochen. Er ist entschlossen, keinen Fußbreit von hier zu weichen.«
»Sie wissen vielleicht nicht, daß wir diesen ganzen Venusteil überall mit Flaggen beworfen haben. In einer Weise, die nach völkerrechtlichen Begriffen der Erde einen unangreifbaren Besitztitel gibt.«
Der Oberst runzelte die Stirn. »Ah! Das hatten Sie schon getan? Allerdings! Das wäre… Doch einerlei! Meine persönliche Meinung ist ja nicht maßgebend. Mr. Canning, ich versichere es Ihnen nochmals, wird sich durch nichts bewegen lassen, hier fortzugehen oder gar – nun, ich denke, so weit werden Ihre Ansprüche nicht gehen, die ganze Venus okkupiert zu haben –, also die Venus überhaupt zu verlassen. Doch kommen Sie! Da tritt eben Mr. Canning aus dem Zelt. Wir wollen ihm entgegengehen. Er beabsichtigt, eine größere Streife in die Umgegend zu machen.« –
Mit gleichmütiger Miene hatte Canning Professor Royas sprechen lassen. Kein Zug in seinem bleichen Gesicht veränderte sich, als er jetzt kurz die Antwort gab.
»Wollen Sie Ihrem Auftraggeber, Mr. Lee, bestellen, daß ich das Besitzrecht der Südamerikanischen Union über diesen Venusteil nicht anerkenne.«
»Vergessen Sie nicht die etwaigen Konsequenzen, Mr. Canning. Die Okkupation ist unserer Regierung mitgeteilt. Diese hat unsere Handlung für gültig, bindend erklärt. Bedenken Sie also, daß hinter meinen Worten auch die Regierung der Südamerikanischen Union steht.«
»Sie sprechen von möglichen Konsequenzen, Mr. Royas… So bestellen Sie auch weiter, daß ich alle Konsequenzen zu tragen wissen werde…« Mit einer leichten Verbeugung verabschiedete er sich, ging zu einer Gruppe von fünf seiner Gefährten, die bewaffnet auf ihn warteten.
»Vorwärts! Unser erstes Ziel ist jene Schlucht dort im Osten hinter dem Uranidenlager…«
»Mr. Robartson«, Royas wandte sich erregt an diesen, »in der Schlucht sind die Gräber der Uraniden… Lee wird auf keinen Fall dulden, daß Ihre Leute vielleicht mit gierigen Händen sie durchwühlen. Ein Unglück würde entstehen, ich warne Sie. Versuchen Sie, Canning zurückzuhalten!«
Robartson schüttelte den Kopf.
»Ich würde es vergeblich versuchen. Sie kennen Canning nicht. Und wenn Sie ihn kennten, würden Sie ihn jetzt kaum wiedererkennen. Der Zusammenbruch all seiner Hoffnungen hat ihn verwandelt. Dieser nur durch ein Wunder vermiedene Zusammenstoß der beiden Schiffe, ob ein Versehen oder Schuld, wir wollen darüber nicht sprechen – seine Nerven sind zum äußersten gespannt. Er ist zu allem fähig.«
»So möge es kommen, wie es wolle! Ich habe alles getan, was in meinen Kräften stand.« Royas verabschiedete sich mit einem kurzen Händedruck und schritt eilig seinem Lager zu. Dort traf er alles in höchster Erregung. Die drei Brüder Stamford hatten ihre Waffen geholt, drangen in Lee, der bleich, mit zusammengebissenen Zähnen dastand und überlegte.
Schon hatte sich Canning mit seinen Gefährten auf dreihundert Schritte dem Eingang der Schlucht genähert…
Da! Als hätte eine unsichtbare Hand sie zu Boden geschleudert, stürzten die Männer zur Erde. Auch Lee selbst und die um ihn standen, hielten sich kaum auf den Füßen.
Ein rasender, wirbelnder Stoß, dem ein nachhallendes Donnern und Krachen folgte. Wie gebannt starrten alle nach der Schlucht hin, von der das Dröhnen kam. Wo war die jetzt?
Die ungeheuren Staubwolken, die darüber lagerten, jetzt vom Wind weggerissen wie die Schleier von einem Bild – die Schlucht war verschwunden, die steilen Hänge wie die Kulissen einer Dekoration zusammengebrochen, im Sturz mit ihren Massen die Schlucht füllend. Ein einziges großes Grab der Natur für jene toten Weltenfahrer. Keine menschliche Hand, die es wagen könnte, diese Massen wegzuschaffen, die Ruhe der Toten zu stören.
Das plötzliche, unerwartete Ereignis hatte alle in Schrecken und Staunen versetzt. Ein Erdbeben? Unwillkürlich gingen alle Blicke zu dem Vulkankegel. Warf der stärkere Rauchwolken aus? Nein! Unverändert, so wie sie sie zuerst gesehen hatten, hing die dünne, dunkle Säule über seiner Spitze.
Ein Erdbeben, so lokal begrenzt, daß sie nicht die starken, wellenartigen Bodenerschütterungen verspürten, wie war das möglich?
»Sie bestehen also darauf, mitzufahren, Miß Violet?«
»Aber natürlich, Mr. van der Meulen. Immer wieder diese Frage!«
»Ja, liebe Violet, ich sehe keinen triftigen Grund, daß Sie die immerhin nicht ungefährliche Fahrt mitmachen wollen. Ihre Liebe, Ihre Anhänglichkeit an Hortense in Ehren. Aber Sie dürften sich vielleicht nicht ganz klar darüber sein, wie zunächst unser Leben auf der Venus sein wird. Sie werden dort viele der Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten von Buena Vista vermissen.«
»Und daß ich meinen Bruder Ronald gern wiedersehen möchte, ist für Sie auch kein triftiger Grund, Mr. van der Meulen?«
»Oh, das wäre schon ein Grund, wenn nicht die Trennung erst einige Tage alt wäre.«
»Mögen Sie sagen, was Sie wollen! Ich will doch mitfahren. Ein Traum versprach mir, ich würde etwas Schönes erleben.«
Van der Meulen lachte laut.
»Allerdings! Dann, Miß Violet, will ich kein Wort mehr sagen. Der schöne Traum schlägt alle anderen Gründe. Möge er wahr werden! Hortense jedenfalls wird sich freuen. Ah, da kommt sie mit General Serrato.«
In Begleitung des Siegers von Coiba kam Hortense auf das Haus zugeschritten. Als sie eintraten, schritt van der Meulen ihnen entgegen.
»Ein neues Telegramm, Herr General. Das erste Zusammentreffen der beiden Parteien ergab schon gleich einen Zusammenstoß. Ich begrüße Ihre Mitfahrt jetzt doppelt. So oder so! Mr. Canning wird sich der Autorität unserer Regierung, die sich in Ihrer Person verkörpert, nicht entziehen können. Lesen Sie das Telegramm.«
Die Brauen des Generals zogen sich beim Lesen zusammen.
»Ein glücklicher Zufall, so muß ich’s nennen, hat diesmal noch den offenen Streit verhindert. Ich lese zwischen den Zeilen, daß Lee auf keinen Fall ein öffnen der Gräber geduldet haben würde.«
»Ich verstehe nicht, Herr General, daß sich die südafrikanische Regierung weigert, Canning gemäß der veränderten Situation Instruktionen zu geben. Einerseits erkennt sie, wenn auch mit starken Einschränkungen, ein vorläufiges Besitzrecht der Südamerikanischen Union auf den Venusteil Nova America an. Andererseits weigert sie sich, ihrem Mann entsprechende Order zu geben.«
»Sie sagen, Señor van der Meulen, die südafrikanische Regierung habe unseren Besitz anerkannt, wenn auch unter Vorbehalt… Ja, die Einschränkungen sind derartig, daß man von einer Anerkennung kaum sprechen kann. Ihre Erklärung zu den Pressestimmen vor dem Flug des Stern von Südafrika ist schon bezeichnend genug.
Damals, als jedermann fest überzeugt war, der Stern würde zuerst auf der Venus landen, überschlugen sich die südafrikanischen Zeitungen. Einstimmig waren sie alle der Meinung, daß der Venusteil, der von dem Stern angesteuert und zuerst erreicht würde, zweifellos südafrikanisches Eigentum sei. Schon allein das Aufpflanzen der Flagge kennzeichne die gültige Besitznahme. Ein Auswerfen von weiteren Flaggen erübrige sich, da ja schon vor der Landung der Venusteil in seiner ganzen Ausdehnung von den Raumfahrern gesehen, festgestellt werden könne, ein Zweifel über die Ausdehnung und Größe des Gebietes bei der Aufpflanzung der einen Flagge daher nicht möglich sei.
Jetzt erklärt die südafrikanische Regierung all diese Presseäußerungen – es waren darunter auch offiziöse – für nicht verpflichtend, für unmaßgebliche Privatäußerungen, und behauptet, daß durch die Landung eines Schiffes mit so geringer Besatzung unmöglich ein Gebiet dieser Größe in Besitz genommen werden könne.
Es fehle für die Besatzung die Möglichkeit, ihre Hoheitsrechte erforderlichenfalls überall ausüben zu können, wobei es ohne Bedeutung sei, daß bei der Landung auf der Venus andere Menschen nicht vorhanden waren. Wie sich die Verhältnisse weiter gestalten werden, wird viel davon abhängen, ob und von wem die Hinterlassenschaft der Uraniden gefunden wird.«
Van der Meulen nickte.
»Ja, ja! Und da lese ich aus Lees Telegrammen eine auffällige Resignation heraus. Er hat doch in seinen Meldungen an Worten nicht gespart. Aber nichts zeigt an, daß er über das bisherige Nichtfinden des Schatzes besonders deprimiert wäre. Ich muß fast annehmen, anders kann ich das nicht verstehen, daß er wenig Hoffnung hat, ihn je zu finden.«
»Dann müßte er ja wohlbegründeten Anlaß zu der Vermutung haben, daß jene Hinterlassenschaft der Uraniden in der Schlucht verborgen war und durch das Erdbeben mit verschüttet wurde.«
»Gewiß, Herr General, Ihre Annahme ist durchaus berechtigt. Und doch besteht eine kleine Lücke. Es steht keineswegs fest, daß sämtliche Uraniden tot sind. Allerdings spricht Lees Bericht von dem Grabe des zwölften, letzten Uraniden. Doch das ist mir unbegreiflich. Der den letzten, will sagen: den zwölften, begraben hat, der muß jedenfalls noch da sein. Allerdings, er kann inzwischen auch gestorben sein. Aber solange man seine Leiche nicht hat, besteht doch immer noch die Hoffnung, ihn zu finden… und mit ihm den Schatz.«
»Vergeblich ist das Grübeln und Raten, Señor van der Meulen. In anderthalb Erdentagen werden wir bei ihnen sein und werden selbst an Ort und Stelle des Rätsels Lösung zu ergründen suchen.«
»Ich verlasse mich auf Sie, Señor Fontana.« Van der Meulen drückte dem Chefingenieur, der seit Lees Abwesenheit die Werft leitete, die Hand. »Der Bau des Bolivar muß in derselben Zeit beendet sein wie der der Buena Vista. Wir müssen den glücklich wiedergewonnenen Vorsprung ausnutzen. Die Regierung steht mit allen ihren Kräften hinter uns. Wenden Sie sich getrost nach Buenos Aires, wenn irgendwelche Schwierigkeiten entstehen sollten. Die Bauleute, Handwerker, die von der Werft mitfliegen, müssen Sie möglichst bald ersetzen. Doch Vorsicht bei ihrer Auswahl!«
Ein letzter Händedruck. Die Türen der Buena Vista schlossen sich. Der Kapitän Urdaneda rückte den Fahrhebel an. Sekunden, dann folgte die Buena Vista ihrem Schwesterschiff Jonas Lee. –
General Serrato beobachtete durch das eingebaute Fernrohr den näherkommenden Mond.
»Mr. van der Meulen, bitte, kommen Sie schnell hierher. Die günstige Konstellation des Mondes mit unserer Fahrtrichtung gibt uns Gelegenheit, jene Stelle, an der die Rakete aus Coiba landete, aus günstiger Nähe genau zu betrachten.«
In der Tat schoß die Buena Vista in diesem Augenblick in kaum 10.000 Kilometer Entfernung an dem Trabanten der Erde vorbei.
Es war erst zwei Tage nach Neumond. Nur eine schmale Sichel der in dieser Nähe gewaltig großen Scheibe strahlte in hellem Sonnenlicht. Der übrige Teil lag in der sehr viel schwächeren, ungewissen Beleuchtung des von der Erde reflektierten Lichtes.
»Dort drüben das Mare serenum!« rief van der Meulen. Serrato nickte über das Glas hinweg und trat dann plötzlich vom Okular zurück. Seine Mienen verrieten Überraschung, Erschrecken.
»Jene helle Stelle am nördlichen Rand des Mare serenum. Sehen Sie die auch?«
Van der Meulen verneinte, ging selbst an das Okular und sprach nach kurzer Weile, die Augen immer noch am Okular:
»Ja, ja. Sie haben recht. Eine helle Stelle… zwar winzig klein, aber doch… der rötlich glühende Schein… Vermuten Sie etwa…?«
»Es kann nicht anders sein«, erwiderte der General. »Es ist die Stelle, an der die Rakete aufschlug. Ihre Fracht, der Pestbrocken, ist in voller Glut.«
»Er allein… das wäre nicht das Schlimmste«, murmelte van der Meulen vor sich hin. »Doch die Sache ist so wichtig, wir dürfen einen kleinen Umweg nicht scheuen.«
Er eilte ans Sprachrohr, gab in die Zentrale den Befehl: »Beschleunigung abstellen! Ruder hart Backbord!«
Mit einer Eigengeschwindigkeit von etwa vier Kilometern in der Sekunde trieb die Buena Vista näher an die Mondscheibe heran. Van der Meulen stand wieder neben Serrato, der durch das Fernrohr beobachtete. Ungeduldig erwartete er das Ergebnis. Da, endlich! Der General trat zurück. Sein Gesicht war tiefernst.
»Der Brand hat um sich gefressen. Das Mondmassiv ist angegriffen und brennt mit.«
»Kein Zweifel«, murmelte van der Meulen, der an das Okular getreten war. »So sind die schlimmen Befürchtungen doch wahr geworden. Die Folgen… doch einerlei; ehe wir nicht wissen, ob jemals der Brand von Coiba zum Erlöschen kommt, können wir uns nicht besonders beunruhigen. Auf alle Fälle müssen wir unsere Beobachtungen denen auf der Erde mitteilen.«
Während die Buena Vista wieder ihren alten Kurs auf die Venus nahm, begann ihr Sender zu arbeiten.
Die Nachrichten wurden auf der Erde mit starken Zweifeln aufgenommen. Solange die Hubschrauberwarten trotz Anwendung ihrer stärksten Vergrößerungen nichts davon konstatieren konnten, wollte man nicht an dieses neue Unheil glauben.
Einer oder mehrere Uraniden mußten leben. Bei ihnen mußten sich die Schätze befinden! Die Mannschaften der beiden Expeditionen suchten im Wetteifer die weitere Umgebung des Uranidenlagers ab. Lees Gefährten waren in ihn gedrungen, den Leuten des Stern von Südafrika das Suchen, den Aufenthalt zu verbieten.
Lee hatte stets abgelehnt. Er sah deutlich genug, wie die anderen sich über seine Nachsicht – fast konnte man es Gleichgültigkeit nennen – wunderten. Er beteiligte sich kaum an dem Suchen.
Die Mittagsstunde kam heran. Alle waren schon zurückgekehrt. Als letzter kam jetzt Ricardo Stamford. Mißmutig stellte er sein Gewehr beiseite.
»Wo man hinkommt, überall sind die Burschen von da drüben schon gewesen. Ich machte heute einen weiten Marsch den kleinen Wasserlauf, der nach Süden geht, entlang. Fand da eine Feuerstelle. Die Asche war noch warm. Daneben lag dies Zeitungsblatt.«
Er zog das abgerissene, zusammengefaltete Stück einer Zeitung aus der Tasche, reichte es Lee. Der warf einen kurzen Blick darauf. Der Titelkopf war zum Teil verbrannt, doch erkannte man noch deutlich die Überschrift ›Daily Mail‹. Seine Augen glitten über die wenigen vom Feuer verschonten Zeilen.
Er wandte sich zur Seite. Seine Augen preßten sich wie nachsinnend zusammen, wandten sich dann wieder zu Ricardo. »Würden Sie die Stelle wiederfinden, wo Sie das Blatt entdeckten?«
»Aber selbstverständlich, Mr. Lee. Ich wäre ein schlechter Jäger, wenn mir das nicht gelingen sollte.«
»Nun, so möchte ich Sie bitten, mich nach dem Essen dorthin zu begleiten.« –
Zwei Stunden später stand Lee mit Ricardo Stamford an der Feuerstelle. Vorsichtig durchwühlte er die teilweise noch warme Asche. Da, ein größeres Stück schwarzverkohlten Papiers. Da es nicht zerbröckelte, war die Schrift mit einiger Mühe noch lesbar. Lee beugte sich darüber, las und las.
»Hallo, Mr. Lee! Was interessiert Sie so?«
»Oh…« erwiderte dieser. Seine Hand fiel wie unabsichtlich auf den verkohlten Fetzen, der sofort zerstäubte. »Mir ist zufällig die Kopfschrift der Londoner ›Daily Mail‹ in Erinnerung. Die Schrift hier ist anders. Das interessierte mich. Der Inhalt des Textes auf dem verkohlten Papier bestätigte meine Vermutung. Die Zeitung ist nicht in England gedruckt…«
»Irgendwo in den Staaten?« vollendete Ricardo.
Statt einer Antwort erhob sich Lee, setzte das Fernglas an die Augen und untersuchte lange und genau die weitere Umgebung.
»Da wir einmal den weiten Marsch gemacht haben, wollen wir die Gelegenheit benutzen, diese Gegend genauer zu durchsuchen. Teilen wir uns. Ich wende mich dorthin nach Norden, Sie weiter nach Süden. In einem Bogen kehren wir dann zum Lager zurück.«
Wohl eine Stunde war Ronald Lee gewandert. Vergeblich suchte er nach Spuren menschlicher Anwesenheit.
Dieses Zeitungsblatt… es schloß die Kette seiner Ahnungen und Vermutungen. Wo waren sie, die er suchte? Wieder nahm er das Glas und durchforschte genau die Landschaft vor sich. Das breite Wiesental stieg nach Osten hin zu leichtbewaldeten Höhen an.
Da! Durch eine breite Lücke der Baumkronen, doch weit dahinter, sah er eine leichte Rauchwolke. Mit beschleunigten Schritten ging er dem Lauf des Baches entgegen, stieg die Anhöhe empor. Er lief die letzte Strecke, als könne er nicht erwarten, die Stätte zu finden, von wo jener Rauch aufstieg.
Endlich hatte er die Höhe erreicht… doch welche Enttäuschung. Dichtes Gestrüpp zog sich den Hang hinab. Kaum möglich, da durchzudringen. Und der Rauch? Trotz angestrengten Suchens war keine Spur mehr zu sehen. Er warf einen Blick zur Sonne. Die neigte sich schon dem westlichen Horizont zu.
Zu spät für heute murmelte er, doch morgen in aller Frühe werde ich’s noch einmal versuchen. Mißmutig wandte er sich um und schritt in der Richtung, die ihn zum Lager führen mußte. Ein paar Stücke undurchdringlichen Unterholzes zwangen ihn, den Bogen nach Norden größer zu nehmen, als er es vorgehabt hatte. Er mußte sich beeilen, wenn er noch vor Sonnenuntergang den Lagerplatz erreichen wollte.
Auf einer kleinen Höhe angelangt, suchte er mit dem Glas den Standort des Lagers zu erspähen. Der schimmernde Riesenbau des Uranidenschiffes gab ihm einen guten Anhaltspunkt. Eben setzte er den Fuß an, seinen Marsch fortzusetzen… da spürte er einen Schlag, als hätte ein starker Ast seinen Kopf gestreift.
Noch glaubte sein Ohr den nachhallenden Knall eines Schusses zu hören… dann schwanden ihm die Sinne. Er stürzte zu Boden.
»Unmöglich, daß Lee den Weg verfehlt hat!« sagte Ricardo, der schon längst zum Lager zurückgekehrt war. »So viele Anhaltspunkte in der Gegend zeigen ihm die rechte Richtung. Er muß irgendwie verunglückt sein.«
Auch die anderen mußten jetzt die Wahrscheinlichkeit seiner Mutmaßung zugeben. In drei Kolonnen zu je zwei Mann begab man sich auf die Suche. Doch nicht lange, dann mußte man sie abbrechen. Die Dunkelheit machte weiteres Nachforschen unmöglich.
Das Ungewöhnliche ihres Tuns war in Cannings Lager bemerkt worden. Man zeigte ungeheuchelte Teilnahme. Oberst Robartson und ein paar andere schlossen sich den Suchenden an. Die Nacht verging unter bangem Harren.
Kaum, daß der Morgen graute, ging man erneut auf die Suche. Schon bald war es den Brüdern Stamford als geübten Jägern gelungen, Lees Spuren zu finden. Und dann dauerte es auch nicht lange, so fanden sie ihn.
Sie fanden ihn… Doch wie fanden sie ihn? Er lag da, auf weichem Moos gebettet, den Kopf umhüllt von weißen Binden. Neben ihm eine Flasche mit einer Medizin.
Lee war anscheinend in tiefem Schlaf. Seine Brust hob sich in gleichmäßigen Atemzügen.
Was war mit Lee geschehen? Wer hatte ihn hier verbunden, niedergelegt? Die Arznei, von wem war sie?
Sie sahen einander an. Ratlos, fragend… sie wagten nicht, näher heranzutreten. Die Brüder schauten sich scheu um. Unheimlich war alles, so jeder Erklärung spottend. Uraniden? schwebte es jedem auf den Lippen, doch keiner sprach es aus.
Von der anderen Seite her näherte sich die Kolonne, der sich Oberst Robartson angeschlossen hatte. Dieser rief ihnen zu. Sie wagten nicht zu antworten. Ricardo Stamford zog behutsam das Tuch aus der Tasche und winkte den Männern der anderen Gruppe kurz zu. Sie kamen näher und riefen. Keine Antwort. Die anderen beschleunigten ihre Schritte. Robartson kam als erster die Anhöhe hinangeeilt.
»Mr. Stamford!« rang es sich endlich von seinen Lippen, »was ist mit Ihnen? Was ist mit Lee passiert?«
Ricardo schüttelte den Kopf, flüsterte leise. »So fanden wir ihn. Er ist verwundet. Wodurch, wissen wir nicht… Jemand hat ihn gefunden, hat ihn verbunden und die Arznei gegeben… die Flasche ist halb leer. Er ist wohl lange bei ihm gewesen und hat bei ihm gewacht. Niemand von uns war hier in der Nacht… Und Sie…« Er sah Robartson fragend an.
»Wir waren auch alle zusammen im Lager. Keiner hat es verlassen.«
»Uraniden!« Von den Lippen des jüngsten der Brüder kam das Wort.
»Uraniden?« Der Oberst sprach das Wort mechanisch nach. »Wenn es kein Gott war, nur Uraniden können es gewesen sein.
Aber warum sind sie fortgegangen? Weshalb fliehen sie uns? Sie müssen doch wissen, daß wir hier sind. Furcht? Nein, das kann es nicht sein. Rätsel über Rätsel.«
»Wir müssen Lee ins Lager bringen«, sagte jetzt Ricardo Stamford. »Die Sonne steigt, der Tag verspricht heiß zu werden. Der Verwundete wird Fieber haben. Eilen wir! Professor Royas wird die Pflege übernehmen.«
Schnell hatten sie aus starken Zweigen eine Bahre geflochten, legten den Verwundeten behutsam darauf und trugen ihn ins Lager.
Groß war die Aufregung, als alle von dem sonderbaren Vorgang erfuhren. Professor Royas betrachtete lange die Arzneiflasche. Er hatte den Inhalt nach Geschmack und Geruch geprüft. Es war ein bekanntes Fiebermittel. Doch kein Zeichen daran. Nichts verriet seinen Ursprung.
Gegen Mittag wachte Lee aus seinem Schlaf auf, doch das Bewußtsein war noch nicht zurückgekehrt. Royas glaubte den Verband erneuern zu müssen. Er entfernte die Binde und staunte. Es war offenkundig, daß der Verband von den geübten Händen eines Arztes angelegt war. Der Charakter der Wunde war nicht mit Sicherheit festzustellen. Er flößte Lee etwas von der Medizin ein, worauf dieser wieder in Schlaf versank.
Da kam Hierra aus dem Raumschiff gestürzt.
»Eine gute Nachricht! Vielleicht, daß wir sie ihm sagen können.«
Royas winkte zu schweigen. »Still! Er schläft. Nichts darf ihn stören. Was ist’s?« Er trat näher zu Hierra.
»Ein Radiogramm der Buena Vista. Noch vor Einbruch der Nacht wird sie hier sein. Sie haben einen kleinen Umweg gemacht und den Mond angesteuert. Der Pestbrocken von Coiba… hat Unheil angerichtet.« –
Die nahe Ankunft der Buena Vista war im Nu überall bekannt. Auch in Cannings Lager erfuhr man durch Oberst Robartson, der mit Rücksicht auf den Unfall Lees ab und zu in das Uranidenlager kam, davon. Hier löste sie starkes Mißbehagen aus. Besonders bei Canning. Dessen Laune schien von Tag zu Tag schlechter zu werden. Eine auffällige Gereiztheit, eine überstarke Nervosität schien ihn befallen zu haben. In der vergangenen Nacht war es besonders schlimm mit ihm gewesen.
Ruhelos war er in dem engen Zelt hin und her gewandert. Er hatte fast die ganze Nacht keinen Schlaf gefunden. Man schob es darauf, daß durch die Verstärkung der Leeschen Expedition die Lage sich zu seinen Ungunsten ändern würde. Die Mitfahrt des Generals Serrato, der zweifellos im Auftrage seiner Regierung kam, machte unter Umständen Zwangsmaßregeln gegen ihn möglich.
»Der Mond in Brand!« Die Hubschraubersternwarte von Berlin bestätigte die Meldung der Buena Vista.
Coiba! Die Nachricht aus Berlin lenkte die Aufmerksamkeit der Menschheit wieder voll auf das Unheil, das sich dort vollzog, auf die furchtbaren Kräfte, die bei dem Atombrand unaufhaltsam die Zerstörung der Materie verursachten, jeder menschlichen Abwehr spottend. Sie mußten, von Coiba weiterwirkend, den mittelamerikanischen Isthmus, die beiden nächstliegenden Kontinente, schließlich die ganze Erde ergreifen.
Wenn je, so war jetzt auf die neuen Nachrichten hin der Flug der Raumschiffe, die Eroberung des neuen Weltteils so aktuell wie möglich. Wenn auch viele Jahrzehnte vielleicht vergehen mochten, ehe die ganze Erde vom Feuer ergriffen war, einmal mußte der Tag kommen, wo keines Menschen Fuß mehr auf ihr weilen konnte.
Daß die Venus vorläufig die einzige Zuflucht sein würde, stand außer Zweifel. Wer aber würde ihr Herr sein? Wer hatte die Macht, das Recht, den besten Teil als Beute zu beanspruchen?
Die allgemeine Meinung hatte sich bisher überwiegend auf die Seite der Südamerikanischen Union gestellt.
Doch jetzt, wo die Gefahr des Weltbrandes, des Zwanges für die Menschheit, nach neuen Stätten zu suchen, so klar, so dringend vor Augen geführt wurde… jetzt erhoben sich immer mehr Stimmen, die eine Konferenz der Weltstaaten befürworteten und eine gerechte, den bisherigen Wohnstätten der Menschheit entsprechende Siedlungsmöglichkeit verlangten.
Inzwischen schien sich hinter den Kulissen ein lebhaftes Diplomatenspiel zu entwickeln. Man erfuhr, daß die Geschäftsträger der beiden großen Staatengruppen Südamerikas und Südafrikas häufige Besuche in den betreffenden Auswärtigen Ämtern machten. Auch aus der immer heftiger werdenden Sprache der offiziösen Blätter war zu entnehmen, daß die Lage sich bedrohlich zuspitzte. Die Südafrikanische Union schien gewillt, ihre Aspirationen auf jenen Nova America getauften Venusteil erneut mit allen Kräften durchzusetzen. Zum wenigsten, was den nördlichen Teil von Nova America betraf. Überängstliche Gemüte sahen schon in jeder harmlosen Truppenverlegung die ersten Schritte der militärischen Mobilisation.
Der schnelle Start der Buena Vista hatte in der Südafrikanischen Union ungemein verblüfft. Gewiß wurden die Besitzverhältnisse des neuentdeckten Landes nicht auf der Venus selbst entschieden, doch sah man der Verstärkung der südamerikanischen Expedition durch die Mannschaft der Buena Vista – es hieß, Serrato sei mit ausgewählten Leuten und stärkster Bewaffnung geflogen – mit steigender Erregung zu. Vergeblich suchte man die südafrikanische Regierung darüber auszuholen, welche Instruktionen Canning nachgesandt wären.
Da lag es vor ihnen, Nova America! Der dichte Wolkenhimmel, wie zu ihrer Begrüßung von freundlicher Hand weggewischt, gestattete dem Auge ein umfassendes Bild des neuen Landes.
Aus dem breiten Silbergürtel der Meere hob sich, von den Sonnenstrahlen überflutet, in zauberischer Schönheit der paradiesische Boden. Wechselnd Wälder und Grasflächen, von unzähligen Flußläufen durchzogen. Der leichtgewellte Boden nur an dem Meridiangebirge zu höheren Höhen emporsteigend.
Da war das Uranidenlager! Deutlich hob sich das bekannte Bild ab. Schon sah man die beiden Raumschiffe und das große Raumschiff der Uraniden. –
Auch Oberst Robartson stimmte in das jubelnde Hurra der Gefährten Lees mit ein, die der aufsetzenden Buena Vista die Hände entgegenstreckten…
Die Türen öffneten sich. Heraus kamen die Freunde. Umarmen, Jauchzen, das plötzlich verstummte, als eine Stimme fragend rief:
»Wo ist Ronald Lee?«
Sekundenlang währte das Schweigen und doch eine Ewigkeit für die aus der Buena Vista.
»Ronald! Mein Bruder! Wo ist er?« Die Stimme Violets unterbrach die lastende Stille.
»Ein kleiner Unfall, Señor van der Meulen. Ich werde Sie zu ihm führen. Vielleicht ist er morgen schon wieder wohlauf.«
»Seien Sie ruhig, Señoritas!« Professor Royas trat zu den beiden erschreckten Mädchen. »Er schläft. Versprechen Sie mir, ruhig zu bleiben. Wir werden zu ihm gehen.«
Im Weiterschreiten machte Hierra van der Meulen auf Oberst Robartson aufmerksam und stellte ihn vor.
»Oberst Robartson, der uns bei der Suche nach Lee tatkräftige Hilfe geleistet und auch sonst redlich bemüht gewesen ist, die Kluft zwischen den Parteien nach Möglichkeit zu überbrücken.«
Van der Meulen drückte ihm stumm die Hand und begrüßte auch Ricardo und dessen Brüder. Ihnen in erster Linie war es ja zu verdanken, daß man den Verwundeten so schnell gefunden hatte.
Und dann standen sie an dem Lager Lees im Zelt der Uraniden. Noch ehe sich ihre Augen an das Halbdunkel im Zelt gewöhnt hatten, klang ihnen aus dem Hintergrunde die Stimme Lees entgegen.
»Hortense! Violet!«
Diese riefen in der Überraschung, in der Freude: »Ronald!« Sie eilten zu ihm, ihre Augen hingen in freudiger Rührung an dem Bild, das das Dunkel des Raumes wie hinter einem leisen Schleier verbarg. Lee sah nur zwei Frauenköpfe, die sich über ihn beugten. Er hörte wirre Worte der Freude, des Glückes…
Bis van der Meulens Stimme den Zauber des Augenblicks brach.
»Guten Tag, Ronald Lee! Was die Radiowellen Ihnen nur unvollkommen sagen konnten, von Mund zu Mund will ich’s Ihnen wiederholen. Ihnen will ich danken für all das Große, was Sie geleistet, für uns getan haben. Ihr Unfall… Gott sei Dank, ich sehe, es steht gut mit Ihnen.«
Irgendeiner schaltete das Licht ein. Lee hatte sich aufgerichtet, von Violets und Hortenses Armen gehalten. Alle traten zu ihm heran und reichten ihm die Hand. Von der Meulen hielt sie so fest, als wolle er sie gar nicht wieder loslassen.
»Ronald Lee!« Immer wieder kamen die Worte von seinen Lippen. »Ronald Lee, Dank für alles, was Sie getan haben!«
General Serrato hatte sich währenddessen mit Professor Royas besprochen. Sie traten jetzt an Lee heran.
»Fühlen Sie sich kräftig genug, Mr. Lee, uns jetzt eine kurze Aufklärung zu geben, wie Ihnen der Unfall zustieß? Fast drängt sich die Vermutung auf, daß… doch nein! Erst mögen Sie Ihre Wahrnehmungen schildern.«
Lee sann einen Augenblick, als hätten die Worte Serratos seine Gedanken auf einem Weg weitergeführt, den zu gehen er sich immer gescheut hatte.
»Sie wissen«, begann er, »daß ich mit Ricardo Stamford in der Richtung nach Südosten ging, um, dem Lauf des kleinen Flüßchens folgend, die Umgebung zu durchsuchen. Wir trennten uns an der Feuerstelle, die Don Ricardo gefunden hatte. Weiterwandernd glaubte ich über dem Höhenrücken im Osten eine leichte Rauchsäule zu sehen. Ich schritt darauf zu, doch als ich näher kam, war sie verschwunden. Ich ging dann, da es dunkel zu werden drohte, in weitem Bogen auf unser Lager zurück. Auf einer kleinen Höhe hielt ich Umschau. Da traf mich etwas an der Stirn. Ich verlor das Bewußtsein und fiel zu Boden. Im Sturze glaubte ich noch den Knall eines Schusses zu hören. Ich muß mich auch getäuscht haben, denn wer sollte…«
»Und wenn Sie glauben, Mr. Lee, Sie hätten sich getäuscht«, unterbrach ihn Professor Royas, »könnten Sie eine andere Ursache für Ihre Verletzung angeben?«
»Es könnte sein, daß ein Ast gestürzt ist und mich getroffen hat.«
Royas nickte zögernd. »Ganz ausgeschlossen wäre das nicht. Die Art Ihrer Wunde, ich sah’s beim Wechseln des Verbandes, läßt die Möglichkeit zu… immerhin…«
»Könnten Sie sich erinnern, Mr. Lee, zu welcher Zeit Ihnen das wohl zustieß?« wandte sich Oberst Robartson an Lee.
Lee sah Robartson aufmerksam an. »Genau kann ich es nicht sagen. Es kann wohl die sechste Nachmittagsstunde gewesen sein.«
»Gut, Mr. Lee! Ihre Worte geben mir eine gewisse Erleichterung. Ich weiß genau, daß zu Anfang der siebenten Nachmittagsstunde in unserem Lager alles versammelt war. Ich lege Wert auf diese Feststellung, um nicht den Gedanken aufkommen zu lassen, irgend jemand unserer Expedition könnte mit dem Unglücksfall in Verbindung gebracht werden.« –
War es die Freude des Wiedersehens, war es Gleichgültigkeit… Lee zeigte wenig Lust, das Gespräch in dieser Richtung fortzusetzen. Er wandte sich zu Hortense, Violet und van der Meulen.
Eine Menge Fragen hatte jeder auf dem Herzen. Die anderen zogen sich aus dem Zelt zurück. Bis Professor Royas sein energisches Veto einlegte, saßen die vier Glücklichen zusammen.
»Schlaf ist das beste Mittel, Mr. van der Meulen. Lassen wir ihn jetzt ruhen. Will’s Gott, wird ihn der morgige Tag frisch und munter sehen. Vielleicht kann er sogar aufstehen. Die Verwundung ist ohne Bedeutung. Der Knochen ist kaum verletzt. Nur der starke Blutverlust hat ihn so geschwächt.«
Sie traten beide vor das Zelt. »Allerdings, Mr. van der Meulen… ich wollte das nicht in Gegenwart der jungen Damen sagen: Wäre nicht rechtzeitig Hilfe hinzugekommen, würde er sich vielleicht verblutet haben. Die Stirnschlagader ist verletzt.«
»Und wie erklären Sie diese, ich möchte sagen, unglaubliche Tatsache, die den Vorfall noch rätselhafter macht, daß irgend jemand, ein Fremder, dazugekommen ist, ihn verbunden und gepflegt hat?«
»Von den vielen Rätseln, die uns hier oben schon begegnet sind, ist das das größte. Die Häufung der Ereignisse hat mir noch nicht Zeit gelassen, viel darüber zu grübeln. Und doch ist es natürlich von größter Wichtigkeit, zu wissen, wer das gewesen ist. Doch wer es auch sei, wenn er sich im verborgenen halten will, ist es unnütz, nach ihm zu suchen. In diesen riesigen unbekannten Gebieten ist ein Forschen aussichtslos.« –
Die Mitternachtsstunde war gekommen. Hortense und Violet saßen am Lager Lees und wachten über seinen Schlaf. Professor Royas und van der Meulen, die eine lange Besprechung mit General Serrato gehabt hatten, traten ein. Professor Royas ging an das Lager Lees heran. Die leichte Fieberröte machte ihm im stillen etwas Besorgnis. Er wollte ihm einen kühlen Trank einflößen, da schlug Lee die Augen auf. Mit Mühe schien er die, die um ihn saßen, zu erkennen.
Royas reichte ihm das Glas. Er trank es gierig leer. Sein Blick wurde klarer, er nickte allen freundlich zu und sank dann wieder zurück. Im Glauben, Lee, der völlig wach lag, eine angenehme, belebende Nachricht zu geben, begann van der Meulen zu erzählen… von dem ungeheuren Aufsehen, das Lees Fahrt auf der Erde gemacht hatte, von dem großen Rätselraten über den Verbleib der Hinterlassenschaft der Uraniden…
Lee nickte lächelnd. Dann plötzlich krauste sich seine Stirn. Die Augenlider zogen sich zusammen. Man sah, er dachte angestrengt über etwas nach. Dann begann er zu sprechen.
»Uraniden… das Rätsel ihres Endes… ich weiß alles… Einer hat es mir gesagt, hat mir alles erzählt…«
Alle Blicke gingen zu Royas, sahen diesen ängstlich forschend an. Lee schien in starkem Fiebertraum zu sprechen. Der Professor fühlte seinen Puls und schüttelte den Kopf. Seine Mienen deuteten an, daß das Fieber nicht gestiegen sei. Lee sprach weiter.
»…Als ich da lag, wo man mich fand… in der Nacht… die Kühle der Nachtluft hatte mich erweckt… ich habe es nicht geträumt… Ein Mann kniete neben mir. Er reichte mir die Arznei, legte die Hand auf meine Stirn und sprach zu mir. Er wußte, wer ich war. Er wußte von dem Schicksal unserer Fahrt, wußte auch von den anderen…
Dein Suchen ist vergeblich… Du suchst die Uraniden… suchst ihren Schatz… die Welt… einmal schon lohnte sie ein großes Geschenk der Natur mit Undank. Verwandelte in Fluch, was zum Segen bestimmt war. Der Uranidenhort in Menschenhand… das Unheil wäre noch größer geworden…
Ein anderer hat ihn gehoben. Er ist unerreichbar für dich und für euch alle. Einer Menschheit, die würdiger ist als ihre Vorfahren, wird einst in eigener Arbeit das hohe Ziel zufallen. Und daß du nie zweifelst an dem, was dein Ohr gehört hat, wird dein Auge schauen, was geschehen ist.
Da stand plötzlich das Lager der Uraniden vor meinen Blicken. Vor dem Zelt, in dem ich hier Hege, steht eine Ruhebank. Darauf liegt ein Mann. Seine Züge, sein Bild – ich sah es schon, als wir in der Schlucht das zwölfte Grab öffneten –, der lebte noch. Doch lagen schon die Todesschatten auf seinen Zügen…
Aus dem Äther senkt sich ein Schiff wie unseres. Es landet neben dem Uranidenschiff. Zwei Männer steigen heraus und gehen auf das Zelt zu.
Der da liegt, richtet sich auf. Seine Arme strecken sich den Ankömmlingen entgegen. Von seinen Lippen fließen Worte. Die Männer legen ihn sanft zurück. Der eine öffnet ein Buch und schreibt… Der Uranide nickt, lächelt… er verlangt das Buch. Mit müder Hand schreibt auch er… die beiden anderen nicken. Sie verstehen, was ihre Herzen sich sagen wollen.
Der Kranke deutet auf ein Tischchen, worauf ein schöner Apfel liegt. Seine Miene drückt Abscheu, Furcht aus. Warnend hebt er die Hand… Der eine der beiden zieht ein Fläschchen aus seiner Tasche, will dem Kranken davon einflößen. Der winkt traurig ab. Er will sagen, daß nichts ihn retten könne…
Der andere ist indessen zu dem Tisch gegangen, hebt den Apfel auf, betrachtet ihn lange. Dann legt er ihn wieder hin, deckt ein Glas darüber. Er taucht den Finger in eine Flüssigkeit, macht ein Kreuz auf das Glas.
Der Kranke greift in sein Gewand. Er entnimmt einem Kästchen ein paar Pillen, führt sie zum Munde… Eine kleine Weile… seine Züge beleben sich. Das Auge wird heller, klarer. Sein Arm deutet auf das Uranidenschiff, auf die Gegenstände, die außerhalb des Schiffes lagern…
Die beiden verstehen seinen Wunsch. Sie gehen in das Schiff, bringen daraus viele Dinge. Ihre Mienen deuten an, sie wissen nicht den Zweck, den Gebrauch…
Der Kranke nimmt das Buch und schreibt… die beiden verstehen.
Jetzt kommt der eine der beiden, bringt ein großes Buch. Die Augen des Uraniden leuchten bei seinem Anblick. Ein kostbarer Schatz muß es sein…
Wieder beginnt er zu schreiben. Die beiden Fremden, über ihn gebeugt mit glänzenden Blicken… die Mienen aufs äußerste gespannt, verfolgen sie die Erklärungen des Uraniden. Doch das Buch ist groß, umfangreich sein Inhalt.
Die Mittagsstunde kommt heran. Immer wieder bedarf der Kranke der Arznei. Endlich, schon neigt sich die Sonne zum Untergang, ist die Kraft des Kranken erschöpft. Er schließt die Augen…
Da, als die Sonne eben noch ihre letzten Strahlen über den Horizont sendet, wacht er noch einmal auf. Seine Hand deutet mit schwacher Gebärde zu der Schlucht. Sie sinkt zurück… streckt sich noch einmal den Ankömmlingen entgegen, drückt deren Hände… dann fällt sie matt zur Seite. Der Sonnenball taucht in die Fluten des Westmeeres unter, da kommt der letzte Hauch von seinen Lippen. Er ist tot.
Der nächste Tag… wieder steht die Sonne am Himmel. Das Lager vor dem Zelt ist leer. Die beiden Fremden kommen von der Schlucht her geschritten. Ihr Schiff erhebt sich, fährt fort nach Osten, der Sonne zu…«
Lee schwieg. Mit verhaltenem Atem warteten alle darauf, daß er weitersprechen würde. Doch nicht lange, dann verrieten seine tiefe Atemzüge, daß er eingeschlafen sei.
Hortenses Hand glitt sanft über sein Gesicht. Sie nickte stumm, erhob sich dann, stand einen Augenblick sinnend da, die Augen wie in weite Fernen gerichtet. Ihre Lippen flüsterten leise: »Ja! Alles, was er sagte, war kein Traum. So war es. Unser Suchen ist vergeblich. Größere, Stärkere waren vor uns hier. Von der Erde sind sie gekommen. Das Kreuz, das Symbol des Todes für die Erdenmenschen, sagt es. Sie haben den Hort gehoben.«
Der Rauch im Osten! Dort mußten die Uraniden sein!
Canning schritt allein im Tale jenes Baches der aufgehenden Sonne zu. Als am gestrigen Abend Oberst Robartson, ins Lager zurückgekehrt, ihm die Worte Lees mitgeteilt hatte, was der von einer Rauchsäule über den Osthügeln sah, war sein Entschluß gefaßt. Eine letzte Möglichkeit war es, den Aufenthalt der Uraniden zu entdecken.
Schon weit über eine Stunde war er unterwegs. Immer wieder schaute er sich um, ängstlich, ob nicht andere ihm folgten. Endlich hatte er den Höhenrücken erreicht. Mit seinem Glase suchte er den Horizont weithin nach Osten ab. Doch vergeblich… Enttäuscht ließ er das Glas sinken. Da, sein bloßes Auge verriet es ihm – weiter nördlich, nicht allzu weit hing ein dünner Rauchschleier.
Er nahm sein Glas zu Hilfe, geriet in Zweifel. Die Morgensonne, eben über den Horizont gestiegen, mochte wohl die nächtlichen Nebel aus einer feuchten Stelle emporziehen. Doch jetzt, das scharfe Glas zeigte es deutlich. Ein paar dunkle Streifen in dem hellen Dunst. Kein Zweifel, das war der Rauch eines Feuers!
Suchend ging sein Blick über die Landschaft vor ihm. Das dichte Gestrüpp machte ein Durchschreiten unmöglich. Nur weiter nach Norden, wo das Buschwerk in hohen, lichten Wald überging, bestand die Möglichkeit, dorthin zu gelangen. Er warf das Gewehr über die Schulter und schritt rüstig aus. In einer Stunde, überschlug er, konnte er jene Stelle erreicht haben.
Auf einer kleinen Anhöhe, die ihm einen weiteren Überblick bot, schaute er nochmals scharf hin. Der Rauch war verschwunden, doch unentwegt schritt er weiter –
Die Stunde war längst vergangen. Immer wieder hatten ihn die Unebenheiten des Bodens zu Umwegen genötigt, doch konnte er nach seiner Berechnung nicht mehr weit von der Stelle sein, wo er den Rauch gesehen hatte. Jetzt wurde der Wald lichter. Eilig, fast laufend schritt er voran.
Ein paarmal blieb er lauschend stehen. Es war ihm, als ob der Ton menschlicher Stimmen an sein Ohr gedrungen wäre. Endlich lag der Rand des Waldes vor ihm. Noch ein paar Schritte, dann hatte er freien Ausblick…
Da blieb er mit einem Ruck stehen. Ein Schrei des Entsetzens brach aus seinem Munde. Er wollte sich zur Flucht wenden. Doch die Füße, wie festgewurzelt, versagten den Dienst. Seine Hände streckten sich abwehrend einer Gestalt entgegen, die sich bei seinem Nahen hinter einem Riesenstamm des Waldsaumes erhoben hatte und jetzt vor ihm stand.
Der Mann, der da plötzlich auftauchte, stand ebenfalls reglos. Sein Gesicht war bleich wie der Tod, die Augen weit aufgerissen, die Lippen wie in Fieberkrämpfen bebend, stammelten. Jetzt hob sich dessen Arm, die Finger ausgestreckt wie Krallen. Ein Blick der Verzweiflung lag in seinen Augen. Seine Füße bewegten sich langsam auf Canning zu.
Da schrie er auf.
»Hinweg! Hinweg, Awaloff! Fort aus meinen Augen! Fort, du Schemen, aus meinen Augen! Du bist ja tot… auf dem Grunde des Meeres liegst du…«
Bei dem Namen Awaloff war die Gestalt zusammengezuckt. Ein irres Lächeln ging über das Gesicht.
»Es ist nicht wahr, was du sagst, Canning! Ich sank nicht unter in die Fluten des Ozeans… ich schwamm… schwamm immerzu… lange bin ich geschwommen… und dann kam ich an Land! Hier ist das Land, wohin ich kam…«
Canning schlug die geballten Fäuste vors Gesicht, schloß die Augen…
Ein Trugbild… mein Geist ist krank… ein Gespenst, das mich narren will… Ha! Gespenster! Auf der Erde gab’s die nicht… ist hier der Ort, wo sie weilen? Gleich will ich’s sehen…
Da schrie das Phantom laut auf, wandte sich um, stürzte fort.
Canning eilte ihm nach. Er rief laut: »Bist du’s, Awaloff? Steh! Stehe!« Doch der lief weiter. Er verschwand jetzt hinter einem dichten Gebüsch. Canning riß das Gewehr von der Schulter und schoß. Mit jagenden Pulsen, die Lippen schäumend in rasendem, sinnlosem Schreien, folgte er Awaloff.
Er lief schneller als jener…Jetzt um das Gebüsch herum! Dann mußte er ihn haben…
Jetzt sah er ihn wieder wenige Schritte vor sich… Er streckte die Arme aus… Da! Der Mund, der schreien wollte, versagte. Seine Augen starrten auf eine Gruppe von Menschen, die da am Boden lagerten. Er wollte halten, stürzte nieder und stützte die Hände auf den Boden.
»Sie suchten uns, Mr. Canning?«
Einer, der da lag, rief es ihm zu. Canning starrte ihn an.
Der Mann! Die anderen! Im Tale des Himalaja bleichten ihre Gebeine, von der Bombe zerrissen. Er bog sich weit zurück. Die Gesichter aller waren ihm zugewandt. Hinter den andern Awaloff, zitternd, bebend. Das Gesicht weggewandt, als fürchte er Cannings Anblick.
Keiner sprach ein Wort. Nur die Augen waren wie anklagend, wie fragend, auf ihn gerichtet.
Ein gräßlicher Schrei brach aus seinem Munde.
»Die Toten! Hier stehen sie wieder auf! Und mich… du schrecklichster Gott… sandtest du hierher… vor ihr Gericht…«
Sein Körper bäumte sich auf, stand zitternd, stürzte dann wie ein gefällter Baum zu Boden.
»Karma! Die die Schicksalsfäden gebunden, nie werden sie der Fessel ledig. Immer führt sie das Schicksal zusammen.«
Sidney Stamford beugte sich über den Zusammengesunkenen. »Wäre sein Geist für ewig krank geworden? Es kann, es darf nicht sein. Das Schicksal ist’s uns schuldig, daß er lebt, als Zeuge seiner Taten der Welt kündet, was er an uns und an der Menschheit verbrach. Er soll schlafen… in ruhigem, traumlosem Schlaf. Die Ruhe wird ihn erfrischen und erstarken lassen, daß er weiterlebt… bis der Tag des Gerichtes gekommen.«
Er beugte sich über ihn. Die Hohlnadel drang in Cannings Arm.
»In drei Stunden wird er erwachen. Körperlich frisch, sein Geist erstarkt. Doch unauslöschlich darin die Erinnerung an das, was er hier gesehen hat.«
Noch stand er, den Blick auf den am Boden Liegenden gerichtet, da riß ihn ein Schrei auf…
Awaloff, der bisher den Vorgängen mit den irren Augen des unheilbar Kranken folgte, war plötzlich wie leblos zu Boden gesunken. Noch ehe Stamford bei ihm war, kam Majadevi zu ihm geeilt. Sie kniete neben ihm, hob sein Haupt empor, legte es in ihren Schoß und streichelte leise weinend die starren Züge.
Ihre Augen gingen ängstlich zu Stamford.
»Ist er tot, der Gute? Er liebte mich so sehr. Helfen Sie ihm, retten Sie ihn!«
Sekundenlang ging Stamfords Blick zwischen dem Gesicht des Mädchens und dem des Mannes. Er kniete nieder, öffnete mit leisem Zwang die Lippen Awaloffs und flößte ihm ein paar Tropfen aus einer kleinen Phiole ein.
Bald schlug er die Augen auf. Sein erster Blick traf das Mädchen. Er schaute in ihre Augen. Stamford betrachtete sie mit ängstlicher Spannung.
Awaloff wandte die Blicke nicht von dem Mädchen. Es war, als tränken sich seine Augen satt an ihrem Anblick.
»Majadevi nennen sie dich…«, flüsterte er leise vor sich hin. »Du bist Majadevi… wüßte ich’s nicht, würde ich dich jetzt anders nennen, einen anderen Namen… Wie lange ist’s her, daß ich ihn rief… Den Namen meines Kindes… Maria… Maria… So rief ich sie, daß sie jubelnd in meine Arme eilte, ihre Arme um mich schlang, mich küßte… Mein großes, liebes Väterchen nannte sie mich und streichelte mein Gesicht, wie du es tust…«
Seine Augen, plötzlich wie in bangem Erschrecken, füllten sich mit Tränen.
»Maria! Maria!« rief er laut. Sie zuckte zusammen, wie aus tiefstem Schlaf erweckt. Der Ton von unendlicher Liebe und Zärtlichkeit drang in tiefste Herzenskammern. Ihre Hände hoben sich ausgebreitet in die Luft. Ihr Blick war erwartungsvoll in die Ferne gerichtet.
Noch einmal: »Maria! Maria!«
Da schlug sie die Hände um seinen Hals.
»Väterchen! Väterchen!«
Keiner der anderen wagte sich zu rühren, das ergreifende Bild eines solchen Wiederfindens zu stören. Stamford hatte die Augen geschlossen. Um seinen Mund zuckte es. So ähnlich war das Bild, das ihm traumhaft so oft erschienen, wenn er das sonderbare, vom ersten Tage an fast innige Verhältnis zwischen den beiden betrachtete.
Die Enthüllungen, die ihm Sarata in der Trance gezwungen gemacht hatte, schlossen die Kette… Majadevi, bewußtlos in den Armen der toten Mutter gefunden, ein schlimmes Schicksal hatte sie dem Inder in die Hände gespielt…
Awaloff… Gorm… auch deren Schicksal verflochten.
Der eine mußte arbeiten an dem Verderben des anderen… dann mußte er ihn retten vor dem Stahl des Inders. Gorm befreite Awaloffs Blut aus des Inders Händen… Karma!
Durch wilden Wald, über baumlose Fluren, über Hügel, durch Täler rast ein Mann. Kein Hindernis hemmt seinen wilden Lauf. Die Kleider zerrissen von dornigem Gestrüpp, die Haare wirr um das bleiche Gesicht flatternd. Immer wieder wollen die Füße, die Lunge den Dienst versagen. Doch er peitscht sie mit äußerster Willenskraft zu erneuter Anstrengung. Die wilden Tiere fliehen bei seinem Herannahen erschreckt zur Seite…
Jetzt stürmt er eine Höhe hinab. Ein dunkles Tal tut sich vor ihm auf. In seinem wüsten Gehirn leuchtet der Gedanke des Geborgenseins auf. Er will den Schritt verlangsamen… da stolpert er, stürzt. Er liegt einen Augenblick tief atmend in dem Schatten eines Baumes, über dessen Wurzeln er fiel. Er will sich wieder aufraffen, erheben… und sinkt mit einem Schmerzenslaut zusammen. Der eine Fuß versagt den Dienst. Mit angstvoll geöffneten Augen betastet er das Glied… Ist der Fuß gebrochen? Oder nur verrenkt? Doch einerlei… der Schmerz ist so groß… unmöglich auch bei stärkster Selbstüberwindung, den Fuß zu gebrauchen…
Seine Augen gehen suchend in die Runde. Einen Stock, einen Ast, aus dem er eine Krücke brechen könnte. Er kann, darf hier nicht bleiben, er muß weiter. Wer weiß, ob sie nicht hinter ihm her sind, die Gespenster… Mit furchtsamen, angstvollen Augen sieht er sich um. Doch vergeblich sucht er einen Stock.
Noch einmal versucht er mit letzter Willensanstrengung, sich zu erheben. Vergeblich… die Knie versagen den Dienst.
Auch die Kräfte des Geistes sind erlahmt. Widerstandslos, gefühllos überläßt er sich dem tiefen Schlaf, der über ihn fällt. –
Die Sonne steht im Scheitelpunkt. Glühend brennen ihre Strahlen auf den Venusboden. Eine Lücke ist im Geäst des Baumes. Die Strahlen treffen das Gesicht des Schläfers. Er wacht auf und blickt wirr um sich. Er kann zuerst nicht fassen, wie er hierhergekommen und was mit ihm los ist. Er will aufstehen. Doch der Schmerz im Fuß bannt ihn an den Boden. Das weckt auch die Erinnerung…
Die Erinnerung, was mit ihm geschehen war. Seine Augen gehen in grauenhafter Angst in die Richtung, aus der er kam. Waren das Gespenster? Waren das die Seelen der Toten, die er gemordet hatte? Nein! Nein! Alle Vernunft bäumt sich in ihm auf… Die waren lebendig.
Und doch! Wie wäre das möglich, daß sie noch lebten! Der eine versank in den Fluten des Ozeans. Die anderen zerschmetterte vor seinen Augen die Bombe.
Er kroch mühsam näher an den Stamm des Baumes heran und lehnte den Rücken dagegen. Die Hände vor die Augen gepreßt, sann er und versuchte sich zu logischem Denken zu zwingen…
Sie leben… kein Zweifel! Kein Trugbild war es, was seine Augen gesehen hatten. Doch weshalb hatten sie nicht sein Leben genommen? Hatte er nicht den Tod um sie verdient? Warum schonten sie ihn, ließen ihm sogar die Freiheit?
Er hatte sich vorsichtig aufgerichtet… Spielten sie mit ihm? Wollten sie ihn? Doch nichts! Kein Laut. Sie waren weg. Er war allein. Er war davongestürzt… zurück zum Lager! Das Schiff wollte er besteigen. Fort von hier! Fliehen… zurück zur Erde. Der Weltraum zwischen ihm und jenen, auf daß er die Ruhe wiederfinden würde.
Der Fuß. Sorgfältig untersuchte er ihn. Es schien kein Bruch, nur eine Verstauchung. Doch einerlei! Tage mochten vergehen, ehe er ihn wieder voll gebrauchen konnte, Tage, die er nicht fortkonnte, hier liegen mußte, ohne Speise und Trank, den wilden Tieren preisgegeben. Ein Zufall, wenn ihn die Gefährten, die ihn vermissen mußten, hier fänden.
Der Gedanke an Speise und Trank weckte seine Sinne. Durst, ein unendlicher Durst – jetzt fühlte er ihn erst. Der rasende Lauf, die glühende Sonnenhitze – seine vertrockneten Lippen lechzten nach einem kühlen Trank. Seine Augen wanderten gierig umher. Vielleicht war ein Quell hier, zu dem er sich schleppen konnte. Doch nichts! Trocken, öde alles.
Doch auf der Erde lagen Früchte. Fast konnte er sie mit ausgestrecktem Arm erreichen. Äpfel, die von dem Baum, unter dem er saß, herabgefallen waren. Das tiefe Rot ihrer Schale leuchtete so einladend aus dem grünen Gras. Er konnte sie greifen. Gierig nahm er einen in die Hand. Er führte ihn zum Munde und wollte seine Zähne in das rote Fleisch pressen… Da war blitzartig ein Gefühl des Schreckens, des Abscheus in ihm.
Gift! Soll ich mich mit sehenden Augen töten? Vielleicht, daß die Gefährten ein glücklicher Zufall schon bald hierherbringt und ich doch noch gerettet werde. Lange lag er so. Der Fieberbrand in ihm loderte immer stärker auf. Es war ihm, als kochte das Blut in seinen Adern. Mit gewaltsamer Anstrengung riß er sich in die Höhe. Seine Augen stierten auf die Früchte.
Ich Tor! lallte er. Vor mir die Rettung, der höchste Genuß… und ich scheue zurück in grundloser Angst.
Mit wütender Gebärde riß er die Früchte an sich heran, daß sie sich um ihn häuften. Dann schloß er die Augen, biß hinein, aß und trank zugleich. Der köstliche Saft befeuchtete die vertrockneten Lippen, die verdorrte Kehle…
Immer wieder aß er, bis seine Hand keinen Apfel mehr ertasten konnte. Er legte sich dann wieder am Stamm zurück, einen Blick unendlicher Dankbarkeit in die breite Krone sendend…
Er fühlte, wie die Spannung in Hirn und Körper nachließ. Ein unendliches Wohlsein umfing ihn. Langsam neigte sich sein Oberkörper zur Seite. Seine Glieder reckten und streckten sich, wie von neuem Leben durchströmt. Dann sank er in tiefen, ruhigen Schlaf.
Der Schein der Morgensonne des nächsten Tages leuchtete über vier glückliche Gesichter. Vor dem Uranidenzelt saßen van der Meulen, Hortense und Violet. In ihrer Mitte Lee. Das Wiedersehen der Teuren hatte Lee schneller die Kräfte zurückgegeben, als jede Arznei es gekonnt hätte. Es war, wie Royas lächelnd sagte, die beste Arznei gewesen. Hortense und Violet wetteiferten, ihm mit sanftestem, liebevollem Zwang die besten Bissen zum Munde zu führen.
»Unmöglich!« Mit komischer Gebärde wies er Violets Hand zurück, die ihm noch eine saftige Frucht aufdrängen wollte.
»Keine Angst, Ronald! Es sind keine Venusäpfel. Mitgebracht aus Buena Vista. Du aßest sie doch immer so gern. Hortense dachte daran, als wir fortflogen.«
Lees Auge ging zärtlich zu der Geliebten, die den Blick leicht errötend zurückgab. Da konnte er nicht länger widerstehen. Er nahm die Frucht und biß hinein. Verstohlen fanden sich ihre Hände.
Van der Meulen saß in tiefem Nachdenken. Schon am Nachmittag des gestrigen Tages war die Nachricht vom Lager des Stern von Südafrika zu ihm gedrungen, daß Canning am Morgen das Lager verlassen habe und noch nicht zurückgekehrt sei. Eben war Oberst Robartson bei ihnen gewesen und hatte ihm mitgeteilt, daß Canning immer noch nicht zurück sei und daß die ausgesandten Gefährten ihn trotz eifrigen Suchens noch nicht gefunden hätten. Er hatte um Unterstützung gebeten. Van der Meulen hatte ihm bereitwillig ein paar der Leute, die mit General Serrato gekommen waren, mitgegeben.
Wo war Canning? War ihm was zugestoßen? Vielleicht gar etwas Ähnliches wie Ronald Lee… Die Rätsel der Venus, immer dunkler, undurchdringlicher wurden sie.
Der Blick auf Lee, der in die Frucht biß, lenkte seine Gedanken zu dem Gespräch.
»Das wäre ja noch schöner, wenn die Venus nicht auch solche ähnlichen köstlichen Früchte hervorbrächte«, fiel er in das Gespräch ein. »Natürlich nicht hier. Weiter im Süden, wo die Sonne stärker wirkt. Und sollte wirklich die Natur versagen, so sollen schon die nächsten Schiffe als Gastgeschenk die ersten Bäume mitbringen. Wir selbst würden sie pflanzen… Doch kann ich nicht glauben, daß dieses wundervolle, fruchtbare Land nicht auch an eßbaren Früchten reich sein sollte. Ah, kaum kann ich den morgigen Tag erwarten, wo wir eine Erkundungsfahrt machen wollen. Ich brenne darauf, die Fauna und Flora einer neuen Welt kennenzulernen.«
Lee nickte freudig.
»Gewiß! Auch ich kann es kaum erwarten, die Schönheiten, den Reichtum von Nova America kennenzulernen.« Seine Arme machten ein paar kräftige Bewegungen, sein Körper straffte sich.
»Doch warum erst morgen? Heute! Und wenn wir auch nicht gleich den ganzen Erdteil erkunden wollen… Warum den Genuß so schnell genießen… Wenn wir vorerst die nördlichen Breiten erkunden? Eine Rundfahrt… Der Nachmittag wäre vollauf genügend! Wir fliegen selbstverständlich!«
»Ronald!« Von beiden Seiten legten sich zwei Frauenhände auf seine Schultern. »Das wäre leichtsinnig! Du bist noch zu schwach. Ein Rückschlag…«
»Ich schwach? Riesenkräfte fühle ich in mir! Und wenn sie doch versagen sollten, zwei treue Stützen hätte ich.« Er legte die Arme um die Schultern der Mädchen, zog sie an sich.
»Herr General!« Seine Stimme rief laut über den Platz hinweg. »Wir fliegen heute mittag. Die erste Patrouillenfahrt in unser neues Reich, wo überall die Flaggen der Heimat wehen.«
Serrato kam eilig dahergeschritten. »Mr. Lee, Sie fühlen sich schon stark genug, heute zu fahren?«
»Gewiß, Herr General. Es ist ja nur ein Vergnügungsflug des Jonas Lee. Hierra wird ihn führen.«
Als dann auch der Widerstand Royas’ überwunden war, wurden die Vorbereitungen getroffen. Noch hatte die Sonne den Scheitelpunkt nicht erreicht, als sich alle in das startbereite Raumschiff begaben. Hierra, der mit dem Glas die Wolkenbildung des Himmels untersuchte, wandte sich jetzt zu Lee.
»Ich fürchte, wir müssen in geringer Höhe fliegen. Allem Anschein nach werden die Wolkenbänke sich mit dem Fortschreiten der Sonne dichter über den Venusboden ziehen. Wir müssen, um Sicht zu haben, tief fliegen. Die Folge ist, daß wir auch langsam fliegen müssen, um dem Blick Zeit zu geben, das Gesehene zu erfassen.«
»Das schadet nichts«, fiel van der Meulen ein, »mir liegt gerade daran, die Bodenbeschaffenheit und die Tierwelt genauer zu beobachten.«
Gleich darauf erhob sich der Jonas Lee in die Luft und flog in der Richtung nach Osten. Beim Einsteigen war Lee der Gedanke gekommen, zunächst das Meridiangebirge anzufliegen, um dann seinen Verlauf nach Norden zu verfolgen. Dabei sollte der Versuch gemacht werden, einen Meridian durch möglichst markante Berggipfel festzulegen; denn es gab Gründe genug, eine baldige trigonometrische Vermessung von Nova America in die Wege zu leiten.
Alle standen an den Fenstern und schauten mit höchstem Interesse auf die wechselvollen Bilder der unter ihnen dahinziehenden Landschaft. Je mehr man sich dem Hochgebirge näherte, desto schärfer spähte Lee durch sein Glas.
Der Rauch! War’s eine Täuschung seiner Augen gewesen? Er kannte die Stelle wieder, wo ihn der Unfall getroffen hatte. Der Schlag, der Schuß? Absichtlich hatte er es vermieden, über das Ereignis viel zu sprechen. Und doch! Die Gedanken daran ließen ihn nicht los. Was war da geschehen mit ihm? Die anderen hatten wohl gemerkt, daß er nicht gern über den Vorfall sprach, und unterließen infolgedessen Fragen darüber…
Lees Auge haftete unverwandt an der kleinen Höhe, wo sie ihn gefunden hatten, und untersuchte dann näher die Umgebung. Da! Er stieß einen lauten Ruf der Überraschung aus. Nicht weit von der Höhe lag ein schmales Wiesental. Am östlichen Ende stand ein großer Baum, über und über bedeckt mit Früchten.
»Ein Apfelbaum!« rief er laut.
Die anderen kamen zu ihm geeilt.
»Wo ist er? Äpfel? Äpfel, von denen die Uraniden gegessen haben?«
Die Spannung, die Neugierde war bei allen übergroß. Hierra hatte das Schiff angehalten. Es stand jetzt in geringer Höhe fast senkrecht über dem Baum.
»Merken wir uns die Stelle!« rief General Serrato, »sie ist nicht weit vom Lager. Sobald wir zurück sind, werden wir den Baum, und die Früchte untersuchen.«
»Nein! Nein! Nicht später! Jetzt!« Lee trat zu Hierra heran. In seinen Augen glänzte es wie leichtes Fieber. »Ich kenne die Frucht nur zu genau. Ich will und muß diese hier sehen, vergleichen. Der Tod dieser kühnen Männer kam durch dieses tückische Gewächs. Hat es jemals in der Geschichte der Menschen eine größere Tragik gegeben? Wie konnte die Natur unter der Gestalt einer prächtigen Frucht, die durch ihre Schönheit, ihren Duft jedes Menschen Mund zum Genuß verführen muß, heimlichen Tod verbergen? Die Natur ist doch die allgütige, allsorgende Mutter der Menschen.«
Auf seinen Befehl senkte sich der Jonas Lee langsam in das Tal hinab und setzte auf. An Serratos Arm ging Lee auf den Baum zu. Schon in seinem Umkreis lagen ein paar Früchte im Gras. Lee hob sie auf und roch daran. Die Erregung ließ ihn blässer werden.
»Es sind die Äpfel der Uraniden!« Beide steckten ein paar von den Früchten in die Tasche. Sie wollten sich wieder abwenden. Da hielt Lee an. Er bog den Kopf zur Seite. Sein Auge glitt suchend über den Boden.
Da, im hohen Grase halb verborgen… lag da nicht ein Mensch?
Der letzte Uranide! Sein Mund wollte es schreien, doch die Lippen versagten den Dienst. Stumm deutete sein Arm dahin. Serratos Blick folgte ihm. Auch er schrak zusammen.
»Ein Mann?« sprach er flüsternd, heiser. »Ein Uranide?«
Vorsichtig schritten sie näher. Serrato ließ Ronald Lees Arm los. Der stützte sich gegen den Stamm. Der General beugte sich zu der liegenden Gestalt. Lees Augen, weit geöffnet, starrten auf das Bild. Furchtbar! Neben dem Mann die Reste vieler Früchte… Ein Uranide, der sich selbst gemordet? Denn anders…
Da hob Serrato den Körper des Mannes in die Höhe und wendete das Gesicht, das dem Boden zugeneigt war, um.
»Canning!« Ein Schrei des Entsetzens gellte durch das Tal.
Keiner, der nicht erblaßt und bis in die innerste Tiefe erschreckt war. Es war wahr, was Lee gesagt hatte. Da lag Canning. Anscheinend in tiefem Schlaf. Um ihn herum lagen die Früchte, von denen er gegessen hatte.
»Wir müssen ihn sofort ins Lager bringen«, sagte Royas. »Vielleicht, daß doch irdische Arzneikunst ihn retten kann. Dr. James Harding, der ihre Expedition als Arzt begleitet, genießt am Smithsonian Institute den Ruf eines tüchtigen Toxikologen. Wenn eine Rettung möglich ist, dann nur durch ihn.«
Die Insassen beider Lager wunderten sich, daß der Jonas Lee nach so kurzer Zeit schon wieder zurückkehrte. Noch größer war ihr Staunen, als er unmittelbar neben dem Stern aufsetzte.
Anwesend waren nur Oberst Robartson und Dr. Harding. Schnell waren sie aufgeklärt. Noch immer lag Canning in tiefem Schlaf. War es der Vorläufer des Todes… War es nur der Schlaf übergroßer Ermüdung? Seine Kleider, seine Schuhe verrieten, daß er einen langen, schweren Marsch hinter sich gehabt hatte…
Behutsam wurde Canning in sein Zelt gebracht. Der Jonas Lee kehrte zu seinem Liegeplatz zurück. Man hatte für diesen Tag die geplante Erkundungsfahrt aufgegeben.
Van der Meulen, Serrato und Robartson standen im Gespräch vor dem Zelt. Dr. Harding und Professor Royas untersuchten währenddessen den Zustand Cannings. Während sich Royas noch mit dem Kranken beschäftigte, hatte Harding den Saft eines Apfels, den Royas mitbrachte, flüchtig untersucht. Schon die rohe Analyse erweckte den Verdacht, daß man es hier mit einem dem Pilzgift Muskarin ähnlichen Stoff zu tun habe, der das Zentralnervensystem unter wechselnden Erregungszuständen zerstörte.
Als Royas ihm mitteilte, daß Canning eine große Menge dieser Früchte gegessen habe, erschrak Dr. Harding.
»Dann«, er schüttelte den Kopf, »ist jeder Versuch, ihn zu retten, aussichtslos. Hätte er nur eine Frucht gegessen, würde ich zu hoffen wagen. Doch so sehe ich keine Möglichkeit! Meine Mittel sind nicht wirksam genug. Wo Uranidenkunst versagte, muß auch irdische Kunst versagen. Versuchen will ich natürlich alles.«
Er eilte in das Raumschiff, wo er sich ein kleines Laboratorium eingerichtet hatte. Als Professor Royas den dreien vor dem Zelt die Worte Hardings mitteilte, bestätigten sie ihnen nur, was sie eben schon im Gespräch untereinander geäußert hatten.
»Ein Unheil schwebt über unserer Expedition«, unterbrach Oberst Robartson das Schweigen. »Ich wäre froh, wenn die Regierung in Kapstadt endlich die Konsequenzen zöge. Bald! Sie zögert wohl nur mit Rücksicht auf die Stimmung der Massen, die es nicht verstehen und verschmerzen können, daß in diesem Falle das südafrikanische Banner auf der ganzen Linie geschlagen ist.«
Er hatte nur zu recht. Die Nachricht von Cannings Erkrankung, von seinem unabwendbaren Tod, dem Tod, wie ihn die Uraniden erlitten hatten, verursachte in den Unionsstaaten eine ungeheure Erregung. Die Stimmung in den Staatsämtern in Kapstadt war geteilt. Man hatte sich dahin geeinigt, daß vorläufig Oberst Robartson das Kommando über die Expedition übernehmen solle. Die einen, doch ihre Zahl war gering, wünschten, daß der Oberst sofort mit dem Raumschiff startete, um andere, möglichst gutgelegene Teile der Venus in Besitz zu nehmen. Das Erbe der Uraniden war ja so oder so verloren. Doch die anderen wagten es nicht, sich mit einer solchen Maßnahme einverstanden zu erklären.
Noch unterhielt man sich vor dem Zelt, da kam die Nachricht von der Erde: Oberst Robartson ist Führer der Expedition.
Robartson hielt das Telegramm, das ihm der Funkgast übergab, in den Händen.
»Nichts weiter? Keine Instruktionen?« Der Funker verneinte.
»So wären wir«, er wandte sich zu Serrato, »gerade so weit wie vorher… Es ist, wie ich es ahnte. Man vermeidet es, die Konsequenzen zu ziehen. Man begnügt sich damit, mich zum Expeditionsführer zu ernennen. Alles, was ich Ihnen bisher im Gespräch gesagt hatte, ist meine persönliche Meinung… betrachten Sie es als nicht gesprochen… Noch bin ich an die alten Instruktionen, wie sie Canning bekam, gebunden.«
Stumm schritten van der Meulen und General Serrato Lees Lager zu. Das schreckensvolle Ende Cannings war der Schlußstein eines Unternehmens, das mit so großen Hoffnungen begonnen hatte. Im Lager Lees angekommen, fanden sie dort gleichfalls bedrücktes Schweigen. Lees Nerven waren durch den Vorfall des Tages stark erschüttert. War es auch der Feind, dieses tragische Ende konnte auch auf seinen Gegner seinen Eindruck nicht verfehlen.
Van der Meulen und Serrato boten alles auf, Lees Gedanken zu zerstreuen. Als Royas bei einbrechender Nacht zurückkam, fand er Lee bereits eingeschlafen. Sorgfältig untersuchte er den Daliegenden. Dann nickte er befriedigt.
»Eine gesund verschlafene Nacht, und er wird den Schock überwunden haben. Der morgige Tag mit seiner Fahrt, die so viel Abwechslung und Interessantes bietet, wird ihm eine gesunde Zerstreuung sein… Zwei liebevolle weibliche Herzen werden alle finsteren Gedanken verscheuchen.«
Lee verbrachte die Nacht in tiefem, festem Schlaf, Violet und Hortense wachten abwechselnd neben ihm.
Als am nächsten Morgen der Jonas Lee sich in die Luft erhob und in der Richtung nach Osten die Hochgebirgskette ansteuerte, schien Lee wieder in alter Frische zu sein. Die wechselvollen Bilder der Fahrt erzeugten bei allen das größte Interesse. Je näher man dem Gebirgsmassiv kam, desto höher stieg das Schiff. Es galt, unter den vielen gewaltigen Gipfeln, die zum Teil mit ewigem Schnee bedeckt waren, einige besonders markante herauszusuchen, nach denen man in genauer Nord-Süd-Richtung den Venus-Null-Meridian legen wollte. Die Arbeit nahm lange Zeit in Anspruch. Weit nach Norden, weit nach Süden mußte man gehen, bis man endlich zwei geeignete Spitzen gefunden hatte.
Lee selbst war unaufhörlich mit der fotogrammetrischen Aufnahme des überflogenen Gebietes beschäftigt. Die Sonne näherte sich inzwischen ihrem Scheitelpunkt. Jetzt war es an der Zeit, die mitgebrachten astronomischen Uhren, deren Werk bereits auf die Länge des Venustages, durch irdische Beobachtungen bis auf Bruchteile von Sekunden bekannt, eingerichtet war, auf die Ortszeit des Venus-Null-Meridians einzustellen.
»Zwölf Uhr eine Minute jetzt nach Venuszeit des Leeschen Meridians«, rief van der Meulen und hielt seine Uhr lachend den anderen entgegen. »Kein besseres Monument für Ronald Lee als der Lee-Meridian.«
Von allen Seiten regnete es Glückwünsche. Ein Radiotelegramm ging zur Erde und brachte die Kunde zu den Menschen, daß die Normalzeit für Nova America feststand, daß demgemäß alle weiteren Mitteilungen zur Erde danach datiert würden.
Inzwischen war die Zeit so weit vorgeschritten, daß es sich nicht mehr lohnte, eine Durchforschung des Kontinents in Angriff zu nehmen, die man wegen der niederen Wolkenschicht nur in geringer Höhe und entsprechend langsamer Fahrt hätte vornehmen können. Dazu reichten die Stunden der Helligkeit nicht mehr aus.
»Vielleicht, daß wir bei einer Fahrt, dem Meridian folgend, am nördlichen Pol bessere Wetterverhältnisse haben«, wandte Serrato ein. »Wir kennen ja alle die Erdpole zur Genüge. Es dürfte interessant sein, die Venuspole zu besuchen, bei denen doch infolge der Stellung der Venus ähnliche klimatische Verhältnisse herrschen müssen.«
Der Vorschlag fand allgemeinen Beifall. Die Maschinen wurden zu stärkerer Fahrt angestellt. In schnellem Fluge eilte der Jonas Lee der nördlichen Polarzone zu.
Das unter ihnen liegende Land zeigte entsprechend den anderen klimatischen Verhältnissen ganz andere Bilder als auf der Erde. Hier machte sich die größere Sonnennähe geltend. Fast bis zum achtzigsten Breitengrad etwa erstreckten sich grasbewachsene Steppen, die von einer reichen Fauna belebt waren. Erst dann begann der Übergang zum arktischen Gebiet. Verschneite Ebenen, offenes Meer, Treibeis, Gletscher.
Lee stand mit Royas am Meßtisch. Der Pol war in nächster Nähe. Die Erwartung war entsprechend gespannt. Auch Hierra verließ für einen Augenblick den Führerstand und kam zum Meßtisch.
»Nur noch einen Grad!« rief Lee, »dann sind wir über dem Pol.« Er warf einen Blick zum Boden. »Hallo, was ist das?« rief er, »unser Flug geht stark abwärts.«
Mit Hierra lief er zum Führerstand, schaltete, stellte den Hebel auf stärkere Beschleunigung, um dem Fall zur Venus hin entgegenzuwirken. Doch nur für kurze Zeit trieb das Schiff in gleichbleibender Höhenlage. Dann begann es wieder zu fallen.
Sekundenlang starrten sie sich erschreckt an. Ein Defekt in dem Triebwerk? Bei dieser Hebelstellung hätte der Jonas Lee stark nach oben steigen müssen. Mit Hierra und den anderen Technikern begab sich Lee unverzüglich an die Untersuchung der Anlage. Jetzt mußte man ungefähr den Pol erreicht haben, der Fall des Schiffes wurde schneller.
Doch trotz alles Suchens war kein Fehler zu finden. Lee sprang auf. »Später… Jetzt keine Zeit mehr… Wir müssen uns damit abfinden, daß der Jonas Lee aufsetzen wird. Unser ganzes Bestreben muß sein, die Landung an einem günstigen Punkt ohne Schaden für das Schiff zu bewerkstelligen.«
Ein großes Eisfeld vor ihnen schien zum Landen günstig. Ein paar Minuten später setzte der Jonas Lee in der Mitte der Eisfläche auf.
»Für alle Fälle wollen wir der Buena Vista Nachricht geben. Sie soll sich sofort hierher begeben. Unser Landungsplatz, der Pol, ist leicht zu finden.«
Während Royas sich zum Sender begab, traten van der Meulen und Serrato in die Zentrale.
»Wollen wir dem Pol einen persönlichen Besuch abstatten?« fragte van der Meulen. »Ein längerer Aufenthalt verzögert unsere Rückfahrt…« Er wollte weitersprechen, verstummte aber, als er die Gesichter Lees und Hierras sah.
»Was ist? Weshalb diese Bestürzung? Ist etwas passiert? Mußten Sie landen, weil…?«
»Ich kann keine Verbindung mit der Buena Vista bekommen«, rief Royas aus dem Hintergrund. »Vergeblich habe ich alles versucht.«
Sofort eilten Lee und Hierra dort hin, untersuchten die Anlage. Alles in Ordnung. Die Antenne führte vollen Strom… Warum gab es keine Verbindung mit der Buena Vista? Wo war die Fehlerquelle? Dort oder hier?
»Ich möchte fast wünschen, daß hier der Fehler steckt, daß im Lager alles in Ordnung ist. Es wäre im höchsten Grade unangenehm, wenn sich im Lager während unserer Abwesenheit irgend etwas Gefährliches ereignet hätte. Wenn wir hier einen Defekt haben und können ihn nicht selbst in Ordnung bringen, wird die Buena Vista uns zu Hilfe kommen. Allerdings…«, er machte ein nachdenkliches Gesicht, »müssen wir uns darauf gefaßt machen, die Nacht hier zu verbringen.«
»Sehr wahrscheinlich sogar«, warf Royas ein. »Ehe denen im Lager zum Bewußtsein gekommen ist, daß uns etwas zugestoßen sein könnte, wird die Dunkelheit eintreten. Nun, ein kleines Abenteuer, das ja nicht weiter bedenklich ist. Vielleicht übernehmen Sie es, Mr. van der Meulen, den jungen Mädchen die Nachricht zu überbringen. Ich muß mich unverzüglich mit Hierra an die Untersuchung der Apparatur machen.« –
Stunden waren vergangen. Das Gespräch in der Kabine zwischen van der Meulen und den übrigen wurde immer schwächer und drohte ganz einzuschlafen. Keiner, der mit ganzem Interesse dabei war. Das lange Ausbleiben Lees… irgend etwas Schlimmes mußte passiert sein. Aller Gedanken waren bei ihm. Die Unsicherheit erhöhte die innere Erregung immer mehr. Endich konnte van der Meulen die Ungeduld nicht länger meistern. »Muß doch mal selbst nachsehen… komme gleich wieder.«
Er trat in den Führerstand und hielt erschrocken inne. Die beiden Männer, die er in emsiger Arbeit geglaubt hatte, saßen da, stumm und tatenlos.
Das Gesicht Lees war grau, verfallen… nach vorn zum Boden geneigt. Der ganze Mann machte den Eindruck, als hätte ihn ein furchtbarer Schicksalsschlag getroffen.
»Ronald!« Van der Meulen unterdrückte nur mit Mühe einen Schrei und eilte zu ihm. Er legte die Hand auf seine Schulter. »Ronald! Was ist Ihnen? Was ist vorgefallen?«
Er richtete dessen Kopf in die Höhe. Sah ihm in die Augen, erschrak bis in sein tiefstes Innerstes.
Lees Augen starrten ihn wie geistesabwesend an. Er führte ihn zu einer Ruhebank, legte ihn behutsam nieder.
Professor Royas trat ein, in seiner Hand ein Fläschchen. Er flößte jedem der beiden etwas von der Arznei ein. Auch er war bleich und doch weit gefaßter als Lee und Hierra.
»Was ist’s, Royas?« Van der Meulen ergriff ihn am Arm. »Um Gottes willen, nicht länger diese Ungewißheit. Wenn etwas Schreckliches passiert ist, sagen Sie es mir. Lieber der Gefahr ins Auge schauen, als sie fürchten.«
»Kommen Sie mit mir, van der Meulen. Wir lassen die beiden hier kurze Zeit allein. Ich habe ihnen ein beruhigendes Mittel eingegeben. Vielleicht, daß sie schlafen.« Er zog ihn durch die Hintertür, die zu seiner Kabine führte, mit sich.
»Machen Sie sich auf das Schlimmste gefaßt, van der Meulen. Ich will unumwunden mit Ihnen sprechen.«
Van der Meulen zuckte zusammen. Der Gedanke an Hortense, die anderen, ließ ihn erbleichen.
»Das Schlimmste wäre der Tod, Senor Royas«, sprach er langsam, mit schwerer Stimme. »Wie soll ich Ihre Worte verstehen? Wir hier müßten sterben… in dieser Eiswüste? Es ist doch unmöglich! Die Freunde werden uns retten!«
Royas schüttelte den Kopf.
»Keiner kann uns retten, van der Meulen. Wir selbst können es nicht – unsere Freunde können es nicht… Wollten sie es, sie würden mit uns zugrunde gehen.«
Van der Meulen wollte ihn ungeduldig unterbrechen, doch Royas winkte ihm, zu schweigen.
»Erst lassen Sie sich nüchtern erzählen, wie alles gekommen, wie unsere Lage hier ist. Wir haben den Pol gesucht und gefunden. Anders wie auf der Erde decken sich auf der Venus ungefähr geographischer und magnetischer Pol. Die starken magnetischen Felder, die wir ahnungslos durchfuhren und in deren Bereich wir unentrinnbar festliegen, machen die Elektronenausstrahlung des Jonas Lee wirkungslos. Jedes andere von derselben Kraft getriebene Schiff, das uns retten wollte, würde dem gleichen Schicksal verfallen.
Es zu warnen, ist unmöglich, da ja natürlich auch die Sendeenergie von dem magnetischen Feld aufgesogen wird. Wenn es das Schicksal will, wird morgen die Buena Vista kommen und uns finden… um mit uns unterzugehen.
Oberst Robartson, der jetzt den Stern von Südafrika befehligt, wird, wie ich ihn kenne, uns auch zu Hilfe kommen wollen und wird unser Los teilen…
Und sehe ich noch weiter, sehe ich auch den Bolivar kommen. Auch der wird uns suchen und dasselbe Schicksal erfahren. Möglich, daß später noch Schiffe kommen. Suchen wird jedes nach uns. Alle werden dabei zugrunde gehen. Vielleicht, daß dann die Menschen auf der Erde den unheilvollen Stern für immer meiden werden.«
Van der Meulen hielt nur mit Mühe der Wucht der furchtbaren Tatsachen, deren Kette Royas logisch entwickelte, stand. Waren ihm auch die physikalischen Vorgänge nicht ganz klar, das Bild der Männer im Nebenraum mußte jeden Zweifel unterdrücken. Doch der Gedanke an Hortense und Violet ließ noch einmal allen Lebensmut in ihm aufflammen. Mit Royas zusammen besprach er alle Möglichkeiten der Rettung.
Vergeblich, einen Augenblick war in ihm der Gedanke aufgeschossen, den Versuch zu wagen, zu Fuß nach Süden zu wandern. Vielleicht, daß man abwechselnd auf Eis und festem Land eine Gegend erreichte, wo man das Leben notdürftig fristen konnte. Doch ebenso schnell war der Gedanke wieder verworfen. Dazu fehlten die notwendigsten Ausrüstungsgegenstände, die unentbehrlichsten Lebensmittel.
Der Tod schien unabwendbar! Wie sollte er das Herz finden, Hortense und Violet die furchtbare Nachricht zu bringen? –
Und doch war die Buena Vista schon am Nachmittag aufgestiegen, den Jonas Lee zu suchen. Der Führer Urdaneda hatte um dieselbe Zeit, als der Jonas Lee am Pol niederging, Funkverbindung mit van der Meulen gesucht, um diesem über die Vorgänge im Lager zu berichten.
Am Nachmittag war Oberst Robartson gekommen und hatte Urdaneda die Mitteilung gemacht, daß das Befinden Cannings sehr schlecht sei und daß er zeitweise in hohem Fieber die Namen von bekannten Menschen riefe. Darunter auch Ronald Lee und Hortense van der Meulen.
Kaum war Robertson gegangen, hatte ein Bote die Nachricht gebracht, daß Cannings Diener, der Inder Sarata, von einer giftigen Schlange gebissen, in den letzten Zügen läge. Urdaneda hatte Juan Stamford in Cannings Lager geschickt. Dieser kam zurück und berichtete, daß sich Cannings Zustand durch die Medizin Hardings etwas gebessert habe, daß das Fieber zurückgegangen sei. Der Kranke sei bei vollem Bewußtsein, der Inder inzwischen gestorben.
Sarata hatte am Tage vorher bei dem Suchen nach Canning ein Schlangennest entdeckt. Er hatte zwei Schlangen gefangen und mit ins Lager gebracht, ohne daß die übrigen etwas davon erfuhren. Am Mittag hatte er die Schlangen Harding gezeigt, der sofort Interesse zeigte und sie auf ihre Giftigkeit untersuchen wollte.
»Es sind Kobras wie bei uns zu Haus«, hatte der Inder zu Harding gesagt, »kluge Tiere. Ich werde sie tanzen lehren.«
Harding war geneigt, dem Inder zu befehlen, die Schlangen zu töten und fortzuschaffen. Er ließ sich aber durch die starke Zuversicht, die Sarata äußerte, davon abbringen.
Der Inder zog seine Flöte aus der Tasche und zeigte lächelnd, zu Harding gewandt, auf das Instrument.
»Saratas Musik macht böse Schlangen sanft. Sie werden sehen.«
Er stellte den Korb auf den Boden, kniete davor und setzte die Flöte an seine Lippen. Kaum, daß er ein paar Töne gespielt hatte, hob sich der Deckel. Die beiden Schlangen krochen heraus. Sekundenlang wanden sich die schillernden Leiber hin und her.
Da, die eine! Ihr Auge hatte Saratas Blick gefühlt. Sie blieb regungslos liegen. Die andere kroch näher an den Inder heran, der unbeirrt weiterspielte. Jetzt hatte auch sie der Blick des Inders getroffen. Ebenso wie die andere verharrte sie regungslos am Boden. Ein triumphierendes Lächeln ging über Saratas Gesicht. Die Musik seiner Flöte brach plötzlich ab, begann sofort in einer anderen Melodie. Und als empfänden die Schlangen wohltätig die sanften schmeichelnden Töne, erhoben sie sich langsam. Die Töne der Flöte wurden schneller und gingen in einen wiegenden Rhythmus über. Die Schlangen folgten und bewegten sich zum Erstaunen aller in hüpfendem, wiegendem Tanz.
Saratas Augen glänzten. Nur sekundenlang streifte sein Blick die verdutzten Gesichter der Zuschauer, kehrte aber sofort wieder zu den Tieren zurück.
Ein furchtbarer Schrei, der weit über den Platz gellte, kam aus dem Zelt, in dem Canning lag.
»Gorm! Gorm! Wo bist du? Komme zu mir! Rette mich aus dieser Qual. Du bist der einzige, der den Brand meiner Seele löschen kann! Gorm! Gorm!«
Bei dem Namen Gorm war der Inder zusammengezuckt. Die Worte Cannings wühlten in ihm… Wie achtlos ließ er die Flöte sinken. Seine Augen glitten von den Schlangen weg, gingen in unbestimmte Ferne. Er schauerte zusammen wie in Angst und Grauen. Auch die Aufmerksamkeit der anderen hatte der Schrei Cannings abgelenkt. Keiner, auch Sarata nicht, achtete auf die eine der Schlangen, die sich um seinen Fuß ringelte.
Robartson war der erste, der sich wieder zu dem Inder wandte. Sein Auge vermißte eine der Schlangen, sah sie am Bein Saratas. Mit einem Schrei eilte er auf diesen zu. Sarata, noch immer wie im Traum, starrte ihn geistesabwesend an. Robartson faßte mit einem schnell Griff das Reptil, warf es zu Boden und zertrat es.
»Sarata«, rief er laut, »schnell, streifen Sie das Kleid ab. Vielleicht sind Sie gebissen.« Er deutete auf das getötete Tier. Da endlich schien der Inder zu sich zu kommen. Er beugte sich vor, streifte die Hose in die Höhe. Die roten Eindrücke der Schlangenzähne wurden sichtbar…
Der Inder sah es, nickte. »Der Gott der Gerechtigkeit straft mit den Waffen, mit denen der Mensch gesündigt hat.«
Auf die Rufe der anderen kam Dr. Harding herbeigeeilt. Schnell war er aufgeklärt. Er sah die Bißwunde und wollte beispringen. Sarata winkte ab.
»Der Gott hat es gewollt. Es wäre schwere Sünde, gegen seinen Willen zu handeln. Sarata muß sterben. Seine Zeit ist erfüllt.«
Vergeblich drang Harding in ihn, einen Versuch zu machen, durch eine Einspritzung das Schlangengift zu paralysieren. Der Inder lehnte jede Hilfe ab. Er wandte sich um, daß das Gesicht nach Osten zeigte, beugte das Haupt und saß in regungsloser Starre.
Dr. Harding zuckte die Schultern.
»Er sucht den Tod. Sein Fatalismus sieht in ihm keinen Feind, nur einen Weg zum nächsten neuen Leben.«
Als der Erdstern klar und schimmernd am Horizont aufstieg, starb Sarata. –
Vergeblich hatte Urdaneda Verbindung mit dem Jonas Lee gesucht, um ihm die Vorgänge im Lager zu berichten. Schon eine Stunde war vergangen. Immer wieder war der Versuch einer Verbindung fehlgeschlagen.
»Ein ereignisreicher Tag«, brummte er vor sich hin. »Sollte da irgend etwas vorgefallen sein? Sollten hier atmosphärische Störungen unbekannter Art auftreten, die die Verständigung verhindern?«
Er bat Oberst Robartson zu sich, teilte ihm kurz seine Befürchtungen und seine Absicht mit, die Buena Vista startbereit zu machen und auf die Suche zu gehen. Er bat Robartson, auf einem seiner Empfangsapparate die Leesche Welle einzustellen, um jederzeit Nachrichten von ihm oder von Lee empfangen zu können. Kurz darauf flog die Buena Vista in beschleunigter Fahrt nach Norden und suchte in der ungefähren Richtung, die der Jonas Lee genommen haben mußte, sorgfältig das unter ihr liegende Land ab. Die bald einbrechende Dunkelheit zwang Urdaneda, die Suche abzubrechen und zum Lagerplatz zurückzufliegen.
Eine Riesenschlucht in den östlichen Gebirgszügen des Meridiangebirges. Ein schmaler Grat an der westlichen Felswand führt in gähnende Tiefe. Ein Mann bewegt sich vorsichtig kletternd den Pfad hinab. Die Hälfte des Abgrundes hat er überwunden. Plötzlich tut sich zu seiner Linken ein gewaltiges Felsentor auf. Die gigantischen Ausmaße geben das Bild der Halle eines Riesendomes. Im Hintergrund der Höhle steht ein Raumschiff.
Als der Ankömmling in die Höhle trat, kamen ihm aus einer Nische zwei Männer entgegen.
»Wie steht’s, Tim? Hast du Erfolg gehabt?«
Dieser bejahte, das Gesicht halb ernst, halb von einer versteckten Freude zu einer Grimasse verzogen.
»Sarata ist von einer giftigen Schlange, die er zähmen wollte, gebissen worden. Wie das passiert ist, konnte ich leider nicht feststellen. Er scheint rettungslos verloren.«
»Ah! Also doch. – Sarata.« Stamford wandte sich ab und schritt in tiefem Nachdenken lange Zeit hin und her. »Unendlich kunstvoll sind die feinen Fäden vom Karma zu einem unzerreißbaren Gewebe versponnen. Alles ist mir jetzt klar. Meine Ahnung trog mich nicht. Auch damals nicht, als ich vor unserer Abfahrt mich auf Majadevis Seite stellte, die Gorm bat, Awaloff mitzunehmen. Auch hier findet sich das Walten des Karma. Es mußte sein, damit hier die wirren Knoten ihre Lösung fänden.«
Indessen berichtete Tim Broker Gorm, wie es ihm gelungen war, sich unbemerkt an Cannings Lager heranzuschleichen und aus dem Gespräch der Leute das Wesentliche zu erlauschen.
Jetzt wandte sich Stamford zu Gorm und trat mit ihm in die Nische. Auf einem Lager ausgestreckt ruhte Majadevi. Das nervöse Arbeiten ihrer Gesichtsmuskeln, das unruhige Umhertasten ihrer Hände, das Zucken, das hin und wieder durch ihre Glieder ging, zeigten, daß der Schlaf, in dem sie lag, nicht natürlich war, daß Stamford sie bannte, festhielt.
»Sarata stirbt«, sprach Stamford flüsternd zu Gorm. »In dem nahenden Dunkel des Todes tastet seine Seele noch einmal nach dem besten Besitz und Glück seiner Erdentage. Die schattenden Wellen seiner Seele trafen mit stärkster Inbrunst Majadevi. Noch sind mir die tiefsten Geheimnisse der indischen Mystik nicht erschlossen… ob er noch sterbend sie uns entreißen wollte… ihre Seele mitnehmen in das neue, geträumte Leben? Ich hörte wohl von solcher ungeheurer Kraft Sterbender. Doch es soll ihm nicht gelingen. Setzen Sie sich wieder zu ihr. Ergreifen Sie wieder ihre Hände. Das Fluidum Ihrer Seele ist die beste Abwehr – ist stärker als meine Kunst.«
Stamford nickte Awaloff, der zu Füßen des Lagers saß, freundlich zu. Die bekümmerten Züge des Mannes, dessen Augen wie hilflos an Stamford hingen, hellten sich auf.
Welch tiefe Wandlung war mit Awaloff vorgegangen. Das eingefallene Gesicht war von den ausgestandenen Leiden gefurcht, der Rücken gebeugt. Der hagere Mann wich nicht von dem Lager Majadevis, wie um sie zu schützen… wie um selbst Schutz zu suchen. Der einzige kostbare Besitz, der ihm noch verblieb.
Die Augen, glanzlos, trugen die Spuren der furchtbaren Seelenkämpfe, zeigten, wie unauslöschlich in seiner Erinnerung das Entsetzliche, das er erlitten hatte, fortlebte. Wie eingemeißelt war ihm das Bewußtsein der schweren, nie wieder gutzumachenden Schuld an der Menschheit.
Nur wenn sein Blick Majadevi traf, veränderte sich der Ausdruck. Der Schimmer unsäglicher Liebe verschleierte dann alles Dunkle, Trübe. Seit jener Stunde, wo die Nacht des Wahnsinns von ihm gewichen war, wo er in Majadevi sein Kind wiederfand, hatte er sich mit allen Fasern seines Seins an sie geklammert. Sie war das einzige Band, das ihn noch mit dem Leben verknüpfte. Vor Gorm zeigte er eine unüberwindliche Scheu. Er wich ihm aus, wo er nur ging. Wenn Gorm mit ihm sprach, senkte er die Augen und wurde ängstlich.
Wohl hatte keiner mit ihm über die Zusammenhänge zwischen seiner Tat und Gorms Schicksal gesprochen. Doch hatte er sie wohl durchschaut. Stamford, der für kurze Zeit hinausgegangen war, kam jetzt wieder und wandte sich zu Gorm.
»Noch immer senden die Leute der Buena Vista Rufe in den Äther, die keine Antwort finden. Wüßte man nicht aus den gestrigen Funksprüchen, daß der Jonas Lee eine Fahrt um das neue Land machen wollte, möchte man annehmen, daß Ihre Befürchtungen, Gorm, wahr geworden sind. Gewiß, es wäre ja nicht ausgeschlossen, daß der Jonas Lee seine Pläne geändert und den Pol angesteuert hätte… daß er das Schicksal des Uranidenschiffes erlitte.«
»Es muß so sein«, erwiderte Gorm. »Die Einrichtungen des Jonas Lee sind so vortreffliche, daß an einen Unglücksfall gewöhnlicher Art nicht zu denken ist. Und wenn ihm auch sonst etwas zugestoßen wäre, die Sendeanlage müßte ihm jedenfalls zur Verfügung stehen. Doch die Nacht bricht herein. Das Schiff im Licht der Scheinwerfer zu suchen, wäre kaum möglich. Doch was es auch sei, ich weiche nicht von Majadevi. Weiche nicht, bis mir ihre Seele wieder voll geschenkt ist. Sarata tot? Majadevi ist befreit von den schweren Fesseln, mit denen der Inder sie an sich gekettet hatte, dies schimmernde Kleinod, dessen Licht meine Augen so glückverheißend traf, als ich in der tiefen Nacht des Menschenhasses wandelte… Vollendet ist mein Glück, wenn die zarte Blüte, von meinen Händen vor allen Lebensstürmen geschützt, sich zur schönsten Blume entfaltet.« –
Stunden verrannen. Die drei wichen nicht von dem Lager.
»Hallo! Sie ist wieder da, die alte Erde. Der Teufel, daß ich die mal als blitzenden Stern am Himmel sehen sollte.« Tim Brokers Stimme schallte von dem Ausgang her zu ihnen. »Ich freue mich jeden Tag, wenn ich dich wiedersehe, alte Heimat.«
Stamford hatte sich erhoben und wollte dem Mann unwillig zurufen, still zu sein. Da hielt ihn Gorms Hand zurück.
Er deutete auf Majadevi. Was war mit ihr? Sie hatte sich langsam emporgerichtet. Die Augen glitten in ruhigem, liebevollem Blick von einem zum anderen. Man sah, wie ihre Brust sich unter dem leichten Gewände in ruhigen, befreienden Atemstößen hob und senkte. Ihre Hände hoben sich hoch, streckten sich den Gefährten entgegen.
»Mir ist so leicht. Ich bin so glücklich. Der schwere Traum… er ist fort… die dunklen Schatten, die finsteren Gestalten, die um mich woben, sind verschwunden. – Väterchen – Weland Gorm – «
Wie betäubt von dem Glücksgefühl schlang sie die Arme um den Mann, der neben ihr saß. »Weland Gorm, du liebst mich. Du wirst nie von Majadevi gehen, die auch dich so liebt.«
Es war die Stunde, als Sarata starb.
In dem klaren, hellen Sternenlicht wanderten zwei Männer über die Eisfelder. Hin und wieder verdunkelten schwarze Wolken das geringe Licht. Dann schalteten sie ihre starken Lampen ein, um ihren Weg zu erhellen. Hin und wieder vergewisserten sie sich mit dem Kompaß, daß sie die rechte Richtung beibehielten.
Nach Süden! Stundenlang, fast die ganze Nacht waren sie schon gewandert. Eine breite Eisspalte sperrte ihnen den Weg. Der eine nach rechts, der andere nach links, suchten sie eine Möglichkeit, das Hindernis zu umgehen. Die Zeit verrann. Endlich hatte der eine eine schmale Eisbrücke gefunden, die auf das andere Feld führte. Durch die hohle Hand schrie er es dem Gefährten zu. Dieser kam. Der andere schaute inzwischen auf die Uhr.
Acht Stunden waren sie schon gewandert. 35 Kilometer hatten sie zurückgelegt. Viel weiter wären sie schon, wenn nicht immer wieder die Hindernisse ihren Weg verlängert hätten. Eine Zeitlang war ihnen das Glück hold. Keiner schien Ermüdung zu verspüren. Unaufhaltsam, indem bald der eine, bald der andere Schrittmacher war, wanderten sie weiter. Im Schutze einer riesigen Eiswand, die sie umgehen mußten, machten sie einen kurzen Halt. Das Sternenlicht begann langsam zu verblassen.
»Wenn wir noch 20 Kilometer zurücklegten, Mr. Lee, wären wenigstens geringe Aussichten, daß wir die Buena Vista vor dem Eintritt in das magnetische Feld warnen könnten.«
Lee nickte, innerlich verzweifelt, ob seine Kräfte noch ausreichten, den beschwerlichen Marsch so viele Stunden lang fortzusetzen. Gestern erst vom Krankenlager aufgestanden, heute diese Riesenanstrengung. Selbst sein stählerner Körper war solchen Strapazen nicht gewachsen.
»Ich will’s versuchen, Señor Serrato. Wenn ich nicht mehr kann, müssen Sie allein weiterwandern. Das Geschick aller unserer Gefährten hängt davon ab, daß wenigstens einer das Ziel erreicht. Vielleicht, daß unser Sender schon früher arbeitet, wenn auch schwach.«
Eine Stunde wohl waren sie weitergewandert. Der Weg war günstig gewesen. Da, ein neuer, breiter Eisspalt. So weit ihre Augen bei dem immer heller werdenden Morgenlicht reichten, gab es keine Möglichkeit, ihn zu überschreiten oder zu umgehen.
»Wir dürfen uns nicht trennen, Mr. Lee. Die vielen kleinen Spalten, die das Eis durchziehen, sind tückische Fallen. Stürzte einer hinein, wäre er verloren, ehe der andere herbeikäme. Wandern wir aufs Geratewohl nach rechts. Vielleicht haben wir Glück.«
Doch nirgends war eine Übergangsmöglichkeit. Schon wollten sie verzweifelt umkehren, nach der anderen Seite suchen, da sah Serrato eine kleine, schwimmende Eisscholle in dem offenen Wasser. Der Spalt war hier verhältnismäßig schmal. Serrato deutete darauf.
»Hier wäre eine Gelegenheit. Der Zwischenraum bis zur Eisscholle ist nicht groß. Springen wir gleichzeitig darauf, wird die Scholle durch unseren Anprall zweifellos nach der anderen Seite getrieben werden, daß wir wieder mit einem Sprung das jenseitige Ufer erreichen können.«
»Sie haben recht, Senor Serrato. Wir müssen’s wagen.«
Beide nahmen einen Anlauf und sprangen auf die Scholle. Wie Serrato vermutet hatte, trieb sie der Anprall weiter…
Jetzt der zweite Sprung. Die Entfernung war bedeutend größer, doch es blieb nichts anderes übrig. Sie mußten’s wagen. Gleichzeitig schnellten sie von der Scholle ab und kamen glücklich am Rand des Eisfeldes an.
Serrato war hingestürzt. Lee wollte ihm aufhelfen. Da stöhnte der General laut auf.
»Sie haben sich verletzt, Serrato?« fragte Lee in jähem Erschrecken. Der General preßte die Zähne zusammen und nickte nur. Er schöpfte ein paarmal tief Atem.
»Ich kann nicht weiter. Unmöglich! Lassen Sie mich hier. Der Tag kommt immer schneller herauf. Sie müssen weiter, sonst ist’s zu spät, alles umsonst gewesen.«
Lee stand ratlos. Was sollte er tun? Den Gefährten hier in der eisigen Einöde allein zurücklassen? Seine Gedanken gingen zu dem Jonas Lee. Er sah, wie die da zitternd und bangend sie auf ihrem Weg verfolgten.
Gelang ihr Plan nicht, war es ein Abschied für die Ewigkeit… denn zurückkehren, denselben Weg zu Fuß zum Jonas Lee, war unmöglich. Und kämen sie selbst zurück, zu lange würde es dauern, wo jetzt schon seine Kräfte vollkommen erschöpft waren, dann würden die anderen tot sein, verhungert, erfroren. Doch gelang sein Plan, konnte man auch Serrato retten. Er drückte dem General stumm die Hand und schritt weiter nach Süden. Doch noch war er nicht weit gekommen, da sperrte erneut Wasser seinen Weg.
Das Tageslicht war so weit vorgeschritten, daß er weithin die Gegend überschauen konnte. Doch wohin er auch spähte, nirgends sah er eine Möglichkeit. Verzweifelt schritt er aufs Geratewohl an dem Wasserspalt entlang, wanderte… wanderte… schrak plötzlich zusammen.
Was war das? Er schritt schneller, da war Serrato wieder. Lee schaute sich nach allen Seiten um. Wie war das möglich? Er mußte im Kreise gegangen sein. Sie befanden sich also auf einer rings von Wasser umgebenen Eisscholle.
Jetzt hatte ihn auch Serrato bemerkt. Er mühte sich empor.
»Lee, sind Sie hier? Warum? Lassen Sie mich. Weiter! Weiter nach Süden, sonst sind wir alle verloren.«
Lee trat an Serrato heran und ließ sich schwer zu Boden fallen.
»Alles umsonst, Serrato. Es ist zu Ende. Wir schwimmen auf einer größeren Scholle. Rund um uns ist offenes Wasser… der Weg nach vorn, der Weg zurück ist abgeschnitten.«
Serrato vergrub den Kopf in die Hände.
»Das wäre das Ende. Ja! Dann ist alles vergeblich.«
Lee, als hätte ihn der Schlag getroffen, hatte sich lang ausgestreckt. Kein Wort kam über seine Lippen. Widerstandslos wollte der übermüdete Körper dem Schlaf nachgeben. Doch Serrato rüttelte ihn auf.
»Sie dürfen nicht schlafen, Lee. Schlaf bedeutet hier Tod.«
»Tod!« sprach er. »Wozu der Hohn? Wir sind verloren so oder so. Doch nein! Sie haben recht. Stellen wir unseren Sender auf. Ich habe zwar kaum Hoffnung. Aber möglich wär’s, daß seine Wellen, wenn auch stark geschwächt, doch den Empfänger der Buena Vista träfen.«
Noch arbeitete er an der Aufstellung des Senders, da schrie Serrato laut auf:
»Ein Schiff im Süden!« Er hatte sich emporgerichtet, seine Arme deuteten dorthin.
»Wo? Wo?« schrie Lee. »Ah! Jetzt sehe ich’s auch. Die Buena Vista… o Gott, hilf!«
Mit zitternden Händen schaltete er den Sender ein, schrie seinen Warnungsruf hinein.
»Zurück! Nicht weiterfliegen! Die Elektronen versagen!«
Immer wieder dieselben Worte rief er. Sein Herz ging in wilden Schlägen. Sein Körper zitterte, bebte wie in Fieberschauern.
Würden sie seine Warnung hören?
Noch immer flog das Schiff weiter. Wie ein Wahnsinniger rief er immer wieder in den Sender: »Zurück! Zurück! Hier Lee! Zurück, sonst seid ihr verloren!«
»Sie hören uns nicht«, schrie Serrato und fiel mit einer verzweifelten Bewegung zurück. »Sie müssen schon den letzten Grad angeflogen haben, wo wir unsere Kraft verloren.«
Lee starrte mit aufgerissenen Augen dem Schiff entgegen.
»Vielleicht, daß sie es selber merken, wenn ihre Kraft schwächer wird. Vielleicht, daß sie noch wenden können, wenn sie die Gefahr merken.«
Doch nein. Näher, immer näher kam es heran. Jetzt senkte es sich, flog tiefer… immer tiefer…
Mit einem Schrei stürzte er zusammen.
»Verloren wie wir! Ich wußte es. Umsonst, umsonst, alles!« –
»Sie sind nicht tot. Sind nur übermüdet von den Anstrengungen hier zusammengesunken. Wir müssen sie in das Schiff nehmen, sonst fallen sie der Kälte zum Opfer, Gorm.«
Gorm stand eine Weile überlegend.
»Es ist wahr, Stamford. Ehe wir zurückkämen, wären sie vielleicht den Kältetod gestorben.« –
Unter der Wirkung des belebenden Trankes, den ihnen der Arzt gereicht hatte, gewann Lee zuerst das Bewußtsein wieder, richtete sich auf und starrte um sich.
Neben ihm lag Serrato – und der andere, der sich über den General beugte, ihm den Fuß verband? Wer war das? Waren sie nicht in der Buena Vista? Wer war der Mann? Ein Fremder…
Sie waren in einem Raumschiff – der Stern von Südafrika? Nein! Und das Schiff flog, flog weiter… Voller Entsetzen hob er die Arme empor, wollte schreien: »Nicht weiter! Nicht weiter!«
Da trat der Fremde zu ihm.
»Seien Sie ruhig, Mr. Lee. Die Gefahr, die Sie fürchten, trifft uns nicht. Wir werden die Leute im Jonas Lee retten, wie wir Sie gerettet haben, und Sie zurückbringen zu Ihrem Lager.«
Lee schloß die Augen und drückte die Hand an die Stirn. War’s ein Traum? War’s Wirklichkeit? Ein anderes Raumschiff war hier oben, das sie gerettet hatte. Wer war das? Er riß die Hände vom Gesicht.
»Gorm?«
Der andere nickte.
»Sie sind in Gorms Schiff, Mr. Lee.«
»Ah, Gorm! Sein Werk! Unüberwindlich ist seine Macht. Wir sind gerettet… Hortense…«
Er schloß die Augen. Tiefe Ohnmacht umfing sie.
Wieder schlug Lee die Augen auf und schloß sie ebenso schnell. Das Bild, das er gesehen hatte… noch träumte er den schönen Traum weiter. Nicht anders konnte es sein. Doch nein! Da klang die Stimme an sein Ohr.
»Ronald!«
Ängstlich, fast zag hob er ein wenig die Lider. Das Bild! War’s Wirklichkeit? Hortense stand neben ihm. Ihre Stimme war es, die sprach. Ihre Hand, die er umklammerte. Ihre Tränen, die auf sein Gesicht fielen.
Er riß die Augen weit auf.
»Hortense, du bist bei mir? Gerettet?!«
»Gerettet, Ronald… Weland Gorm hat uns gerettet…«
Ein glückliches Lächeln ging über Lees Züge.
»Gorm! Ich wußte es schon immer. Er ist hier… Er, unser Freund… er behütet uns. Alles ist sein Werk…«
»Ronald!«
Die Stimme Violets. Seine Schwester trat an der Hand eines Mannes an seine Seite. Eines Fremden… und doch ein bekanntes Gesicht? Er hatte es schon gesehen. Doch wann? Wo? War’s nicht eben erst, in dem Schiff Gorms?
»Ronald! Dies ist Sidney Stamford, der Freund Gorms. Er hat dich gerettet. Er hat dich zu uns gebracht…«
Noch hatte Lee kaum begriffen, da schlang das Mädchen die Arme um den Mann, der küßte sie, küßte Violet, seine Schwester.
Er wollte fragen, sprechen. Hortenses Hand schloß seinen Mund. »Ruhe, Ronald! Dein Körper und Geist sind so ruhebedürftig. Zuviel Freude nach so viel Leid ist auch für dich schwer zu ertragen. Du mußt ruhen!«
»Wir wollen den Umweg über das Hochgebirge nicht scheuen. Vielleicht ist der Unfall schon früher, schon hier passiert. Wir müssen Schritt für Schritt ihrer Bahn folgen.«
»Tun Sie, wie Sie denken, Mr. Urdaneda«, erwiderte Robartson. »Ich hege zwar starke Zweifel. Ich glaube vielmehr, daß der Jonas Lee weit oben im Norden, vielleicht gar in der Polgegend verunglückt ist, aber immerhin… und vergessen Sie nicht, ständig mit mir in Verbindung zu bleiben und mir stets über das, was Sie tun, Nachricht zu geben.«
Urdaneda trat in die Tür und wollte eben den Starthebel rücken. Da ließ ein lautes Geschrei von draußen ihn die Hand zurückziehen. Er eilte zur Tür. Oberst Robartson und die anderen, die bei ihm waren, deuteten erregt nach Norden.
»Ein Raumschiff! Der Jonas Lee! Er kommt!«
»Ein Raumschiff«, sprach Urdaneda leise vor sich hin und riß das Glas vor die Augen. »Nein, zwei Schiffe, das eine im Schlepptau des anderen.«
Jetzt riefen auch die übrigen: »Gewiß! Es sind zwei Schiffe. Das eine zieht das andere nach sich.«
»Und das zweite ist der Jonas Lee«, vollendete Urdaneda tonlos. Oberst Robartson stürmte die Treppe zu ihm empor, als ob er da besser sehen könnte.
»Mr. Urdaneda! Was ist das? Was soll das? Zwei Schiffe… das zweite ist der Jonas Lee. Die Form zeigt es deutlich. Doch das erste… was ist das? Ein Uranidenschiff?!«
Die anderen hatten wohl das Wort gehört.
»Uraniden! Uraniden!« schrien sie und schwenkten die Arme, Hände, wie im Taumel. »Uraniden! Wir werden sie sehen.«
Unbeschreiblich war die Erregung. Manche stürzten den rasch sich nähernden Raumschiffen entgegen, als könnten sie damit die Zeit verkürzen, um zu sehen, wie die Fremdlinge niederstiegen, wie sie landeten, die Uraniden.
Jetzt überflogen die Schiffe Cannings Lager und gingen immer tiefer. Kaum ein paar Meter über dem Boden glitt der Jonas Lee langsam daher. Kurz vor dem Lager setzte er sanft auf. In demselben Moment fiel die Trosse, die ihn mit dem anderen Schiff verband, zur Erde. Das erhob sich sofort wieder in größere Höhen und flog nach Osten weiter.
Erstaunt, enttäuscht starrten alle dem enteilenden Schiff nach. Warum landeten sie nicht? Warum blieben sie nicht hier? Sie hatten doch den Jonas Lee gerettet. Wie hatten sie ihn gefunden? Fragen über Fragen, die alle Herzen bewegten…
Doch die Geretteten im Schiff mußten ja Auskunft geben können. Alles eilte dorthin. Auch aus Cannings Lager kamen die Leute herbeigelaufen. Ein lautes Gewirr von Glückwünschen und Fragen empfing van der Meulen und seine Begleiter, als sich die Türen des Jonas Lee öffneten. Das Rufen wurde jedoch schwächer, als man die ernsten Gesichter der Ankömmlinge sah. Nur verhalten war die Freude in deren Zügen. Die Schatten eines schweren Erlebnisses lagen noch auf ihren Mienen.
Da übertönte ein dreifacher Ausruf freudigster Überraschung das Ganze.
»Vetter Sidney! Du! Du hier auf der Venus? Wie bist du hierhergekommen? Du warst in jenem Schiff?«
Mit Mühe machte sich Stamford aus den Umarmungen der Brüder frei.
»Gewiß, Ricardo, ich bin hier. Ich war auch früher hier als ihr.«
»Aha!« unterbrach er ihn, »jetzt verstehe ich so manches. Das also ist des Rätsels Lösung. Und kein Wort hast du uns verraten. Du warst doch noch kurz vorher bei uns. Und dein Freund… der Weland…«
Stamfords Hand deutete nach Osten.
»Dort fliegt er… Weland Gorm, Ricardo.«
Er mußte lachen, als er die Gesichter der Brüder sah. Mit offenem Mund, sprachlos, standen sie da und schüttelten die Köpfe.
»Weland Gorm, dein Freund!« schrie Ricardo. »Er war bei uns. Wir haben ihn gesehen, mit ihm gegessen, getrunken und wußten nicht, daß er es war. Weland Gorm, dein Freund! Ihr wart früher hier als wir? Ihr habt alles das getan, worüber wir uns den Kopf zerbrachen?«
Die lauten Rufe Ricardos, die Worte »Gorm, dein Freund« hatten alle hierhergelockt. Umringt von der ganzen Menge der Zurückgebliebenen stand Stamford. Er wußte sich der Frager nicht zu erwehren, die auf ihn einstürmten – bis zwei Mädchenarme den Kreis teilten und Violet zu ihm drang.
»Zu mir gehörst du, Sidney! Du Böser! Nie werde ich’s vergessen, daß du tagelang hier warst, ohne mir ein Zeichen zu geben.« Und dann saßen alle in Gruppen verteilt im Schatten der Bäume, fragten und erzählten. Vor dem Uranidenzelt standen van der Meulen und Oberst Robartson an Serratos Lager, der noch immer seinen Fuß nicht gebrauchen konnte. Van der Meulens Augen gingen immer wieder nach dem Südabhang. Zwei glückliche Paare waren dort…
»Wie werden wir der Welt Nachricht geben«, sprach Oberst Robartson. »Noch weiß sie kaum etwas von den vielen geheimnisvollen Ereignissen hier. Und jetzt die Lösung. Man wird sie kaum verstehen. Glücklich der Reporter, der hier wäre und alles melden dürfte.«
Canning war erwacht. Das laute Rufen und Schreien hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. War irgend etwas geschehen? Er griff nach der Schelle, die neben seinem Lager stand, und klingelte heftig, doch niemand kam.
Mißmutig warf er sich zur Seite. Niemand war hier, niemand kümmerte sich um seine Person. War er nicht der Kommandant des Stern von Südafrika? Mußte ihm nicht alles gehorchen? Wie konnten sie es wagen, ihn hier allein zu lassen – oder betrachtete man ihn schon als tot?
Er wußte es, er mußte sterben. Und doch! Immer wieder sträubte er sich gegen den Gedanken, alles zu verlassen. Er war noch jung. Vielleicht würde das Leben ihm doch noch Glück, Erfolg bescheren, um das er ein Menschenalter gerungen hatte. Wozu hätte ihm das Schicksal seine Gaben und Fähigkeiten verliehen? Sollten sie sich nur unfruchtbar abmühen in erfolgverheißenden Anfängen, ohne je ein großes Ziel zu erreichen?
Der Schlaf hatte ihn gestärkt. Ein Glück, daß Harding hier war. Vielleicht würde es seiner Kunst doch gelingen, dieses tückische Gift zu bannen.
Ein neues, besseres Leben würde er beginnen. Das neugewonnene Land hier bot seinen Kräften ein unendliches Betätigungsfeld. Was war dagegen sein Wirken in Gran Chaco? Und war’s nicht hier in Nova America, wie die da drüben es nannten – noch andere reiche Venusteile standen zur Verfügung. Mochten die mit Lee Nova America behalten. Die Schätze der Uraniden? Noch hatten die andern sie nicht gefunden. Würden sie sie je finden? Er schüttelte den Kopf. Sein Ohr lauschte der leisen Stimme, die schon immer zu ihm gesagt: Keiner wird sie finden, die Schätze der Uraniden. Diese Stimme – in seinem Unterbewußtsein hatte sie, ohne daß er eine Erklärung dafür wußte, geklungen… bis zu dem Augenblick, wo es ihm zur unumstößlichen Gewißheit geworden war, daß Gorm lebte, hier auf der Venus war. Gorm lebte! Welches unerhörte Wunder. War nicht die Bombe, von seiner Hand geschleudert, mitten in die Werft im Himalaja eingeschlagen? Die Bombe, von ihm selbst konstruiert, war von einer ungeheuren Zerstörungskraft, auf weite Strecken, nach allen Seiten mußte alles vernichtet, alles Lebende tot sein. Und doch, jener lebte, kein Zweifel. Er nicht allein, auch die anderen, die mit ihm waren, lebten, waren hier. Ein Wunder, ein unerhörtes Wunder mußte da passiert sein, oder… war Gorms Kraft und Macht so groß, daß ihm menschliche Waffen, auch der furchtbarsten Art, nicht beikommen konnten? Er war vor ihnen hierhergekommen, er war der Erbe der Uraniden.
Gorm! Seine Werke, seine Taten wurden immer größer, gewaltiger! Unmöglich für ihn, für jeden anderen Menschen der Erde war es, sich mit jenem zu messen. Alles, was Gorm wollte, alles, was er begann, führte zum Sieg. Seine Größe war übermenschlich! Was würde ihn das Geheul der verblendeten Menschen berühren? – Und doch! Wie ein Siegeslächeln ging es über seine Züge. Eins hatte er nicht: den Strahler…
Ob Gorm jemals dahinterkommen würde, hinter sein Geheimnis? Ob er jemals erfahren würde, wie er das Unmögliche möglich gemacht hatte, alle die so klug ersonnenen unüberwindlichen Sicherungen zu durchbrechen?
Er versetzte sich in Gorms Gedanken. Er ahnte schon lange, daß Gorm Verdacht auf ihn hatte. Und doch, weder er noch ein anderer sterblicher Mensch konnte beweisen, wie es geschehen war. Und mußte er wirklich sterben, sein Name würde doch in der Geschichte der großen Erfinder glänzen. Der Stern von Südafrika! War er nicht sein Werk?
Ein hämisches Lächeln umzog seinen Mund. Der Raub der Leeschen Pläne? Was war’s? Gerechte Vergeltung. Hatte Lee ihm nicht Hortense geraubt? Seitdem dessen Fuß Buena Vista betrat, hatte es begonnen, war Hortense ihm entglitten.
Hortense! Fast hörbar klang ihr Name von seinen Lippen. Sein Auge sah sie in Lees Armen. Seine Züge verzerrten sich. Knirschend biß er die Zähne aufeinander. Ihr Bild stand wie greifbar vor seinen Augen.
Mit einem ächzenden Wehlaut warf er den Oberkörper in die Höhe, streckte die Arme aus, als könne er Hortense erreichen, wegreißen von jenem.
Alles gäbe er hin, würde der Traum Wahrheit.
»Gorm… Lee… van der Meulen…«
Ein Gewirr von Stimmen hörte er plötzlich, diese Namen klangen daraus. Er lauschte angestrengt.
Gorm? Lee? Wie kamen die zusammen? Weshalb rief man ihre Namen? Er nahm die Schelle und schwang sie wütend.
Oberst Robartson und darauf Harding traten in das Zelt.
»Was ging da vor?« schrie er sie an. »Man läßt mich allein. Es ist etwas passiert! Sagen Sie schnell, was ist es? Ich hörte die Namen Gorm… Lee…«
Harding drückte ihn mit sanftem Zwang in die Kissen zurück. Ahnungslos begann Robartson von den wunderbaren Vorfällen zu erzählen. Er schwieg, als ihm Harding erschreckt abwinkte.
Canning hatte die Augen geschlossen. Seine Brust ging in wilden Atemzügen. Seine Hände waren zu Fäusten geballt.
»Gorm!… Lee!… Hortense!«
Wirre Worte, wilde Verwünschungen brachen von seinen schäumenden Lippen. Seine Glieder zitterten wie in heftigsten Fieberschauern. Immer wieder wollte er sich emporrichten und das Lager verlassen. Kaum reichte die Kraft der beiden Männer aus, den Tobenden festzuhalten, bis es Harding gelang, ihm einen Schlaftrunk einzuflößen.
»Sie mögen da unten die Köpfe schütteln«, wandte sich Professor Royas an van der Meulen. »Soviel Neues auf einmal erfuhren sie von hier. Man wird es kaum begreifen.«
»Und doch habe ich fast ein ganzes Buch nach Bahia gefunkt.«
Royas lachte.
»Offen gestanden, mir ist auch noch manchmal so, als wäre das alles ein Traum gewesen. Jedenfalls – das Wundern hat man hier wohl verlernt. Die Erklärung liegt in Gorm. Wir glaubten, die ersten zu sein, doch er war schon längst vor uns auf der Venus. Auch unsere Ansprüche auf Nova America werden dadurch stark berührt. Der Streit zwischen Südamerika und Südafrika wird durch eine ebenso klare wie überraschende Lösung entschieden. Zwecklos ist auch das Suchen nach den Schätzen der Uraniden, er hat sie längst gehoben…«
Van der Meulen nickte zerstreut. Auch seine Gedanken kamen nicht los von dieser geheimnisvollen Persönlichkeit. Wo war Gorm jetzt? Er hatte versucht, darüber etwas von Stamford zu erfahren. Doch hatte er bald gemerkt, daß der ihm auswich.
Eine wertvolle Gabe jedoch hatte Stamford gebracht. Wohl hatte Lee erkannt, wie das Unglück am Pol entstanden war. Die kosmischen Elektronenflüsse, die sich gerade am Venuspol so ungewöhnlich stark bemerkbar machten, hatten die strahlenden Flächen des Jonas Lee teils blockiert, teils vorzeitig erschöpft. Doch einen Weg, diese Einflüsse unschädlich zu machen, sah er nicht. Gorm sandte ihm durch Stamford das Mittel. Es war ein Teil des Uranidenerbes.
Als Stamford erzählte, horchte Lee auf. Auch den Uraniden war das gleiche geschehen, als sie die Venus am Pol ansteuerten. Doch hatten sie, da sie in größerer Höhe flogen, noch die Kraft besessen, das Schiff weiterzutreiben, bis es hier am Uranidenlager landete. Sie hatten sich auch sofort daran gemacht, die Ursache ihres Unfalles zu ergründen.
Während sie saßen und daran arbeiteten, die Apparatur ihres Raumschiffes wieder in Ordnung zu bringen, waren einige von ihnen auf Kundschaft gegangen. Sie brachten frische Lebensmittel und Früchte, herrliche, wohlschmeckende Äpfel. Alle hatten davon arglos gegessen…
Schon war ihr Schiff wieder startbereit, da zeigten sich die Krankheitserscheinungen durch das Apfelgift. Vergeblich blieben alle ihre Bemühungen, mit ihrer ärztlichen Kunst die Wirkung des Giftes zu bannen. Einer nach dem andern war gestorben. Dem letzten, zwölften, hatte Gorm die Augen zugedrückt und ihn bei seinen Gefährten in der Schlucht begraben. Dann hatte er durch energetische Einwirkungen die Hänge der Schlucht zum Einsturz gebracht, um die Ruhe der Toten vor jeder Störung und unberufenen Neugierde zu schützen.
Doch – und hier hatten alle, die bei Stamfords Erzählung zugegen waren, aufgehorcht – hatte der letzte Uranide noch die Kraft besessen, Gorm in das Wichtigste der Uranidentechnik einzuweihen. Da, wo das Verständnis nicht ausreichte, alles zu begreifen, waren doch wertvolle Fingerzeige gewonnen.
Was würde Gorm damit tun? Keiner hatte es gewagt, die Frage an Stamford zu richten. Die Erinnerung an den furchtbaren Fehlschlag mit Gorms energetischer Erfindung schwebte jedem vor Augen. Vielleicht aber, daß doch das eine oder andere aus dem Schatz der Uraniden der Menschheit geschenkt würde. Das eine schien klar, daß Stamford sich von Gorm getrennt hatte, daß er jetzt allein seinen unbekannten Plänen nachging? Allein? Waren nicht noch andere Menschen bei ihm im Raumschiff? Wer waren diese?
Der einzige, der das Dunkel, das um Gorms Person schwebte, hätte lichten können, Sidney Stamford, schwieg. Er bestätigte nur Ronald Lees Vermutung, daß Gorm und Stamford es gewesen waren, die die Leichen Jonas Lees und seiner Gefährten vom Mond nach dem Hydepark gebracht hatten. Doch auch Stamfords Pläne und Absichten waren eine große Überraschung für die meisten. Stamford und Violet ein Paar! Die kleine Violet seine Verlobte? Hortense war die einzige, die darum gewußt hatte.
Der Rest des Tages verging in frohen Gesprächen. Die unerwartete Rettung aus Todesnot, die Lösung so vieler Rätsel… alles war ein unerschöpflicher Stoff für lange, frohe Stunden. Der einzige Schatten… Canning. –
Der Venustag war der Nacht gewichen. Eben wollte man sich in Lees Lager zur Ruhe begeben, da kam ein Bote von Oberst Robartson und überbrachte ein Schreiben.
Canning, den Tod vor Augen, bei voller Besinnung, bittet um den Besuch Lees.
In Begleitung van der Meulens folgte dieser sofort dem Ruf. Canning stirbt… Schweigend legten die Männer den Weg durch die Venusnacht zu dessen Lager zurück. Als sie in das Zelt traten, fanden sie Oberst Robartson und Dr. Harding an Cannings Bett. Beim Geräusch der Eintretenden wandte Canning sein Haupt und nickte befriedigt, als er Lee erblickte.
Lee setzte sich neben Canning nieder. Dieser begann zu erzählen. Er erzählte von seiner Jugend, von seinen Studien, von seinem Streben nach höchsten Zielen. Von seiner unermüdlichen Arbeit, von seinen Mißerfolgen. Seine Erzählung, in schlichten und einfachen Worten gesprochen, verfehlte nicht, den tiefsten Eindruck auf alle zu machen.
Welche Tragik! Und dieser Mann, von unbezähmbarem Ehrgeiz getrieben, mußte er nicht zum Verbrechen schreiten?
Innerlich zitternd erwarteten sie das Ende von Cannings Beichte. Canning hatte eine Weile geschwiegen, den Kopf zur Wand gekehrt, daß keiner sein Gesicht sehen konnte, in dem es wühlte und arbeitete. Mehrmals setzte er zum Sprechen an. Die Blicke der anderen hingen in banger Erwartung des Kommenden an ihm. Harding flößte ihm einige Tropfen ein. Canning blickte ihn dankbar an… und dann kam es.
Lug und Trug war seine Erfindung des Raumschiffes. Gestohlen mit dem teuflischen Geschenk, das ihm das Schicksal in die Hand gegeben. Gestohlen aus Ronald Lees Aufzeichnungen…
Lee sah den anderen mit starrem Gesicht an. Kein Muskel rührte sich. Er wußte es längst. Nur den Weg, den jener beschriften hatte, den hatte er vergeblich zu ergründen gesucht.
Canning sprach weiter. Die Fahrt… die niederschmetternde Enttäuschung, als der Jonas Lee ihn zu überholen im Begriff stand. Sein wahnwitziger Versuch, das Raumschiff des Rivalen zu rammen, mit ihm zugrunde zu gehen… vergeblich auch das Suchen nach dem Schatz der Uraniden. Sein Körper war durch die unerhörten Anstrengungen geschwächt, sein Geist durch die vollständige Niederlage, die ihm alles nahm, auch alle Hoffnungen auf Hortense. Ein unseliges Geschick ließ ihn Lee begegnen. Bei dessen Anblick verlor er die Besinnung. Er legte das Gewehr an, schoß auf den Gegner…
Die Gesichter der Umstehenden erbleichten. Mit Mühe bewahrten sie die Ruhe. Van der Meulen wandte sich ab, um Canning nicht zu sehen. Er hätte ihm zuschreien mögen: Mörder, du! Das war deine Tat?!
Canning hatte die Augen geschlossen. Tiefe Schatten lagen darum. Sein Atem ging nur schwach… War es der Tod, der sein Opfer holen wollte?
Nach einer Weile schlug der Kranke die Augen auf. Sein Blick ging zu Lee. Seine Hand bewegte sich kraftlos, zögernd. Lee ergriff sie, hielt sie einen Augenblick fest, ließ sie sinken.
»Ich wußte alles«, sprach er leise. »Ich fühlte innerlich längst, was Sie getan haben, was Sie dazu bewog.«
Canning preßte die Hand aufs Herz.
»Ich bin froh, daß ein Teil der Last von mir genommen ist. Doch der andere, größere – ich muß sterben mit der Last auf meiner Seele! Gorm! Wärest du hier, an dem ich am schlimmsten gefrevelt, könnte ich deine Verzeihung erlangen, würde mir das Sterben leichter.«
Tiefe Stille herrschte in dem Raum. Keiner wagte, sie zu unterbrechen. Alle Gedanken waren bei Gorm. Was hatte Canning mit ihm getan? Würde in das Dunkel, das um jene Schreckenszeit sich wob, als die Sowjets plötzlich im Besitz Gormscher Waffen waren, ein Licht fallen? Wäre hier die rätselhafte, unheimliche Kraft Cannings, verborgenste Dinge zu lesen, zu rauben, auch schon tätig gewesen?
Keiner sprach etwas. Und doch las ein jeder dem anderen den Gedanken an den Augen ab. Den furchtbaren Verdacht, daß dies gräßliche Unheil, das über die Menschen gekommen war, Cannings Werk gewesen sei. Mit Entsetzen schauten sie den Mann an. Das Blut erstarrte ihnen in den Adern. So viele, so furchtbare Verbrechen hatte er verübt! Wie hatte dieser Mensch leben können mit solcher Schuld auf der Seele?
Canning richtete sich plötzlich auf. Harding wollte zu ihm springen. Er wehrte mit den Händen ab.
»Er kommt! Gorm kommt! Ich höre seine Schritte.« Er machte eine Bewegung, als wolle er aufstehen, dem anderen entgegeneilen. Harding hielt ihn fest.
»Das Fieber kommt wieder, Mr. Canning. Seien Sie ruhig.«
»Nein! Nein. Da kommt Gorm!« Canning schrie es mit gellender Stimme.
Unwillkürlich starrten alle nach dem Zelteingang.
»Da ist er!« schrie Canning. Der Vorhang wurde zurückgeschoben, ein Mann trat in das Zelt.
»Hier bin ich, Canning.« Mit einem Schrei fiel dieser zurück in die Kissen.
»O Gott, ich danke dir. Er ist da! Er hat meinen Ruf gehört, Gorm!«
Lee war aufgesprungen und spähte in das Gesicht des Fremden. Ja, es war Gorm. Der setzte sich jetzt auf den verlassenen Platz und nahm Cannings Hand.
»Möge Gott dir vergeben – ich verzeihe dir.«
Canning wollte sprechen. Gorm hieß ihn schweigen.
»Ich weiß alles, Canning. Weiß es längst.«
Canning atmete immer ruhiger, hielt die Augen geschlossen und sprach dann mit leiser, fast flüsternder Stimme:
»Dank, Dank, Gorm! Und alles weißt du? Weißt, was ich an dir, an der Menschheit verbrochen habe, alles?«
Er schlug die Augen auf, sah Gorm an. Dieser nickte.
»Auch wie ich’s tat?«
Wie Stolz spielte es sekundenlang um seinen Mund. Der schwindende Geist, noch einmal raffte er sich auf, dem anderen gegenüber groß zu erscheinen. Der brennende Ehrgeiz, der ihn sein Leben lang verzehrt hatte, schien über das Sterben des Körpers triumphieren zu wollen.
»Auch das weiß ich, Canning. Das Schicksal gab dir ein schlimmes Geschenk. Du bautest einen Strahler, mit dem du die Sicherungen, die nach menschlichem Ermessen undurchdringlich waren, durchbrachst. Du raubtest die Berechnungen und Konstruktionen meines Apparates aus dem Tresor.«
Ein Schatten der Enttäuschung ging über Cannings Gesicht.
»Auch mein tiefstes Geheimnis kennst du?«
»Ich kenne es, doch habe ich den Weg nicht allein gefunden. Uranidenkunst zeigte ihn mir.«
Und als wollte er ihm auf den letzten Weg noch einen Trost geben, sprach er weiter: »Kein Mensch, auch ich nicht, hätte dein Geheimnis gefunden… Auch Awaloff verzeiht dir. Das Schicksal wollte es wohl mit ihm, mit dir… daß du nicht zum Mörder wurdest. Ich sah deine Tat von meinem Flugzeug aus und fing den Stürzenden auf. Der Schutzengel Awaloffs, noch einmal in Gestalt seines Kindes, half ihm und uns. Sie sah, was kommen würde… wieder behütete dich das Schicksal vor frevelhaftem Mord. Um dich zu täuschen, warf ich das Scheinbild unserer Werft in den Bergen weithin in ein anderes Tal. Deine Bombe traf nur ein Phantom, wir blieben unverletzt. Doch die anderen, die der Tod traf durch dein Verbrechen?«
Canning schauerte zusammen. Seine Augen sahen in weite Fernen. »Die anderen… die Tausende… die Millionen… ja, ja! Sie werden meine Richter sein. Gnade! Gnade!«
Das war sein letzter Schrei.
Mit Grauen und Entsetzen blickte die Welt auf das Bild, von dem jetzt jeder Schleier gerissen war. Die Nachrichten von der Venus trafen wie Keulenschläge die Menschheit.
Gorm, der Geächtete, von der Welt Gehaßte, war frei von jeder Schuld! Kein Makel haftete an seinem Werk, seinem Namen. Ein anderer war der Alleinschuldige. Zu spät kamen die Millionen von Flüchen, Verwünschungen. Sie erreichten ihren Urheber nicht mehr. Er war, kaum daß er gestanden hatte, gestorben.
Die große Entscheidungsschlacht westlich der Vogesen gegen die rote Streitmacht, das unerhörte, unbegreifliche Glück, mit dem die weißen Kräfte gefochten hatten, auch hier waltete die Hand Gorms. Unsichtbar aus Ätherhöhen lieh er den weißen Kräften seinen Beistand, daß die rote Flut sich brach, zerschellte.
Die Scham war bei allen groß. Keiner wagte es, ihm zuzujubeln. Nur leise, scheu, nannten sie seinen Namen.
Der Uranidenschatz war in seiner Hand. Keiner neidete ihm den. Ein Aufatmen bei allen. Kein Unheil konnte dann geschehen. Er war der rechte Hüter des Hortes. –
Der Erdenbrand… eine leise Hoffnung regte sich… Würde Gorms Macht hinreichen, ihn zu löschen? Aller Hoffnungen klammerten sich an ihn…
Die Umgebung von Buena Vista glich einem Heerlager. Riesig war der Ansturm der Massen von Neugierigen und Reportern, die die zurückgekommene Buena Vista sehen und, wenn möglich, mit ihren Insassen sprechen wollten. Der Besitztitel der Südamerikanischen Union stand jetzt unbestritten fest. Nach den Geständnissen Cannings konnte die Regierung in Kapstadt ihre vagen Ansprüche nicht länger aufrechterhalten. Tausende, auch aus anderen Ländern der Welt, gab es, die sich für neue Fahrten anboten.
Ehe van der Meulen zur Erde zurückflog, hatte er in tagelangen Fahrten das neue Land genau erkundet. Seine Veröffentlichungen erregten einen Taumel von Begeisterung. An der Westküste von Nova America, im Hintergrunde einer tief ins Land schneidenden Bucht, mündete der größte Strom des Venusteiles. Seine Mündung bildete einen natürlichen Hafen von vorzüglicher Beschaffenheit. Das Land zu beiden Seiten war die fruchtbarste Ebene. Hier sollten die ersten Siedlungen entstehen.
Sidney Stamford war schon am Tage nach der Landung in Buena Vista weitergeflogen. Nur Violet und seine nächsten Freunde wußten um das Ziel seiner Reise. Gegen Mittag des nächsten Tages erreichte er Suru. Ein paar Stunden später kam Gorm.
Stamford eilte ihm entgegen. Höchste Spannung lag in seinen Zügen.
»Ist es gelungen?«
Gorm nickte. Die Freude der Genugtuung, der Stolz des Sieges war auf seinen Zügen.
»Was Menschenkraft, auch meine, nie vermocht hätte, der unerschöpfliche Quell des Uranidenwissens ließ mich das Mittel schaffen… Was ich früher nicht zu träumen wagte – die Uranidenwaffen in der Hand, ist es mir gelungen. Der Atombrand ist gelöscht. Nur mit bangem Zagen ging ich ans Werk. Dieser Naturkraft in den Arm zu fallen, erschien mir mehr als vermessen. Ich traute selbst dem hohen Können der Uraniden nicht. Der Mondbrand war mein erstes Ziel. Hier waren die Wirkungen am besten zu ersehen. Die Glut war so groß, daß ich nur in weiter Entfernung arbeiten konnte. Und doch! Wie brennender Wald unter tropischem Regensturz verglomm der Brand. Dann, als hier kein Zweifel mehr war, das nächste Ziel – Coiba. Auch da ist jetzt der Brand erloschen. Wohl wird es noch lange dauern, bis die Nebelwolken schwinden, bis die Welt begreift, daß die Gefahr von ihr genommen ist.«
Stamfords Arme schlangen sich um den Freund.
»Mögen sie’s auch nicht um dich verdient haben – ihren Dank wirst du verschmähen –, so nimm den meinen für die kommenden Geschlechter, denen du das alte Heim, die Mutter Erde, gerettet hast.«
Der nächste Morgen kam. Stamford stand mit Awaloff, zwischen ihnen der greise Abt. Ihre Augen hingen an einem schimmernden Punkt im Äther, der immer kleiner und kleiner wurde… das Raumschiff Gorms, das ihn und Majadevi trug auf der Fahrt in jenes andere Sonnensystem, aus dem die Uraniden gekommen waren…
"Das Erbe der Uraniden," Gebrüder-Weiß-Verlag, Berlin, 1952