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Das Neue Universum, Jahrgang 39, 1918,
mit der Erzählung "Eine Expedition in den Weltraum."
Professor Karl Dernberg strich sich mit der Hand über die Stirn.
»Wir können die Sache anfassen, wie wir wollen, um die Schwerkraft kommen wir nicht herum...«
»Aber die Aufhebung der Schwerkraft sollte doch möglich sein«, fiel ihm Ingenieur Hans Kallmann ins Wort. »Wenn man den Reisenden Glauben schenken darf, ist die Lösung der Aufgabe sogar einigen indischen Fakiren gelungen. Da wird doch erzählt, daß solch Fakir sich minutenlang freischwebend im Raume gehalten habe.«
Professor Dernberg lächelte überlegen.
»Lieber Kallmann, als Ingenieur, als Mann der Zahlen und der exakten Wissenschaften sollten Sie solchen Reisegeschichten gegenüber äußerst mißtrauisch sein. Wir kommen um die Tatsache nicht herum, daß die Schwerkraft, das heißt die Anziehung verschiedener körperlicher Massen gegeneinander, durch das Bombardement des Lichtäthers bewirkt wird. Die Sache ist ja so sehr einfach. Stellen Sie sich zwei Körper im Raum vor. Meinetwegen die Erde und den Mond. Durch die Strahlung der verschiedenen im Weltraum verteilten Gestirne ist das ganze Äthermeer in ständigem Aufruhr. Die Ätherteilchen schießen hin und her. Die Richtung dieser Bewegungen ist unbestimmt. Keine einzelne Richtung ist bevorzugt. Es ist aber klar, daß für ein Zusammenrücken von Mond und Erde nur solche Bewegungen in Betracht kommen können, die die Erde zum Mond hin, den Mond zur Erde hin treiben wollen.
Alle anderen Bewegungen scheiden als wirkungslos aus.« »Ja, aber«, unterbrach ihn Kallmann, »solche Ätherbewegungen müßte es doch dann auch zwischen der Erde und dem Mond geben, und hier müßten sie die entgegengesetzte Wirkung haben, hier müßten sie bestrebt sein, die beiden Gestirne auseinanderzutreiben, also der Schwerkraft entgegenzuwirken.«
Professor Dernberg fuhr sich mit den Händen verzweifelt durch das spärliche Haupthaar.
»Aber liebster, bester Kallmann, haben Sie sich denn gar nicht mit den glänzenden und doch so hochwissenschaftlichen Theorien des Wiener Professors Sahulka beschäftigt? Wenn Sie eine solche ganz allgemeine, nicht auf eine bestimmte Richtung eingestellte Bewegung im Äthermeer annehmen, dann muß sich ja gerade zwischen irgendwelchen zwei Körpern sozusagen ein Bewegungsschatten bilden, das heißt ein Raum, der eben von solchen Ätherbewegungen, die die beiden Körper wieder auseinandertreiben könnten, frei ist.« Kallmann machte ein ungläubiges Gesicht.
»Es klingt zwar sehr schön, Herr Professor, aber es ist mir unverständlich.«
»Dann will ich versuchen, es Ihnen an einem Beispiel zu erklären. Also stellen Sie sich einmal Mond und Erde als zwei gewaltige Kugeln, etwa aus Hartholz bestehend, frei im Raum vor. Um die beiden Kugeln sei in weitem Umkreis eine große Anzahl von Soldaten aufgestellt, die mit ihren Gewehren nach allen möglichen Richtungen schießen. Zeichnen Sie, sich die Sache am besten auf ein Stück Papier auf, sehen Sie so etwa.
Nicht wahr, nun wird es ja klar. Alle Schüsse, die aus dem Kreis der Soldaten heraus nach außen gerichtet sind, kommen überhaupt nicht in Betracht. Besehen wir uns also die, Schüsse, die auf die beiden Kugeln fallen. Sie sehen, daß jede der Kugeln auch von sehr vielen Seiten getroffen werden kann, nur gerade nicht von derjenigen Richtung her, in der sich die andere Kugel befindet, weil dort ja diese als Schußfang dient und den Schuß selbst erhält. Ein Schuß also, der an sich geeignet wäre, die Kugel eins von der Kugel zwei fortzutreiben, kann die Kugel eins eben nicht erreichen, weil er vorher die Kugel zwei trifft und diese auf die Kugel eins hintreibt.«
Der Ingenieur betrachtete aufmerksam die Skizze, die er nach den Angaben des Professors entworfen hatte.
»Allerdings, Herr Professor, Sie könnten recht haben. Die Sache beginnt mir einzuleuchten. Sie machen eine durchaus vernünftige Voraussetzung, nämlich eine allgemeine Dünung oder Wellenbewegung des Äthermeeres ohne bestimmte Richtung und kommen doch zur Anziehung zweier Körper.« Der Professor strich sich über das Kinn.
»Ich will Sie jetzt nicht mit Rechnungen langweilen, lieber Kallmann. Aber Sahulka hat alle nötigen Rechnungen durchgeführt. Er nahm solche allgemeine Ätherbewegung an, setzte die Wirkung dieser Bewegung auf irgendwelche frei im Raum schwebenden körperlichen Massen nach den Gesetzen des unelastischen Stoßes in die Rechnung und kam auf diese Weise rein rechnerisch zu den Newtonschen Gravitationsformeln, die wir bisher ja nur als erfahrungsgemäß gefundene Naturgesetze kannten.«
Der Ingenieur sann nach.
»Wieso nach den Gesetzen des unelastischen Stoßes, Herr Professor? Ich denke doch, wir dürfen den Lichtäther als einen vollkommen elastischen Stoff annehmen.«
»Den Lichtäther allerdings, mein Lieber, aber nicht die Körper, auf die er trifft. Und damit kommen wir zu dem zweiten, ebenfalls ungemein wichtigen Teil der Sahulkaschen Lehre.
Dieses Ätherbombardement übt, soweit sein Stoß elastisch verläuft, die Erscheinungen der Schwerkraft aus. Darüber hinaus aber, das heißt soweit der Stoß unelastisch wird, soweit Bewegungsgrößen verschwinden, bewirkt eben dies Bombardement eine Erwärmung des bombardierten Körpers. Und... hören Sie weiter, mein lieber Kallmann... diese Erwärmung erfolgt im Verhältnis der Masse des betroffenen Körpers.«
»Sehr geistreich, Herr Professor, aber ich verstehe nicht ganz den Zusammenhang mit unserem ursprünglichen Gegenstand.« »Ich werde gleich darauf zurückkommen. Nur einen Augenblick will ich bei dieser Sache verweilen. Nicht wahr, Sie haben gelernt, daß die Sonne ein weißglühender Körper war und daß aus ihr irgendwann einmal die Planeten als weißglühende Brocken herausgeflogen sind und sich dann abgekühlt haben. Die kleinen schnell, die großen langsam. So ist der Mond ganz kalt, die Erde wenigstens an der Oberfläche kühl, während der viel größere Jupiter auf der Oberfläche immer noch matte Rot glut besitzt.«
»So habe ich’s in der Tat in der Schule gelernt, Herr Professor, und ich finde auch, daß diese Anschauung recht überzeugend erscheint.«
»Gut, mein Lieber. Sie wissen aber auch, daß sich die Gelehrten seit langem die Köpfe zerbrechen, weshalb die Sonne immer noch nicht erkaltet ist. Nach den Gesetzen der Strahlung müßte sie längst auf Rotglut abgekühlt sein. Sehen Sie, und nun kommt Sahulka mit seinen Lehren und seinen überzeugenden Rechnungen und sagt: Liebe Leute, ihr habt die Sache ja bisher nur ganz einseitig betrachtet. Gewiß, ein heißer Körper strahlt Wärme aus, aber jeder Körper sammelt auch Hitze durch die Abbremsung der Ätherbewegung. Und diese fortwährend aufgesammelte Wärmemenge kann bei genügend großem Körper so groß sein, daß sie die Verluste durch die Ausstrahlung aufwiegt, daß also keine Abkühlung mehr eintritt.« Hans Kallmann saß nachdenklich in seinem Lehnstuhl. »Hm, hm, Herr Professor, Sie meinen also...«
»In der Tat, mein Lieber, ich meine nämlich, daß sich unsere Sonne, was die Wärme anbelangt, schon seit Millionen von Jahren im Gleichgewichtszustand befindet, daß ihre Temperatur von rund fünftausend Grad an der Oberfläche eben die Gleichgewichtstemperatur für jede Masse von der Größe der Sonnenmasse ist. Ebenso wie die rotwarme Temperatur des Jupiters der Jupitermasse und die eisige Mondtemperatur der Mondmasse entspricht. Wir haben einen rechnerisch erfaßten, wissenschaftlich begründeten Gleichgewichtszustand, und alle die schönen Geschichten vom sogenannten Wärmetod und von einer künftigen Vereisung und Erstarrung unseres Erdballes sind falsch.
Aber kehren wir zum Ausgang unserer Unterhaltung zurück.
Was Sie nun auch mit einem Körper anfangen mögen, Sie können ihn der Wirkung der Schwerkraft, das heißt dem nunmehr sattsam besprochenen Ätherbombardement, nicht entziehen. Er bekommt immer die der Zahl und Größe seiner Moleküle entsprechende Anzahl von Stößen aus diesem Ätherbombardement.«
»Also Sie bleiben dabei, Herr Professor, daß es durch keinerlei Mittel möglich ist, die Wirkung der Schwerkraft auf irgendeinen Körper aufzuheben?«
Professor Dernberg lächelte ein wenig.
»Das einzige Mittel ergibt sich leicht aus der hier entwickelten Lehre. Nehmen Sie einem Körper seine Moleküle, dann kann er nicht mehr getroffen werden, unterliegt also auch keiner Schwerkraft mehr.«
Kallmann sprang auf.
»Das hätte ich auch ohnedem gewußt. Ein Körper ohne Moleküle besitzt ja keine Masse, ist also auch nicht mehr schwer.
Aber ein Körper ohne Masse ist überhaupt kein Körper mehr, ist ein Nichts, eine körperlose Einbildung. So drehen wir uns im Kreis und kommen nicht weiter.«
Professor Dernberg zog Block und Bleistift zu sich heran. »Sie wollen eine Masse von einer bestimmten Größe der Schwerkraft entziehen. Sie können es nicht, wie wir eben entwickelt haben. Sie können ihn aber vielleicht der Einwirkung einer anderen Kraft aussetzen, die der Schwerkraft so entgegenwirkt, daß der Körper seine Schwere scheinbar verliert und sich frei im Raum zu bewegen vermag. Wir sahen, daß die Schwerkraft durch das Ätherbombardement zustande kommt.
Also ist die Folgerung wenigstens in der Theorie sehr einfach. Wir müssen auf künstlichem Wege ein anderes Ätherbombardement erzeugen, das dem natürlichen entgegenwirkt und den Körper frei macht.
Nehmen wir an, der Körper habe ein bestimmtes Gewicht, und Sie wollen ihn der Schwerkraft entgegen um eine Anzahl Meter heben, so brauchen Sie eine Arbeit von ebensoviel Meterkilogramm, die Sie in Form einer Ätherstrahlung während der Zeit dieses Weges auf den Körper wirken lassen müssen.
Wenn Ihnen dies gelingt, dann ist Ihre Aufgabe gelöst, dann können Sie irgendein Fahrzeug bauen, mit dem die Reise in den freien Weltraum gewagt werden kann.«
Der Ingenieur Hans Kallmann hatte sich erhoben. »Ich danke Ihnen für Ihre Ausführungen, Herr Professor. Sobald ich die praktischen Folgerungen daraus durchgearbeitet habe, werde ich mir die Ehre geben, wieder bei Ihnen vorzusprechen.«
Der Physiker Doktor Paul Reinhard legte den Bleistift auf das Papier.
»Lieber Kallmann, Ihre Lehren sind blendend schön. Nur mit der Ausführung hapert es gewaltig. Sie haben recht. Vollkommen recht sogar. Ein Kilogramm Uranmetall, daß sich auf dem Wege der radioaktiven Strahlung in Blei verwandelt, entwickelt dabei ungefähr dieselbe Strahlungsenergie wie der Kohleinhalt von zehn hundertachsigen Güterzügen bei der Verbrennung. Aber diese Kohlenmenge können wir, wenn wir wollen, im Zeitraum einer Stunde verbrennen, während das Kilogramm Uran zum vollkommenen Zerfall bis auf Blei hin, billig gerechnet, hundertundfünfzig Millionen Jahre braucht. Schneller ist es eben nicht möglich.«
Hans Kallmann setzte den Bleistift auf das Papier, daß die Spitze abbrach, und warf ihn dann unmutig hin.
»Mein lieber Doktor, dann muß man der Natur eben nachhelfen. Zusehen und Nichtstun führt natürlich nicht zum Ziel. Man muß den Atomen mit irgendwelchen Mitteln Schläge versetzen, daß sie schneller einstürzen, daß sie heftiger strahlen und in wenigen Wochen oder Stunden ihren ganzen Kräftevorrat abgeben... Schon daß es beim Blei nicht möglich sein soll, gefällt mir nicht. Ein Kilogramm Blei, das man vollkommen in Lichtäther zersplittern könnte, müßte ja selbst noch unendliche Kraftmengen aussenden können.«
Doktor Reinhard rückte sich den Zwicker gerade.
»Das würde ja bedeuten, körperliche Materie wieder in Lichtäther auflösen zu wollen, und das heißt Masse in Kraft verwandeln, heißt den Schöpfungsvorgang rückgängig machen.«
Hans Kallmann setzte sich aufrecht.
»Sie gehen zu weit, Doktor. Mit demselben Recht könnten Sie behaupten, daß ich die Schöpfung angreife, wenn ich ein Stück Kohle verbrenne. Auch dort verschwindet ein Stück Masse, und Kraft wird frei. Im übrigen brauchen Sie sich nicht weiter zu beunruhigen. Ich benötige Ihre zahlenmäßigen Angaben, und was sich praktisch daraus erzielen läßt, das wollen wir später sehen.«
Der Ingenieur verabschiedete sich schnell und verließ die Wohnung seines Freundes.
Ein Jahr war seit den beiden hier geschilderten Unterredungen vergangen, und vom Ingenieur Hans Kallmann hatten seine Freunde wenig zu sehen bekommen. Der saß in seinem Laboratorium und machte einen Versuch nach dem anderen.
Nach einem langen Schlaf trat er an einem Märzmorgen wieder in sein Laboratorium. Dort stand auf dem Tisch ein gewaltiger Hochspannungsisolator und trug auf der Spitze eine Bleikugel von etwa einem Zoll Durchmesser. Ein winziger Draht, der ebenfalls an riesenhaften Isolatoren entlanggeführt war, reichte bis zu der Kugel und lag leicht auf ihr auf. Durch einen Griff betätigte Hans Kallmann einen Fernschalter und schaltete die negative Gleichstromspannung von hunderttausend Volt ab, die die Nacht über an der Bleikugel gelegen hatte. Dann entfernte er den Draht und nahm die Kugel mit einer gläsernen Zange vom Isolator hinweg. Er schritt in die Dunkelkammer und strich mit der Kugel dicht über einen Leuchtschirm hin, das heißt über einen Pappkarton, der mit Bariumplatinzyanür bestrichen war. Ein unruhiges, grünliches Leuchten zeigte sich. Unzweifelhaft war der Beweis erbracht, daß die Bleikugel radioaktiv geworden war, daß sie strahlte, daß sie Ätherbewegungen oder elektrische Ladungen ausstieß, die den Schirm zum Leuchten brachten.
Hans Kallmann nahm die Kugel wieder in das Laboratorium zurück und rieb sie mit einem feinen Schmirgelpapier sauber ab. Wiederholt nahm er neues Schmirgelpapier, legte die gebrauchten Stücke sorgfältig beiseite und ging dann mit der Kugel wieder in die Dunkelkammer. Er wiederholte den vorigen Versuch, und der Schirm blieb völlig dunkel. Auch nicht die Spur eines Leuchtens war bemerkbar. Kopfschüttelnd schritt er in das Laboratorium zurück, holte das Schmirgelpapier und brachte dieses an den Leuchtschirm. Jetzt war das Leuchten wieder da.
»Das ist es eben. Immer nur diese dünne Hautwirkung. Nur die äußerste Schicht wird radioaktiv. Man weiß nicht, ob man nun wirklich die Bleiatome durch die hohe elektronegative Ladung zum Einstürzen, zum Strahlen gebracht hat, oder ob die Lehre richtig ist, daß irgendein so hoch geladenes Metall nur alle irgendwie in der Umgebung vorhandenen radioaktiven Stoffe zu sich heranzieht und sich mit einem feinen Häutchen strahlender Materie bedeckt ... So kommen wir nicht zum Ziel. Versuchen wir es auf andere Weise.«
Hans Kallmann machte sich an einer anderen Versuchsanordnung zu schaffen. Es war eine große Glasröhre von der Art der Röntgenröhren. Nur viel geräumiger und ausgedehnter. Da stand die Kathode, der negative Pol, breit und mächtig in der Röhre. Dann aber dehnte sich das Glasrohr wohl sechs Meter weit geradeaus. Die Strahlen, die etwa von der Kathode absprangen, konnten sich in diesem reichlich schenkelstarken Rohr frei fortbewegen. Erst in sechs Meter Entfernung stand die Antikathode, die die Strahlen auffangen und zurückwerfen konnte.
Diese ganze mächtige Röhrenanlage war vollständig luftleer gepumpt. Sie bedeutete, vom Lichtäther abgesehen, den unbedingt leeren Raum. Ihr Inneres war so leer wie der Weltraum und setzte der Elektrizität einen unüberwindlichen Widerstand entgegen.
Wiederum holte Hans Kallmann die Leitungsdrähte seiner Hochspannungsbatterie heran. Er legte den negativen Pol an die Kathode und den positiven an die Anode der Röhre. Dann betätigte er den Fernschalter und legte die ganze riesige Spannung seiner Akkumulatorenbatterie an die Röhre. Es waren hunderttausend Elemente, jedes einzelne mit einer Spannung von zwei Volt. Zweihunderttausend Volt lagen an der Röhre, und die Röhre blieb dunkel. Das Amperemeter, das in den Hochspannungskreis eingeschaltet war, regte sich nicht, ein Zeichen, daß die Röhre unbedingten Widerstand leistete.
Aber noch etwas Besonderes war in diesem Rohr eingebaut. Die Kathode war kein einfacher Metallkörper. Sie war in Form einer Pfanne aus reinem Wolfram gebildet und enthielt eine kleine Menge Blei. Um die Pfanne herum aber lag ein elektrischer Heizwiderstand, der durch einen besonderen Stromkreis bis zur Weißglut erwärmt werden konnte.
Mit zögernder Hand griff Hans Kallmann nach dem Hebel des Regulierwiderstandes und gab Heizstrom auf die Kathode. Rötlich erglühte der Draht, und augenblicklich sprang der Zeiger des Amperemeters auf zwanzig Milliampere. Durch die Erhitzung in Verbindung mit der negativen Hochspannung wurden die Atome der Kathode beweglich. Teile des Atombaus, die Elektronen, die Träger der elektronegativen Ladung lösten sich aus dem Bau und schnellten mit Weltraumgeschwindigkeit von der Kathode fort in das lange Rohr hinein.
Hans Kallmann ließ den Hebel des Heizwiderstandes von Kontakt zu Kontakt gleiten. Schon war aus der Rotglut Gelbglut geworden, schon wurde aus der Gelbglut helle Weißglut. Längst war das Blei geschmolzen und stand weißstrahlend in der Pfanne. Sein Spiegel warf jetzt die Kathodenstrahlen in gewaltigem Strom aus, und das Amperemeter zeigte bei zweihunderttausend Volt Spannung ein volles Ampere. Eine Energie von einem Ampere multipliziert mit zweihunderttausend Volt, das heißt eine Energiemenge von zweihunderttausend Watt oder zweihundert Kilowatt, eine Leistung von zweihundert Pferdestärken wirkte auf die winzige Bleimenge, brach Elektronen aus den Bleiatomen heraus und arbeitete daran, diesen so lange unerschütterlichen Atombau zu erschüttern.
Drei Stunden hindurch ließ Hans Kallmann die Röhre arbeiten. Fast tausend Pferdekraftstunden hatte er in diesen Fingerhut voll Blei gepumpt. Dann stellte er Heizung und Spannung ab und konnte die Zeit kaum erwarten, bis die Röhre sich wieder abkühlte.
Mit einem scharfen Glaserdiamanten führte er einen Schnitt um das Glasrohr. Zischend drang die Luft durch den ersten winzigen Schnittspalt. Dann brach das Rohr auseinander, und mit zitternder Hand griff er nach der Wolframschale mit der Bleifüllung. Schnell war der Weg in die Dunkelkammer zurückgelegt, und kaum hatten sich die Augen an das Dunkel gewöhnt, so war der Erfolg zu beobachten. Der Leuchtschirm leuchtete, leuchtete viel heller und greller, als er jemals zuvor bei den früheren Versuchen geleuchtet hatte.
Hans Kallmann ging zurück und rieb die Bleifläche mit Schmirgelpapier ab. Das Schmirgelpapier brachte den Schirm zum Leuchten, aber die Bleifläche tat nach wie vor das gleiche.
Einen Augenblick mußte sich Hans Kallmann niedersetzen, denn die Knie zitterten ihm. Ganz vorsichtig begann er zu überlegen.
Das Blei war in der luftleeren Röhre gewesen. Irgendwelche radioaktiven Stoffe aus der Umgebung hatte es also nicht anziehen können. Die Radioaktivität müßte von der Behandlung durch den Strom herstammen. Und eine Hautwirkung, die sich nur auf die oberste Oberfläche erstreckte, schien es auch nicht zu sein, denn er hatte ja die Oberfläche abgeschmirgelt.
Minuten vergingen. Dann hatte er sich erholt und ging wieder an die Arbeit. Über einer Spiritusflamme brachte er den Bleiinhalt der Wolframpfanne zum Schmelzen und goß das geschmolzene Blei in eine Schüssel kalten Wassers. In viele einzelne Tropfen zerspritzte das Metall, und sorgfältig sammelte er jeden Tropfen, trocknete ihn ab und brachte ihn in die Dunkelkammer, mit dem Erfolg, daß jedes Tröpfchen Blei den Schirm zu hellem Leuchten brachte. Der Beweis war schlüssig gelungen. Aber noch gab Hans Kallmann sich nicht zufrieden. Noch einmal brachte er seine Bleimenge zum Schmelzen, goß ein flaches Täfelchen und brachte es unter eine kräftige, elektromotorisch betriebene Walze, bis er schließlich eine Bleifolie von der Größe eines doppelten Aktenbogens in den Händen hielt. Wiederum kehrte er in die Dunkelkammer zurück und breitete die Bleifolie über die Rückseite des Schirmes aus. Jetzt strahlte die gesamte Vorderseite des Bariumpiatinzyanürschirmes in hellem, grünblauem Licht. Und so stark war das Licht, daß man den Tisch mit allerlei Geräten darauf in der Dunkelkammer deutlich erkennen konnte. Es war keine Spur eines Zweifels mehr möglich. Dieses Stückchen Blei war durch und durch stark radioaktiv geworden. Der erste Teil des langen und dornenvollen Weges, auf dem Hans Kallmann zu seinem Ziel zu kommen hoffte, war erfolgreich beschritten worden.
Lange hatte es Hans Kallmann sich überlegt, wie er weiter arbeiten wollte. Er konnte streng wissenschaftlich vorgehen, indem er versuchte, durch Kristallisationen die radioaktiv gewordenen Bleiatome von den etwa unverändert gebliebenen zu trennen.
Lange Zeit würde darüber vergehen, und schließlich würde er doch nur dasselbe wissen, was er jetzt schon wußte, nämlich daß es ihm durch die gleichzeitige Einwirkung von Hitze und elektrischer Spannung gelungen war, Bleiatome zum Einsturz zu bringen. Gewiß, er würde vielleicht die Ehre haben, ein neues Element, vielleicht das Radioplumbum zu entdecken. Das Recht der Namengebung würde ihm freistehen, und die Fachzeitschriften würden seinen Namen als den Entdecker des neuen Stoffes festhalten. Aber auch diese Aussicht konnte ihn nicht von seinem ursprünglichen Entschluß abbringen. Gewonnene Zeit war ihm mehr wert als jeder wissenschaftliche Ruhm, und dementsprechend beschloß er zu handeln.
Die Rechnung war ja so einfach. Ein Milligramm Radium kostete etwa dreihundertzwanzig Mark. Hans Kallmann glaubte nach seinen Messungen und Beobachtungen auf dem Leuchtschirm annehmen zu dürfen, daß seine elf Gramm radioaktiven Bleis wenigstens die Wirkung von einem halben Gramm Radium zeigten. Mit einem Kostenaufwand von etwa tausend Mark hatte er eine Bleimenge im Werte von einem Fünftel Pfennig in einen radioaktiven Stoff von etwa hunderttausend Mark Handelswert verwandelt. Das war eine wirtschaftliche Grundlage, auf der sich immerhin weiter verhandeln ließ, auf der man doch am Ende die Mittel für die ganz großen Versuche auftreiben konnte.
Hans Kallmann hatte sich seine Lehre aufgebaut und glaubte ihr auch durchaus sicher zu sein. Auf die Länge der Zeit selber kam es danach nicht so sehr an als auf die Stärke der Einwirkung während dieser Zeit. Ob er eine Leistung von dreihundert Pferdestärken drei Stunden oder zehn Stunden hindurch einwirken ließ, das machte keinen wesentlichen Unterschied. Aber eine Leistung von dreißigtausend Pferdestärken auch nur eine Stunde hindurch angesetzt, mußte den Atombau ganz anders erschüttern, mußte die Struktur der Materie derartig auflockern, daß der freiwillige Einsturz danach viel schneller vonstatten ging, daß die Strahlung dementsprechend unverhältnismäßig viel stärker wurde. In diesem Sinne beschloß Hans Kallmann, mit dem ihm seit langem bekannten, ja beinahe befreundeten Kommerzienrat Eggers Rücksprache zu nehmen. Erhielt er hier die gewünschten Mittel, so war er dem Ziel wiederum einen großen Schritt näher gekommen.
»Nun, Kallmann, beginnen wir. Aber gehen Sie bitte nicht zu dicht heran. Betätigen Sie den Apparat durch die Fernschaltung und beobachten Sie von hier aus durch das Fernrohr. Das Haus könnte doch immerhin in die Luft fliegen.«
Es war Kommerzienrat Julius Eggers, der diese Worte zu Hans Kallmann sprach. Gerade fünf Monate waren es her, seitdem dieser mit seinen Plänen zu ihm gekommen war, und es waren noch fünf Minuten vor dem ersten großen Versuch, den sie machen wollten. Der Kommerzienrat stand mit Kallmann in einem kleinen roten Backsteingebäude hinter dem Apparatorium der Fernschaltung und Fernmeßapparate.
Dieses Gebäude erhob sich auf einem freien Gelände, das dem Kommerzienrat gehörte und zwischen dessen Fabrik und einer Kiefernheide lag. Etwa hundert Meter von diesem kleinen Gebäude entfernt stand ein wesentlich größeres Haus, das eigentliche Laboratorium. Dorthin führten Leitungen, die elektrische Kraft mit einer Leistung bis zu fünfzigtausend Pferdestärken heranzuschaffen vermochten. Aber die Betätigung aller Schaltapparate, Heizwiderstände und sonstigen Hilfsmittel konnte von diesem kleineren Gebäude aus erfolgen, so daß man auch gewagte Versuche anstellen konnte, ohne sich persönlich in Gefahr zu bringen.
»Also los«, sagte Kommerzienrat Eggers und schlug Hans Kallmann auf die Schulter.
»Also los, Herr Kommerzienrat.«
Die Schalter wurden betätigt und ein dumpfes Brausen drang von der Fabrik her. Die großen Maschinen der elektrischen Zentrale, die während der Arbeitsstunden die Fabrik mit Strom versahen, gingen an und sandten ihre Kraft durch die Leitungen in das Laboratorium. Neue Hebel wurden gedreht, und die Heizwiderstände im Laboratorium erglühten. Die Zeiger der Amperemeter kletterten in die Höhe und gaben ein Maß für die Riesenkraft, die sich dort in einer Entfernung von fünfhundert Metern auf einen kleinen Bleiblock stürzte.
Die Uhr in der Hand verfolgte Hans Kallmann den Gang der Zeiger. Eine halbe Stunde... fünfunddreißig Minuten... vierzig Minuten. In der fünfundvierzigsten Minute brach heller Feuerschein aus den Fenstern des Laboratoriums, und die Amperezeiger fielen auf Null. Der Strom war unterbrochen, ein Zeichen, daß es da drüben in der großen Vakuumröhre irgendwie einen Kurzschluß gegeben hatte, durch den die selbsttätigen elektromagnetischen Unterbrecher in Wirksamkeit gesetzt worden waren.
Mit schnellen Griffen schaltete Hans Kallmann alle Hochspannung vom Laboratorium ab. Dann stürmte er auf das Laboratorium zu, so daß ihm der Kommerzienrat kaum folgen konnte. Bald standen sie vor dem Gebäude. Hier aber sah es übel aus. Zwar ein Brand war nicht entstanden, weil nichts zum Brennen vorhanden war. In weiser Voraussicht etwa kommender Ereignisse bestand ja der ganze Bau aus Beton, Eisen und Glas. Aber eine starke Explosion hatte es gegeben. Die großen Fenster waren mitsamt den eisernen Rahmen hinausgeschleudert, und die gewaltige Vakuumröhre war in Splitter von Staubkorngröße zerschmettert.
Mit einem Blick übersah Hans Kallmann die Sachlage durch das Fenster hindurch. Dann eilte er zur Tür und betrat den Raum. Sein erster Blick galt der Kathode und ihrer Bleiladung. Hier war nicht allzu viel geschehen. Die Kathode hatte nur ihre Lage verändert, und so war das geschmolzene Blei auf den Tisch geflossen. Dort lag es noch so, wie es niedergerieselt war, in Form eines silberglänzenden großen Tropfens.
Als aber Hans Kallmann zugreifen wollte, verbrannte er sich arg die Finger, obwohl doch wenigstens fünf Minuten seit jener Explosion verflossen waren. Glühend heiß fühlte sich dies Blei immer noch an. Kurz entschlossen ging der Ingenieur zur Wasserleitung, füllte ein Glas mit kaltem Wasser und goß es zischend über das Blei aus. So, jetzt konnte er ruhig zugreifen. Von neuem versuchte er das Blei von der Marmorplatte des Tisches abzuheben. Aber wiederum zog er die Finger schleunigst zurück, denn immer noch war das Blei viel zu heiß.
»Also machen wir es anders«, murmelte er vor sich hin, holte von neuem ein Glas Wasser, ergriff den Bleitropfen mit einer Zange und warf ihn kurz entschlossen in das kalte Wasser.
Kommerzienrat Eggers war näher getreten und betrachtete interessiert den Versuch.
»Haben Sie sich ernstlich verbrannt?... Nicht immer so stürmisch, lieber Kallmann, wir haben ja genügend Zeit. Hat die Arbeit fünf Monate gedauert, so kann sie auch noch zehn Minuten länger dauern... Ja, sagen Sie mal, was machen Sie denn da eigentlich? Sie wollen sich wohl einen warmen Trank bereiten...«
Der Kommerzienrat blickte auf das Glas, und Hans Kallmann starrte wie verzaubert hin. Es war gar kein Zweifel mehr, das Wasser in diesem Glas begann ganz regelmäßig zu kochen. Schon stiegen um den Bleiblock herum Dampfbläschen empor, schon stieß die Oberfläche des Wassers starke Dampfwolken aus, und jetzt begann das Wasser heftig zu sieden und zu wallen.
Da machte Hans Kallmann einen Freudensprung und rief: »Hurra, Herr Kommerzienrat, die Sache ist geglückt. Radium hat nur eine Temperaturerhöhung von etwa drei Viertelgrad Celsius über seine Umgebung. Dies Stückchen Blei ist wenigstens zweihundert Grad heiß und wird es schätzungsweise zehn Jahre hindurch bleiben. Es ist ungefähr dreihundertmal so radioaktiv wie reines Radium. Wir sind dem Erfolg wiederum einen großen Schritt näher gekommen.«
Und dann griff Hans Kallmann von neuem mit der Zange zu, zog den Bleitropfen aus dem Wasser und ging, von Eggers begleitet, damit in die Dunkelkammer. Er brauchte dem Schirm nicht mehr nahe zu kommen. Schon auf eine Entfernung von fast einem Meter versetzte der Bleitropfen die ganze Schirmfläche in ein lebhaftes Funkeln und Glühen. Wohl zehn Minuten hindurch betrachteten die beiden diese Erscheinung. Dann traten sie in das Laboratorium zurück.
»Ja, was ist denn das?« fragte der Kommerzienrat höchst erstaunt. »Das Wasser kocht ja immer noch heftig weiter.«
»Ach so«, sagte Hans Kallmann trocken. »An die Emanation hatte ich im Augenblick nicht gedacht. Ein radioaktiver Stoff von der Kraft unseres Bleies muß ja auch eine Emanation von ganz besonderer Stärke erzeugen. Aber das ist Nebensache. Die Hauptsache bleibt doch unser Blei. Herr Kommerzienrat, wir sind auf dem richtigen Weg. Sie werden ein glänzendes Geschäft in künstlichem Radium machen, und ich hoffe auch noch einiges zu erreichen.«
Wiederum war ein halbes Jahr seit jenem Versuch im Laboratorium des Kommerzienrates vergangen. Was Hans Kallmann, durch die Geldmittel von Eggers unterstützt, inzwischen geleistet hatte, läßt sich am besten in Form eines Gleichnisses ausdrücken.
Ungefähr so, wie der Urmensch dem vom Blitzschlag entzündeten Baum, hatte die Menschheit bis jetzt den radioaktiven Stoffen gegenübergestanden. Voll Interesse für die wunderbaren Erscheinungen, auch überzeugt, daß die Radioaktivität in kommenden Jahren sicher nützlich werden könnte, aber noch nicht fähig, sie nach Wunsch und Willen selbst hervorzurufen oder zu ändern.
Durch die Arbeiten und Entdeckungen von Hans Kallmann hatte sich das Bild mit einem Schlage geändert. Jetzt war es möglich geworden, gewöhnliches Blei in seinen Molekülen derart zu erschüttern, daß es sich unter Abgabe ungeheurer Mengen strahlender Energie im Laufe weniger Wochen in reines Helium auflöste.
Die Folgen dieser Entdeckung mußten auf die Praxis tief einschneidenden Einfluß ausüben. Ein Stückchen des so gewonnenen Materials, in einen Dampfkessel geworfen, lieferte hochgespannten Dampf für einen vierwöchigen Betrieb einer tausendpferdigen Dampfturbine. Es war nur nötig, immer wieder frisches Wasser nachzupumpen, um den Abgang auszugleichen. Es ließ sich voraussehen, daß die Kohlenförderung im Laufe des nächsten Jahres auf Null eingeschränkt werden konnte, sofern man nur genügend Blei herstellte, denn ein Gramm des radioaktiv gemachten Bleies entsprach hunderttausend Tonnen Kohle im Heizwert. Doch auch die Ausbeutung dieser weltbewegenden Erfindung überließ der Ingenieur gegen angemessene Beteiligung den geschickten Händen des Kommerzienrates. Alles dies war ihm ja nur ein Mittel auf dem Weg zum Ziel, und so finden wir ihn in dieser Zeit der Arbeiten und Zukunftshoffnungen wieder bei Professor Dernberg.
»Es steht schlimm mit Ihnen, mein lieber junger Freund. Sie wollen also wirklich nicht von Ihrem Wahn, von der Aufhebung der Schwerkraft, ablassen? Ich habe Ihnen doch die Unmöglichkeit dieser Idee zur Genüge bei unserem letzten Zusammensein auseinandergesetzt.«
Hans Kallmann hatte es sich in dem großen Lehnstuhl des Professors bequem gemacht.
»Gestatten Sie gütigst, Herr Professor, daß ich nun auch ein paar Worte spreche. Sehen Sie, ich habe hier eine Bleiplatte. Ich halte sie in der Hand, und ich spüre deutlich den Druck der Schwerkraft. Sie gaben mir die Erklärung dafür. Es ist das Ätherbombardement aus dem Weltraum, das die Platte gegen die Erde hintreibt. Aus dem einfachen Grund, weil die Erde die Bleiplatte von der anderen Seite her gegen ein solches Bombardement schützt. Irgendwo im freien Weltraum würde das Bombardement auf beiden Seiten gleich stark sein ...«
»Sie haben meine Ausführungen richtig begriffen, mein lieber Kallmann.«
»Gehen wir weiter, verehrtester Herr Professor. Wenn ich nun auf der unteren Seite dieses Bleiblockes ein kleines Ätherbombardement einrichte, das in seiner Gesamtwirkung jenem Weltraumbombardement die Waage hält, so wird die Summe aller Kräfte, die auf die Bleiplatte wirken, gleich Null und eine Wirkung der Schwerkraft ist nicht mehr zu beobachten.«
Der Professor hielt sich die Ohren zu und sprang vom Stuhl auf.
»Hören Sie auf, Verehrtester, ich weiß schon, was kommen wird. Ich will es Ihnen vortragen. Ein Körper, der von der Schwerkraft befreit ist, wird dem Gesetz der Trägheit folgen und von der Erdoberfläche tangential abfliegen. Da aber die Erdoberfläche sich unter ihm auf einer Kreisbahn dreht, so wird ein solcher Körper nach unserer Beobachtung eben einfach lotrecht in die Höhe zu steigen scheinen. Ein schöner Traum, nur werden wir ihn in der Wirklichkeit niemals erleben.«
Hans Kallmann lächelte, ging zu seiner Handtasche und nahm einen anderen, etwas stärkeren Bleideckel heraus.
»Sehen Sie, Herr Professor, dieser Bleideckel ist in Form eines flachen Napfes gegossen. In dem Napf bemerken Sie eine Schicht eines etwas helleren Metalles. Ich stelle den Napf hier vor Ihnen auf den Tisch...«
»… wo selbst er stehenbleibt, weil das Ätherbombardement ihn mit Gewalt auf den Tisch festdrückt, sozusagen, festnagelt, wie es sich nach den Gesetzen der Physik auch gehört.«
»Nicht nur das Ätherbombardement des Weltraumes, Herr Professor. Darüber hinaus auch noch das recht lebhafte Bombardement, das dieses helle Metall vollführt. Wenn Sie den Versuch mit der Waagschale machen wollten, würden Sie finden, daß dieser zweite Bleiteller mehr als doppelt so schwer ist als gewöhnliches Blei. Und nun... Ich will Ihnen die Waagschale ersparen und den Versuch einfacher machen. Sie sehen...«
Hans Kallmann drehte den Bleiteller um, ließ ihn los, und im selben Augenblick fuhr dieser mit ziemlicher Geschwindigkeit gegen die Decke des Zimmers, an der er haften blieb.
Der Professor starrte wie geistesabwesend zur Zimmerdecke empor.
»Das verstehe ich nicht, Kallmann, wie haben Sie das fertiggebracht?«
»Aber sehr einfach, Herr Professor, ich habe den Bleinapf umgedreht. Jetzt saß meine starke radioaktive Masse unter der Bleischeibe und jagte sie der Schwerkraft entgegen, einfach nach oben. Das ist es, was Sie gesehen haben.«
Der Professor war immer noch fassungslos.
»Bitte, Herr Professor, nehmen Sie doch den langen Stab aus der Ecke und versuchen Sie, die Scheibe umzudrehen. Sobald Ihnen das gelingt, wird sie wieder hinabfallen.«
Der Professor machte sich an diese Aufgabe, und nach vieler Mühe, nachdem er die Scheibe bis an die Wand gestoßen hatte, gelang es ihm, sie umzudrehen. Schwer wie Blei fiel sie hinab. Jetzt nahm er sie in die Hand und wurde erst recht verwirrt. Richtete er die hohle Seite mit der radioaktiven Schicht nach oben, so war das Stück doppelt so schwer wie Blei. Drehte er es vollkommen um, wollte es mit Gewalt nach oben. Hielt er es aber senkrecht, so daß etwa der Bleiboden nach rechts, der radioaktive Einguß nach links gerichtet war, so trieb die ganze Platte mit ziemlicher Kraft waagrecht nach rechts.
Es dauerte geraume Zeit, bis Professor Dernberg sich in alle Einzelheiten hineingefunden hatte. Dann stand er auf.
»Lieber Kallmann, ich bin überzeugt, Sie haben die scheinbar unmögliche Aufgabe in unanfechtbarer Weise gelöst. Was immer Sie weiterhin aufgrund dieser Erfindung auch unternehmen, betrachten Sie mich als Ihren Anhänger und, wenn Sie wollen, als Ihren Bundesgenossen.«
»Herr Professor, ich nehme Sie beim Wort. Ich beabsichtige, ein wenig in den Weltraum zu reisen, und allein ist mir die Reise zu langweilig; kommen Sie mit.«
Der Professor schlug in die dargebotene Rechte.
»Selbstverständlich komme ich mit.«
»Hurra, das freut mich. Den dritten Mann kennen Sie auch schon persönlich. Es ist mein alter Freund, Doktor Reinhard, der uns begleiten soll. Ich brauche diesen Mathematiker für die Navigation.«
Auf dem Feld hinter der Fabrik des Kommerzienrates Eggers befand sich innerhalb eines hohen Palisadenzaunes ein eigenartiges Gebilde. Das Ding sah aus wie ein kleines Teehäuschen mit metallischen Klappjalousien an verschiedenen Stellen.
Hans Kallmann kam im blauen Sportkostüm dahergeschritten. »Also, meine Herrschaften, die Reise kann beginnen. Nur noch ein Glas auf das Wohl unseres verehrten Herrn Kommerzienrates, durch dessen Hilfe es möglich wurde, dies Fahrzeug in drei Monaten zu bauen.«
Die Gläser klangen zusammen, und der deutsche Schaumwein perlte in den Kelchen.
»Die Hauptsache, lieber Kallmann«, sagte der Kommerzienrat, »bleibt es, daß Sie mir gesund wiederkommen. Sie und Ihre Gefährten.«
»Aber gewiß, Herr Eggers. Wir wollen heut überhaupt nur einen kleinen Spazierflug machen. Sie meinen, weil wir für drei Wochen Lebensmittel und Atmungsluft mitgenommen haben, wollten wir gleich aus unserem Planetensystem entfliehen. Keine Sorge, Herr Kommerzienrat. Diese erste Reise soll höchstens achtundvierzig Stunden dauern. Es soll überhaupt erst eine kleine Probefahrt werden.«
Noch einmal ein Händeschütteln, und die drei Reisegefährten betraten den Innenraum des Metallhauses. Es war ein viereckiger Raum, etwa vier Meter lang und drei Meter breit, aus kräftigem Stahl mit zahlreichen, wohl zollstarken kleinen Glasfenstern. Bequeme Korbmöbel luden zum Sitzen ein. Ein dicker Smyrnateppich gab dem Raum eine gewisse Behaglichkeit. Nur vor der einen Wand sah es maschinenmäßig aus. Dort befanden sich ein Steuer und einige Handhebel, die an ein Automobil erinnerten.
Als letzter trat Hans Kallmann hinter Professor Dernberg und Doktor Reinhard in das Gemach, schloß die schmale Schlupftür und zog mit dem Schraubenschlüssel sorgfältig die Schraubenbolzen fest, die den luftdichten Verschluß der Tür sicherten. Dann stellte er den Hebel des Lufterneuerungsapparates auf »mäßig«.
»So, meine Freunde. Dies ist eine der Hauptsachen, die wir nicht vergessen dürfen. Frische, gute Luft müssen wir haben. Der Apparat liefert uns in dieser Stellung aus dem Sauerstoffvorrat neuen Sauerstoff und bindet die ausgeatmete Kohlensäure an Ätzkali. Hier, lieber Doktor, sehen Sie die Zifferblätter für die außerhalb befindlichen Thermometer, Barometer, Psychrometer, Hygrometer und dergleichen. Hier kann sich Ihr wissenschaftlicher Drang in zahlreichen Beobachtungen austoben. Ich aber werde jetzt einmal diesen Höhensteuerhebel betätigen. Sie haben ja draußen die Metalljalousien gesehen. Einstweilen drehten die einzelnen Klappen die radioaktiven Oberflächen dem Himmel zu. Jetzt werde ich sie allmählich mit der strahlenden Fläche der Erde zukehren.«
Professor Dernberg hatte sich auf einen der Korbsessel niedergelassen.
»Wird der Bau auch stabil sein? Werden wir durch einseitiges Klappendrehen keine Kippmomente bekommen?« Hans Kallmann lächelte.
»Keine Sorge, Herr Professor. Solche Kleinigkeiten berechne ich als Ingenieur schon vorher. Unser Bau ist durchaus stabil. Und nun los ...«
Er zog am Hebel, und ein leichtes Rucken ging durch den Bau. Durch die Fenster konnten die Reisenden beobachten, wie die grüne Fläche ringsumher nach unten zu sinken schien. Noch einen kleinen Zug tat Hans Kallmann am Steuerhebel. Dann ließ er sich ebenfalls auf einem der Sessel nieder.
»So, meine Herren. Jetzt ist die Schwerkraft eben gut aufgehoben. Wir steigen mit etwa fünf Metern in der Sekunde ohne Beschleunigung nach oben. In der Minute, die wir nach unserer Normaluhr bereits unterwegs sind, sind wir gerade dreihundert Meter gestiegen. Die Zonen, die vor uns bereits Flugzeuge und Luftballone durchfahren haben, wollen wir im behaglichen Bummeltempo nehmen. Bemerken Sie, Doktor, wie schön unser Höhenmesser arbeitet.«
Doktor Reinhard betrachtete das Zeigerspiel des Höhenmessers.
»Alle Wetter, doch schon zweitausend Meter. Das stimmt nach meiner Uhr nicht. Wir haben entschieden Beschleunigung nach oben.«
Hans Kallmann schlug dem Doktor auf die Schulter.
»Es freut mich, daß Sie solche Kleinigkeiten doch gleich merken. Ich sagte ja, ich hätte die Schwere ein wenig überkompensiert. Wir stiegen von der Erde mit fünf Metern in der ersten Sekunde auf, aber wir hatten noch etwa zwanzig Zentimeter Beschleunigung. Jetzt sind wir reichlich zweihundert Sekunden unterwegs. Unsere Geschwindigkeit ist also von den ursprünglichen fünf Metern in der Sekunde noch um einen Zusatz von zweihundert mal zwanzig Zentimetern oder vierzig Metern vergrößert worden. Wir sausen bereits mit einer doppelten Schnellzugsgeschwindigkeit von fünfundvierzig Metern in der Sekunde nach oben. Sehen Sie den Höhenmesser. Er steht schon auf dreitausendfünfhundert Meter.«
Professor Dernberg hatte sich von seinem Sessel erhoben und blickte zu einem der Fenster hinaus.
»Was will denn der Flieger da oben? Er steht wenigstens tausend Meter über uns, scheint uns Konkurrenz machen zu wollen!«
Hans Kallmann blickte ebenfalls nach dem Flugzeug, dem sein eigenes mit immer gesteigerter Geschwindigkeit nach oben schießendes Fahrzeug nah und immer näher kam. Dann riß er das Seitens teuer herum. Mit einem Schlag klappten die sämtlichen an der dem Flieger zugewandten Seite des Metallhauses befindlichen Jalousien ihre strahlende Seite nach dem Flieger hin. Ein Ruck ging durch das Gehäuse. Ohne den jähen Aufstieg nach oben zu unterbrechen, begann es in einer dem Flieger abgewandten Richtung auch nach der Seite hin sich fortzubewegen, und zwar mit einer Beschleunigung von einem Meter in der Sekunde. Nach dreißig Sekunden stand das Metallhaus bei fünftausendvierhundert Meter Höhe gleich hoch mit dem Flieger und lief mit dreißig Sekunden so schnell von ihm fort, daß er mit etwa siebenundzwanzig Sekundenmetern Eigengeschwindigkeit von ihm abblieb.
Zehn Sekunden später warf Hans Kallmann das Seitensteuer nach der anderen Richtung, während er die Uhr beobachtete.
»Ich habe Seitengeschwindigkeit geben müssen, an der mir gar nichts liegt. Ich will mit einer reinen Steiggeschwindigkeit arbeiten... So achtundzwanzig Sekunden... neunundzwanzig Sekunden... dreißig Sekunden...«
Er riß das Seitensteuer wieder in die Mittelstellung.
»So, jetzt sind wir die Seitenkomponente los. Unsere Höhengeschwindigkeit hat sich doch auf hundert Meter in der Sekunde heraufgearbeitet. Dabei wollen wir es hier noch lassen. Jetzt, meine Herren, bitte Ehrfurcht und Achtung. Wir gehen durch die Höhe von zehntausendfünfhundert Metern. Höher ist niemand vor uns gekommen. Jetzt sind wir in der Zone, die nur von unbemannten Freiballonen durchkreuzt wurde. Jetzt werden wir übrigens guttun, die Höhen an unserem Aneroidbarometer abzulesen, denn das Thermometer sinkt unter vierzig Grad Kälte.«
Schweigend saßen die Reisenden und musterten die Landschaft unter sich. Die Erdfläche schien eine Mulde unter ihnen zu bilden. Längst lag die Landschaft in bläulichem Dunst, so wie man wohl Wälder und Gebirge, die zwei geographische Meilen entfernt sind, bei klarem Sonnenwetter zu erblicken pflegt.
Hans Kallmann stieß Doktor Reinhard an.
»Nun an die Rechnung, mein Lieber. Ich möchte so lange wie möglich senkrecht über der Wiese des Kommerzienrates Eggers bleiben. Es ist aber klar, daß die Wiese unter mir nach Osten verläuft, wenn ich nur senkrecht aufsteige. Bitte berechnen Sie mir die Beschleunigungen, die ich zu geben habe, um diesem Abtrieb entgegenzuwirken.«
Doktor Reinhard ergriff den Papierblock und begann zu rechnen.
»Die Sache ist soweit ganz einfach, lieber Kallmann. Wenn Sie eine gleichbleibende Beschleunigung von soundsoviel Metern geben, können Sie den Abtrieb für einen unbeschleunigten Auftrieb dauernd aufheben. Bei beschleunigtem Auftrieb müssen Sie die Beschleunigung erhöhen.«
»Wie weit, lieber Doktor?«
»Ins Endlose, Kallmann. Die Sache hat kein Ende, aber dafür einen Haken. Sie kommen schließlich auf Seitengeschwindigkeiten, die ungeheuerlich werden. Wenn Sie sich gerade im Abstand des Erdradius von der Erdoberfläche befinden, so müssen Sie Ihrem Fahrzeug schon eine Seitengeschwindigkeit von der doppelten Größe eines Punktes an der Erdoberfläche, das heißt von sieben geographischen Meilen in der Sekunde, verleihen. In größerem Abstand wird die Sache natürlich immer schlimmer.«
Hans Kallmann strich sich sehr nachdenklich über die Stirn.
»Mir scheint, Sie haben recht, Doktor. Wir werden es darauf ankommen lassen müssen, daß sich die Erde unter uns dreht, und uns später bei der Landung unseren Platz einfach wieder suchen müssen.«
Professor Dernberg stand am Fenster und beobachtete die Zeiger der verschiedenen Apparate.
»Hören Sie, Kallmann, wir fahren viel zu schnell. Bremsen Sie doch in dieser interessanten Zone etwas ab.«
Hans Kallmann machte sich am Höhensteuer zu schaffen. Ein leichter Druck ging durch die Körper der Reisenden. Bis jetzt hatten sie unter einer Beschleunigung von zwanzig Zentimetern in der Sekunde gestanden, ihr Körper war etwas schwerer als auf der Erde gewesen. Jetzt bekamen sie wieder ihr altes Gewicht, und nun wurden sie merklich leichter. Hans Kallmann hatte den Hebel so weit gerückt, daß das Fahrzeug den größten Teil seiner strahlenden Flächen gegen den Himmel richtete. Eine starke Verzögerung der Fahrt trat ein.
An einem empfindlichen Federbarometer, das die absolute Schwere eines eisernen Gewichtes mit einer Spiralfeder maß, ließ sich die Verzögerung und auch die absolute Geschwindigkeit im Raum ablesen. Die Reisenden sahen, wie ihre hohe Geschwindigkeit von zweihundert Metern in der Sekunde von Sekunde zu Sekunde um etwa vier Meter abnahm. Das Fahrzeug verhielt sich jetzt beinahe wie ein freier Körper, der mit einer Geschwindigkeit von zweihundert Metern in der Sekunde emporgeworfen und dann dem Einfluß der Schwerkraft überlassen wird. Erst als die Geschwindigkeit auf zwanzig Meter gefallen war, stellte Hans Kallmann den Hebel des Höhensteuers wieder ein wenig vor, so daß die Beschleunigung fast genau Null wurde und das Fahrzeug mit guter Eisenbahngeschwindigkeit weiter nach oben stieg.
Der Höhenmesser zeigte jetzt sechzig Kilometer. Der Luftdruck war auf fünfzig Millimeter gefallen. Das Luftthermometer zeigte auf der der Sonne abgewandten Seite des Fahrzeuges zweiundneunzig Grad Kälte, während das Thermometer auf der Sonnenseite es unter dem Einfluß der Sonne auf fünfundzwanzig Grad Wärme brachte.
Die Sonne ließ ihre Strahlen durch die Luken hinein in den Raum spielen. Jetzt schickte sich Professor Dernberg zu einem Versuch an. Er hatte ein großes Funkeninduktorium nebst zugehöriger Akkumulatorenbatterie mitgenommen. Außerdem barg ein umfangreicher Lederkoffer eine größere Anzahl Geißlerscher Röhren, die mit allen überhaupt nur verfügbaren Mitteln leergepumpt waren. Diese Röhren enthielten überhaupt keine freien Gasmoleküle mehr.
Eine solche Röhre, die einen Glasstutzen und in diesem einen gläsernen Hahn trug, verband Dernberg mit einem ebenfalls mit einem Hahn versehenen Metallstutzen, der sich an der Wand des Fahrzeuges befand und von dem ein Rohr ins Freie führte. Die Verbindung war so eingerichtet, daß die beiden Hähne ohne jeden Zwischenraum aneinander paßten.
Der Professor öffnete die Hähne hintereinander, und jetzt stand das Vakuum der Glasröhren mit dem Außenraum in Verbindung. Nach einer Minute schloß er sie wieder, entfernte das Rohr vom Stutzen und verband seine beiden Pole mit dem Funkeninduktorium. Ein Druck auf einen Schalter und schnurrend setzte sich das Induktorium in Betrieb.
Bläulich leuchtete das Rohr auf.
»Wasserstoff?« sagte Doktor Reinhard in fragendem Ton.
»Jedenfalls verdächtig«, erwiderte Dernberg und zog ein Taschenspektroskop aus dem Koffer. Er hielt das Messingrohr vor das Auge und betrachtete die leuchtende Glasröhre.
»Hm, hm, so ungefähr dachte ich es mir... Stark ausgeprägtes Wasserstoffspektrum. Kräftiges Stickstoffspektrum... Schwaches Sauerstoffspektrum.«
Der Professor schaltete das Induktorium aus, nahm die Röhre heraus und beklebte sie mit einem Papierschild, auf dem er eine Notiz machte: Atmosphärenprobe in fünfundsechzig Kilometer Höhe. Als er das Rohr in den Koffer legte, zeigte der Höhenmesser bereits fünfundsiebzig Kilometer, und unaufhaltsam stieg Kallmanns Fahrzeug weiter empor. Indessen musterte dieser die Landschaft unten. Sie war bereits in eine einzige silbergraue Fläche verschwommen. Silbrig schien alles, auch das Licht im Fahrzeug selbst. Hans Kallmann blickte sich prüfend um.
»Ich weiß nicht, irre ich mich, aber ist die Sonne hier viel weißer, als unten auf der Erde?«
»Sie irren sich nicht«, erwiderte Professor Dernberg, während er sich anschickte, eine zweite Röhre an den Stutzen anzuschließen. »Wir sind in neunzig Kilometer Höhe. Nur noch etwa drei Prozent der Atmosphäre hat die Sonne zu durchdringen, um zu uns zu kommen. Da werden ihr weniger blaue Strahlen entzogen, sie sieht weißer aus, während sie auf der Erdoberfläche mehr gelblich getönt erscheint und sogar dunkelrot wird, wenn sie dicht über dem Horizont steht und ihre Strahlen viele hundert Meilen der dichten Luft in niedrigeren Schichten durchdringen müssen.«
In hundert Kilometer Höhe und bei einer Temperatur von hundertzehn Grad Kälte machte Professor Dernberg die zweite Atmosphärenprobe. Der Wasserstoff beherrschte jetzt das Spektrum. Sauerstoff und Stickstoff waren nur noch schwach vertreten.
Hans Kallmann warf einen Blick auf den Geschwindigkeitsmesser.
»Sagen Sie einmal, meine Herren, wie lange soll dieses Schneckentempo eigentlich so weiter gehen? Wir reisen mit spärlichen zweiundsiebzig Kilometern in der Stunde.«
»Nur noch ein bis zwei Stunden, bester Kallmann«, unterbrach ihn Professor Dernberg. »Nur eben so lange, bis wir aus der Atmosphäre heraus sind. Wir befinden uns ja in einem für den Wissenschaftler ungemein interessanten Gebiet. Das Grenzgebiet der Atmosphäre ist für mich wenigstens interessanter als der leere Weltraum. Und bis jetzt haben die Atmosphärenproben meine Lehren bestätigt. Aber die Grenze, Kallmann, wie sieht die Grenze aus? Wie scheidet sich der Gasmantel, der unsere Erde umgibt, vom leeren Planetenraum?«
Während Professor Dernberg sich anschickte, eine dritte Rohrprobe zu nehmen, betrachtete Doktor Reinhard das Thermometer. Sein Zeiger hatte den Stand von hundertzwanzig Grad Kälte erreicht.
»Ich kann es Ihnen vorher sagen, Professor«, erwiderte der Doktor. »Das Thermometer trügt nicht. Noch ein Temperaturgefälle von etwa zwanzig Grad und wir sind den Sauerstoff los. Denn bei hundertvierzig Grad Kälte und einem Druck von einer Atmosphäre wird Sauerstoff flüssig. Flüssiger Sauerstoff aber muß wie ein Stein nach unten fallen. Einigen wir uns meinetwegen auf hundertsechzig Grad. Dann sind Sie den Sauerstoff los, und bei Temperaturen unter zweihundert Grad haben Sie nur noch Wasserstoff und allenfalls etwas Helium in der Atmosphäre.«
In einer Höhe von hundertdreißig Kilometern war die Temperatur auf hundertsechzig Grad gefallen. In dieser Höhe nahm Professor Dernberg seine sechste Röhrenprobe, und das Spektrum zeigte keine Spur von Sauerstofflinien.
Hans Kallmann benutzte die Zeit, um durch ein stark vergrößerndes Zeissglas die Landschaft unter sich zu betrachten.
»Wir treiben merklich nach Westen ab«, sagte er nach einiger Zeit.
»Selbstverständlich«, erwiderte Doktor Reinhard trocken. »Wir drehen uns jetzt in hundertfünfzig Kilometer Abstand nicht mehr ganz so schnell von Westen nach Osten, wie die Punkte der Erdoberfläche unter uns. Infolgedessen bleiben wir hinter diesen Punkten zurück, werden scheinbar nach Westen vertrieben.«
Professor Dernberg machte Atmosphärenproben, Doktor Reinhard beobachtete die Meßinstrumente, und Hans Kallmann rauchte eine Zigarette. Geraume Zeit herrschte Schweigen, bis Hans Kallmann wieder das Wort nahm.
»So viel ich weiß, hat man aus trigonometrischen Bestimmungen ermittelt, daß Sternschnuppen in zweihundert Kilometer Höhe zu leuchten beginnen. Also muß dort noch Atmosphäre sein, denn nur durch die Reibung in der Atmosphäre werden solche Trümmer des Weltraumes ja glühend und unseren Augen sichtbar.«
»Trümmer, vor denen der Himmel unser Fahrzeug behüten möge«, warf Doktor Reinhard ein. »Alles andere können wir berechnen. Aber solch ein Steinsplitter, der uns in den Weg kommt, entzieht sich jeglicher Berechnung.«
Professor Dernberg und Hans Kallmann machten bedenkliche Gesichter.
»Schöne Aussichten, Doktor, die Sie uns da machen.«
Doktor Reinhard zuckte mit den Achseln.
»Da ist nichts dagegen zu machen. Wir müssen uns auf die Wahrscheinlichkeitsrechnung verlassen, der zufolge ein solches Zusammentreffen zu den größten Unwahrscheinlichkeiten gehört. Ich glaube, wir brauchen uns nicht zu fürchten.«
Der Höhenmesser zeigte jetzt auf zweihundertfünfzig Kilometer. Ein atmosphärischer Druck am Barometer war mit Sicherheit nicht mehr abzulesen. Wenn er überhaupt noch vorhanden war, mußte er unter einem Zehntelmillimeter liegen. Das Thermometer war längst unter zweihundert Grad gesunken, und die Probe, die Professor Dernberg in der fünfzehnten Röhre nahm, enthielt nur noch reinen Wasserstoff. Die Reisenden waren jetzt einige Stunden unterwegs, und Hans Kallmann machte den Vorschlag, zu frühstücken. Doch sein Vorschlag wurde von den beiden anderen Teilnehmern der Fahrt nicht angenommen. Zu begierig waren diese beiden, die Grenze der Atmosphäre genau zu studieren. Nur nach langem Widerstreben willigten sie ein, daß Hans Kallmann die Geschwindigkeit des Fahrzeugs von zwanzig auf fünfzig Meter in der Sekunde erhöhte.
Der Reihe nach waren die Thermometer eingefroren. Bei vierzig Grad Kälte hatte das Quecksilberthermometer, bei hundertzehn Grad das Weingeistthermometer und bei hundertfünfzig Grad das Luftthermometer versagt. Aber Doktor Reinhard, dieser hervorragende »Thermometerologe«, wie Hans Kallmann sich auszudrücken beliebte, hatte vorgesorgt. Noch befand sich ein Heliumthermometer außenbords in Betrieb, auf das man sich bis zweihundertsiebzig Grad Kälte sicher verlassen konnte, und schließlich hatte der Doktor ein Metallthermometer mitgenommen, das im Laboratorium aber auch nur bis zur Temperatur des flüssigen Wasserstoffes, das heißt bis zu zweihundertfünfzig Grad Kälte geprüft werden konnte. Der Doktor meinte aber, daß es bis zum absoluten Nullpunkt, das heißt bis zu zweihundertdreiundsiebzig Grad Kälte richtig zeigen werde.
In einer Höhe von dreihundertzwanzig Kilometern sanken das Heliumthermometer und das Metallthermometer auf zweihundertzweiundsechzig Grad Kälte. Die äußeren Barometer zeigten keinen Luftdruck mehr. In dieser Höhe nahm Professor Dernberg seine fünfundzwanzigste Röhrenprobe und setzte die Röhre an das Induktorium. Als er den Apparat in Betrieb setzte, blieb die Röhre dunkel. Nur gegenüber der Kathode leuchtete ein Glasfleck grünlich auf. Aber er mußte die größte Spannung des Induktoriums auf die Röhre geben, um diese Erscheinung hervorzurufen. Aus der Geißlerschen Röhre war eine Röntgenröhre geworden, und zwar eine äußerst harte. Die Lichterscheinungen bewiesen, daß der atmosphärische Druck in der Röhre, und dementsprechend auch in der äußeren Umgebung, weniger als ein zehntausendstel Millimeter Quecksilbersäule betrug. Eine spektroskopische Beobachtung zeigte Spuren von Wasserstoff und Helium.
Als das Fahrzeug die Höhe von vierhundert Kilometern durchfuhr, zeigte das Metallthermometer zweihundertzweiundsiebzig und neun Zehntel Grad Kälte. Das Heliumthermometer war unbeweglich geworden, offenbar eingefroren. Die Röhre, die Professor Dernberg mit der Außenwelt verband und danach an das Induktorium brachte, blieb vollkommen dunkel. Es herrschte das absolute für die Elektrizität undurchdringliche Vakuum in ihr.
Der Professor ließ sich auf einen Sessel nieder.
»Wir sind aus der Atmosphäre heraus. Bei dreihundertfünfzig Kilometern hat die Röhre den letzten Lichtschimmer gegeben. Dort war wohl schon die Grenze.«
Hans Kallmann erhob sich und trat an den Hebel des Höhensteuers.
»Dann gestatten die Herren wohl endlich, daß wir dieses schleichende Tempo mit einem anderen, für Weltraumreisende angemesseneren, vertauschen?«
Er brachte den Hebel in die äußerste Stellung und gab dem Fahrzeug eine Beschleunigung von fünf Metern in der Sekunde. Sein eigenes Gewicht verdoppelte sich im gleichen Augenblick. Mit Gewalt fühlte er sich nach unten gerissen und erreichte mühsam einen Sessel. Sämtliche radioaktiven Flächen des Fahrzeuges strahlten jetzt nach unten und übten eine entsprechende Triebkraft auf das Fahrzeug aus.
Es fuhr mit fünfzig Metern Sekundengeschwindigkeit, als Hans Kallmann den Hebel anrückte. Nach einer Minute war zu dieser Grundgeschwindigkeit eine Beschleunigung von dreihundert Metern hinzugetreten. Nach zehn Minuten sauste das metallische Haus mit einer Geschwindigkeit von drei Kilometern in der Sekunde, das heißt mit dreifacher Kanonenkugelgeschwindigkeit nach oben. Nach einer halben Stunde waren aus den drei Kilometern bereits neun geworden. Das Fahrzeug vermochte jetzt in der Stunde mehr als zweiunddreißigtausend Kilometer zurückzulegen.
»Nette Geschwindigkeit«, sagte Doktor Reinhard. »Zehnmal so schnell wie ein Kruppsches Geschoß.«
»Für den Weltraum viel zu langsam«, entgegnete Hans Kallmann. »Bitte rechnen Sie es sich doch selber aus. Die nächste harmlose Vorortstation, der Mond, ist dreihunderttausend Kilometer von der Erde entfernt. Wir würden bei dieser Geschwindigkeit zehn Stunden brauchen, um ihn zu erreichen. Von Planeten wage ich erst gar nicht zu reden. Und jetzt, meine Herren, wollen wir frühstücken, so weit das bei dieser doppelten Schwere möglich ist.«
Die Viertelstunden verstrichen darüber. Sogar mit dem eigenartigen Zustand der Gewichtsverdoppelung fanden die Reisenden in ihren bequemen Korbsesseln sich ab. Als nach dem Frühstück der Rauch der Zigaretten und Zigarren sich im Raum kräuselte, herrschte eine eigenartige träumerische Stimmung.
»Sonnenschein und Sternenschimmer nebeneinander«, sagte Hans Kallmann mit stillem Lächeln.
»Sonnenschein und Erdschein, aber der Mondschein wird auch bald kommen«, unterbrach ihn der Doktor.
Seit das Fahrzeug aus der Atmosphäre hinausgetreten war, hatte die Umgebung eine eigenartige Veränderung erfahren.
Zunächst wurde seitlich, auf der der Sonne abgewandten Seite des Gehäuses, tiefschwarzer Sternenhimmel mit einzelnen funkelnden Sternen sichtbar. Und dann breitete sich dieser Sternenhimmel nach allen Seiten hin aus. Mit einem Male rief der Doktor: »Seht nur die Erde an.«
Während bisher unter ihnen bis in unermeßliche Fernen hin die Erdoberfläche sich erstreckt hatte, war die Erde jetzt zu einer runden Scheibe zusammengeschrumpft. Zu einer Scheibe, die zwar immer noch den dritten Teil des Raumes ausfüllte, aber doch schon mit Sicherheit selbst als gewölbtes Gebilde, als Kugel, zu erkennen war.
Jetzt nahm Doktor Reinhard Notizblock und Bleistift vor. »Also die Sache ist einfach. Die alte Formel lautet immer noch s = ½ J + 2 Darin bedeutet s die zurückgelegte Strecke, g die Beschleunigung in der Sekunde, in unserem Fall also fünf Meter, und t die Zeit, gemessen in Sekunden. Setzen wir in die Formel einmal den Abstand des Mondes von der Erde mit dreihundert Millionen Metern ein, so wird die Zeit t gleich elftau send Sekunden oder hundertachtzig Minuten...«
Doktor Reinhard zog die Uhr.
»Meine Herren, vor zwei Stunden haben wir die Atmosphäre verlassen und die beschleunigte Fahrt begonnen. Noch eine halbe Stunde und wir sind in Mondentfernung von der Erde.
Ein Glück, daß der nützliche Trabant um einen vollen Viertelkreis vom Zenit unseres Aufstiegsortes entfernt war.« Professor Dernberg suchte den Horizont in der Richtung gegen die Sonne hin ab, wo der Mond stehen mußte. Da beim Aufstieg des Fahrzeuges Neumond herrschte, so war vorläufig nichts von diesem Gestirn zu erblicken. Doch der Professor ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Er wies auf einen bestimmten Punkt an dem sternschimmernden Firmament. »Dort muß er stehen, und nach der hundertachtzigsten Minute werden wir vielleicht etwas sehen.«
»Es lebe die hundertachtzigste Minute«, sagte Doktor Reinhard. »Jetzt, meine Herren, müssen wir durch die Mondkimme gehen. Jetzt muß ein Streifchen seiner sonnenbestrahlten Seite sichtbar werden.«
Schon bestätigten die Ereignisse seine Worte. An der Stelle, die der Professor vorher angedeutet hatte, wurde die feine Mondsichel sichtbar, kaum merklich in der Größe von der gewöhnlichen Monderscheinung verschieden. Nur der eine Umstand blieb erwähnenswert, daß diese Sichel zusehends an Breite gewann. Als eine Stunde verflossen war, war aus der Sichel bereits ein vollkommener Halbmond geworden. Nebeneinander waren jetzt Sonne, Mond und Erde am Firmament sichtbar. »Nun, wie gefällt Ihnen die Reise?« fragte Hans Kallmann seine Begleiter.
»Nicht übel«, entgegnete der Professor.
Doktor Reinhard aber legte sein Notizbuch auf den Tisch und begann: »Wir sind vor sieben Stunden aufgestiegen. Während der ersten drei Stunden sind wir mit guter Eisenbahngeschwindigkeit gereist und bei vierhundert Kilometern aus der Atmosphäre herausgegangen. Seit vier Stunden fahren wir mit über fünf Meter Sekundenbeschleunigung und haben augenblicklich eine Geschwindigkeit von zweiundsiebzig Kilometern in der Sekunde. Ich schlage vor, daß wir diese Fahrt noch fünf Stunden fortsetzen. Unsere Geschwindigkeit wird während dieser dreihundert Minuten um weitere neunzig Kilometer zunehmen.
Wir werden genau zwölf Stunden nach unserer Abreise eine Sekundengeschwindigkeit von hundertzweiundsechzig Kilometern haben. Nach unserer Formel ergibt sich die von uns während dieser Zeit zurückgelegte Strecke zu 1,7 Millionen Kilometer. Zu jenem Zeitpunkt wird die Erde uns ihre entgegengesetzte Seite zeigen Von diesem Zeitpunkt ab müssen wir alle unsere Manöver nach rückwärts machen, das heißt wiederum mit einer Beschleunigung von fünf Metern in der Sekunde nach unten gehen und diese Fahrt genau sieben Stunden hindurch innehalten, dann mit guter Eisenbahngeschwindigkeit in die Atmosphäre tauchen und nach einigen Korrektionen auf unserem alten Landungsplatz niedergehen. Die Reise während der nächsten zwölf Stunden wird uns wenig Neues bieten, aber für unsere erste Fahrt, für unsere Werkstättenfahrt sozusagen, dürfen wir nicht mehr wagen. Was mich angeht, so werde ich jetzt ein kleines Schläfchen unternehmen.«
Der Vorschlag des Doktors fand Beifall. Eine eigenartige Müdigkeit und Abgespanntheit hatte sich der Reisenden bemächtigt, so daß Hans Kallmann sogar die kräftige Weckeruhr, die er mitgenommen hatte, auf ein Uhr, die Stunde ihres Aufstieges und damit auch diejenige ihrer Umkehr stellte, bevor er sich selbst im Lehnstuhl niederließ.
Das schrille Läuten des Weckers rief Hans Kallmann aus schwerem Schlaf. Er brauchte mehrere Sekunden, um sich völlig zu ermuntern, und legte dann das Höhensteuer in die entgegengesetzte äußerste Stellung. Sämtliche strahlende Flächen waren jetzt gegen die bisherige Fahrtrichtung gedreht. Schon während der Bewegung des Hebels ging Hans Kallmann ein eigenartiges Gefühl durch den Körper. Die lastende Schwere wich von ihm, und jetzt war er beinahe federleicht geworden. Nur noch wenige Gramm betrug sein Körpergewicht. Verwirrt und erschöpft schritt er oder, richtiger gesagt, schwebte er zu seinem Sessel zurück und suchte wieder eine bequeme Ruhe stellung ...
Noch immer strahlte das Tagesgestirn hell und unverändert in den Raum. Aber wo Hans Kallmann die Erde vermutete, war nur noch ein winziger Mond zu sehen, ein Gestirn, das nicht mehr wie gewöhnlich etwa der Mond Kürbisgröße, sondern kaum Apfelgröße aufwies. Der Mond selbst aber, das war vielleicht jener hellglänzende Stern, der unmittelbar neben dieser unirdisch kleinen Erde stand.
Während sich der Abstieg in derselben Linie mit gleichmäßiger Verzögerung vollzog, wie der Aufstieg mit gleichmäßiger Beschleunigung vor sich gegangen war, spürte Hans Kallmann ein Gefühl unendlicher Einsamkeit und Verlassenheit. Erst jetzt kam ihm voll zum Bewußtsein, daß er mit seiner Maschine als ein winziges Stäubchen eineinhalb Millionen Kilometer von der Erde entfernt im Weltraum dahintrieb. In einer Entfernung, für die sogar das Licht fünf Sekunden benötigte.
Sinnend und nachgrübelnd saß er in seinem Sessel, bis ihm die Augen wieder zufielen.
Doktor Reinhard wurde langsam munter. Einige Sekunden besann er sich, dann sprang er auf und blickte nach der Uhr.
»Alle Wetter, beinahe zehn Stunden geschlafen und...« Er strich sich über die Stirn, sprang auf, riß den Steuerhebel wieder auf die volle Höhenstellung und sprach erst dann seinen Satz zu Ende...
»Beinahe an einem Rechenfehler zerschellt. Die Schwerkraft, die uns beim Aufstieg gebremst hat, mußte uns ja beim Abstieg auch beschleunigen. Wir sollten noch volle vier Stunden fallen, und schon sieht die Erde verdächtig groß aus.«
Eine Viertelstunde saß Doktor Reinhard über dem Notizbuch und reihte Formel an Formel. Dann atmete er erleichtert auf.
»Es geht eben gerade noch. Wir können unseren Sturz bis zur Atmosphäre hin gerade wieder auf Eisenbahngeschwindigkeit abbremsen.«
Eine halbe Stunde hindurch saß der Doktor allein wach und beobachtete am Federbarometer die Geschwindigkeit des Fahrzeuges. Dann sprang er auf und brachte den Steuerhebel in die Nullstellung.
»Hallo, Kallmann, werden Sie munter und machen Sie ein neues ergiebiges Frühstück zurecht. Wir sind mit zwei Stunden Verfrühung an der Grenze der Atmosphäre angekommen und wollen nach zwei Stunden untertauchen.«
»Warum sind wir früher zurückgekommen als wir dachten?«
»Weil... davon sprechen wir später, wenn wir wieder auf festem Boden sind, lieber Kallmann. Übrigens ist es jetzt Zeit, daß wir nach unten gehen.«
Ein Druck am Höhensteuer und die Schwerkraft wurde für fünf Sekunden nicht mehr aufgehoben. Die fünf Sekunden genügten, um das Fahrzeug aus der Ruhe auf eine Geschwindigkeit von fünfzig Metern in der Sekunde zu bringen. Kilometer um Kilometer wurde durchmessen. Schon wurden Einzelheiten des Geländes sichtbar. Hans Kallmann rieb sich die Augen. »Etwas merkwürdig kommt mir die Gegend vor. Etwas chinesisch oder indisch, wenn ich offen reden soll.«
Auch Professor Dernberg betrachtete die Gebäude durch sein Fernglas, während Hans Kallmann in zehn Kilometer Höhe sein Fahrzeug zum Stillstand brachte.
»Kein Zweifel, Doktor, das ist ein Stück von China, was wir da unter uns haben. Ihre Meridiane scheinen sich ein wenig verwickelt zu haben.«
»Der Schaden läßt sich verbessern«, entgegnete Hans Kallmann und drehte sein Seitensteuer, so daß bei völlig aufgehobener Schwerkraft alle Flächen nach Osten strahlten.
Mit einer gleichmäßigen Beschleunigung von fünf Metern in der Sekunde begann das Fahrzeug nach Westen zu fliegen.
»In zwei Stunden können wir den Meridian von München haben«, sagte der Professor.
Und um diese Zeit hatten sie ihn wirklich. In sausendem Flug war das südliche Rußland unter ihnen dahingezogen. Mit Kanonenkugelgeschwindigkeit waren sie noch über das Kaspische Meer gegangen und hatten dann erst die Geschwindigkeit gemäßigt. Noch eine kleine Richtigstellung um hundert Kilometer nach Norden und bekanntes Gelände winkte ihnen entgegen.
Der letzte Abstieg begann. Die ersten fünf Kilometer wurden schnell durchfahren, die nächsten drei nur noch mit halber Eisenbahngeschwindigkeit, und dann ließen sie das Fahrzeug ganz langsam sinken.
»Ich weiß, was mir fehlt«, sagte Hans Kallmann und schraubte die Bolzen eines Fensters auf. »Frische Luft, frische Erdenluft.«
Die Scheibe bewegte sich in ihren Angeln, und würzige Höhenluft drang in das Gemach.
Die Meßinstrumente waren wieder aufgetaut und arbeiteten zuverlässig.
»Nur noch fünfhundert Meter von der Erde entfernt. Ich möchte gleich aus dem Fenster springen«, rief Hans Kallmann.
»Tun Sie es nicht, Verehrtester, fünfhundert Meter sind immerhin fünfhundert Meter.«
Schon war das Fahrzeug auf hundert Meter Höhe gefallen, und Hans Kallmann mäßigte die Fallgeschwindigkeit Stufe um Stufe. Die grüne Ebene wuchs ihnen entgegen, dann ein leichtes Scharren, Kratzen und Aufsetzen, und das Fahrzeug stand sicher auf festem Boden. Während Doktor Reinhard an das Höhensteuer ging und alle strahlenden Flächen nach oben drehte, schraubte Hans Kallmann rasch die Tür auf und lief dem Kommerzienrat Eggers frohlockend entgegen. Die Probefahrt des Radiowagens war glänzend gelungen.