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LOUIS WEINERT-WILTON

DER SCHWARZE MEILENSTEIN

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Ex Libris

Erstveröffentlichung Auffenberg, Berlin, 1935

Diese E-Buch-Ausgabe: Roy Glashan's Library, 2025
Version Date: 2025-10-31

Bearbeitung: Matthias Kaether und Roy Glashan

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»Der schwarze Meilenstein« ist ein klassischer Kriminalroman, der mit mysteriösen Todesfällen, düsteren Geheimnissen und einem rätselhaften Meilenstein Spannung erzeugt. Der Roman spielt in der Nähe eines englischen Gutshofs, eingebettet in eine düstere, neblige Landschaft. Sechs mysteriöse Todesfälle ereignen sich in der Umgebung des Gutshofs. Alle Opfer sterben unter rätselhaften Umständen, ohne erkennbare Verbindung zueinander. Der einzige gemeinsame Nenner: Ein schwarzer Meilenstein, der in der Nähe jedes Tatorts auftaucht und eine unheilvolle Symbolik trägt.

Die Geschichte ist in den 1930er bis 1940er Jahren angesiedelt und greift typische Elemente britischer Krimis dieser Epoche auf.


INHALTSVERZEICHNIS

1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel



Kapitel 1

Der Dollar rutschte und rutschte, aber Miss Isabel Longden aus Shoshone, Idaho, U.S.A., schien dieser Jammer nicht zu berühren.

Nach ihrem Rolls Royce und ihren gediegenen Schiffskoffern kam sie in Ostende selbst an Bord des Kanaldampfers, und es gab einiges Aufsehen.

Nicht nur, weil Isabel Longden jung und ausnehmend hübsch war, sondern vor allem, weil sie sich mit solcher Sicherheit zu geben wußte.

Vielleicht war diese Sicherheit nicht ganz echt, denn die etwas hochmütige Falte um den reizenden Mund wollte weder zu den lachenden braunen Augen, noch zu den kleinen Grübchen in den Wangen passen. Aber Isabel hielt auf diese Falte, und als sie bemerkte, daß auch hier an Bord die seltsamen Blicke des eleganten jungen Gentleman wieder auf ihr ruhten, ließ sie sie noch schärfer und abweisender hervortreten.

Mit dieser Abweisung verhielt es sich ähnlich wie mit ihrer Selbstsicherheit, aber jedenfalls gab dieser schlanke, geschmeidige Mann mit dem ewigen freundlichen Lächeln in dem glatten, dunklen Gesicht Isabel Longden seit Tagen viel zu denken. In Paris war er plötzlich auf ihren Wegen aufgetaucht, und seither verfolgte er sie wie ihr Schatten. Ohne Zudringlichkeit, aber beharrlich und mit sicherem Spürsinn. Und nun war er auch hier wieder und fuhr mit über den Kanal...

Isabel war so empört, daß sie die Mundwinkel noch ein bißchen mehr herabzog. Aber doch nicht so empört, daß sie dem jungen Manne brüsk den Rücken gekehrt hätte. Sie tat es nur halb und blickte gleichgültig über die Reling. Und dann spitzte sie den kleinen Mund und begann ganz leise vor sich hinzupfeifen.

Sie hätte es aber wohl sein lassen und wäre wer weiß wohin geflohen, wenn sie auch nur einen der Gedanken des so treuherzig lächelnden Gentleman geahnt hätte.

»Meine liebe Miss Longden«, murmelte er dabei, indem er angelegentlich nach den gespitzten Lippen schielte, »gebe Gott, daß Sie nicht die Dollars besitzen, die ich brauche. Sonst würde Ihnen das Pfeifen vergehen — und das wäre eigentlich jammerschade...«

Aber was immer die selbstsichere Miss Isabel Longden und der etwas überhebliche Mr. Alf Duncan auch dachten, der Schwarze Meilenstein spielte hierbei keine Rolle, denn sie wußten nichts von ihm.

Und deshalb kam alles vielleicht ganz anders, sicher aber viel rascher, als sie es sich gedacht hatten.

* * *

Auf der breiten Chaussee, die von London über Hampstead nach Nordwesten führt, lag das matte Mondlicht einer frischen Septembernacht. Aus den Wiesengründen zur Rechten und Linken stieg ein feiner, silbriger Nebel, und die kleinen Waldgruppen reckten sich wie starre Kulissen gegen den Himmel.

Knapp am Rande eines der Gehölze bog ein schmaler Fahrweg im spitzen Winkel ab, drinnen unter den hohen Kiefern aber glühten auf der großen Straße zwei rote Punkte.

Der Widerschein der beiden Stopplichter fiel auf einen Meilenstein, der die Zahl 39.5 trug.

Er sah genau so gewöhnlich und harmlos aus wie jeder andere Meilenstein, aber der eine der beiden Männer, die hier Zwiesprache hielten, versetzte ihm plötzlich einen tückischen Fußtritt und spuckte ihn dann auch noch wütend an.

»Das ist heute die siebente Nacht, die mich diese verwünschte Geschichte kostet«, knurrte er ehrlich ergrimmt. »Und dabei weiß man nicht einmal, wozu man hier herumlungert. Seit zwei Monaten ist überhaupt nichts mehr passiert, und bei dem Früheren ist es sicher nicht anders zugegangen, als es sonst zuzugehen pflegt. Ich kenne das. Kaum sehen diese verrückten Meilenfresser ein Stückchen gerade Straße vor sich, legen sie sofort los und müssen dann bei der lächerlichsten Panne daran glauben.«

Auch der zweite Mann trug den Dreß und die Abzeichen eines Patrouillenfahrers des Royal Automobile Club, dachte aber über die Sache anders. Er konnte es auch tun, denn er hatte den unangenehmen Dienst eben für einige Tage hinter sich, und es war sogar möglich, daß er überhaupt nicht mehr an die Reihe kam.

»Das wäre wohl schon das Höchste, was der Zufall sich leisten könnte«, meinte er mit bedenklichem Gesicht, indem er sein Motorrad fahrbereit machte. »In paar Wochen sechs so schwere Unfälle und immer an derselben ganz ungefährlichen Stelle — das will mir nicht recht in den Kopf. Dabei hat es jedesmal so ausgesehen, als ob die Wagen plötzlich scheu geworden wären, da sie von der Mitte der Straße schnurgerade in die Bäume hineinrasten. Daß sie so an die sechzig Meilen Geschwindigkeit gehabt haben müssen, ist allerdings richtig, denn es ist kein ganzes Stück von ihnen übriggeblieben. Und von den Fahrern auch nicht. Eine ganz unheimliche Geschichte, kann ich dir sagen, und so oft ich mir den Platz anschaue, läuft es mir kalt über den Rücken.«

Auch der andere ließ unwillkürlich den Blick nach der Stelle etwas schräg gegenüber gehen. Am Rande des ziemlich dichten Unterholzes klaffte eine breite Lücke, die mit ihren zersplitterten und angekohlten Strünken, den zerbeulten, rindenlosen Stämmen, und der ausgedehnten Brandnarbe wirklich etwas Unheimliches hatte.

»Hol's der Teufel«, murmelte er zwischen den Zähnen. »Wenn man volle fünf Stunden so mutterseelenallein hier herumsitzen muß, kann man es schon mit dem Gruseln zu tun bekommen. Nur einmal, gleich in der allerersten Zeit, war etwas Spaß dabei. Da sind eine Menge Leute mit allen möglichen Instrumenten hier herumgewimmelt, und sogar welche mit Wünschelruten waren dabei. Ich habe etwas von Erdstrahlen und Magnetismus aufgeschnappt, aber gefunden scheint man nichts zu haben, denn sonst hätte man uns ja nicht weiter gebraucht. — Das heißt«, fügte er in seiner früheren galligen Laune hinzu, »gebraucht hat man uns nicht, sondern das Ganze ist für die Katz und nur eine Leuteschinderei. Wer schon unbedingt bei Nacht fahren muß, macht lieber einen kleinen Umweg, als daß er dem verhexten Schwarzen Meilenstein um diese Zeit in die Nähe käme. Bei meinem Dienst wenigstens hat sich noch nie ein Wagen blicken lassen. Die Zeitungen haben ja auch genug Lärm geschlagen.«

Der abgelöste Posten ließ den Motor an und setzte sich zurecht.

»Ich habe gehört, daß die Wache vielleicht schon morgen eingezogen wird«, sagte er, um seinem übel gelaunten Kameraden einen Trost zu hinterlassen. »John ist so gegen zehn hier durchgekommen und hat es...«

Er hielt inne und wandte gespannt den Kopf.

Draußen auf der Chaussee brauste es heran, und es mußte ein schwerer Wagen sein, denn schon im nächsten Augenblick begann der Boden ganz merklich zu vibrieren.

Der neue Mann vom Dienst knipste vorschriftsmäßig sein Signallicht an und sprang in die Mitte der Fahrbahn, eben als vorne strahlende Helle in das Dunkel des Waldes brach.

Die rote Laterne kreiste gebieterisch, und die riesigen Scheinwerfer wurden jäh abgeblendet. Der nahende Wagen mäßigte sein wahnwitziges Tempo, und der Patrouillenfahrer machte sich bereit, seine Warnung vorzubringen...

Aber in der nächsten Sekunde wurden seine Augen von einem stechenden Lichtkegel geblendet, und der Luftdruck des großen Autos, das mit einem förmlichen Sprunge an ihm vorüberschoß, ließ ihn fast ins Wanken geraten.

»Verdammt noch einmal...«, zischte er, als er sich etwas gefaßt hatte. »Was war das? — Warum ist der Bursche so ausgerissen?«

»Das war kein Bursche, sondern eine Frau«, erklärte ihm der andere ebenso betroffen. »Und der Wagen ein Amerikaner — aber ohne Zeichen und Nummer...«

»Ein Frauenzimmer?« Der ewig nörgelnde Mann spuckte wieder einmal kräftig aus. »Natürlich — das hätte ich mir eigentlich denken können. Die treiben es ja am tollsten. Wenn ich so etwas am Steuer sehe, habe ich schon genug. — Wieviel, meinst du, hat die draufgehabt? — Aber wenn man sie morgen früh irgendwo hier herum gefunden hätte, wäre natürlich wieder das alberne Gerede von dem Schwarzen Meilenstein losgegangen.«

Er nickte dem abfahrenden Kameraden mürrisch zu und zündete sich dann eine Pfeife an. Er mußte deren nun einige ausrauchen, bevor er von diesem totenstillen, unheimlichen Platze wieder wegkonnte.


2. Kapitel

Es war genau eine Stunde vor Mitternacht, als der nette Boy des vornehmen Hotels am Strand mit dem Anflug eines vertraulichen Grinsens vor Mr. Alf Duncan die breite Flügeltür aufriß.

Die meisten Gäste hatten sich bereits zur Ruhe begeben oder saßen bei ihrem verspäteten Dinner, und die große Halle lag wie ausgestorben. Deshalb durfte sich sogar auch der würdevolle Mann in der Portierloge so etwas wie ein Lächeln gestatten.

Der Gentleman im Abendanzug trat an das Pult und schob den Hut etwas aus dem frischen, unternehmenden Gesicht.

»Nun?« fragte er bloß, aber der gewiegte Mr. Brown verstand ihn und hob bedauernd die Schultern.

»Miss Longden ist vor etwa einer Stunde abgereist«, flüsterte er hastig, indem er die Hall vorsichtig im Auge behielt. »Ganz plötzlich...«

Der junge Mann nahm die überraschende Nachricht weit gefaßter auf, als Mr. Brown erwartet hatte. Er warf bloß einen raschen Blick auf die Uhr und neigte sich dann erwartungsvoll in die Loge.

»Das müssen Sie mir etwas ausführlicher erzählen«, sagte er mit seiner ruhigen, einschmeichelnden Stimme.

»Bitte...« Mr. Brown nickte und wurde sehr geheimnisvoll. »Es ist mir selbst ein Bedürfnis, davon zu sprechen, denn ich habe Miss Longden sehr geschätzt und befürchte, daß ihr etwas Unangenehmes widerfahren ist. Wenigstens schließe ich dies aus... hm... verschiedenen Umständen, die... hm...«

Er suchte nach möglichst unverfänglichen Worten, aber Duncan kam ihm mit seiner gelassenen Sachlichkeit zu Hilfe.

»Fangen wir, bitte, von vorne an. — Also um halb drei hat Miss Longden wieder die gewisse Nummer in Bishopsgate angerufen, und kurz vor vier Uhr ist sie dann ausgefahren...«

»Jawohl. Mit ihrem Wagen, den sie, wie immer, selbst fuhr.« Mr. Brown hatte nun den Faden und schickte sich an, ihn mit pedantischer Genauigkeit abzuwickeln. »Ich möchte bemerken, daß sie sehr gut gelaunt war, denn sie hat leise gepfiffen, wie sie es öfter zu tun pflegte.«

Der aufmerksam lauschende junge Mann spitzte die Lippen und schien das gleiche tun zu wollen, aber dann drängte er sanft weiter.

»Und wann ist sie zurückgekehrt?«

»Einige Minuten nach neun. Ich hatte eben meinen Abenddienst angetreten, als sie plötzlich in die Hall und, ohne sich auch nur mit einem Blicke umzusehen, geradenwegs auf den Fahrstuhl zustürzte. — Und als der Boy wieder herunterkam« — der würdevolle Mann ging in ein aufgeregtes Wispern über — »teilte er mir ganz verstört mit, Miss Longden habe schrecklich gezittert und sogar einige Male laut aufgeschluchzt. Natürlich habe ich dem Jungen diese indiskrete Aufmerksamkeit verwiesen, denn in unserem Berufe darf man nur dann Augen und Ohren haben, wenn dies im Interesse des Gastes gelegen ist.«

Mr. Brown räusperte sich ernst, und der liebenswürdige Mr. Duncan räusperte sich ebenfalls.

»Ja«, pflichtete er dann gedankenvoll bei.

»Ja — und nach etwa einer Stunde ist Miss Longden dann wieder erschienen. Sie war in großer Eile, und in ihrem ganzen Benehmen lag etwas Furchtsames und Scheues. Ich konnte nun bemerken, daß sie wirklich geweint hatte, und ihre Stimme klang noch immer ganz verschleiert und unsicher. Sie hat auch nur wenige abgerissene Worte gestammelt: daß sie sofort abreisen müsse, ihr großes Gepäck aber und die eingehende Post zurückbehalten werden sollen, bis sie darüber bestimme, was vielleicht längere Zeit dauern werde. — Und dann hat sie mir, da sie nicht genügend englisches Geld hatte, zur Bestreitung der Auslagen zweihundert Dollar zurückgelassen.«

»Zweihundert Dollar...«, hauchte Mr. Duncan mit großen Augen.

»Gewiß, es war etwas viel«, gab Mr. Brown zu, »aber ich habe es zu spät bemerkt. Miss Longden flog ja förmlich aus der Hall und ließ auch schon ihren Wagen anlaufen.«

»Zweihundert Dollar...«, wiederholte der Herr in dem tadellosen Abendanzuge noch einmal, und der gewiegte Mann in der Portierloge glaubte ihn zu verstehen.

»Ja«, seufzte er, indem er unwillkürlich die dickleibige Brieftasche zog und die beiden Scheine hervorholte, »wer hätte das vor kurzem noch für möglich gehalten. Der Dollar! — Und dabei sieht dieses amerikanische Geld so solid aus.«

Duncan griff nach den Noten und betrachtete sie von allen Seiten.

»Beschmiert sind sie auch«, sagte er so nebenbei, als er sie endlich wieder zurückgab.

»Bloß die eine. Ich habe es auch schon bemerkt, aber das hat nichts zu sagen. Auf amerikanischem Papiergeld findet man das häufig. — Vielleicht ist es eine Vormerkung, die sich Miss Longden in der Eile gemacht hat. Ich glaube, es heißt: ›Finchley — Edgware — Radlett — Blackfield‹. — Es sind dies Orte, die an der Strecke nach Birmingham liegen«, fügte der pedantische Mann erklärend hinzu.

Der sonst immer so glänzend gelaunte Mr. Alf Duncan sah plötzlich derart hoffnungslos drein, daß Mr. Brown die Finger, die die Scheine eben wieder geborgen hatten, unschlüssig in der Brieftasche stecken ließ.

Der ehrenwerte Mann zauderte, weil er sich einem schweren Gewissenskonflikt gegenübersah. Einerseits legten ihm die ungeschriebenen Gesetze seines Standes eigentlich die Pflicht auf zu schweigen, andererseits aber drängten sie ihn zu sprechen. Dieser Mr. Duncan zählte ja zu den treuesten Lunch- und Dinnergästen des Hotels und durfte daher auf ein gewisses vertrauensvolles Entgegenkommen Anspruch erheben. Außerdem war es Mr. Brown nicht entgangen, welch lebhaftes Interesse der elegante Mann an der jungen, bildhübschen Amerikanerin vom ersten Tage an genommen hatte, und es mußte für ihn eine sehr arge Enttäuschung sein, daß sie nun aus seinem Gesichtskreis verschwunden war, bevor er sich ihr hatte nähern können. Mr. Brown hätte dem netten Gentleman, der einen so treuherzigen Blick hatte und eine so gewinnende Art, einem die Hand zu drücken, gern mehr Erfolg gewünscht, und sein edles Mitgefühl siegte daher über die letzten beruflichen Bedenken.

»Hier habe ich noch etwas«, flüsterte er, indem er ein zusammengefaltetes Papier zum Vorschein brachte. »Ich habe bisher zu niemandem davon gesprochen, denn es handelt sich offenbar um eine sehr peinliche Privatangelegenheit der Miss Longden. Aber da ich annehme, daß Sie für die Dame... hm...«

Alf Duncan seufzte sehr hörbar, und Mr. Brown nickte teilnehmend.

»Ich habe das Blatt in ihrem Appartement gefunden, als ich mich nach dem zurückgelassenen Gepäck umsah«, fuhr er in seiner umständlichen Art fort. »Unser Personal ist zwar sehr zuverlässig, aber solche Dinge besorge ich lieber selbst. Glücklicherweise bin ich sofort hinaufgegangen, und dabei habe ich ganz gewohnheitsmäßig das Papier, das in einer Ecke lag, aufgehoben. — In unserem Betrieb muß man auf jede Kleinigkeit achten, denn die Gäste sind oft sehr zerstreut und nachlässig. Sie werden ja selbst sehen...«

Mr. Duncan warf einen raschen Blick auf den ihm mit so geheimnisvoller Wichtigkeit anvertrauten Fund. Es war einer der Briefbogen des Hotels, wie sie den Gästen zur Verfügung standen, aber er enthielt nur wenige Zeilen. Die Schrift wies unregelmäßige, verzerrte Buchstaben auf, die auf und nieder tanzten, als ob die Hand, die sie schrieb, heftig geschüttelt worden wäre, und die Tinte war durch Feuchtigkeit und das Zusammenknüllen fast völlig verwischt.

Trotzdem ließen sich die Worte ohne besondere Schwierigkeit entziffern:


Liebste Mrs. Symington,

oh, warum habe ich nicht auf Ihre Warnungen gehört. — Welch furchtbare Strafe, welch schreckliches Ende. Ich vermag es nicht auszudenken: Ich habe...


Hier brach der verzweifelte Aufschrei ab. Die Schreiberin hatte nicht mehr weiter gekonnt, oder sie hatte es sich anders überlegt.

Mr. Brown beobachtete den jungen Mann mit gespannter Erwartung, aber als Duncan endlich den Blick hob, hatte er gar nichts zu sagen. Er drehte nur gedankenvoll das Blatt zwischen den Fingern, und dabei wurde das Papier immer kleiner und kleiner, bis plötzlich überhaupt nichts mehr davon zu sehen war.

Der würdige Mann in der Portierloge verfolgte dieses Spiel mit einiger Unruhe, und sein Gewissen begann sich zu regen.

»Ich darf Sie wohl bitten, Sir...«, stammelte er besorgt, aber der vollendete Gentleman zog beschwichtigend zwei Finger aus der Westentasche, und Mr. Brown umklammerte sie schweigend und ehrerbietig.

Dann drückte Alf Duncan den Hut wieder korrekt ins Gesicht, nickte noch einmal leutselig und schritt, ein gefährlicher Konkurrent für jeden Filmhelden, aus der Hall.

Draußen vor dem Portal aber legte er seine guten Manieren ab und ließ einen leisen Fluch hören.

»Zum Teufel: — Ich habe... Was hat sie...?«

Er war auf diesen und jenen Zwischenfall und auf die eine oder die andere Überraschung vorbereitet gewesen, aber die Wendung, die nun eingetreten war, hatte ihn völlig überrumpelt. Was hatte das zu bedeuten, und was war da zu tun?

Er brannte sich mißmutig eine Zigarette an und ließ sich die geheimnisvolle Sache angelegentlich durch den Kopf gehen.

Der knochige Mann, der plötzlich überrascht neben ihm haltmachte, mußte ihn erst am Arm berühren, bevor er aus seiner tiefen Versunkenheit erwachte.

Duncan blickte sich um und zog dann sehr förmlich den Hut, aber der andere tat viel herzlicher und vertrauter.

»Sieh da«, sagte er und feixte dabei über das ganze kantige Gesicht. »Mr. Alf Duncan... In all seiner Pracht und Herrlichkeit. Einen Augenblick war ich nicht recht sicher, denn ich glaubte, Sie seien in Paris oder sonst irgendwo drüben.«

»Ich war in Paris und sonst irgendwo drüben«, gab der junge Mann kühl zurück, »aber jetzt bin ich wieder hier, wie Sie sehen. Wenn jedoch Scotland Yard die Absicht haben sollte, mir das Leben schwer zu machen...«

»Scotland Yard...«, gluckste Chefinspektor Perkins und schüttelte sich vor Heiterkeit. »Das kann ich mir denken, daß Ihnen das zu schaffen gibt. Aber Sie haben es ja nicht anders gewollt. — Was war doch eigentlich gleich das Letzte, was Sie ausgefressen hatten?«

»Das Letzte, weshalb man mir Ungelegenheiten bereitet hat«, erklärte Duncan kühl und korrekt, »waren zarte Beziehungen, über die man unter Leuten von guter Erziehung mit diskretem Schweigen hinweggeht. Aber die Polizei hat eben über alles und jedes ihre eigenen Ansichten.«

Das Achselzucken, mit dem er diese Feststellung abtat, war noch beleidigender als die Worte, vermochte jedoch auch nicht, Perkins aus seiner Laune zu bringen.

»Aha, Weibergeschichten — ich verstehe.« Er zwinkerte mit den verschlagenen Augen und betrachtete den jungen Mann mit offenkundiger Bewunderung vom Scheitel bis zur Sohle. »Das liegt Ihnen aber auch, und dabei sollten Sie bleiben. — Oder haben Sie vielleicht für das nächste Mal etwas anderes vor?«

Alf Duncan nahm die Frage so ernst, daß er eine ganze Weile nachdachte.

»Für das nächste Mal habe ich etwas vor, bei dem es vielleicht um ›lebenslänglich‹ geht«, erklärte er dann unverfroren. »Hoffentlich ist Ihnen mit dieser Andeutung gedient. Gute Nacht, Mr. Perkins. Bitte, seien Sie nett, und sagen Sie nicht etwa ›Auf Wiedersehen‹.«

Er machte kurz kehrt, aber schon nach wenigen Schritten wandte er sich plötzlich wieder um und eilte dem so unhöflich verabschiedeten Mann nach.

»Hören Sie einmal, Perkins«, erkundigte er sich, »was ist das eigentlich für eine Gegend: Finchley — Edgware — Radlett — Blackfield?«

»Warten Sie«, sagte der Chefinspektor und murmelte die Namen nachdenklich vor sich hin. Dann hob er auf einmal rasch den Kopf und sah Duncan scharf und etwas betroffen an.

»Das ist die Gegend des sogenannten Schwarzen Meilensteins. — Ich weiß nicht, ob Sie schon davon gehört haben...«

Was Alf Duncan nach Sekunden darauf erwiderte, ließ Mr. Perkins verständnislos den Mund aufsperren.

»Liebe Miss Longden«, sagte er nämlich völlig geistesabwesend, aber deutlich und bestimmt, »verzeihen Sie... — Ich fürchte, ich bin ein gewaltiger Esel gewesen...«


3. Kapitel

Eine Meile hinter dem Unglücksstein endete das Kiefernholz, und an seinem Saum lagen, unregelmäßig verstreut und hinter Sträuchern und Bäumen fast völlig verborgen, die unansehnlichen Häuser der kleinen Ortschaft Blackfield. Wiederum zwei Meilen weiter aber lief die Chaussee durch ein schmales Tal, und hier mündete eine Allee alter Birken, die von Alderscourt her kam.

Der einstige Gentrysitz befand sich eine halbe Wegstunde taleinwärts und so abgeschieden, daß er selbst für die nächste Umgebung nur ein toter Begriff war, dessen man sich kaum je erinnerte. Das Anwesen hatte auch viele Jahre leer gestanden, und die Bewohner, die es seit einiger Zeit beherbergte, waren nicht darnach, irgendwelche Aufmerksamkeit zu erregen.

Mrs. Drew, eine schlichte Frau von stattlichem Umfang, wünschte das auch nicht. Sie kannte die Stürme und Tücken des Lebens und wußte, was so ein ruhiger, verborgener Hafen wert war. Ihre Tochter Molly hatte über den stinkenden Fuchsbau allerdings andere Ansichten, mußte sich jedoch vorläufig in das Unabänderliche fügen.

In dem trauten Familienkreise um den rohen Holztisch ging es zuweilen recht kriegerisch zu, aber heute war Mrs. Drew bereits etwas müde, und Molly saß mit kritischer Gründlichkeit über einem Kriminalroman. — Sie hatte ihn schon viermal von Anfang bis zu Ende verschlungen und hielt sich diesmal mehr an die Einzelheiten. Dabei zog sie hie und da die Stirn nachdenklich kraus, und dann feuerte sie das Buch plötzlich in eine Ecke, daß die Blätter nur so flogen.

»So ein Trottel«, urteilte sie verächtlich. »Wenn man das liest, könnte man glauben, daß das Stehlen so einfach sei wie das Nasenputzen, und daß man nur hinlangen müsse, um gleich die ganze Hand voll zu haben.«

Sie lümmelte sich wuchtig auf den Tisch, und ihr gesundes derbes Gesicht verriet ihre arge Verdrießlichkeit. Sie ähnelte ganz der Mutter, und Mrs. Drew fand, daß dies ihr einziger Vorzug sei. Sonst war sie völlig aus der Art geschlagen und eine alberne, eitle Gans, die zu nichts wert war.

Und eben hatte sie eine Sache berührt, die Mrs. Drew veranlaßte, das Daumendrehen sein zu lassen und die dicken Lider aufzuschlagen.

»Von solchen Dingen sei du hübsch still«, sagte sie giftig. »Die, welche die schönen Bücher schreiben, sind eben Leute von Verstand und wissen, wie man es anzustellen hat, um zu etwas zu kommen. Du aber hast nur lauter Dummheiten in deinem frisierten Schädel. — Was hast du schon für schöne Posten gehabt«, die enttäuschte Mutter seufzte bekümmert, »und was hat dabei herausgeschaut? Ganze Silberkästen und einen Haufen Schmuck hätte sich eine andere in so feinen Häusern beiseite gelegt. Aber du? Kaum sitzt du warm, klaust du eine lumpige Puderdose, ein paar Fetzen oder sonst so einen Dreck, und es war wieder nichts. — Wie ich in deinen Jahren war...«

Molly kannte diese bewegte Klage bereits zur Genüge und schnitt sie daher immer ab. Statt mit der gewohnten bündigen Redensart tat sie es heute mit einer mürrischen Frage.

»Wie lange soll denn die blöde Warterei noch dauern?«

Mrs. Drew erinnerte sich, daß es noch ein sehr langer Abend werden konnte und daß sie auf ihre kalten Füße Rücksicht zu nehmen hatte. Sie setzte Wasser auf, um einen wärmenden Grog zu brauen, und während sie mit dem Kocher hantierte, gab sie der ungeduldigen Tochter kurz angebunden Bescheid.

»Die Warterei wird so lange dauern, bis wir wissen, was los ist. Entweder kommt der Besuch, oder es kommt der Herr. So ist es ausgemacht.«

Molly schnitt eine Grimasse und gähnte verzweifelt.

»Eigentlich sollte man sich unsern Herrn einmal ein bißchen näher ansehen«, meinte sie plötzlich unvermittelt.

Die schwerfällige Mrs. Drew machte eine so flinke Wendung, daß sie fast den Topf vom Feuer geworfen hätte. »Untersteh dich nicht, herumzuschnüffeln«, fauchte sie, und ihre wäßrigen Augen funkelten dabei so drohend, daß die mütterlichen Worte auf Molly diesmal sogar einigen Eindruck machten. »Wenn ich so etwas merke, so fliegst du auf der Stelle und kannst dann schaun, wo du unterkriechst. Durch deine Nichtsnutzigkeit werde ich mich nicht um das feine Dach überm Kopf bringen lassen, das ich durch die Gnade Gottes auf meine alten Tage gefunden habe. Du weißt, wie es der Herr gehalten haben will, und wirst dich danach richten, wenn du nicht etwas erleben willst.« Die entrüstete Frau holte tief und laut frischen Atem, weil sie noch einiges zu sagen hatte. »So ein Mistfratz. Sie will sich unsern Herrn einmal ein bißchen näher anschauen... Ob mir das schon einmal eingefallen wäre. Meinetwegen mag er sein, wer er will, und aussehen, wie er will, die Hauptsache ist, daß ich hier hübsch ruhig sitze und dazu obendrein noch sechzig Schillinge bekomme. Und wenn du ungeratener, gottverlassener Balg...«

Das gedämpfte Läuten einer Klingel ließ Mrs. Drew mit offenem Munde innehalten, und dann geriet sie in aufgeregte Geschäftigkeit.

»Die Laterne«, keuchte sie der Tochter hastig zu, und während Molly eine Kerze anzündete, schlug Mrs. Drew mit zitternden Händen ein Tuch um die Schultern. Wenn sie auch den Gang in den Oberstock schon einige Male getan hatte, so war ihr doch nie sehr wohl dabei, und da der Grog noch nicht fertig war, mußte sie rasch einen beruhigenden Schluck aus der Rumflasche nehmen. Dann ergriff sie die Laterne, warf Molly noch einen warnenden Blick zu und schlürfte in die Diele.

Der lange, niedrige Gang war stockdunkel, und das schwache, unruhige Licht in den Händen der Frau vermochte gerade nur Schritt für Schritt den Weg über die rissigen Dielen zu weisen. Aber Mrs. Drew ging ihn rasch und sicher und schnaufte dann eine knarrende Holztreppe hinauf. Hier oben war der Gang zur Linken durch eine starke Bohlenwand abgeschlossen, und die Frau mußte einen Augenblick den Schein ihrer Laterne über die dunkle Täfelung gehen lassen, um den Eingang zu finden. Er war immer verschlossen, wie sie sich bereits mehrmals überzeugt hatte, aber wenn das Klingelzeichen sie rief, gab die geschickt verborgene kleine Tür stets ohne weiteres nach.

Auch das erste Zimmer hinter der Wand stand wie gewöhnlich offen, und Mrs. Drew setzte das Licht auf den Tisch und ließ sich schwer auf den Stuhl fallen. So wünschte es der Herr, und so war es auch der Frau ganz angenehm. Sie war außer Atem und schwitzte vor Aufregung, aber sie hatte Zeit, sich zu sammeln, denn es verging mehr als eine Minute, bevor sich aus dem Nebenraum, der durch einen Vorhang abgetrennt war, eine Stimme vernehmen ließ. Sie klang kehlig und scharf, und der armen Mrs. Drew lief es dabei immer eiskalt über den Rücken.

»Ich hoffe, daß alles in Ordnung ist«, sagte der Herr. »Der Besuch dürfte so um Mitternacht eintreffen. Sorgen Sie dafür, daß das Tor sofort geöffnet wird und daß der Wagen gleich in die Scheune an der rechten Hofseite fährt. Dann schließen Sie ab, und den Schlüssel werfen Sie durch die gewisse Fuge draußen im Gang. — Haben Sie verstanden?«

»Natürlich, Sir«, versicherte die Frau eifrig, aber etwas konfus. »So um Mitternacht und wegen des Schlüssels. — Wenn sie aber nur glücklich an dem verhexten Stein vorüberkommt...«

»Unsinn«, scholl es auf dieses ängstliche Bedenken ärgerlich zurück. »Und daß Ihnen nicht etwa einfällt, der Dame mit diesen albernen Schauergeschichten in den Ohren zu liegen. Kein Wort davon. Sie befindet sich ohnehin in großer Aufregung und darf durch solche Dinge nicht noch mehr beunruhigt werden. — Nur ein paar gute Lehren können Sie ihr geben, sobald sie sich erst ein bißchen hier eingelebt hat. Sie haben ja einiges durchgemacht, was zu erfahren ihr von Nutzen sein kann...«

So unklar diese Bemerkung war, Mrs. Drew glaubte sie zu verstehen und witterte Möglichkeiten, die etwas Abwechslung in ihre einförmigen Tage bringen konnten.

»Hat sie etwas angestellt?« platzte sie neugierig heraus.

Der Mann nebenan schien zu überlegen.

»Ja«, erklärte er dann kurz. »Was es ist, darum haben Sie sich nicht zu kümmern — aber es geht um ein paar Jahre.«

»Um ein paar Jahre...«, wiederholte die erfahrene Frau mit fast ehrerbietigem Schauer. »Das Höchste waren bei mir zuletzt achtzehn Monate, und das war schon wie eine Ewigkeit. — Davon habe ich auch das Rheumatische bekommen.«

»Sehen Sie. — Erzählen Sie also der jungen Dame hie und da so beiläufig einiges von dem, was Sie erlebt haben, damit sie erkennt, was auf dem Spiel steht, und keine Dummheiten macht. Sie darf nicht einen Schritt aus dem Haus heraus, und von draußen darf niemand an sie heran. Darauf haben Sie strengstens zu sehen, sonst ist es mit der Herrlichkeit hier für Sie zu Ende. Auch dürfte es Ihnen wohl kaum angenehm sein, wenn die Polizei auf diesen stillen Winkel aufmerksam würde.«

»Gott beschütze...«

Der entsetzte Ausruf kam Mrs. Drew wirklich von Herzen, denn sie haßte diese tückischen blauen Teufel, die ihr schon so viele Unannehmlichkeiten bereitet hatten. Und da waren noch ein paar alte Geschichten, die sie um keinen Preis aufgerührt sehen mochte.

Wenn dieser kleine Schreck nicht gewesen wäre, so hätte die kurze Unterredung mit dem geheimnisvollen Herrn von Alderscourt Mrs. Drew außerordentlich befriedigt. Sie wußte nun, woran sie mit dem Gast war, und auch, was sie zu tun hatte, sagte ihr sehr zu. Sie sprach leidenschaftlich gern von ihren Erlebnissen, die die ganze Niedertracht der Welt im allgemeinen und der Polizei und der Richter im besonderen zeigten, aber Molly war ein eingebildetes, freches Ding, das die Gescheitheit mit dem großen Löffel gefressen zu haben glaubte. Die andere würde hoffentlich auf eine alte erfahrene Frau hören; und wenn sie es nicht tat, so war es ja keine so schwere Sache, sie im Auge zu behalten und zu verhüten, daß sie etwas Unvernünftiges anstellte.

Molly empfing die Mutter mit einer erwartungsvollen stummen Frage, aber Mrs. Drew beschränkte sich auf eine knappe Andeutung.

»Mach das Tor auf und die Scheune beim Brunnen«, sagte sie, indem sie eilig den Grog bereitete. »Es muß alles rasch und in großer Stille geschehen, denn man ist hinter ihr her.«

Das liebenswürdige Mädchen stieß einen leisen Pfiff aus und verschwand mit überraschender Bereitwilligkeit. Wie der Mutter, kam auch ihr eine Ansprache sehr erwünscht, und wenn es mit dem Besuch so stand, brauchte man sich kein Blatt vor den Mund zu nehmen.

Alderscourt war schon bei Tag kein freundlicher Ort, bei Nacht aber war es geradezu unheimlich. Es lag am Ausgang eines kleinen Tals auf einem ausgedehnten Stück Weideland, dessen reizlose Eintönigkeit nur durch vereinzelte Erlengruppen unterbrochen wurde. Das Anwesen selbst war ein großes, kahles Mauerviereck, das an jeder Front mehrere Tore aufwies und von einer Reihe von Schindel- und Strohdächern überragt wurde.

Inmitten dieses Walles von Wirtschaftsgebäuden stand das massive Wohnhaus. Ein weiter Rasenplatz und eine Hecke, die rund herumlief, mochten ihm einst einen freundlicheren Anstrich verliehen haben, aber mit der ganzen Umgebung war auch hier alles der Verwilderung verfallen.

Molly war eben dabei, den schweren Riegelbalken des Haupttors hochzuheben, als Mrs. Drew mit der Laterne erschien. Sie hatte sich durch einige ausgiebige Schlucke gestärkt und war nun von lebhafter Gesprächigkeit.

»Ich werde mich mit der Laterne in die Scheuneneinfahrt stellen«, sagte sie, »und wenn sie kommt, weist du sie gleich dorthin. Dann führst du sie hinauf in die Zimmer und gehst ihr an die Hand. — Aber«, die Stimme der besorgten Mutter bekam plötzlich wieder einen ernsten Klang, »stell' mir nicht am Ende gleich am ersten Tage etwas an, sonst zerklopf ich dir deine langen Finger zu Brei.«

Vorläufig beschränkte sich Mrs. Drew darauf, einem hochbeinigen Köter, der mit einem heiseren Wutlaut aus seiner Hütte fuhr, einen runden, faustgroßen Stein treffsicher auf das ruppige Fell zu setzen.

»Kusch, du verdammte Bestie«, zeterte sie ergrimmt, wurde aber dann gleich einsichtsvoller. »Vielleicht wird das Rabenvieh jetzt doch zu etwas gut sein«, überlegte sie laut. »Es kann mir ja niemand verbieten, den bissigen Teufel hier drinnen loszulassen, und dann möchte ich mir den ansehen, der seine Nase hereinsteckt.«

Eine Viertelstunde später schwenkte Molly eilig die kreischenden Torflügel auf, um den Wagen einzulassen, der auf dem holprigen, grasüberwucherten Weg in halsbrecherischer Fahrt angeschaukelt kam.

Als das Auto in der dunklen Scheune hielt, drängten sich Mutter und Tochter mit neugieriger Geschäftigkeit heran, bekamen aber vorläufig nicht viel zu sehen.

Die Gestalt, die zögernd ausstieg, war in einen langen Mantel gehüllt und hatte die Haube so tief in die Stirn gezogen, daß nur ein kleines Oval eines jungen Gesichts und zwei große, scheue Augen sichtbar wären, die ängstlich in die Runde gingen. Es mußte eine sehr aufregende und anstrengende Tour gewesen sein, denn die Fahrerin atmete schwer und vermochte sich kaum aufrecht zu halten.

Endlich gelang es dem zuckenden kleinen Mund, eine kurze Frage zu formen.

»Alderscourt?«

»Jawohl, Miss«, beeilte sich Mrs. Drew zu versichern. »Sie sind richtig. Wir haben Sie schon erwartet, und Sie werden alles in Ordnung finden. — Molly«, wandte sie sich an diese in einem Ton, der dem Gaste sofort sagen sollte, wer hier im Haus das große Wort zu führen hatte — »bringe die Dame auf ihre Zimmer und dann hol flink das Gepäck. — Bitte, Madam, sagen Sie ihr nur, wie Sie alles wünschen. Meine Tochter hat bei sehr feinen Herrschaften gedient und kennt sich aus.«

Es war das erste Lob, das Molly je aus dem Munde ihrer strengen Mutter zu hören bekommen hatte, und sie war bemüht, zu zeigen, daß das mit den feinen Herrschaften wirklich stimmte. Sie geleitete den Gast mit der Artigkeit einer geschulten Zofe, aber der Weg über den Hof und den Vorplatz ging sehr langsam vor sich, weil die Fremde sich auffallend unsicher und zögernd vorwärts tastete. Einmal blieb sie sogar plötzlich stehen, und es schien einen Augenblick, als ob sie umkehren wollte. Aber dann schritt sie wieder hinter ihrer Führerin drein, und selbst die düstere Diele und der dunkle Treppenaufgang, die nur durch zwei armselige Petroleumflammen erhellt waren, konnten ihren Fuß nicht mehr stocken machen.

Auch in dem Zimmer auf der rechten Gangseite des Oberstocks, das Molly einladend öffnete, brannte nur eine Petroleumlampe, aber der Raum war überraschend gut und behaglich eingerichtet. Die Möbel schienen völlig neu zu sein, und selbst Mrs. Drew hatte sich schon oft darüber den Kopf zerbrochen, wann, wie und wozu sie in den alten Bau gekommen sein mochten, der sonst außen und innen ein so trostloses Bild der Verwahrlosung bot.

»Nun bringe ich noch rasch die Koffer«, sagte Molly beflissen, indem sie sich bemühte, von der neuen Hausgenossin endlich etwas mehr zu sehen, aber diese war bereits ans Fenster getreten, und nur ein Nicken verriet, daß sie gehört hatte.

Erst als das Mädchen geschäftig die Treppe hinunterklapperte, wandte sich Isabel Longden jäh um und riß mit einer verzweifelten Bewegung Mantel und Haube herunter. Dann glitt sie haltlos in einen Stuhl, und der Schein der Lampe fiel auf ihr pikantes Gesichtchen, das mit seinen strahlenden Augen und dem reizvollen Mund nur zu übermütigem Lachen geschaffen schien.

Aber auf diesem Gesicht lag ein Ausdruck so erschütternden Schmerzes, daß sogar die zurückkehrende Molly davon betroffen war.

»Befehlen Sie noch etwas, Miss?« fragte sie, nachdem sie die Koffer abgestellt hatte; und war froh, als sie durch ein müdes Kopfschütteln und einen dankbaren Blick entlassen wurde.

»Die hat es gehörig«, vertraute sie unten der wißbegierigen Mutter an und ließ dann ihrer schwülen Phantasie die Zügel schießen. »Wahrscheinlich war es etwas mit einem Mann — oder etwas, was damit zusammenhängt...«

Mrs. Drew spitzte die dicken Lippen und zog eine Portion Luft durch die Nase ein.

»Aha — das könnte stimmen«, meinte sie sachverständig. »Der Herr hat ja gesagt, ein paar Jahre...«

In den Augen der Tochter flackerte ein unruhiges Licht, und obwohl kein fremdes Ohr sie hören konnte, dämpfte sie ihre Stimme zu einem kaum vernehmlichen Flüstern.

»Sie muß aber etwas Feines sein und es sehr dick haben. Sie hat solche Dinger in den Ohren.« Molly wies die ansehnliche Spitze ihres kleinen Fingers. »Und alles echt. Darin kenne ich mich aus.«

Mrs. Drew starrte ihre Tochter an, und es lag alles mögliche in dem langen Blick. Dann breitete sich ernste Sorge über ihr biederes rundes Gesicht, und sie seufzte ahnungsvoll.

»Da wird man aber schon gehörig aufpassen müssen«, murmelte sie. »In diesen alten Fußböden sind ja so schrecklich viele große Ritzen, und wie leicht kann da so etwas hineinfallen. Das ist dann nicht mehr zu finden, wenn man sich auch noch so absucht...«


4. Kapitel

Alf Duncan sah im Straßenanzug genau so fabelhaft aus wie in Frack und weißer Weste, aber als er gegen die Mittagsstunde die Old Bond Street hinunterschlenderte, beschloß er, für seinen äußeren Menschen noch ein übriges zu tun. Er wählte an einem Blumenstand eine halberblühte Rose von dunklem Rot, und nachdem er sie mit großer Sorgfalt im Knopfloch festgesteckt hatte, sah er sich nach einem Taxi um.

»Bishopsgate«, sagte er, und der Chauffeur fuhr mit einem kurzen Nicken los.

Dan Kaye, ein schlichter Mann, der sich in keiner Hinsicht mit Mr. Alf Duncan messen konnte, hatte ganz dasselbe Ziel, und obwohl er bescheiden zu Fuß trottete, kam er eine gute halbe Stunde früher an.

Vor einem Haus in der stillen Seitengasse bekam er es aber mit seiner Schüchternheit zu tun und strich eine ziemlich lange Weile scheu und unschlüssig davor hin und her. In einer so sauberen Gegend und in einem so feinen Bau hatte er bei hellichtem Tage noch nie etwas zu schaffen gehabt, und sein Freund James mußte ein ganz besonderer Bursche sein, daß man hier über ihn etwas erfahren konnte.

An diesen seinen Freund James hatte sich Dan heute morgen erinnert, als er nach der bewegten Wiedersehensfeier mit seinem »lieben, dreckigen, alten London« den ersten nüchternen Augenblick gehabt hatte.

»Wenn du herauskommst, melde dich bei mir«, hatte ihm James an ihrem letzten gemeinsamen Arbeitstag in der verwünschten Tretmühle von Exeter zugeraunt. »Bei Mr. Fielder, Bishopsgate, zweite Gasse rechts, drittes Haus links, wird man dir sagen, wo ich zu finden bin. — Ich glaube, ich werde etwas für dich tun können.«

Das war nun genau fünf Monate her, und wenn James vielleicht auch nicht ganz richtig im Kopf war, das würde er ja wohl nicht vergessen haben. Und schließlich auch nicht, daß der gefällige und geschickte Dan jedes Bleistiftstümpchen und jedes Blättchen Papier in den Kanzleien zusammengeklaut hatte, damit sein Zellennachbar sich mit seinen verrückten Zeichnereien und Schmieragen beschäftigen konnte; und auch jedes Endchen Draht, jedes Stückchen Metall und jeden Streifen Gummi, weil der gute James auf diese Dinge geradezu versessen war.

Je länger Dan sich diese Tage durch den brummenden Schädel gehen ließ, desto zuversichtlicher wurde er. Dieser James war sicher kein lumpiger Windbeutel, der bloß schöne Worte machte, sondern würde für den guten Kameraden wohl wirklich etwas übrig haben. Es mußte ja nur so viel sein, daß man sich in aller Ruhe nach einem Verdienst umschauen konnte. Damit schien es heute allerdings verdammt schlecht bestellt zu sein. Es sollte vorkommen, hatten ihm seine bedrückten alten Freunde anvertraut, daß man sich in so einem aufgetakelten Geschäft die halbe Nacht mit der protzigen Kasse abrackerte und schließlich kaum so viele Schillinge darin fand, als man dabei Jahre riskierte. Daran seien eben die wirklich lausigen Zeiten schuld, und Dan werde schon selbst sehen.

Aber Dan Kaye hatte keine Gelegenheit mehr, selbst zu sehen, denn es war bestimmt, daß er schon in der nächsten Nacht an den verhängnisvollen Schwarzen Meilenstein geraten sollte...


5. Kapitel

Daß es so einen seltsamen Meilenstein gab, hörte Dan zum ersten Mal, als er sich endlich in das feine Kontor mit der Tafel »Guy Fielder« geschoben und seine gedrungene Gestalt bescheiden an die Tür geklebt hatte.

An einem großen Schreibtisch saß ein Herr, dem ein Brief arges Kopfzerbrechen verursachte, und vor einem der Fenster klapperte eine Frau unbeirrt auf der Maschine.

Endlich räusperte sich der Herr und wandte sein Gesicht.

Dieses Gesicht mit der niedrigen Stirn und den abstehenden Ohren wirkte im ersten Augenblick älter als es war, weil es die Farbe einer gebleichten Fischhaut hatte. Weder die wulstigen Lippen noch die dünnen Brauen noch das sorgfältig gescheitelte rötlichblonde Haar störten das fahle Einerlei. Auch die gestielten Augen glichen nur zwei verschwommenen Flecken, aber Dan Kaye kroch unter ihrem Blick noch mehr in sich zusammen.

»Man hat mich hierhergewiesen«, krächzte er entschuldigend und beobachtete dann ängstlich, wie der Mann am Schreibtisch sich umständlich zurechtsetzte, ein Bein über das andere schlug und mit den kurzen Fingern zu trommeln begann.

»So — man hat Sie hergewiesen«, ließ sich Mr. Fielder endlich vernehmen, und seine leise, ruhige Stimme war ebenso farblos wie sein Gesicht. »Bringen Sie eine Empfehlung der Anstalt oder eines Vereins?«

Dan schüttelte lebhaft seinen wuchtigen Schädel.

»Nein. — Ich komme wegen James. — Mr. James. Er hat mir gesagt, daß ich hier etwas über seine Bleibe erfahren könnte. Wir waren zusammen in Exeter. — Dan Kaye. — Er wird sich schon erinnern...«

»Mr. James...« wiederholte der kleine Mann nachdenklich, indem er seine fleischige Stumpfnase mit Daumen und Zeigefinger heftig bearbeitete. »Wer könnte das sein?«

Er sah fragend zu der Frau an der Schreibmaschine hinüber, aber Miss Reid nahm an der Sache kein Interesse.

»Bitte, sehen Sie vielleicht einmal in den gewissen Aufzeichnungen nach«, entschied Mr. Fielder endlich, und diesmal verstand Miss Reid. Sie erhob sich, und Dan, der ihr mit erwartungsvollen Blicken folgte, sagte sich so nebenbei, daß sie gewaltig vornehm aussah und den Teufel in dem geschmeidigen Leibe haben mußte. Sie mochte zwar bereits Ende der Zwanzig sein, und das Gesicht war nicht gerade hübsch. Aber gerade seine auffallendsten Schönheitsfehler — die etwas zu starke Nase, der kräftige Mund mit den breiten, gesunden Zähnen und der leichte Flaum, der von dem dunklen Haaransatz an den Schläfen bis zu den wohlgeformten Ohren lief — verliehen ihm einen besonderen Reiz.

Während Miss Reid dem Wandschrank ein kleines Notizheft entnahm und den gepflegten Fingernagel suchend über die Seiten gehen ließ, glaubte Mr. Fielder seinem Besucher eine Erklärung schuldig zu sein.

»Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, unglücklichen Menschen, die irgendwie gestrauchelt sind, wieder auf die Beine zu helfen«, bemerkte er bescheiden. »Die Fürsorgevereine sind zu bürokratisch und leider auch meist zu engherzig. Da bleibt noch manches zu tun, und ich tue es gern, denn ich habe bisher nur gute Erfahrungen gemacht...«

»James Marwel«, ließ sich in diesem Augenblick Miss Reid mit ihrer angenehmen Altstimme vernehmen. »Wurde am 5. April aus Exeter entlassen und war am 13. April hier.«

»Am 5. April, jawohl — stimmt«, platzte Dan freudig heraus, indem er die Rührung über die schönen Worte des menschenfreundlichen Mr. Fielder eilig hinunterschluckte. »Es war knapp vor meinem Geburtstag.«

Für den kleinen Mann schien die Sache allerdings noch immer nicht so ganz festzustehen, denn er schob die dicken Lippen vor und überlegte noch eine Weile.

»Nun«, meinte er endlich, »schlimmstenfalls machen Sie den Weg umsonst. Dann melden Sie sich eben noch einmal. — Also jetzt noch die Adresse, bitte...«

Miss Reid zog wiederum die Aufzeichnungen zu Rate.

»Hartford, Blackfield, Buschhaus«, las sie eintönig vor, aber ihr Chef legte plötzlich den kleinen Kopf auf die Seite wie ein interessiertes Huhn.

»Blackfield... Blackfield...«, murmelte er und heftete dann die ausdruckslosen Augen wieder einmal fragend auf die Sekretärin. »Der Name kommt mir so bekannt vor...«

»Der Schwarze Meilenstein«, kam ihm Miss Reid zu Hilfe.

»Tja — das ist es.« Mr. Fielder stieß mit dem Zeigefinger lebhaft in die Luft. »Seltsam, sehr seltsam...«

Er ließ sich nicht näher darüber aus, was er so seltsam fand, sondern hielt es nun an der Zeit, den ungeduldig harrenden Besucher endlich abzufertigen.

»Bitte, wollen Sie also dem Mann die Adresse recht deutlich aufschreiben, Miss Reid. Und für alle Fälle auch einige der Nachmittags- und Abendzüge. — Es wird am besten sein, wenn Sie sich noch heute nach Ihrem Freund umsehen«, riet er Dan. »Vielleicht kann er wirklich etwas für Sie tun, denn soweit ich mich erinnere, ist dieser James Marwel trotz allem ein sehr anständiger Mensch. — Er ist doch derselbe, der uns die Unterstützung wieder zurückerstattet hat?«

»Jawohl«, bestätigte Miss Reid und blickte wiederum in das Notizheft. »Am 3. Mai — als er zum letzten Mal hier war.«

Mr. Fielder schnippte etwas ungeduldig mit den Fingern.

»Schön, schön... Da müssen wir also wohl für seinen Bekannten ein übriges tun. — Sagen wir zehn Schillinge — als Reisezuschuß. Aber ohne die üblichen Eintragungen, Miss Reid. Dazu haben wir kein Recht, denn der Mann hat ja die Unterstützung nicht verlangt.«

Fünf Minuten später befand sich Dan Kaye wieder auf der Straße, und die Welt hatte für ihn plötzlich ein ganz anderes Gesicht. Die Möglichkeiten an Alkohol, Tabak und anderen köstlichen Dingen, die ihm die in seiner Tasche klimpernden Schillinge in Aussicht stellten, machten ihm den Kopf schwindeln, und vor der ersten einladenden Schenke, an der er vorüberkam, hatte er einen schweren Kampf zu bestehen...

Aber zum ersten Mal in seinem Leben — nur gerade im verhängnisvollen Augenblick — entwickelte Dan Kaye Widerstandskraft und Charakter. Er richtete mit einem entschlossenen Ruck die schwammige Nase wieder geradeaus und trabte zur Kings Cross Station, wie es ihm dieses feine Frauenzimmer, das einen ganzen Pack Sünden wert war, so schön und deutlich aufgeschrieben hatte.


6. Kapitel

»Eigentlich ist es sehr auffallend, daß dieser Marwel nichts mehr von sich hören ließ«, bemerkte der nachdenkliche Mr. Fielder, als die schweren Schritte des Besuchers auf dem Korridor verklungen waren. »Wann sagten Sie, daß er zum letzten Mal hier war?«

»Am 3. Mai«, wiederholte Miss Reid. »Sie hatten damals eine längere Unterredung mit ihm.«

Ihr Chef erinnerte sich und nickte lebhaft.

»Sehr richtig. Er hat mich gebeten, ihm bei der Suche nach einer neuen Stellung durch Empfehlungen an die Hand zu gehen, und ich habe ihm dies auch zugesagt. Aber seither ist er ausgeblieben. Vielleicht hat er selbst etwas gefunden, oder er ist wieder auf Abwege geraten.« Fielder zog die ohnehin etwas hohen Schultern noch höher, und in seinem würdigen Gesicht zeigte sich ein Anflug von ehrlicher Kümmernis. »Das täte mir leid, denn er machte den Eindruck eines sehr gebildeten und tüchtigen Menschen. — Was hat er sich eigentlich zuschulden kommen lassen?«

Miss Reid vermochte auch darüber Auskunft zu geben, aber es klang etwas gelangweilt und ungeduldig.

»Unterschlagungen. Wenigstens hat er das angegeben. Dabei deutete er allerdings an, daß er den Schaden gutgemacht hätte, wenn ihm noch eine Weile Zeit geblieben wäre.«

Fielder stieß den Kopf etwas vor und zwinkerte mit den schweren Lidern.

»Gutgemacht hätte...? So...« wiederholte er zweifelnd. »Wie wollte er das anstellen?«

»Darnach habe ich ihn nicht gefragt«, erklärte Miss Reid, indem sie sich wieder vor der Maschine zurechtsetzte und den Blick auf das eingespannte Briefblatt heftete. »Die Leute, die herkommen, haben ja alle irgendeine Entschuldigung oder Beschönigung bereit.«

Und um noch deutlicher zu verstehen zu geben, für wie überflüssig sie jedes weitere Wort über diese belanglose Sache hielt, ließ sie die Finger wieder mit großer Geläufigkeit über die Tasten gleiten.

Ihr Chef sah ihr gedankenvoll zu, dann nahm er neuerlich den Brief auf, in dessen Lektüre er durch den Besuch unterbrochen worden war. Er mußte eine überraschende Mitteilung enthalten, denn der kleine Mann kam aus dem Befremden nicht heraus.

»Also nichts«, sagte er endlich, indem er das Schreiben etwas lebhafter, als es sonst seine Art war, auf den Tisch warf. »Diese Amerikanerinnen scheinen alle in ihren Entschlüssen recht sprunghaft zu sein.«

Miss Reid tippte im gleichen Tempo weiter, aber als keine Fortsetzung kam, hielt sie sich für verpflichtet, eine höfliche Frage zu tun.

»Eine Mitteilung von Miss Longden?«

»Ja«, erklärte Mr. Fielder etwas pikiert, indem er sich mit einem Ruck auf die kurzen Beine stellte. »Miss Longden schreibt, daß sie leider gezwungen gewesen sei, plötzlich abzureisen. Das heißt natürlich, daß aus dem Geschäft nichts wird. Dabei war sie noch gestern von den Sachen, die wir ihr vorgelegt hatten, ganz begeistert.« Er hob die Schultern und schüttelte mit dem Kopf. »Das verstehe ich nicht. Als ich sie gegen sieben Uhr verließ, war von einer Abreise keine Rede. Es kann nur sein, daß sie im Hotel eine Nachricht vorgefunden hat, die sie dazu bestimmte. — Jedenfalls fügen Sie, bitte, dem Briefe an unseren Pariser Agenten eine Nachschrift hinzu, worin Sie ihm davon Mitteilung machen. Er hat es ja mit der Empfehlung sehr gut gemeint und kann nichts dafür, daß die Sache sich zerschlagen hat.«

Die Dame an der Schreibmaschine nickte wortlos, und ihr Chef war über das entgangene Geschäft so verstimmt, daß er sich in sein anstoßendes Privatkontor zurückzog. Als er einige Minuten später wieder erschien, hatte er sich zum Fortgehen fertig gemacht.

»Sie werden mich heute wohl kaum mehr brauchen«, sagte er, »und ich will die Gelegenheit benützen, um die gestern avisierte Sendung vom Zollamt zu holen. Sie geht nach Montreal weiter, und Sie können gleich die Papiere vorbereiten.«

Er grüßte mit sehr förmlicher Höflichkeit, und die fleißige Miss Reid begleitete seinen Abgang mit einem lauten Geklapper ihrer Maschine.

Dabei waren aber ihre Gedanken schon längst nicht mehr bei der Arbeit, sondern Miss Reid suchte mit den unvorhergesehenen Dingen fertig zu werden, die die letzte halbe Stunde gebracht hatte.

Die Sache mit James Marwel war ein böser Alarm, und bei der Geschichte mit Miss Longden stimmte etwas nicht.

Miss Reid hielt plötzlich in ihrer geschäftigen Arbeit inne und hob lauschend den Kopf. Dann schnellte sie auf und begann mit halbgeschlossenen Lidern lautlos und geschmeidig durch das Kontor zu streichen. Nach einer Weile blieb sie an der Tür stehen, öffnete sie behutsam zu einem kleinen Spalt und blickte vorsichtig in den Korridor.

Als sie sicher zu sein glaubte, schob sie den Riegel vor und eilte dann ans Telefon, das sie mit nervöser Hast in Tätigkeit setzte.

»Bist du's, Charles?« flüsterte sie dringlich in den Apparat, und der Angeredete mußte wohl etwas von ihrer Erregung gemerkt haben, denn sie fuhr rasch und ungeduldig fort:

»Ja, es ist etwas los. Einiges sogar. — Aber das dringendste ist, daß du sofort nach Blackfield hinausfährst und dort die Augen offen hältst. Es ist jemand unterwegs, der Marwel aufsuchen will. Ein Bekannter aus Exeter. Er kam zu uns, um die Adresse zu erfragen. Natürlich muß verhindert werden, daß der Mann draußen zu viel herumschnüffelt und vielleicht die ganze Gegend rebellisch macht. Kümmere dich also um ihn.«

Sie holte einen Augenblick Atem und hörte dabei unwillig auf einen Einwand.

»Gewiß ist die Sache so wichtig«, erwiderte sie scharf. »Wenn der Name James Marwel erst einmal fällt, würde man sich vielleicht an alles mögliche erinnern. Das Buschhaus ist ja keine halbe Stunde vom Schwarzen Meilenstein entfernt. — Du siehst also, worum es geht, und wirst hoffentlich einen Weg finden, um die Gefahr abzuwenden. — Jedenfalls erwarte ich morgen früh eine Nachricht von dir. Du triffst mich bis halb neun zu Hause. — Ja — auf Wiedersehen...«

Miss Reid legte erleichtert den Hörer auf und vernahm nun erst das bescheidene Klopfen, das sich bereits zum dritten Mal wiederholte. Sie wandte betroffen den Kopf, dann huschte sie rasch zur Tür und schob mit großer Vorsicht den Riegel zurück.

Erst als sie wieder an ihrem Tischchen saß und das Klopfen neuerlich ertönte, verstand sie sich zu einem gleichgültigen »Herein«.


7. Kapitel

Im nächsten Augenblick zogen sich ihre schmalen, dunklen Brauen ärgerlich zusammen.

»Was wünschen Sie schon wieder?«

Mr. Alf Duncan beantwortete die wenig freundliche Begrüßung mit einem liebenswürdigen Lächeln, und während er gemächlich Hut und Handschuhe ablegte, sah er sich angelegentlich nach einer Sitzgelegenheit um.

»Ich hoffe, daß Sie nicht die Absicht haben, sich häuslich niederzulassen«, sagte Miss Reid gereizt. »Es wäre zwecklos. Mr. Fielder ist bereits fortgegangen und kommt heute nicht mehr zurück.«

Diese Mitteilung hatte den Erfolg, daß der elegante Gentleman zunächst einmal Mr. Fielders Platz einnahm und dann noch liebenswürdiger lächelte.

»Ich weiß, liebe Miss«, sagte er.

»Miss Reid, bitte, wenn es schon sein muß«, wurde er zurechtgewiesen.

»Bitte sehr. — Also ich weiß, liebe Miss Reid, daß Mr. Fielder fort ist. Ich habe nämlich eine Ewigkeit vor dem Haus gewartet, weil mir so ein schäbiger Konkurrent um einige Längen zuvorgekommen ist. Der Kerl sah furchtbar ordinär aus, und unmittelbar nach so etwas wollte ich nicht erscheinen. Das hätte keinen guten Eindruck gemacht, und vielleicht hätte mich Ihr verehrter Chef trotz seinem guten Herzen hinausgeworfen.«

»Ich glaube sogar, sicher«, bemerkte Miss Reid mit Nachdruck. Sie war eine nicht so leicht zu verblüffende Frau, aber die Unverfrorenheit dieses Menschen schuf ihr einiges Unbehagen.

Duncan nickte elegisch.

»Sehen Sie. Mein Feingefühl trifft eben immer das Richtige. Wozu hätte ich also da den netten Mr. Fielder erst aufregen sollen? — Ich dachte mir, wenn ich Ihnen, liebe Miss Reid, meine peinliche Lage erkläre...«

»Ach so...« Miss Reid ließ ein leises Lachen hören und musterte den jungen Mann mit einem spöttischen Blick. »Das heißt wohl, Sie wollen Ihre gewissen Tricks an mir versuchen? — Aber da hat Sie Ihr sogenanntes Feingefühl diesmal arg irregeführt. Solche Sachen wirken bei mir nicht und« — ihre Stimme wurde plötzlich wieder eisig, und ihr Blick nach der Tür war sehr deutlich — »Sie haben sich also völlig umsonst bemüht. Mr. Fielder gibt nur einmal. Und ich hätte Ihnen trotz Ihrer schönen Empfehlungen auch dieses eine Mal nichts gegeben, denn Hochstapler und Heiratsschwindler sind keine besserungsfähigen Individuen.«

Der arme Alf Duncan hörte dieses Urteil mit zerknirschter Miene an, und seine treuherzigen Augen hingen verzweifelt an der Sprecherin.

»Bloß Mißverständnisse und fatale Zufälle, liebe Miss Reid«, versicherte er. »Glauben Sie mir. — Sie sind ja selbst nicht nur eine sehr kluge Frau, sondern auch eine sehr schöne Frau. Ohne Ihnen schmeicheln zu wollen, eine aparte Schönheit. Und Sie werden daher wohl auch schon erfahren haben, wie schrecklich einem zugesetzt wird, wenn man mit einigen körperlichen und geistigen Vorzügen ausgestattet ist. Da gerät man oft in Situationen...«

»Danke«, schnitt ihm Miss Reid ungerührt das Wort ab. »Alles das bringt Sie nicht weiter. Und ich habe dringend zu tun.«

Der junge, so selbstbewußte Mann verstand noch immer nicht, sondern schüttelte nur den Kopf und blickte sehr nachdenklich drein. Dann zog er sein Etui mit einem mächtigen Monogramm hervor und bot es Miss Reid höflich an. Als diese brüsk und empört ablehnte, zündete er sich selbst eine Zigarette an.

»Dann gestatten Sie wenigstens mir, zu rauchen«, sagte er. »Ich befinde mich nämlich wirklich in einer schauderhaften Lage, und so eine Dosis Nikotin bringt einem zuweilen einen rettenden Einfall. Sie sitzen ja hier hübsch weich und warm und wissen nicht, wie es draußen zugeht. Jeder muß zusehen, daß er weiterkommt. Das ›Wie‹ ist gleichgültig. Da habe ich beispielsweise vor einigen Tagen durch einen komischen Zufall die ›Blonde Elster‹ kennengelernt. Eigentlich heißt sie Miss Emily Jarvis und ist die geschickteste Taschendiebin vom Hyde Park bis zum Strand. Sie versteht ihr Geschäft wirklich ganz großartig, denn sie hat mir das Portefeuille unter dem zugeknöpften Überrock hervorgeholt, ohne daß ich auch nur das Geringste gemerkt hätte. Dabei müssen Sie wissen, daß ich schrecklich kitzlig bin. Dann hat sie aber wohl rasch einen Blick in die Brieftasche getan, denn sie hat mich auf einmal angesprochen und in sehr feiner Art zu einem Dinner eingeladen. Wir haben also in einem hübschen Restaurant recht gut gespeist, und dabei hat sie mir allerlei erzählt. Sie hat zuerst in einem Kontor auf der Maschine geklappert, dann ist sie zum Film gegangen, aber erst jetzt hat sie es so weit gebracht, daß sie anständig leben kann. — Und eine ehemalige Kollegin von ihr soll es noch besser getroffen haben, weil sie sich nur auf ganz große Sachen verlegt.«

Mr. Duncan seufzte tief auf und zerdrückte den Rest seiner Zigarette. Miss Reid aber hatte sich ans Fenster gestellt und beschäftigte sich mit der dritten unangenehmen Überraschung dieses Vormittags.

Unter diesen Umständen blieb dem redseligen Gentleman nichts anderes übrig, als die Unterhaltung nun auch weiterhin allein zu führen.

»Für mich kommen aber leider solche Dinge nicht in Betracht«, meinte er resigniert. »Dazu bin ich nicht geschickt genug, und dann fehlt mir auch die Courage. Ich habe bereits an den ersten paar Monaten genug, denn unsere englischen Gefängnisse sind der reinste Kulturskandal. Nicht ein bißchen Komfort. — Meine einzige Rettung wäre, wenn mir eines Tages eine Frau in den Weg käme, die wirklich so viel Geld hätte, daß man damit einen ordentlichen Hausstand gründen könnte. — Sagen wir so eine reiche Amerikanerin, wenn es so etwas überhaupt noch gibt. Besonders hübsch müßte sie ja nicht sein, denn ich bin nicht unbescheiden, aber...«

»A propos — Amerikanerin...« sagte Miss Reid, indem sie sich langsam vom Fenster wandte und ihren Blick unbefangen auf den bekümmerten Abenteurer heftete. »Da Sie augenblicklich wohl über einige Zeit verfügen, hätte ich eine Beschäftigung für Sie: Es würde mich interessieren, wann und unter welchen Umständen eine Miss Isabel Longden gestern abend abgereist ist. Sie hat im Union-Hotel gewohnt. Vielleicht haben Sie irgend welche Verbindungen, um etwas Näheres darüber erfahren zu können.«

Mr. Alf Duncan wurde plötzlich sehr lebendig. Er schnellte auf, straffte sorgfältig die. Bügelfalten seiner Beinkleider und ließ einen wohlgefälligen Blick an sich hinabgleiten.

»Das darf ich wohl behaupten«, erklärte er bescheiden. »Gottlob kann ich mich ja überall sehen lassen. — Also, wie sagten Sie, liebe Miss Reid?«

»Miss Isabel Longden«, wiederholte diese silbenweise. »Aus Shoshone, Idaho.«

»Miss Isabel Longden — jawohl. Das ist nicht so schwer zu merken.« Er sah Miss Reid wieder einmal sehr treuherzig an, und in seinen Augen leuchtete ein Hoffnungsschimmer. »Glauben Sie, daß da für mich etwas zu machen wäre?«

Miss Reid zuckte kühl mit den Achseln.

»Ich habe Ihnen doch gesagt, daß die Dame abgereist ist. Außerdem weiß ich so gut wie gar nichts über ihre Verhältnisse. Sie interessiert mich auch nur indirekt.« Sie begann, in der Handtasche, die sie aufgenommen hatte, herumzufingern, und der schöne Alf verfolgte ihr Tun mit diskreter Aufmerksamkeit.

»Es ist eine Gefälligkeit, die Sie mir persönlich erweisen«, betonte sie. »Wenn Sie mir also etwas mitzuteilen haben, so rufen Sie immer zwischen ein und zwei Uhr hier an. Natürlich werden Sie verschiedene Auslagen haben...«

In Mr. Duncans stolzem Gesicht malte sich eisige Ablehnung, aber seine weniger empfindlichen Finger schoben die zusammengefalteten Scheine hastig in die Westentasche.

»Sie werden von mir hören, liebe Miss Reid«, sagte er schlicht und machte eine weltmännische Verbeugung.


8. Kapitel

Dan Kaye war ein Mann von Takt, und als er so um die vierte Nachmittagsstunde Blackfield erreichte, sagte er sich, daß es wohl nicht recht schicklich wäre, wenn er bei hellem Tageslicht an die Tür seines ehemaligen Kameraden klopfte. Er sah ja nicht gerade wie ein Besuch aus, mit dem man Staat machen konnte, und seinetwegen sollte der feine James nicht in das Gerede der Leute kommen.

Er wollte also lieber warten, bis es ein bißchen dunkel geworden war. Wo das Buschhaus beiläufig lag, hatte er bereits auf dem Weg von der Station durch einen freundlichen Plausch mit einem kleinen Jungen herausgebracht, und es war nicht schwer, sich dorthin zurechtzufinden. Außerdem hatte er ja eine Menge Zeit, denn sein letzter Zug ging erst gegen elf.

Es war Dan sehr willkommen, daß er eine Weile verschnaufen und endlich daran denken konnte, etwas gegen seinen höllischen Durst zu tun. Mit der sicheren Witterung eines Kamels für den Brunnen schlängelte er sich zwischen den netten Häuschen und Hecken hindurch, bis er an die Chaussee kam und den Waldrand vor sich hatte.

Hier stockte sein Fuß, denn das Wirtshaus »Zum reitenden Postillon« war nicht zu übersehen. Es stand massiv und sauber auf einem ausgedehnten, gepflegten Rasenplan neben der Straße, und nur das verwitterte Schild und die verblaßten Farben der sechsspännigen Extrapost, die unter dem First dahinjagte, zeugten von seinem ehrwürdigen Alter. Das beliebte Einkehrgasthaus von einst war bis auf den heutigen Tag mit der Zeit gegangen. Ein stattlicher, villenartiger Neubau etwas weiter in dem üppigen Grün bot zum Wochenende jeden Komfort, und der anschließende Golfplatz hatte den Ruf, einer der besten Mittelenglands zu sein.

Mrs. Hingley, die Wirtin, war ein Kompromiß, wie ihr schöner Besitz. Wie das Stammhaus war sie nett und gediegen gebaut und hatte auch schon einige Jahrzehnte gesehen, aber sie war modern gekleidet und frisiert, und ihre breiten, runden Fingernägel waren ständig frisch lackiert. Vorn in der Schenke setzte sie sich durch ihre tiefe, energische Baßstimme in unbestrittenes Ansehen, den Gästen des Golfhauses aber machte sie sich, wenn sie danach Verlangen zu tragen schienen, außer durch ihre selbstverständliche hausfrauliche Fürsorge auch gern noch durch ein bißchen Konversation angenehm.

Der elegante junge Herr, der vor etwa einer halben Stunde in einem ebenso eleganten Auto angekommen war, schien danach Verlangen zu tragen, denn er nahm die ersten beiläufigen Bemerkungen, mit denen die stattliche Wirtin sein Unterhaltungsbedürfnis taktvoll sondierte, mit liebenswürdigstem Interesse auf.

Das veranlaßte Mrs. Hingley, ihm beim Tee, den er sich auf der sonnigen Terrasse servieren ließ, Gesellschaft zu leisten.

»Es ist sonst lebhafter und unterhaltender bei uns«, versicherte sie. »Besonders im Sommer. Aber auch jetzt haben wir, wenn halbwegs schönes Wetter ist, über Sonnabend und Sonntag immer eine Menge Gäste. Letzte Woche konnte ich sogar einige Herrschaften, die sich nicht angemeldet hatten, nicht einmal unterbringen. Die meisten kommen wegen unseres Golfplatzes. Sie werden sich ihn wohl auch ansehen. Man sagt, daß er fast so schön sei wie jener von St. Andrews, wenn es hier auch keine Klippen und kein Meer gibt. Er ist von Mr. Paulsen angelegt worden, meinem ersten Gatten«, — Mrs. Hingley seufzte und griff pietätvoll an eines der drei Medaillons, die sich einträchtig auf ihrem Busen wiegten — »der selbst ein leidenschaftlicher Golfspieler war. Mein zweiter Mann« — die gefühlvolle Witwe fingerte nach der nächsten goldenen Kapsel — »hat dann die Pläne für das Golfhaus entworfen, und der dritte« — Mrs. Hingley seufzte besonders schwer und tief und suchte an dem letzten Anhängsel Halt — »hat sie durchgeführt. Leider ist er bereits im nächsten Sommer gestorben...«

»Oh...!« sagte Mr. Alf Duncan, und in seiner angenehmen Stimme und in seinem Blick lag so viel Mitempfinden, daß die dreifache Witwe jäh alle ihre Talismane umklammerte, um ihrer seltsamen Verwirrung Herr zu werden.

»Ja«, stammelte sie mit züchtig gesenkten Augen, »und seither ruht hier alles auf mir. Und manchmal ist es fast zu viel für eine alleinstehende Frau. Ich habe zwar einen Geschäftsführer, den Sie ja gesehen haben, aber der Mann ist etwas schläfrig. Als die Sache mit dem Schwarzen Meilenstein passierte, bin ich wochenlang nicht zur Ruhe gekommen.«

»Dem Schwarzen Meilenstein?« fragte der liebenswürdige junge Mann mit erstaunten Augen, und Mrs. Hingley fand ihre Unbefangenheit und volle Gesprächigkeit wieder.

»Ach, davon haben Sie noch nicht gehört? Es ist von hier aus der zweite Stein auf der rechten Straßenseite. Er liegt mitten im Wald gleich hinter der großen Biegung. Dort sind heuer im Sommer kurz hintereinander mehrere Autos verunglückt, und die Fahrer waren alle tot. Der erste war sogar so schrecklich zugerichtet, daß man bis heute nicht herausbringen konnte, wer er eigentlich war. Die übrigen aber waren sehr reiche und angesehene Leute. Die Unfälle haben sich immer in der Nacht ereignet, und natürlich sind deshalb alle möglichen gruseligen Geschichten aufgekommen. Nach dem dritten Unglück gab es hier jeden Tag ganze Prozessionen von Neugierigen, und an einem Nachmittag haben bei uns an sechshundert Autos geparkt. — Jetzt ist aber schon seit Wochen nichts mehr geschehen, und deshalb werden auch von heute an die Leute vom Automobilklub nicht mehr Wache halten. Es wird aber trotzdem noch immer allerlei über die Sache geredet. So hat zum Beispiel eines meiner Aushilfsmädchen, das zu Hause in der nächsten Ortschaft schläft, heute früh ganz aufgeregt erzählt, daß in der letzten Nacht ein großes, gespensterhaftes Auto an ihr vorbeigesaust sei...«

»Wie sagten Sie, liebe Mrs. Hingley?« erkundigte sich der junge Mann artig, indem er sich eine Zigarette anzündete.

Die empfängliche Wirtin tastete wieder nach ihren drei Seligen und lächelte mit neckischer Verschämtheit.

»Was werden Sie sich von mir denken, daß ich so alberne Geschichten nachplappere? Natürlich glaube ich nicht ein Wort davon. Schon deshalb nicht, weil das Mädchen gesehen haben will, wie der Wagen in einen Weg eingebogen ist, auf dem kaum ein gewöhnliches Fuhrwerk weiterkommen könnte, da er schon lange Jahre nicht mehr befahren wird. Mit einem Auto müßte man sich dort den Hals brechen. Auch wüßte ich nicht, was jemand in Alderscourt zu suchen haben könnte. Es ist eine nicht mehr bewirtschaftete Farm, und die beiden Frauen, die seit einiger Zeit dort wohnen, sind wohl kaum auf Besuch eingerichtet.«

Der höfliche Mr. Duncan hörte sehr aufmerksam zu und ließ dabei den Blick über das stille Fleckchen Erde gehen, das in bunten, herbstlichen Farben prangte.

»Sie haben es hier so hübsch, liebe Mrs. Hingley, daß ich einige Tage bleiben möchte«, sagte er mit schwärmerischen Augen. »Hoffentlich haben Sie etwas frei...«

»Ob ich etwas frei habe«, versicherte die Wirtin hastig und war dabei so aufgeregt, daß sie in den energischen Baßton verfiel, den sie sonst nur vorn im »Reitenden Postillon« hören ließ. Sie erschrak sogar selbst darüber und ging sofort wieder in ein unendlich süßes Gurren über. »Ich werde Ihnen Nummer 4 herrichten lassen. Es ist das netteste Zimmer, das wir haben, mit einer wundervollen Aussicht.«

»Danke, liebe Mrs. Hingley«, sagte der junge Mann herzlich, aber seine Augen sagten noch mehr, und die bedrängte Witwe tastete mit zitternder Hand wieder einmal nach ihrem Halse. »Lassen Sie also gütigst mein Gepäck aus dem Auto schaffen. Ich werde mittlerweile einen Spaziergang unternehmen und mir die Umgebung ein bißchen ansehen. Natürlich auch den berühmten Schwarzen Meilenstein. Da es aber dabei vielleicht etwas spät werden wird, und ich die Hausordnung nicht gerne stören möchte, wollen Sie mir, bitte, auf meinem Zimmer ein kaltes Abendbrot zurechtstellen lassen.«

Mrs. Hingley erhob durch eine kurze Geste Einspruch.

»Unsere Hausordnung richtet sich nach den Wünschen unserer Gäste«, erklärte sie. »Wann immer Sie auch zurückkommen, es wird Ihnen ordentlich serviert werden. Wir sind vollkommen darauf eingerichtet. Mr. Gwynne, der bereits seit einigen Monaten bei uns wohnt, kennt überhaupt keine bestimmte Tageseinteilung. Er steht oft erst spät am Nachmittag auf und nimmt seine Mahlzeiten ganz unregelmäßig ein. Manchmal hat er sogar nach Mitternacht noch irgendeinen Wunsch. Er sagt, daß er vom Theater her gewöhnt sei, so zu leben. Er ist nämlich ein berühmter Künstler und...«

Die mitteilsame Wirtin verstummte jäh, denn an der Terrasse stolzierte ein würdevoller Mann auf etwas zu dünnen Beinen vorüber. Er hatte ein breites Kalmückengesicht mit tiefliegenden, kleinen Augen und einem vorgeschobenen viereckigen Kinn, wie es sich ein Boxer bei seinem Gegner nicht handlicher wünschen konnte.

Als er Mrs. Hingley gewahrte, winkte er ihr mit der fleischigen Hand gönnerhaft zu, ohne den neuen Gast an ihrer Seite auch nur eines Blickes zu würdigen. Von dem feschen Alf Duncan war aber in diesem Augenblick auch nicht viel zu sehen. Er hatte den Kopf tief gebeugt, die Schultern nach vorn gezogen und hockte krumm und dünn wie ein gebrochener Halm auf seinem Stuhl.

»Das war er...«, flüsterte die Witwe.

»Ja, das war er...«, flüsterte auch der junge Mann, indem er sich vorsichtig wieder aufrichtete und die erglühende Mrs. Hingley mit seinen unwiderstehlichen Augen anstrahlte.


9. Kapitel

Als die Glocke von der kleinen Ortskirche in den stillen Abend bimmelte, hielt es Dan Kaye endlich an der Zeit, sich nach James umzusehen. Er hatte mittlerweile an einem der Holztische vor der Straßenschenke einige Pint Whisky getrunken und sich wiederholt bemüht, mit dem Geschäftsführer in einen gemütlichen Plausch zu kommen. Aber der schmächtige, dunkelhaarige Mann mit den schläfrigen Augen war genau so langweilig wie er aussah. Seine Antworten klangen etwas von oben herab und sehr einsilbig, und über das Buschhaus wußte er überhaupt nichts zu sagen. Er zuckte nur kurz mit den Achseln, als der hartnäckige Dan so ganz beiläufig darauf zu sprechen kam.

Dieses alberne, aufgeblasene Getue ging Dan Kaye gewaltig auf die Nerven, und sein Aufbruch aus dem »Reitenden Postillon« gestaltete sich daher etwas unfreundlich. Er hieb die genau abgezählte Zeche kräftig auf die Tischplatte und stapfte ohne jeden Gruß breitspurig davon.

Es begann bereits stark zu dunkeln, aber der schmale Fußpfad, der nach kaum zweihundert Schritten von der Chaussee abbog, war nicht zu verfehlen. Er führte zunächst eine kurze Strecke über freies Feld und verlor sich dann in jungem Laubholz, das eine steinige Lehne hinunterlief.

Nach etwa zwanzig Minuten stand Dan Kaye an seinem Ziel, aber was er sah, bereitete ihm eine arge Enttäuschung. Er hatte sich das Heim seines ehemaligen Kameraden als ein kleines, nettes Landhaus vorgestellt und fand nun in dem Kessel eine unansehnliche, schmutzige Hütte mit einer Tür und zwei Fensterläden, die in klaffenden Angeln hingen. An die rückwärtige Front schloß sich eine niedrige Hofmauer, die ein Stück den Abhang hinauflief und dicht von Gestrüpp umwuchert war.

Das Gebäude und der ganze Platz herum waren so wüst und einsam, daß in Dan mit einem Male alle die schönen Hoffnungen dieses Tages zusammenbrachen. Hier schien alles leer und verlassen. Wenn aber James doch in diesem Stall hauste, konnte bei ihm nicht viel zu holen sein.

Kaye spuckte eine Weile kräftig nach links und rechts, um seinen inneren Menschen nach dieser argen Erschütterung wieder etwas ins Gleichgewicht zu bringen, und schlich dann unschlüssig näher. Aber nachdem er nun einmal da war, wollte er wenigstens einen Versuch machen.

Er hatte das gewisse Klopfsignal von Exeter noch nicht ganz beendet, als sich die wacklige Tür blitzschnell zu einem Spalt öffnete und eine kräftige Hand ihn in ein undurchdringliches Dunkel riß. Er vermochte nicht das geringste zu sehen, sondern fühlte nur eine Gestalt dicht vor sich.

»Was ist los?« hauchte eine Stimme ohne Farbe und Klang.

Dan war so überrascht, daß er erst eine Weile schmatzend nach Luft schnappen mußte.

»Ich bin's«, stotterte er endlich. »Dan aus Exeter. Du weißt ja... Der dir immer alles besorgt hat... Ich bin vor vier Tagen herausgekommen, und weil du gesagt hast, ich sollte mich dann bei dir melden und daß du etwas für mich tun wirst...«

»Gut«, klang es wie ein Hauch zurück. »Hier...« Dan fühlte mit großer Genugtuung, wie ihm zusammengefaltetes Papier in die Hand gedrückt wurde. »Aber nun mach, daß du fortkommst. Und zu niemandem ein Wort. Du kennst mich nicht und hast den Namen James Marwel nie gehört...«

»Aha«, tuschelte Dan verständnisvoll, aber zu mehr kam er nicht. Derselbe kräftige Arm, der ihn hereingezogen hatte, beförderte ihn wieder vor die Tür, und Kaye stolperte in seinem Schwung sogar noch ein ansehnliches Stück darüber hinaus.

Als er langsam den Hang wieder hinaufstieg, besah er sich zunächst einmal den kleinen Papierknäuel, den er krampfhaft in der Hand hielt, und ließ dann einen leisen Pfiff höchster Befriedigung hören. Er hatte sich zwar das Wiedersehen mit seinem lieben Freund etwas anders ausgemalt, aber drei Pfund waren drei Pfund. Da gab es nichts daran zu rütteln, und da konnte sich nur ein ausgemachter Schweinehund darüber das Maul zerreißen. Dieser James war unbedingt ein hochanständiger Bursche, und es konnte einem das Herz abdrücken, daß er sich schon wieder vor diesen verdammten Spürhunden verkriechen mußte.

Wenn Dan Kaye nicht so mit seinen Gedanken beschäftigt gewesen wäre, hätte er vielleicht den, schweren polternden Fall vernommen, der hinter ihm unten im Hause ertönte und die morsche Tür in ihren Fugen krachen ließ.

Der Fall kam von dem Mann, der hinter Dan abgeschlossen hatte und sich mit einem erleichterten Aufatmen umwandte.

In diesem Augenblick schlug ihm eine stickende Staubwolke ins Gesicht, und er brach mit einem dumpfen Röcheln zusammen.

Nach einigen Sekunden sprang aus dem Dunkel des schmalen Ganges ein winziger Lichtkreis, der über einen steifen Körper glitt. Dann ging ein leises Schleifen durch das totenstille Haus, irgendwo kreischten verrostete Angeln, und mit hohlem Schlag klappte eine Türe zu.


10. Kapitel

Um zur Station zu gelangen, mußte Dan Kaye wieder an dem Gasthaus vorüber, und sein Besuch bei James war so kurz verlaufen, daß noch immer für das eine oder das andere Glas Zeit blieb. Der Geschäftsführer war zwar ein aufgeblasener Affe, der nichts anderes zu tun zu haben schien, als fortwährend vor der Schenke herumzulungern, aber das Bier war gut, und er wollte dem Burschen schon zeigen, was für einen Gast er vor sich hatte.

Dan klebte daher zunächst einmal vor den schläfrigen Augen, die ihn nicht gerade freundlich empfingen, eine Pfundnote auf den Tisch und bestellte ein ausgiebiges Abendbrot, das er mit eisigem Schweigen, aber großem Appetit verzehrte. Dann entschied er sich für Pale Ale, und nach der dritten Flasche geriet er in eine so behagliche Stimmung, daß er leise vor sich hin zu summen begann. Es klang, wie wenn ein heiserer Kettenhund sich im Zwitschern versuchte, und Dan selbst empfand, daß es nicht das Richtige war. Deshalb legte er nach der fünften Flasche so frei und kräftig los, daß es wie ein wildes Dschungelkonzert in die zahme englische Landschaft schmetterte.

Kaye bildete sich nicht ein, daß seine Stimme gerade besonders schön sei, aber das lustige Lied konnte sich, so oder so, unter Männern wohl hören lassen. Es war daher gar kein Grund vorhanden, daß der lumpige Geschäftsführer sich so gewaltig aufspielte. Einen Augenblick dachte der empörte Dan daran, den Arm, der so patzig nach der Straße wies, für einige Wochen ins Schlenkern zu bringen, aber er war noch nüchtern genug, um sich die Sache zu überlegen. Mit drei Pfund in der Tasche wollte er sich wegen eines solchen albernen Laffen nicht einsperren lassen.

Er spuckte daher dem ekelhaften Kerl bloß vor die Füße, und erst im Walde nahm er einen Knüppel auf, um seiner grimmigen Wut durch kräftige Hiebe auf die Stämme am Wege gründlich Luft zu machen.

Bei dieser anregenden Beschäftigung, die er mit seinen schönsten Flüchen begleitete, fand Dan Kaye keine Zeit, auf anderes zu achten, und er erschrak daher fast ein bißchen, als er dicht neben sich eine Stimme vernahm.

»Ich habe einen Reifendefekt. Würden Sie mir bei der Auswechslung des Rades behilflich sein?«

Es war mittlerweile auf der Chaussee zwischen den hohen Kiefern so dunkel geworden, daß Dan von dem Sprecher kein deutlicheres Bild gewinnen konnte. Der mittelgroße Mann steckte in einem weiten Mantel, der ihm bis zu den Füßen reichte, und sein Gesicht war durch den breiten Schirm der Kappe in seiner ganzen oberen Hälfte verdeckt. Von der unteren Partie aber war bloß ein kurz gehaltener Bart zu sehen.

Der Wagen stand einige Schritte weiter am Straßenrand, und der eingesetzte Heber sowie die herumliegenden Werkzeuge bewiesen, daß der Fahrer sich bereits damit zu schaffen gemacht hatte.

Aber Dan war nicht in der Stimmung, jemandem gefällig zu sein.

»Ich muß zur Bahn«, erklärte er brummig. »Sonst versäume ich meinen letzten Zug zur Stadt.«

Der Fremde gab sich mit dieser kurzen Abfertigung nicht zufrieden.

»Wenn Sie mir behilflich sind, können Sie mit meinem Wagen viel rascher und bequemer in die Stadt kommen«, sagte er. »Die Montage dauert ja kaum eine Viertelstunde, aber mir ist die Arbeit etwas ungewohnt. Kennen Sie sich in der Sache ein bißchen aus?«

»Ein bißchen?« grunzte Dan lebhaft und überlegen, da die Geschichte jetzt ein ganz anderes Gesicht hatte. »Es war ja einmal mein Geschäft. Ich bin sechs Jahre gefahren, bis...«

Er verschluckte das weitere, da es völlig nebensächlich war, und machte sich auch schon mit großem Eifer und sichtlichem Geschick an die Arbeit. Daß er im Auto heimkehren und das Fahrgeld ersparen sollte, war für ihn der dritte unverhoffte Glücksfall an diesem geradezu märchenhaften Tag.

Der Fremde beschränkte sich darauf, ihm zuzusehen. Aber nach einigen Augenblicken zog er fröstelnd die Schultern hoch und begann etwas schwerfällig auf und ab zu humpeln.

»Ich bin gehörig in Schweiß geraten, und es ist empfindlich kühl hier unter den Bäumen«, sagte er. »Wenn Sie mich nicht brauchen, möchte ich ein Stück vorauslaufen. Sie könnten dann mit dem Wagen nachkommen. Sollten Sie mich nicht früher erreichen, so werde ich am Ausgang des Waldes warten.«

Dan war so beschäftigt, daß er auf den Vorschlag nur mit einem unverständlichen Murmeln und einem lebhaften Nicken antwortete, aber das genügte dem andern, um sich in Marsch zu setzen.

Nach etwa einer Viertelstunde war auch Dan Kaye fertig, und nachdem er sorgfältig das Werkzeug zusammengeklaubt hatte, besah er sich zunächst einmal den Wagen etwas näher. Es war ein älteres, aber ziemlich gut erhaltenes Ford-Modell, und Dan freute sich, daß er wieder einmal ein Steuer in die Hand bekommen sollte. Obwohl damit eigentlich das Pech in seinem Leben seinen Anfang genommen hatte. Als er wieder einmal so einen albernen Passanten auf den Kotflügel aufgeladen hatte, war ihm der Führerschein entzogen worden, und er war mit seinem sogenannten ehrlichen Beruf dagestanden...

Dan stieg mit einem gewissen feierlichen Gefühl ein, aber bevor er den Anlasser einschaltete, warf er noch einen Blick auf die Chaussee. Sie lag schnurgerade still und verlassen vor ihm. Nicht einmal der Besitzer des Wagens war mehr zu sehen, weil er wahrscheinlich bereits um die Biegung verschwunden war, hinter der dann die Straße aus dem Wald hinausführte. Dan war den Weg am Nachmittag hergetrottet und hatte ihn beiläufig in Erinnerung. Es war keine von den ekligen Kurven, die man haarscharf ausfahren mußte, sondern man konnte in aller Gemütlichkeit herumflitzen.

Und Dan Kaye tat es auch.

Vielleicht hätte er es nicht getan, und vielleicht hätte er überhaupt ganz anders gehandelt, wenn er von dem Schwarzen Meilenstein gewußt hätte. Aber der Name hatte am Vormittag in dem Haus in Bishopsgate so nichtssagend an sein Ohr geklungen, daß er am Nachmittag völlig achtlos an der düsteren Stätte vorübermarschiert war. Und daß für ihn der Unglücksstein auch jetzt keine Warnung bedeutete, da er hinter der Wegbiegung im Lichte der Scheinwerfer jäh aus dem Boden sprang...

Im nächsten Augenblick geschah es...

Dan Kaye fühlte, wie ihm das Lenkrad plötzlich irgendwie aus der Hand geschlagen wurde, aber er vermochte nichts mehr dagegen zu tun.

In der gleichen Sekunde schoß der Wagen schräg über die Straße und flog krachend und splitternd gegen die Stämme...

Der Schwarze Meilenstein hatte sein siebentes Opfer gefordert.


11. Kapitel

Mrs. Drew war arg enttäuscht, und Molly erging sich den ganzen Tag über in anzüglichen Bemerkungen über die feinen Damen, die so hochnäsig tun und doch nur bis zum Hemd anders sind, als alle anderen Frauenzimmer.

Die Veranlassung zu dieser unbehaglichen Stimmung in dem einsamen Alderscourt bildete der Gast, der sich vorläufig jeder mütterlichen und schwesterlichen Teilnahme gegenüber ablehnend verhielt.

Isabel Longden antwortete auf alle fürsorglichen Fragen nur durch die verschlossene Tür. Wenn sie aber Molly mit den Mahlzeiten einließ, zog sie sich sofort in das zweite Zimmer zurück. Im übrigen berührte sie die Speisen kaum, und alles das paßte Mrs. Drew nur bis zu einem gewissen Grade. Es war ja ganz gut und schön, wenn das Mädchen sich nicht zu viel blicken ließ, denn dann würde es keine Scherereien und keinen bösen Verdruß geben. Aber Mrs. Drew wollte wenigstens Gelegenheit haben, die lehrsamen Erinnerungen aus ihrem Leben anzubringen, die sie seit der letzten Nacht eifrig zusammengesucht hatte und bei denen so einem jungen Ding gehörig angst und bange werden mußte. Das wünschte ja der Herr, und um diese Tat der Nächstenliebe wollte sie auf keinen Fall kommen. Was aber das Essen anbelangte, so war es ja gewiß nicht notwendig, daß die Miss die Schüsseln mit den guten Dingen, die der Herr eigens herausgebracht hatte, blitzblank putzte, weil man ja unten auch etwas davon haben wollte. Wenn aber dieses Herumstochern auf den Tellern etwa heißen sollte, daß es der Miss nicht schmeckte, so wollte sie ihr deutlich zu verstehen geben, daß sie schon für viel feinere Herrschaften zu deren vollster Zufriedenheit gekocht hatte.

Isabel Longden hatte kein Auge und keinen Gedanken für ihre neue Umgebung, denn sie stand seit vierundzwanzig Stunden im Banne einer Schuld, unter der sie völlig zusammengebrochen war. Ein verhängnisvoller Augenblick hatte ihr sonniges Leben jäh zerstört und sie zur Beute reuevoller Verzweiflung werden lassen.

Und das Furchtbare, das sie durchlebte, erschütterte sie doppelt, weil sie es allein und ohne jeden Rat und Zuspruch tragen mußte. Der einzige Mensch, der ihr nahe stand, eine mütterliche Freundin, weilte Tausende von Meilen entfernt, und selbst, wenn es noch einen Zweck gehabt hätte, durfte sie diese nicht zu Hilfe rufen. Nur in ihrem ersten Entsetzen war Isabel auf diesen Gedanken verfallen, hatte ihn aber sofort wieder aufgegeben. Mrs. Symington war eine kranke Frau, und die Aufregung konnte ihr den Tod bringen. Schon die gemeinsame Reise hatten ihr ja die Ärzte untersagt und nur so konnte das Schreckliche geschehen...

Seit Jahren hatte sie mit Mrs. Symington, in deren Hause sie nach dem frühen Tode ihrer Eltern ein liebevolles Heim gefunden, für ihren zwanzigsten Geburtstag den großen Bummel durch die alte Welt geplant und nach und nach sogar auch schon in allen Einzelheiten festgelegt. Plötzlich aber sollte dieser herrliche Traum in Nichts zerrinnen, Mrs. Symington selbst durfte nicht reisen und wollte ihren Schützling auch niemandem anvertrauen.

Isabel wurde dieser Verzicht so schwer, daß sie sich zum ersten Male in ihrem Leben nicht willig fügte. Sie bat und schmollte, sie verwies auf ihre Gereiftheit und Selbständigkeit, bis der Widerstand der besorgten Frau endlich gebrochen war.

Und dann waren für Isabel Longden Tage, Wochen und Monate von immer neuen unvergänglichen Eindrücken gekommen. Sie hatte mit ihrem Wagen Frankreich, Spanien, die Riviera und Italien durchstreift, hatte die Alpen, die Donau und den Rhein gesehen und war schließlich in Paris gelandet.

Und während dieses ganzen weiten Weges war sie überall mit der Sicherheit einer erfahrenen Weltreisenden aufgetreten. Die vielen Empfehlungen, mit denen sie ausgestattet worden war, ruhten noch heute in ihren Koffern, denn sie wollte frei von allen gesellschaftlichen Verpflichtungen bleiben und sich allein durchschlagen. Nur bei dem Ankauf von Kunstgegenständen, für die sie ein kleines Vermögen ausgeworfen hatte, ließ sie sich gerne an die Hand gehen. In Paris hatte ihr dabei ein Landsmann, in dessen kleinen Laden sie durch Zufall geraten war, gute Dienste geleistet, und von ihm war ihr auch einer seiner Geschäftsfreunde in London empfohlen worden.

Aber alle Erinnerungen an diese wundervolle Zeit waren nun in Isabel mit einem Schlage erloschen, um einer verzweifelten Hoffnungslosigkeit Platz zu machen. Seit dem gestrigen Abend hatte sie nur mehr ein grauenvolles Bild vor Augen, das sie nicht losließ und ihre Gedanken ohne Unterlaß durch eine peinvolle Hölle hetzte.

Wenn sie in jenem furchtbaren Augenblick allein gewesen wäre, hätten wohl ihre Kräfte versagt, und je mehr sie grübelte, desto sehnlicher wünschte sie, daß es so gewesen wäre. Sie wußte nur, daß sie unverantwortlich gehandelt hatte, aber das Entsetzen und die Furcht hatten sie willenlos und blindlings gejagt und in eine Sackgasse getrieben, aus der sie nun keinen Ausweg sah.

Wo befand sie sich? Wer war der Mann, der ihr Zuflucht gewährt hatte? Wie lange sollte das dauern? Und was war damit gewonnen? Das Schreckliche konnte ja nicht mehr ungeschehen gemacht werden...

Nein, es konnte nie mehr ungeschehen gemacht werden...

Isabel starrte mit trockenen, fiebrigen Augen in die Nacht, die langsam heraufzog und ihr statt eines erlösenden Schlafes neue Qualen bringen würde. Wenn wenigstens eine kurze Nachricht von der Außenwelt zu ihr gedrungen wäre. Man hatte ihr versprochen, sie wissen zu lassen, wie es stand, aber heute würde sie wohl nichts mehr hören...

An der düsteren Hofmauer flitzte ein behender Schatten hin, und um das Haus kreiste ein ergrimmtes heiseres Bellen.

Das junge Mädchen schauerte erschreckt zusammen, und unten schlug Mrs. Drew mit der fettigen Hand erbost auf den Tisch.

»Verdammter Höllenracker«, knurrte sie mit vollem Munde. »Er ist auf einmal außer Rand und Band. In der vergangenen Nacht hat er mich dreimal aufgeweckt. Wahrscheinlich wittert er, daß jemand Fremdes im Hause ist. Das kann gut werden... Aber ich werde ihm die Hühnerknochen geben. Hoffentlich bleibt ihm einer im Halse stecken, und er erstickt daran.«

Der Köter schlang sehr gierig, aber er erstickte nicht, sondern trieb es nach einigen Minuten noch ärger als zuvor. Die Gestalt jenseits der Mauer mochte es noch so behutsam anstellen, der Bastard bekam sofort Wind und folgte ihrem Wege innen mit geiferndem Wutgeheul.


12. Kapitel

Da war vorläufig nichts zu machen, und der Mann schlug sich daher hinter einen etwas entfernteren Busch, um dem aufgeregten Vieh aus der Nase zu kommen.

Es verstummte auch nach einer Weile, schlug jedoch plötzlich von neuem an. Die Laute klangen aber diesmal nicht so gereizt und bösartig und mußten eine andere Ursache haben, Der Mann in dem Gebüsch hob lauschend den Kopf und spähte durch die deckenden Zweige. Vielleicht ergab sich für ihn doch noch eine Gelegenheit, einen Blick in das Gehöft zu tun, ohne daß man durch das Treiben des Hundes auf ihn aufmerksam wurde.

Die Umfassungsmauer an sich bildete kein besonderes Hindernis, obwohl sie dicht mit Glasscherben und anderen tückischen Dingen gespickt war. Dieses Alderscourt sah fast wie eine kleine Festung aus, und die mächtigen Tore in dem steinernen Wall erhöhten diesen Eindruck. Durch diese breiten Pforten waren einst die schweren Wirtschaftswagen direkt in die Scheunen und Remisen gefahren, die den ganzen Hof umschlossen, aber heute waren die Schwellen dicht mit Gras und allerlei Unkraut verwachsen.

An dem nächsten der dunklen Tore zeichnete sich plötzlich ein noch dunklerer Schatten ab, der aus dem Boden gewachsen zu sein schien, und der Beobachter wand sich blitzschnell und lautlos aus seinem Versteck. Während keine zwanzig Schritte von ihm ein Vorhängeschloß klapperte, tat er, tief gebückt, einige katzenartige Sprünge, und als die kleine Tür in dem einen Torflügel aufging, hätte er den Fuß des Mannes fassen können, der diesen ungewöhnlichen Eingang nach Alderscourt wählte.

Der Ankömmling fühlte sich aber offenbar vollkommen sicher. Er schloß die Tür von innen lediglich durch einen Holzpflock und gab sich auch keine sonderliche Mühe, seine Schritte zu dämpfen. Man konnte deutlich verfolgen, wie er sich auf dem harten Boden entfernte.

Die Schritte waren für den zweiten Mann, dem der einfache Pflock keine Schwierigkeiten bereitet hatte, ein willkommener Wegweiser. Er blendete das Licht seiner starken Taschenlampe zu einer winzigen Scheibe ab und suchte sich nur den Weg einzuprägen, auf dem er dem andern nacheilte: Zuerst eine Tenne, dann nach links durch eine ehemalige Geschirrkammer und jetzt wieder durch eine Scheune. Nun abermals nach links durch einen langgestreckten Stall in einen Holzschuppen, in dem noch vermorschte Hackstöcke herumstanden.

In dem nächsten Raume wurde eben ein Schlüssel gedreht, und der Verfolger verharrte einige Augenblicke regungslos. Vielleicht war sein Unternehmen doch vergeblich gewesen. Wenn der Mann hinter sich abschloß, mußte er unverrichteterdinge wieder umkehren, denn mit einem richtigen Schloß vermochte er ohne entsprechendes Werkzeug nicht fertig zu werden. Und wenn auch die Türen zwischen den einzelnen Wirtschaftsräumen offenbar schon längst verfeuert waren, die Tore nach dem Hofe schienen noch sehr widerstandsfähig zu sein.

Aber es ging auch weiterhin über Erwarten gut, und als der Eindringling sich behutsam durch die nächste Maueröffnung schob, hatte er sogar einen Erfolg, der allein schon seinen abenteuerlichen Einfall lohnte. Der große graue Wagen, der hier stand und noch alle Spuren einer wilden Fahrt aufwies, gab ihm die Gewißheit, auf der richtigen Spur zu sein.

Er wollte sie nun unbedingt verfolgen, so weit es ging, und suchte in der Remise nach der Tür, die vorhin aufgeschlossen worden war. Sie gab ohne weiteres nach. Offenbar wollte der erste Mann hier in kurzer Zeit seinen Rückweg nehmen und sich dabei nicht lange aufhalten. Aber dann würde er wohl wieder hinter sich abschließen, und es hieß daher für den, der ihm folgte, sich nach einem andern Ausgang ins Freie umzusehen, falls er zu spät kommen sollte.

Die kleine Tür führte in eine Art gedeckten Gang, der im rechten Winkel abbog und an dem einen Ende etwa in Manneshöhe eine Luke aufwies, durch die ein Stück des nächtlichen Himmels zu sehen war. Sie mußte sich also in der Umfassungsmauer befinden, und die Reise schien um den halben Hof herumgegangen zu sein.

Am andern Ende des Ganges gab es wieder eine Tür, in der ein mächtiger Schlüssel steckte, und daneben führte eine schmale hölzerne Treppe empor.

Der Mann aus dem Gebüsch entschied sich für den unteren Weg, aber die Tür war versperrt, und als er den Schlüssel drehte, kreischte das verrostete Schloß schrill auf.

Glücklicherweise ging das fatale Geräusch in dem Höllenspektakel unter, den der Köter auf dem Hofe seit einer Viertelstunde wieder veranstaltete. Er schoß wie toll umher, sprang an den Wirtschaftsgebäuden in die Höhe und gab so furchtbare Laute von sich, als ob eine ganze Menagerie in einer wilden Balgerei begriffen wäre.


13. Kapitel

Der Herr von Alderscourt fand dieses Gehabe schließlich auffällig, und hinter der dicken Portiere wurde unruhig ein Stuhl gerückt.

»Zum Teufel, was hat denn das Tier?« fragte die krächzende Stimme mißtrauisch.

Mrs. Drew saß mit ihrer Laterne wieder im Nebenzimmer und schnaufte und schwitzte.

»Die Fremde, Sir«, erklärte sie eifrig. »Wenn sie heruntergekommen wäre und er sie hätte abschnuppern können, wäre er sicher schon längst ruhig. Aber sie zeigt sich ja nicht und spricht auch nicht ein Wort mit unsereinem. Wie soll ich da dazukommen...«

Mrs. Drew wollte sich ihren Kummer von der Seele reden, aber der Herr schnitt ihr kurz den Faden ab.

»Glauben Sie, daß die Dame noch auf ist?«

»Sicher ist sie noch auf. Als ich heraufkam, habe ich sie ganz deutlich auf und ab gehen hören.«

»Dann bringen Sie sie herüber. Sobald sie hier ist, verschwinden Sie schleunigst. Wenn ich Sie wieder brauche, werde ich klingeln.«

Die Frau setzte sich bereits mit dem Geräusch einer schweren Maschine in Bewegung und schlürfte geschäftig über den Gang zu Isabels Tür, wo sie ihre Botschaft keuchend hervortuschelte...

Diesmal öffnete Isabel Longden ohne weiteres und trat über die Schwelle. Sie war so erregt, daß sie genau so willig gehorchte, wie sie am gestrigen Abend gehorcht hatte. Nicht einmal die Berührung der plumpen, feuchten Hand, die nach der ihren faßte, wehrte sie ab. Sie ließ sich widerstandslos durch den stockdunklen Gang ziehen, und erst als sie allein in dem düsteren Raum vor der flackernden Laterne saß, und die unangenehme Stimme ertönte, schrak sie zusammen.

Die ersten Worte klangen an ihrem Ohr vorbei, aber nach einigen Sekunden war sie soweit, den Sinn dessen, was sie hörte, fassen zu können.

»Ich will Ihnen offen sagen, Miss Longden, daß ich Sie hier nicht gerne aufgenommen habe, denn die Sache kann schlimm ausfallen. Aber ich bin dem Mann, der mich darum gebeten hat, verpflichtet, und er hat mir versprochen, daß ich auf keinen Fall hineingezogen werde.«

Das klang so bedenklich, daß Isabel für einen Augenblick der Herzschlag stockte. Aber noch beklemmender als die Gefahr, empfand sie die Ungewißheit über etwas anderes.

»Ist das Schlimmste geschehen?« kam es stoßweise und tonlos über ihre Lippen.

»Ja«, erklärte der Unsichtbare nach kurzem Zögern, und das junge Mädchen barg mit einem verzweifelten Wehlaut das Gesicht in den Händen. »Das erschwert natürlich den Fall, denn es hat sehr viel Lärm gegeben. Aber unser Freund will trotzdem alles versuchen. Es wird nun davon abhängen, wie sich die Leute zu seinen Vorschlägen stellen. Gehen sie darauf ein, so kann Ihnen durch ihre Aussagen das Ärgste erspart werden. Aber ich fürchte, man wird so unverschämte Forderungen stellen, daß sich darüber nicht reden läßt.«

Isabel nahm die Bemerkung mit fieberhafter Lebhaftigkeit auf.

»Geld? Meinen Sie Geld? — Oh, bitte, geben Sie ihnen, was immer sie auch verlangen. Darauf kommt es ja nicht an. Ich würde gerne alles opfern, wenn...«

Das Weitere ging in einem neuerlichen krampfhaften Aufschluchzen unter, und die Fassungslosigkeit des jungen Mädchens schien sogar auf den Herrn von Alderscourt Eindruck zu machen. Er räusperte sich, und dann klang seine Stimme plötzlich viel sanfter und teilnahmsvoller als bisher.

»Nun, nun, beruhigen Sie sich, Miss Longden«, sagte er. »Wenn es Ihnen auf Geld nicht ankommt, wird sich ja das Schlimmste vielleicht doch noch irgendwie abwenden lassen. Aber dann muß rasch gehandelt werden, damit die Leute keine allzu klaren und bestimmten Aussagen machen und damit etwas Zeit gewonnen wird. Mittlerweile können Sie England rasch verlassen. Unsere Gesetze sind in diesen Dingen sehr streng, und Gott behüte Sie davor, daß Sie das zu spüren bekommen. — Über welchen Betrag können Sie also sofort und ohne besondere Umständlichkeiten verfügen?«

Die geschäftsmäßige Frage kam ganz unvermittelt, brachte aber das junge Mädchen wieder etwas ins Gleichgewicht.

»Ich habe in London noch einen Kredit von ungefähr fünfzehntausend Dollar. Wenn das aber nicht genügen sollte...«

»Fünfzehntausend Dollar...«, wiederholte der Mann nebenan überlegend. »Nun, wir werden ja sehen. Das ist für diese Leute gewiß sündhaft viel Geld, aber Sie können sich wohl denken, daß sie trachten werden, die Gelegenheit auszunützen. Bereiten Sie aber jedenfalls einen Scheck auf diese Summe vor, und ich werde unseren Freund wissen lassen, daß er bis zu diesem Betrage gehen darf. Vielleicht hören Sie dann schon in zwei oder drei Tagen weiteres.«

Damit war Isabel Longden entlassen, und fügsam, wie auf dem Herwege, überließ sie der prustenden Mrs. Drew abermals die Hand, um sich durch den stockdunklen Korridor wieder zu ihren Zimmern ziehen zu lassen. Dort aber machte sie sich durch eine rasche Bewegung frei und schlug der enttäuschten Frau die Tür vor der Nase zu. Dann schob sie den Riegel vor und trat zum Fenster, um wieder in die Nacht zu starren...

Die Unterredung hatte ihre letzte schwache Hoffnung zerstört. Was sie bekümmerte, war nicht mehr ihre Sicherheit, sondern die furchtbare Schuld, die auf ihr lastete, und die durch nichts wieder gutgemacht werden konnte. Sie würde sie durch ihr ganzes Leben verfolgen, ihr jede Stunde vergällen, weil sie alle Tage und Nachte das erschütternde Bild vor Augen haben würde...

Wie es sich eben jetzt wieder draußen im Dunkel formte...

Isabel wandte sich fluchtartig ab, um nach dem ersten Schritt wie versteinert haltzumachen...

In der Mitte des Zimmers stand ein Mann, und so spärlich die Beleuchtung auch war, sie erkannte ihn sofort wieder.


14. Kapitel

Isabel Longden verriet weder Schreck noch Furcht oder Entrüstung. Und sie machte auch keine Miene, sich gegen diese Überrumpelung zur Wehr zu setzen. Gegen das, was geschehen war, war alles, was noch geschehen mochte, bedeutungslos.

Das plötzliche Auftauchen des Mannes überraschte sie bloß, weil sie sich nicht erklären konnte, wie er ihre Spur gefunden hatte und wie es ihm gelungen war, bis hierher zu dringen.

Alf Duncan las diese Fragen in den verwundert geweiteten braunen Augen, die unverwandt an ihm hingen, und er lächelte so unbefangen zurück, als ob sein Hiersein die selbstverständlichste Sache von der Welt wäre.

»Ja«, flüsterte er mit einem warnenden Blick nach der Tür, »es war etwas umständlich, aber ich hatte Glück. Besonders, daß Sie Ihre Zimmertür offen gelassen hatten, kam mir sehr gelegen. In Zukunft dürfen Sie das aber nicht mehr tun, Miss Longden.«

»Wollen Sie mir kurz sagen, was Ihr Eindringen zu bedeuten hat?« Über Isabel war eine starre Ruhe gekommen, und sie hatte sich so in der Gewalt, daß sie ebenso gedämpft sprach wie er. »Es ist so ungewöhnlich, daß...«

Duncan hob leicht die Hand, mit der er kritisch an seiner etwas mitgenommenen Eleganz herumgestäubt hatte.

»Nicht ungewöhnlicher als Ihr Hiersein, Miss Longden, glauben Sie mir«, erwiderte er unverfroren. »Und eins hängt mit dem andern zusammen. Weil Sie auf dieses Alderscourt verfallen sind, wollte ich mich hier auch ein bißchen umsehen. — Ich dachte mir nämlich, daß ich Ihnen vielleicht irgendwie behilflich sein könnte.«

Sie sah ihn einen Augenblick betroffen an, dann aber erschien in ihrem feinen Gesicht, das über Nacht blaß und schmal geworden war, ein verächtlicher Zug.

»Danke, ich bedarf keiner Hilfe«, sagte sie kalt. »Es ist mir völlig unverständlich, wie Sie auf diesen Einfall kommen konnten. Auch hätte ich es nie für möglich gehalten, daß Sie die Aufmerksamkeit, die Sie mir bereits in Paris und dann in London schenkten, je soweit treiben würden. — Ich hielt Sie für einen Gentleman...

Der junge Mann räusperte sich.

»Gentleman ist etwas viel gesagt, Miss Longden«, meinte er bescheiden, »aber das mit der Aufmerksamkeit stimmt. Und ich bedauere nun aufrichtig, daß ich nicht schon damals auf den Einfall gekommen bin, Ihnen einen Besuch abzustatten. Erstens hätte ich zu einer schicklicheren Stunde und in tadelloser Verfassung bei Ihnen erscheinen können, und zweitens wäre Ihnen dann wohl der Aufenthalt in diesem schauderhaften Rattennest erspart geblieben.«

Der bestimmte Ton seiner letzten Worte ließ Isabel aufschrecken.

»Was wissen Sie davon?« stieß sie hervor. »Haben Sie mir die ganze Zeit über nachspioniert? — Stehen Sie — mit der Polizei in Verbindung?«

Mr. Alf Duncan schnitt eine säuerliche Grimasse.

»Ja«, gab er nach einigem Zögern zu, »ich stehe mit der Polizei in Verbindung. Das bringt jedoch nur mich zuweilen in Ungelegenheiten. Ich sage Ihnen das ganz offen, damit Sie nicht das Vertrauen verlieren, wenn Sie von mir eines Tages ganz schreckliche Dinge hören oder auch sehen sollten. — Was aber Ihre Sache betrifft, so weiß ich darüber vielleicht etwas mehr, als Sie wissen, und deshalb bin ich gekommen. — Haben Sie eine Waffe bei sich?«

Isabel war von dem, was der korrekte, junge Mann mit solcher Leichtigkeit durcheinander plauderte, so verwirrt und bestürzt, daß sie kein Wort hervorzubringen vermochte. Sie schüttelte nur mit einem ängstlichen Blick den Kopf.

»Sehen Sie«, sagte Duncan befriedigt, indem er die Hand in die Tasche versenkte, »ich kann Ihnen also doch dienlich sein.« Er prüfte sorgfältig, ob der Browning gesichert sei, und legte ihn dann auf den Tisch. »So ein Ding ist für einen Aufenthalt in einem einsamen Landhaus wichtiger als eine Zahnbürste«, erklärte er dabei harmlos, »und ich bin überzeugt, daß Sie damit umzugehen wissen. Machen Sie auch ohne weiteres davon Gebrauch, wenn Sie in irgendeinem Augenblick wünschen sollten, so etwas bei der Hand zu haben. — Und auf keinen Fall, Miss Longden« — die Stimme des jungen Mannes wurde so eindringlich, daß es fast wie ein Befehl klang — »lassen Sie sich in den nächsten Tagen bewegen, mit Ihrem Wagen noch einmal den Weg zu nehmen, den Sie gekommen sind. Wenn Sie aber irgend jemand dazu zwingen sollte, so jagen Sie ihm ohne Bedenken eine Kugel in den eigensinnigen Kopf. Im übrigen werde ich mich schon selbst darum kümmern, was hier vorgeht. — So, das wäre alles. Und nun entschuldigen Sie, bitte — in fünf Minuten können Sie wieder anzünden.«

Alf Duncan machte einen raschen Schritt zum Tisch, die Lampe blakte auf, und im nächsten Augenblick lag das Zimmer in tiefem Dunkel.


15. Kapitel

Dan Kaye war im Leben ein schlichter, bescheidener Mann gewesen und hatte sich gewiß nie träumen lassen, daß sein Scheiden aus dieser Welt einmal so gewaltigen Lärm verursachen würde.

Noch vor Mitternacht war das neue Unglück beim Schwarzen Meilenstein von einem heimkehrenden Bahnbeamten entdeckt worden, und die Londoner Morgenblätter ergingen sich darüber bereits in großer Aufmachung und in Andeutungen, die die allgemeine Ratlosigkeit und Nervosität widerspiegelten.

Miss Reid gellte auf ihrem Weg zum Büro die Sensation wie ein Pistolenschuß in die Ohren, und sie riß dem vor Eifer völlig heiseren Zeitungsjungen seine Blätter ungestüm aus der Hand.

Was war da draußen geschehen?

Für sie hatte diese Frage eine weit schwerer wiegende Bedeutung als für die übrigen Tausende, die sich auf die Nachrichten stürzten.

Sie war ärgerlich, aber auch etwas beunruhigt erst in der letzten Minute von daheim weggegangen, weil Charles Barres nicht gekommen war, und nun empfand sie plötzlich eine lähmende Furcht, daß sie vielleicht in den nächsten Augenblicken einen entsetzlichen Grund für sein Ausbleiben erfahren würde.

Ihre Erregung war so groß, daß sie lange Minuten nicht den Mut fand, in die Zeitungen zu blicken. Endlich begann sie, mit verkniffenen Augen scheu die fetten Titelzeilen zu überfliegen, und je weiter sie kam, desto mehr atmete sie auf.

Aber ganz wollte ihre Sorge selbst dann nicht weichen, als sie sämtliche Berichte mit fieberhaftem Interesse von der ersten bis zur letzten Zeile gelesen hatte. Sie lauteten alle so ziemlich gleich und enthielten infolge der Kürze der Zeit nur wenig an Einzelheiten. Um diese aber ging es für sie.

Was hatte sich ereignet, daß der Schwarze Meilenstein plötzlich wieder in Tätigkeit getreten war, und wieviel würde darüber bekannt werden? War Charles irgendwie darin verwickelt? War das der Grund, weshalb er sich nicht meldete?

Sie begrüßte es, daß ihr Chef wie gewöhnlich auf sich warten ließ, denn es war möglich, daß Charles sich bloß aus einem bedeutungslosen Grund verspätet hatte und sie vielleicht nun im Kontor anrief.

Aber der Anruf kam nicht, und als sie endlich selbst einen Versuch machte, bekam sie aus der unheimlich stillen Wohnung lediglich das Schrillen der Klingel zur Antwort.

Plötzlich aber erinnerte sie sich in irgendeinem losen Zusammenhang an die Abreise der jungen Amerikanerin, und ihre Befürchtungen nahmen mit einem Mal eine andere Richtung. Stand das völlig unerklärliche Verhalten Charles' etwa damit in Verbindung? — Sie traute ihrem Verbündeten nur bis zu einer gewissen Grenze, und schon die erste Mitteilung von dem plötzlichen Verschwinden Miss Longdens hatte sie mißtrauisch gemacht. Sie wäre dieser Sache auch schon gestern noch energischer nachgegangen, wenn nicht Dan Kayes Besuch in Blackfield sie so beschäftigt hätte. — Hatte Charles ein falsches Spiel getrieben? Oder hatte der verschlagene Fielder Wind bekommen und einen tückischen Gegenzug getan?

Je mehr die kluge Frau grübelte, desto mehr Fragen drängten sich ihr auf, aber sie wußte auf keine eine Antwort zu finden. Und sie mußte sich sagen, daß die Rätsel um sie, denen sie bereits viele Monate opferte, immer zahlreicher statt weniger wurden: Erst war es nur das Geschäft gewesen, dann war die Sache mit James Marwel und dem Schwarzen Meilenstein dazu gekommen, und nun schien eine weitere geheimnisvolle Entwicklung in der Luft zu liegen.

Es ging bereits gegen Mittag, als Mr. Fielder sich endlich einstellte. Miss Reid empfing ihn mit einem blitzschnellen forschenden Blick, aber der kleine Mann mit dem schwammigen, grauen Gesicht zeigte nur Sorge um die Kiste, die sein Chauffeur hinter ihm dreinschleppte.

»Warten Sie draußen beim Wagen, bis wir fertig sind«, befahl Fielder. »Ich werde die Sendung gleich weiterexpedieren. — Die Papiere haben Sie wohl vorbereitet, Miss Reid?« wandte er sich an diese und begann sofort den Inhalt des Kollis einer oberflächlichen Besichtigung zu unterziehen. Es waren zumeist Keramiken und Gläser, für die Miss Reid sonst immer ein besonderes Interesse gezeigt hatte, weil sie das eigentliche Geschäftsgeheimnis der »Kunsthandlung« Guy Fielder bergen mußten. Jede Woche kamen zwei bis drei solcher Sendungen von dem rührigen Agenten aus Paris und gingen sofort an die Kundschaft weiter.

Miss Reid besaß keinerlei Kunstverständnis und wunderte sich, daß dieser bescheidene Handel so blühen und so viel abwerfen konnte. Er hatte seit ihrem Eintritt von Monat zu Monat zugenommen, und zu den Abnehmern in Kanada waren später auch solche in Polen und auf dem Balkan gekommen. Erst in der allerletzten Zeit flaute das Geschäft plötzlich ab, und es gab sogar fast täglich telegrafische Stornierungen. Über die Lieferungen wurden ordnungsmäßige Fakturen auf recht ansehnliche Summen ausgestellt, aber so oft sie die Eintragungen in die Bücher vornahm, sagte sie sich, daß sie irgendwelche Hausnummern schrieb.

Mr. Fielder hatte die Überprüfung beendet und machte sich daran, die Kiste wieder eigenhändig zuzunageln. Es war eine ziemlich lärmende Arbeit, denn die zerbrechliche Ware erforderte ein widerstandsfähiges Holz, und Miss Reid hatte heute ihre Nerven so wenig in der Gewalt, daß sie unter jedem Schlag zusammenzuckte. Endlich vermochte sie nicht länger an sich zu halten.

»Haben Sie die Morgenblätter gelesen?« fragte sie. »Der Mann, der gestern bei uns nach James Marwel fragte, ist heute nacht beim Schwarzen Meilenstein umgekommen...«

Ihre Mitteilung klang so scharf und herausfordernd, daß ihr Chef den eben erhobenen Hammer jäh sinken ließ und betroffen den bläulichen Mund aufsperrte.

»Wie...? Der Mann, sagten Sie, der...«

Miss Reid griff nach den Blättern, und auch in der Art, wie sie diese dem ausdruckslos glotzenden Mann zuschob, lag wieder etwas Feindseliges.

Aber Fielder achtete nicht darauf, sondern vertiefte sich sofort wißbegierig in die Nachrichten. Er las minutenlang mit starren Augen und gespitzten Lippen, und dann schüttelte er den Kopf.

»Seltsam, sehr, seltsam...«, murmelte er, indem er die Zeitung mit pedantischer Sorgfalt zusammenfaltete, und mit dieser seiner häufig gebrauchten Redensart glaubte er offenbar, genug gesagt zu haben, denn er faßte bereits wieder nach dem Hammer.

Aber Miss Reid war mittlerweile zu einem Entschluß gekommen. Es war Mittag geworden, und Charles hatte sich noch immer nicht gemeldet. Sie mußte sich Gewißheit verschaffen.

»Eigentlich möchte ich mir diesen Schwarzen Meilenstein nun einmal ansehen«, sagte sie so unbefangen, wie ihr dies möglich war. »Sie erinnern sich wohl, daß ich noch einige Tage Urlaub habe, und ich könnte diese bei dem augenblicklich schönen Wetter ausnützen. Wenn Sie also nichts dagegen haben...«

Noch eifriger und zuvorkommender als durch seine Worte, gab Mr. Fielder durch die rasche verbindliche Handbewegung zu verstehen, daß er gar nichts dagegen hatte.

»Sie haben ganz recht«, fügte er überlegend hinzu, »das muß man wohl gesehen haben. Wann wollen Sie fahren? Noch heute? Gewiß. — Und wenn Sie mir bis — sagen wir — drei Uhr Zeit lassen, bringe ich Sie mit meinem Wagen hinaus. Ich bin selbst begierig, die schreckliche Unglücksstelle kennenzulernen.«

Das war mehr, als Miss Reid erwartet hatte, und es schien ihr fast zu viel.


16. Kapitel

Auf Anordnung eines umsichtigen Polizeiorgans hatte man die Chaussee noch im Lauf der Nacht zu beiden Seiten des Schwarzen Meilensteins abgeriegelt, und der Schauplatz der Katastrophe war daher diesmal völlig unberührt geblieben.

Aber so deutlich sich auch aus den vorhandenen Spuren erkennen ließ, wie der Vorgang sich abgespielt hatte, über seine Ursache konnte man sich auch diesmal wieder nicht klar werden. Die Vorderräder des Wagens hatten ganz plötzlich eine Drehung vollführt, und dann war der Wagen schief über die Straße gerast. Der Schnitt war genau zehn Schritte lang und wie mit einem Lineal gezogen. Der Fahrer hatte nicht den geringsten Versuch gemacht, das Unheil abzuwenden.

Die etwas verstörten Herren vom Automobilklub, die mit einem großen Stab von Sachverständigen erschienen waren, schüttelten ratlos die Köpfe. Der neue Fall war doppelt peinlich, weil er sich in der ersten Nacht nach der Auflassung des Sicherheitspostens ereignet hatte. Das mochte gewiß nur ein fataler Zufall sein, war aber geeignet, über den Schwarzen Meilenstein noch wildere Gerüchte aufleben zu lassen. Nur eine bestimmte sachliche Erklärung für den Unfall vermochte diesmal eine Panik zu verhindern.

Einer der Herren glaubte sie endlich gefunden zu haben, als er jedoch seine Ansicht äußerte, wurde sie sehr kühl aufgenommen. Sie konnte ja zutreffen, aber man versprach sich von ihr keinen Eindruck auf die Öffentlichkeit.

»Entweder hat der Mann geschlafen«, sagte er nämlich, »oder er war betrunken. Wach und nüchtern bringt kein Mensch dieses Kunststück zustande.«

Seine Worte waren vor allem für den Chefinspektor Perkins von Scotland Yard bestimmt, der breitbeinig und schweigsam in der lebhaft diskutierenden Gruppe stand. Damit hätte man sich abfinden können, aber der Mann schien sich über die allgemeine Ratlosigkeit lustig zu machen. Auf seinem knochigen, ledernen Gesicht lag ein Grinsen, das geradezu beleidigend wirkte.

Perkins feixte noch mehr und schob seine kalte Shagpfeife von einem Mundwinkel in den anderen, was ein weiter Weg war.

»Ja«, meinte er, »das kann stimmen. Dan Kaye war nie ganz nüchtern, und als das Fahren sein Geschäft war, hat er noch ganz andere Dinge als Bäume mitgenommen.«

Dann versank er wieder in sein Schweigen, um sich weiter das durch den Kopf gehen zu lassen, was ihn vor allem interessierte.

Der neuerliche Unfall bei dem berüchtigten Schwarzen Meilenstein hätte Scotland Yard nicht in Bewegung gesetzt, wenn es diesmal nicht Dan Kaye gewesen wäre, der daran hatte glauben müssen. Daß so ein alter Kunde nächtlicherweile mit einem Auto spazieren fuhr, gab der Sache einen kriminellen Anstrich, und man mußte sich wohl etwas darum kümmern.

Noch immer wäre jedoch Chefinspektor Perkins kaum selbst gekommen, wenn ihm nicht beim Eingang der ersten Meldung blitzartig eingefallen wäre, daß er gerade eine Nacht vorher einem gewissen Jemand vor einem Hotel am Strand eine kurze Erklärung über diese verrufene Gegend gegeben hatte.

Zum Teufel, was lag da in der Luft?

Noch vor Tagesanbruch war er mit seinem kleinen Wagen nach Blackfield hinausgeflitzt, als fürchtete er, zu spät zu kommen, und nun freute er sich über seine Eile. Der Fall sah wirklich nach etwas aus, obwohl es nicht gerade besonders viel war, was er bisher darüber wußte. Nur einen abgegriffenen Zettel hatte er aus dem überraschend ansehnlichen Nachlaß Dan Kayes an sich genommen, und dann stand fest, daß der Mann mit der Bahn gekommen und auch wieder in der Richtung zur Station abmarschiert war. — »In stark angeheitertem Zustande«, wie der übernächtige Geschäftsführer des Golfhotels angegeben hatte.

Das waren erwiesene Tatsachen. Die nächste Tatsache aber war, daß derselbe Mann sich eine halbe Stunde später und etwa eine Meile weiter mit einem Auto den Hals gebrochen hatte. Es ging also darum, wie er in dieser kurzen Zeit zu dem Wagen gekommen war. Die Trümmer, die zwischen den Bäumen lagen, ließen darüber keinen Schluß zu. Perkins hatte sie sich bereits sehr gründlich angesehen, aber da die ergebnislose Debatte auf der Chaussee allmählich langweilig wurde, schlenderte er nun nochmals zu der Stelle.

Das Auto war mit voller Geschwindigkeit zwischen die Stämme hineingefahren, und weder von dem Gestell noch von der Karosserie war ein ganzes Stück übrig geblieben. Der Chefinspektor nahm einen Ast auf und stocherte damit eine Weile in dem wirren Haufen von angekohltem Holz und verbogenem Eisen herum,, dann winkte er dem Sergeanten des Bezirks, der auf der Straße Ordnung hielt. Es war ein noch ziemlich junger Mann mit einem sommersprossigen Gesicht und einem Heidenrespekt vor Scotland Yard. Er kam mit Riesensätzen angesprungen, und Perkins deutete auf die Überreste.

»Was geschieht damit?«

»Das werden wir abschleppen lassen, wenn sich niemand meldet«, erklärte der Sergeant eifrig. »Im Spritzenhaus von Blackfield ist von den früheren Unfällen bereits eine ganze Menge, obwohl sehr viel davon schon gestohlen wurde. Und einige Male sind die Wagen überhaupt vollständig verbrannt. Man sieht dort an den Bäumen noch die Spuren.«

Der Mann deutete auf einen etwas seitlich liegenden Fleck, aber Perkins interessierte sich nicht: dafür, sondern nickte entlassend und wandte sich tiefer in das Holz. Der Waldstreifen war hier nicht sehr breit, und der Bestand ziemlich dünn. Schon etwa dreißig Schritte weiter schimmerte es bereits wieder grün herein, und davor war der Fahrweg zu sehen, der vorne am Waldrand von der Chaussee abbog.

Der Chefinspektor schritt planlos darauf zu, und während seine Gedanken unausgesetzt arbeiteten, wurde das hämische Spiel um seinen harten Mund immer lebhafter. Die Sache gefiel ihm, denn es schien daraus etwas Besonderes werden zu wollen...

Aber als er aus den Bäumen trat und den ersten Blick auf den Feldrain warf, schwand das zufriedene Grinsen mit einem Schlag aus seinem Gesicht.

»Dacht' ich mir's doch...«, stieß er zwischen den Zähnen hervor, und obwohl diese Worte eine ganz harmlose Redensart waren, hörten sie sich fast wie ein grimmiger Fluch an.


17. Kapitel

Trotzdem griff Alf Duncan mit ausgesuchter Höflichkeit an seine Mütze. Er trug einen fabelhaften Golfanzug, lag bequem im Grase und blies eine dünne Rauchfahne in die Luft.

Chefinspektor Perkins brauchte eine geraume Weile, um sich von diesem Anblick zu erholen.

»Seit wann sind Sie denn eigentlich schon hier?« fragte er endlich mit etwas trockenem Halse.

»Wenn Sie mit dem ›hier‹ dieses nette Plätzchen meinen, seit etwa einer Stunde. Oben an der Straße ist es mir zu lärmend geworden. Wenn Sie aber darunter diese ganze wundervolle Gegend verstehen, seit gestern nachmittag 3 Uhr 37 Minuten. Ich habe mir das so genau gemerkt, weil ich darauf vorbereitet war, daß mich eines Tages die Polizei danach fragen würde.«

Der Chefinspektor schnitt eine ungeduldige Grimasse und murmelte etwas Unverständliches. Dann traf er plötzlich Anstalten, sich neben dem jungen Manne niederzulassen, aber dieser hob warnend die Hand.

»Bevor Sie sich hier irgendwo häuslich einrichten«, sagte er, »sehen Sie sich den Platz erst genau an. Sonst könnten Sie etwas zu spät darauf kommen«, daß Sie in einem Wespennest sitzen. Außerdem möchte ich Sie in aller Höflichkeit darauf aufmerksam machen, daß ich nicht mehr unter Polizeiaufsicht stehe. Ich führe augenblicklich einen beschaulichen, völlig einwandfreien Lebenswandel und habe mir die Mittel dazu in Paris mit ehrlichem Spiel verdient. — Bitte, überzeugen Sie sich...«

Duncan hatte lässig sein Portefeuille gezogen und ließ ein Bündel Banknoten sehen. Perkins beugte sich lebhaft nieder und starrte mit großen Augen auf die Scheine. Plötzlich stieß er einen leisen Pfiff aus und griff blitzschnell zu, aber der junge Mann war rascher.

»Donnerwetter...« Der Chefinspektor rieb sich heftig das Kinn, und sein Blick hatte einen sonderbaren Ausdruck. »Wieviel ist es?«

»Es sind genau siebenhundert Dollar«, erhielt er bereitwillig zur Antwort. »Sieben schöne, funkelnagelneue Scheine. Aber heute oder morgen werde ich mich wohl von einem trennen müssen. Mein englisches Geld geht bereits stark zur Neige.«

»Hm...«, brummte Perkins. »Und deshalb sind Sie eigens hier herausgekommen?«

Duncan schüttelte den Kopf.

»Nein, eigens bin ich wegen einer ganz anderen Sache herausgekommen. Aber ich bin überzeugt, daß sich auch hier jemand finden wird, der mir gern eine von diesen Noten wechselt.«

Die gespreizte Art, in der der elegante Mr. Alf so willig Rede und Antwort stand, schien den Chefinspektor wieder in Laune gebracht zu haben. Er ließ ein leises Lachen hören, das noch unangenehmer wirkte als sein Feixen, und dann schloß er die Augen zu einem winzigen Spalt.

»Ja«, sagte er völlig unzusammenhängend, »und dazu studiert man also in Eton und Oxford.«

»Cambridge«, verbesserte ihn Duncan nachdrücklich.

»Gut, oder Cambridge. Jedenfalls müßten Sie, wenn es mit rechten Dingen zugegangen wäre, heute ein berühmter Anwalt, Richter am königlichen Gerichtshof, oder sonst irgendein großes Tier sein.«

»Stop«, fiel ihm der junge Gentleman warnend ins Wort. »Sie entwickeln zuviel Phantasie. Ein Mann, der es zuwege bringt, sich meine Wenigkeit in Talar und Perücke vorzustellen, paßt nicht zur Polizei. Er wäre imstande, einen Mormonenprediger für einen Erzbischof unserer Staatskirche zu halten, oder umgekehrt, und das würde ihm eines Tages den Hals brechen.« Er putzte angelegentlich an seinen Knien herum und blinzelte dann nach der Chaussee. »Passen Sie auf, Mr. Perkins«, schloß er leichthin, »daß Ihnen das nicht früher geschieht als Sie denken.«

Der Chefinspektor trat unbehaglich von einem Fuß auf den andern.

»Glauben Sie...«, setzte er unsicher an, vollendete aber nicht, sondern ließ nur seinen Blick weiter sprechen.

»Ich glaube«, erwiderte Alf Duncan bedächtig, »daß Sie hier Ihre Wunder erleben werden. Wunder — vielleicht im vollsten Sinne des Wortes. Und daß der Teufel los sein wird.«

»Gut«, stieß Perkins kurz hervor und schob seinen Hut mit einem Ruck aus der wuchtigen Stirn. »Das wollte ich von Ihnen nur hören.«


18. Kapitel

Mrs. Hingley hatte wieder einen schrecklich anstrengenden Tag. Ihr volles Gesicht glühte, ihr Busen wogte, und die drei Verewigten an ihrem Halse schwebten in einem milden Dampfbade.

Es war auch keine Kleinigkeit, mit dem eilig zusammengetrommelten Hilfspersonal die Hunderte von Gästen zufrieden zu stellen, die sich an den Tischen des »Reitenden Postillon« und des Golfhauses drängten. Die Leute hatten sich bei dem Unglücksstein und auf dem Trümmerfelde gehörig gegrault und wollten nun durch einen ordentlichen Imbiß raschestens wieder in eine behaglichere Stimmung kommen.

Dabei stellte sich William, der Geschäftsführer, ungeschickter und schlafmütziger denn je an, und der energischen Wirtin riß endlich die Geduld. Zuerst hatte ihr der schlanke Mann mit dem dichten schwarzen Haar und den verträumten, dunklen Augen ja ganz gut gefallen, und sie hatte im stillen sogar schon an verschiedenes gedacht. Aber dann war sie zu ihrer Enttäuschung darauf gekommen, daß er auch verträumte Hände und Füße hatte, und so etwas konnte keinen Herrn für den »Reitenden Postillon« abgeben. Nicht einmal den Geschäftsführer, falls, so Gott wollte, noch einige solche Tage kommen sollten.

Als Mrs. Hingley wieder einmal von vorn nach rückwärts dampfte und William gemächlich von rückwärts nach vorn geschlendert kam, erfolgte die Explosion.

»Wenn Sie spazierengehen wollen«, grollte die Wirtin in ihrem tiefsten Baß, »so packen Sie Ihre Sachen, und gehen Sie zur Station. Vielleicht erwischen Sie noch den Zug, der morgen früh abgeht. — Ob man so etwas schon gesehen hat. Die ganze Wirtschaft ist voller Gäste, und Sie schleichen herum, als ob die Langeweile zwei Beine gekriegt hätte. — Überhaupt — wo haben Sie das Geschäft gelernt? Man kann sich keinen Augenblick und in nichts auf Sie verlassen. Audi Mr. Gwynne hat sich heute wieder beschwert.«

»Mr. Gwynne kann man es nie recht machen«, erklärte William mit gekränkter Miene, aber Mrs. Hingley ließ keine Entschuldigung gelten.

»Erzählen Sie mir nichts, mein Lieber. Was ich sehe, das sehe ich. Den ganzen Tag stehen Sie im Wege herum; wenn man Sie aber braucht, dann sind Sie nicht zu finden. Sie wissen, wie oft das schon geschehen ist. Aber nun ist mit dieser Gemütlichkeit Schluß. Wenn Sie sich nicht ordentlich dazuhalten, sind Sie am längsten hier gewesen.«

Die resolute Frau nickte bekräftigend mit dem melierten Kopf, und die drei Bisherigen an ihrem Halse klimperten beifällig dazu.

Rückwärts auf der Terrasse erschien aber Mrs. Hingley bereits wieder mit einem strahlenden Lächeln, und dieses ergoß sich zunächst und fast ausschließlich über Mr. Duncan.

»Ich hoffe, daß Sie zufrieden sind«, tuschelte sie, als sie sich endlich bis zu seinem Tisch durchgezwängt hatte. »Wenn aber die Bedienung vielleicht nicht ganz geklappt haben sollte, so werden Sie wohl entschuldigen. Sie sehen ja, wie es hier zugeht. Es sind heute noch viel mehr Leute da als beim letzten Unglück. Nun ist es ja auch schon das siebente, und man weiß wirklich nicht mehr, was man dazu sagen soll. Dabei ist der arme Mensch noch eine halbe Stunde vorher vor dem Gasthof gesessen und hat gesungen. Und die anderen Herren, die bei dem schrecklichen Stein umgekommen, sind, waren bis auf den ersten auch alle hier eingekehrt. Das kann, mir noch das ganze Geschäft ruinieren. Die Leute werden sich ja bald fürchten, herzukommen. Mr. Gwynne hat bereits gesagt, daß es ihm hier geradezu unheimlich wird und daß seine Nerven diese ewigen Aufregungen nicht aushalten. Es würde mir aufrichtig leid tun, denn er ist ein sehr treuer Gast, aber ich könnte es verstehen. Es hat sich nämlich wirklich so unglücklich getroffen, daß er jedesmal dabei war. Und dann gibt es natürlich immer eine Menge Unruhe, und man kann die Gäste nicht so zufriedenstellen, wie man es gern möchte. Besonders wenn das Personal nicht geschult ist. Eben habe ich William gehörig den Kopf zurechtsetzen müssen...«

Mrs. Hingley schöpfte frischen Atem, denn sie hatte sich ihre Sorgen etwas eilig vom Herzen gesprochen.

»Haben Sie den Mann schon lange?« erkundigte sich inzwischen Mr. Duncan, der so artig zuzuhören verstand.

Die Wirtin schüttelte mißmutig den Kopf.

»Nein. Und ich glaube, es wird am längsten gewesen sein. Man kann eben selbst auf die schönsten Zeugnisse nichts geben. Als er sich vor ein paar Monaten meldete, dachte ich, daß ich einen besonders guten Fang mit ihm gemacht hätte, aber ich bin bald darauf gekommen, daß er nicht viel taugt. Nicht einmal vorn für die Schenke. Anstatt für eine ordentliche Bedienung zu sorgen, steht er herum und hört zu, was die Leute sich zu erzählen haben. Heute vormittag, als doch hier alles vorbereitet werden sollte, war er drüber nicht wegzubringen, weil ein Chauffeur von einem Unglück erzählte, das vor ein paar Tagen auf der anderen Seite bei Thame geschehen ist. Dort hat ein Auto auf der offenen Landstraße einen Wagen mit einem kleinen Kind überfahren...«

»Oh...«

Alf Duncan ließ Messer und Gabel geräuschvoll auf den Teller klappen.

»Ja«, nickte Mrs. Hingley, »es muß schrecklich gewesen sein. Der Mann ist noch heute ganz aufgeregt, obwohl er die Sache nur aus der Ferne beobachtet hat. Er ist nämlich knapp hinter Thame einem großen Wagen begegnet, der etwas so besonders Feines war, daß er sich nach ihm umdrehte und ihm eine ganze Weile nachsah. Auf einmal bemerkte er, wie aus einem Seitenwege ein Mann und eine Frau mit einem Kinderwagen herauskamen, und im nächsten Augenblick war es auch schon geschehen. Das Auto ist mitten darüber. Es soll ein so furchtbarer Anblick gewesen sein, daß der Chauffeur, der selbst Kinder hat, laut aufschreien mußte und um ein Haar auch verunglückt wäre. Die Frau soll es auf der Straße wie eine Wahrsinnige getrieben haben, während ihr Begleiter ein zerfetztes Bündel zusammenklaubte. Das kann man sich ja denken. Sogar den Chauffeur hatte es so mitgenommen, daß er sich lieber rasch davonmachte. Aber es tut ihm leid, daß er sich die Nummer des Autos nicht gemerkt hat, denn die Leute sind ausgerissen, ohne sich darum zu kümmern, was sie angerichtet hatten. — Das sollte man nicht für möglich halten. Hoffentlich erwischt sie aber die Polizei.«

»Hoffentlich«, wiederholte Mr. Duncan mit ehrlicher Wärme, und Mrs. Hingley fand, daß er nicht nur ein sehr liebenswürdiger, sondern auch ein sehr gemütvoller Mann sei.


19. Kapitel

»Also?« fragte Chefinspektor Perkins gespannt, indem er auf die Uhr blickte.

Er war seit Mittag kreuz und quer um Blackfield herumgerannt und saß nun am einem der Tische vor dem Gasthaus bei einer Flasche Bier. Der Strom von Neugierigen war zum größten Teile schon wieder verschwunden, denn es ging bereits gegen fünf. Aber einige Wagen standen immer noch auf dem Parkplatz, und hier vorn führten einige Bauern aus der Umgebung eine lebhafte Debatte.

Die Frage galt dem Sergeanten, der eben im Schnellschritt von der Chaussee kam.

»Nichts, Sir«, meldete der Mann. »Weder hier noch in den angrenzenden Bezirken ist in der letzten Zeit ein Auto gestohlen worden. Der Wagen könnte also nur von London gekommen sein «

»Gut«, sagte Perkins befriedigt, denn wenn der Bericht anders gelautet hätte, wären seine Annahmen ins Wanken geraten. »Das werden wir schon herausbringen.«

Er sah den Sergeanten mit verkniffenen Augen an, weil dieser eine leichte Bewegung mit den Schultern machte.

»Verzeihen Sie, Sir«, entschuldigte sich der Mann etwas verlegen, »aber die Sache erinnert ein bißchen an den ersten Fall. Da konnte bis heute nicht einmal die Persönlichkeit des Verunglückten festgestellt werden. Er war nämlich in seinem kleinen Wagen fast völlig verbrannt.«

»Die Fälle — richtig«, sagte der Chefinspektor. »Was wissen Sie darüber?«

Der diensteifrige Polizist wußte alles und nahm zu seinem fließenden Berichte nur die Finger zu Hilfe.

»Also, dieser Mann war der erste. Das war am 17. Mai, und dann folgte ein Unfall dem andern. Am 25. Mai verunglückte an derselben Stelle Mr. Gluck, ein Grundstücksmakler aus Rugby, am 3. Juni ein Fabrikant aus Birmingham namens Sloman, am 11. Juni ein Mr. Trencer aus Warwick, am 24. Juni der Anwalt Lynde aus Leamington und am 8. Juli der Bauunternehmer Newman aus Leicester. Aber in diesen Fällen haben die Erhebungen keine Mühe gemacht. Alle diese Herren hatten sich nämlich hier im Golfhaus aufgehalten, bevor sie nach London weiterfuhren.«

»Mitten in der Nacht und allein?« fragte der Chefinspektor, der mit geschlossenen Augen zuhörte.

»Ja — immer so nach zwölf Uhr. Und alle haben ihren Wagen selbst gefahren.«

Perkins klopfte schweigend seine Pfeife aus und füllte sie von neuem.

Der Geschäftsführer, der schon wieder herumlungerte, hatte sich den Rüffel seiner Herrin wenigstens so weit zu Herzen genommen, daß er beflissen mit Streichhölzern herbeigestürzt kam.

»Sie haben also mit Dan Kaye gesprochen«, wandte sich der Chefinspektor unvermittelt an ihn, indem er die Pfeife anpaffte. »Wissen Sie vielleicht etwas darüber, zu welchem Zweck er sich hier draußen herumgetrieben hat?«

»Nein, darüber ist mir nichts bekannt«, erklärte William, und seine Sprechweise war genau so schläfrig, wie seine ganze Art. »Ich habe mit ihm auch nur einige Worte wegen der Zeche gewechselt.«

»Wie lange war er hier?«

Der Geschäftsführer überlegte einen Augenblick.

»Er war zweimal hier«, erklärte er dann und hielt sich diesmal streng an die Wahrheit. »Das erste Mal kam er so gegen vier Uhr und ging, als es dunkel wurde. Es dürfte kurz nach sieben gewesen sein.«

»Wohin?«

»Soviel ich sah, gegen den Ort zu. Ich habe ihm nur einige Schritte nachgeblickt, um zu beobachten, ob er sich auf den Füßen halten könne. Er hatte nämlich sehr hastig und sehr viel getrunken. — Aber vielleicht weiß Mr. Gwynne etwas mehr«, fügte er so nebenbei hinzu. »Er ist einige Minuten nach dem Mann denselben Weg gegangen.«

Perkins hob den Kopf.

»Gwynne? — Wer ist das?«

»Einer unserer Gäste. Er hält sich schon längere Zeit hier auf.«

Perkins blickte fragend auf den Sergeanten, und dieser nickte lebhaft.

»Jawohl, Sir. Mr. Gwynne ist ein berühmter Schauspieler aus London.«

»So.« Der Chefinspektor wandte sich wieder an William. »Und wann ist also Dan zum zweiten Mal gekommen?«

»Ungefähr nach einer Dreiviertelstunde.«

»Ungefähr nach einer Dreiviertelstunde...«, wiederholte Perkins und schob die Hand in die Westentasche.

Er zog sie aber erst wieder hervor, nachdem er den Geschäftsführer durch einen Wink etwas kurz und plötzlich verabschiedet hatte. Und dann tat er eine Frage, die den Sergeanten verwundert dreinschauen ließ.

»Wer wohnt im Buschhause?«

»Niemand, Sir«, erklärte der Mann mit großer Bestimmtheit. »Es steht schon seit langem leer. Früher hat einmal der Aufseher des Steinbruches, der gleich daneben liegt, dort gewohnt, aber der Betrieb ist aufgelassen worden. Seither habe ich niemand mehr in dem Haus gesehen, obwohl ich ziemlich häufig vorüberkomme. Es führt nämlich dort der kürzeste Weg zum Grafschaftsamt vorbei. Das heißt, von einem Wege ist keine Rede, sondern man muß hinter dem Golfhaus einen steilen Hang hinunterklettern. Aber man erspart gute zwanzig Minuten, und manchmal hat man es ja sehr eilig.«

Der Chefinspektor schien nur mit halbem Ohr zuzuhören. Er starrte auf den schmierigen Zettel, den er zum Vorschein gebracht hatte, und drehte ihn nach allen Seiten.

»Das ist die Handschrift einer gebildeten Frau«, sagte er endlich, indem er seinen Gedanken laut Ausdruck gab. Dann wandte er sich wieder an den Polizisten. »Sehen Sie sich also beim Buschhaus doch einmal ein bißchen genauer um. — So am Abend dürfte vielleicht die richtige Zeit sein.«

»Sehr wohl, Sir«, erwiderte die diensteifrige Sergeant, ohne den Zusammenhang zu begreifen und ohne zu ahnen, was dieser Auftrag für ihn bedeutete.

Der elegante Wagen, der in derselben Minute von der Chaussee auf den Parkplatz einbog, trug die Spuren einer scharfen Fahrt, und Perkins schnitt ein säuerliches Gesicht. Er hätte viel darum gegeben, zu wissen, wo dieser verwünschte Alf Duncan sich eben wieder herumgetrieben hatte, aber als er zur Garage schlenderte und eine beiläufige Frage tat, wurde er sehr kurz abgefertigt.

»Ich habe eine kleine Rundfahrt gemacht«, erklärte der junge Mann unbefangen und wandte sich dann an William, der mit dem Garagenschlüssel herbeigeeilt war. »Gibt es hier jemanden, der den Motor nachsehen könnte? Es scheint irgend etwas nicht in Ordnung zu sein, und ich möchte mich nicht gerne selbst damit herumschmieren.«

Der Geschäftsführer sah etwas verlegen drein.

»Einen richtigen Monteur haben wir leider nicht«, gestand er. »Aber der Wagenwäscher kennt sich ein bißchen aus, und wenn es nichts Besonderes ist...«

»Nein, danke«, lehnte Duncan entsetzt ab. »Da versuche ich es lieber mit dem nächsten Tierarzt.«

Er brachte das Auto unter, und als er wieder herauskam, blickte er nach der Terrasse hinüber. Plötzlich stieß er einen leisen Pfiff aus und straffte unternehmend sein Jackett.

»Was gibt's?« fragte Perkins neugierig und etwas unbehaglich.

»Eine Gelegenheit, eine Hundertdollarnote in englische Pfunde umzusetzen«, bekam er über die Schulter zur Antwort und war davon so betroffen, daß er dem jungen Mann mit gerecktem Hals nachstarrte.

Miss Reid erkannte Duncan schon von weitem, und ihre Unruhe steigerte sich noch mehr, denn sie wußte nicht, wie sie diese überraschende Begegnung deuten sollte.

Sie war vor ungefähr einer Stunde mit Fielder herausgekommen, hatte aber bisher nicht daran denken können, irgend welche Nachforschungen wegen Charles anzustellen. Ihr Chef wich ihr nicht von der Seite, und sogar bei der Besichtigung ihres Zimmers hatte er sich angeschlossen. Dabei war er keineswegs unterhaltend, sondern beschränkte sich darauf, hie und da eine nichtssagende Bemerkung zu machen. Die übrige Zeit schmatzte er mit der wulstigen, blutleeren Unterlippe oder trommelte leise auf den Tisch.

Miss Reid wurde von Minute zu Minute nervöser, und ihre Augen gingen in fieberhafter Aufregung ununterbrochen umher. Sie erwartete jeden Augenblick Charles auftauchen zu sehen oder wenigstens eine Erklärung für sein rätselhaftes Verschwinden zu erhalten. Daß sein Name in der Sache mit Dan Kaye nicht genannt wurde, hatte sie keineswegs beruhigt, sondern ihren Befürchtungen nur eine andere Richtung gegeben. Und als sie nun plötzlich gerade hier auf Alf Duncan stieß, verstärkte sich ihr Verdacht, und ihre bange Sorge wandelte sich mit einem Mal in erstickende Wut. Man schien also wirklich ein falsches Spiel mit ihr getrieben zu haben. Sie erinnerte sich an den Auftrag, den sie dem Abenteurer erteilt hatte, und war überzeugt, daß sein Aufenthalt in Blackfield damit in Zusammenhang stand. Daß der Mann nicht so harmlos war, wie er tat, und daß er mehr wußte, als ihr lieb sein konnte, darüber war sie sich seit der gestrigen Unterredung völlig im klaren. Die Erwähnung der »blonden Elster« und »ihrer ehemaligen Kollegin, die es noch besser getroffen haben soll«, war zu deutlich gewesen. Der Mann ging offenbar auf eine Erpressung aus und hatte wohldeshalb die Nachforschungen wegen Miss Longden sehr entschieden betrieben. Und dabei war er anscheinend hierher gelangt.

Gut, ihr war für die Abrechnung jeder Bundesgenosse recht.

Miss Reid biß die Zähne zusammen, Und ihre Hände krampften sich um das Tischtuch. Charles Barres sollte seiner Niedertracht nicht froh werden, selbst wenn sie dabei alles aufs Spiel setzte...

Alf Duncan war nicht der Mann, der seine Gönner vor der Öffentlichkeit verleugnet hätte. Er grüßte mit einem strahlenden Lächeln, als er die Terrasse betrat, und der kleine Mr. Fielder sperrte erstaunt den Mund auf. Dann rückte er unruhig auf seinem Stuhl hin und her und trommelte etwas lebhafter als sonst.

»Ist das nicht...?« hauchte er endlich, und als Miss Reid kurz nickte, schüttelte er fassungslos und empört den Kopf.

»Unerhört... Ich glaube, da ist mit meinem Vertrauen und mit meiner Güte einmal arg Mißbrauch, getrieben worden. In ein paar Tagen wird man den Mann wieder wegen irgendwelcher Hochstapeleien festnehmen; — Wieviel haben wir ihm eigentlich gegeben?«

»Zwei Pfund«, sagte Miss Reid, ohne den Blick zu heben.

»Zwei Pfund«, wiederholte Mr. Fielder und sandte einen vernichtenden Blick zu dem eleganten Gentleman hinüber. »Ich schätze, das kosten allein seine Schuhe. — Natürlich bekommt der Mann nie mehr etwas. Merken Sie sich das bitte vor, Miss Reid.«

Er zog plötzlich die Uhr und klappte sie nach einem kurzen Blick geräuschvoll wieder zu.

»Ja, nun werde ich aber wohl aufbrechen müssen«, meinte er. »Nur den berühmten Golfplatz möchte ich mir rasch noch ansehen. Sie selbst werden ja noch genug Gelegenheit dazu haben, aber wer weiß, wann ich wieder hier heraus komme.«

Er hatte es plötzlich sehr eilig, und Miss Reid atmete auf. Aber eine Frage konnte sie nicht unterlassen.

»Und nach James Marwel wollen Sie sich nicht umschauen?«

»Nach James Marwel? — Was fällt Ihnen ein?« Es klang sehr gekränkt und vorwurfsvoll. »Wenn der Mann so undankbar ist, daß er nichts von sich hören läßt, so existiert er natürlich auch für mich nicht mehr.«

Mr. Fielder warf energisch den Kopf zurück und marschierte verstimmt von der Terrasse ab.

Der Weg zum Golfplatz führte etwa zweihundert Schritte vom Haus durch ein kleines Kieferndickicht, aber als Fielder es passiert hatte, blieb er wie angewurzelt stehen, da er mit offenen Augen zu träumen wähnte.

Erst die einschmeichelnde Stimme Duncans überzeugte ihn von der Wirklichkeit, löste aber nicht seine Starre.

»Verzeihen Sie, daß ich Sie so überfalle«, entschuldigte sich der korrekte Mann, »aber ich wollte Sie unter vier Augen um eine Gefälligkeit bitten. Es ist aber nicht das, was Sie wahrscheinlich meinen, denn erfreulicherweise haben sich meine Verhältnisse in den letzten Tagen wesentlich gebessert. Sie werden das wohl auch schon an meinem äußeren Menschen bemerkt haben. Nur verfüge ich bloß über fremde Valuta, und da wollte ich Sie eben bitten, mir mit englischem Gelde auszuhelfen. Für hundert Dollar. Der Kurs war gestern rund 4.5, das wären also auch wieder rund zweiundzwanzig Pfund. Auf ein paar Schillinge mehr oder weniger kommt es mir wirklich nicht an, und ich bin daher überzeugt, daß Sie mir den kleinen Dienst gern erweisen werden.«

Er war davon so überzeugt, daß er seiner Brieftasche bereits eine Banknote entnommen hatte und sie nun dem völlig verblüfften Mr. Fielder ohne weiteres in die Hand steckte.

Aber das brachte den würdevollen kleinen Mann endlich wieder zum Leben.

»Ich weiß wirklich nicht, was ich zu dieser Unverschämtheit sagen soll«, wisperte er. »Aber davon abgesehen — mit Geldwechseln befasse ich mich grundsätzlich nicht.«

Er reichte Duncan den Schein brüsk zurück, und dieser nahm ihn mit einem bedauernden Achselzucken wieder in Empfang.

»Schade.« Er schnippte mit dem Finger mehrmals gegen das Papier, und Mr. Fielder zuckte plötzlich zusammen. »Sie bringen mich nämlich wirklich in eine große Verlegenheit. Gewiß würde man mir das amerikanische Geld auch im Hotel wechseln, aber offen gestanden fürchte ich mich, Unannehmlichkeiten zu haben. Bei unsereinem setzt man ja immer gleich das Schlimmste voraus, und da augenblicklich Chefinspektor Perkins von Scotland Yard hier herumwimmelt, könnte es vielleicht überflüssige Fragen geben.«

Aber auch Mr. Fielder war plötzlich wißbegierig geworden.

»Woher haben Sie denn die Note?« forschte er, und sein Gesicht war noch um einen Ton grauer als sonst.

»Oh, Ihnen kann ich es ja sagen«, erklärte Duncan offenherzig. »Gewonnen. Wir haben in meinem Klub einen Ausländer ein bißchen gerupft.«

»Einen Ausländer, so...« Mr. Fielder holte seine Brieftasche hervor und begann bedächtig einige Scheine abzuzählen. »Zweiundzwanzig Pfund, sagten Sie, nicht wahr? Daß Sie meinetwegen in ernstliche Ungelegenheiten kommen, möchte ich nicht. Falls Sie daher noch so eine Dollarnote haben sollten...«

Er starrte Duncan mit seinen Fischaugen an, aber dieser schüttelte unbefangen den Kopf.

»Leider nicht«, erklärte er mit einem Anfluge von Bedauern. »Die hundert Dollar waren wohl das Letzte, was der Mann hatte.«

Einige Minuten später schlängelte sich Alf Duncan wieder aus dem Dickicht, und sein erster Blick galt der Terrasse.

Miss Reid kehrte eben mit einem Stoß Zeitungen zu ihrem Platz zurück, und nun tauchte auch William auf, um die verlassenen Tische in Ordnung zu bringen. Er besorgte das Geschäft etwas zerstreut und oberflächlich, und als er an den Tisch Duncans kam, war er unschlüssig, ob er das noch halb volle Geschirr abräumen sollte. Schließlich begnügte er sich damit, an dem Gedeck herumzuschieben und dabei den kleinen gefalteten Zettel, der neben der Tasse lag, verschwinden zu lassen.

»Entschuldigen Sie, mein Freund, aber ich bin noch nicht fertig«, sagte in diesem Augenblick eine leise, freundliche Stimme hinter ihm, und sein Gesicht verzog sich zu einer schmerzhaften Grimasse, weil ein eiserner Griff sein Handgelenk umspannte.

»Danke«, sagte der junge Gentleman mit einem liebenswürdigen Kopfnicken, als das kleine Papier plötzlich wieder auf dem Tisch lag, aber der ungeschickte Geschäftsführer blickte so verwirrt und verständnislos drein, daß er einem leid tun konnte.


20. Kapitel

Mr. Fielder spielte nicht Golf und hatte augenblicklich auch weit ernstere Gedanken im Kopf, als den Wunsch, es kennenzulernen, aber er besah sich den Platz doch mit großem Interesse.

Mr. Gwynne, der allein auf dem Gelände herumhackte, manövrierte sich unauffällig heran. Er hatte die Figur eines schwammigen Bonvivants, tief liegende lebhafte Augen und ein pathetisches Organ, das entweder überschwenglich klang, oder herzzerbrechend jammerte.

Jetzt, da er es ängstlich dämpfte, jammerte es.

»Welch eine Unvorsichtigkeit, verehrter Freund. Sie haben mir einen furchtbaren Schrecken eingejagt, als Sie telefonierten. — Und nun gar selbst zu kommen. Ich hatte gehofft, daß Sie es sich doch noch überlegen würden. Man wird ja hier auf Schritt und Tritt beobachtet. Sie sehen mich in einer entsetzlichen Aufregung. Ich habe leider die empfindsamen Nerven eines Künstlers...«

Mr. Gwynne trocknete sich mit zitternder Hand die niedrige Stirn, aber der kleine Mr. Fielder wackelte gereizt mit dem Kopf und war plötzlich ein völlig anderer. Er sprach zwar ebenso leise wie sonst, aber seine Ausdrucksweise war weniger gewählt und markiger.

»Spielen Sie mir keine Komödie vor«, sagte er, »und erzählen Sie mir nichts von Ihren Nerven. Das interessiert mich nicht. Ich möchte endlich von Ihnen hören, was los ist. Wozu sitzen Sie denn seit Monaten für mein Geld hier herum? Sie wissen sehr gut, was mich diese verwünschte Sache, in die Sie mich hineingeritten haben, schon gekostet hat. Aber wenn Sie diesmal wieder geschlafen haben sollten, ist es damit Schluß. Dann können Sie wieder auf dem Theater Ihre schrecklichen Gesichter schneiden und von den faulen Äpfeln leben, mit denen man Sie bewerfen wird.«

»Schreckliche Gesichter... faule Äpfel .«.«, heulte der gekränkte Mime auf und fuhr sich grimmig in das strähnige Haar. »Das mir... Und geschlafen. — Wo ich doch hier draußen überhaupt keine Ruhe mehr finde...«

Der arme Mr. Gwynne war nahe daran, in Tränen auszubrechen, aber das machte auf den übel gelaunten kleinen Mann keinen Eindruck.

»Nun, was wissen Sie also?« forschte er hartnäckig. »Es ist ja auch diesmal wieder vor Ihrer Nase geschehen, und Sie konnten sich denken, daß ich Sie nicht ohne Grund auf diesen Dan Kaye aufmerksam gemacht hatte. Als er bei mir erschien, um sich nach der Adresse zu erkundigen, ahnte ich sofort, daß es irgend etwas geben würde, und deshalb habe ich Sie angerufen. — Haben Sie sich um ihn gekümmert? War er im Buschhaus? Haben Sie den Mann mit dem Bart endlich wieder einmal zu Gesicht bekommen? — Und wie ist es dann zugegangen?«

Gwynne zappelte bei diesen hastigen, dringlichen Fragen verzweifelt mit den dünnen Beinen und arbeitete mit dem Golfschläger wild auf dem Boden herum. Dann ließ er seine unruhigen Augen scheu nach allen Seiten gehen.

»Ich habe auf ihn aufgepaßt«, flüsterte er. »Er ist im Buschhaus gewesen, aber Marwel habe ich nicht gesehen. Sie wissen ja, wie ich darüber denke. Der Mann hält sich versteckt, weil er uns betrogen hat.«

»Mich«, verbesserte ihn Fielder mit Nachdruck. »Um fünfhundert Pfund. — Und Sie hatten ihn mir gebracht.«

»Konnte ich das voraussehen?« verteidigte sich Gwynne. »Ich hielt ihn für einen Ehrenmann, und die Sache war doch gewiß ein Vermögen wert. Was hätte sich damit alles beginnen lassen. — Und nun wird sie zu so schrecklichen Zwecken mißbraucht.« Er schauerte zusammen, und sein Blick wurde noch ängstlicher. »Der Bursche ist zu allem fähig und verdammt schlau. Ich bin diesem Kaye auf Schritt und Tritt gefolgt, aber von dem Mann mit dem Bart war nichts zu entdecken. Er muß in der Nähe ein anderes Versteck gefunden haben, sonst könnte er nicht über alles unterrichtet sein und so blitzschnell auftauchen und wieder verschwinden. Sie wissen ja, wie es immer zuging: Sowie wir mit den Leuten einig waren, gab es ein Unglück bei dem Meilenstein. Vielleicht arbeitet er auch mit jemandem zusammen. — Dieser Geschäftsführer William gefällt mir nicht, und ich bin sehr besorgt. Wer weiß, was für eine Teufelei dieser Marwel ausheckt, wenn ich ihm eines Tages im Wege bin. — Sie verstehen mich? Ich fühle mich hier nicht mehr sicher und möchte es nicht darauf ankommen lassen...«

Noch deutlicher als aus seinen Worten, sprach die Angst aus Gwynnes unruhig zuckendem Gesicht, aber sein unansehnlicher Partner war mutiger.

»Sie werden bleiben«, sagte er bestimmt. »Wir müssen in dieser Sache zu einem Erfolg kommen, und die Gelegenheit war noch nie so günstig wie eben jetzt. Bisher hat sich die Polizei um die Vorfälle beim Schwarzen Meilenstein nicht gekümmert, aber nun ist Perkins aufgetaucht, und ich glaube, er wird den Mann aus dem Buschhaus arg in die Enge treiben.«

»Haben Sie etwas gehört?« fragte Gwynne aufgeregt.

»Nein, aber ich kenne Perkins. Er ist der geschickteste Spürhund von Scotland Yard. Das weiß auch Marwel ganz genau, und ich hoffe daher, daß er nun mit sich reden lassen wird. Wir wissen ja so viel, daß Scotland Yard sich nicht mehr sonderlich bemühen müßte. Deshalb ist es notwendig, daß Sie hier bleiben. Der Mann wird jetzt gern verhandeln, um sich zu sichern. Und wir werden ihm entgegenkommen, denn ich fürchte, wir haben nicht mehr viel Zeit zu verlieren. — Vor einer Viertelstunde ist mir hier eine Hundertdollarnote zum Wechseln angeboten worden. — Gerade mir — verstehen Sie? Seltsam, sehr seltsam...«

Fielder blinzelte irgendwohin ins Weite, Gwynne aber verfiel in einen argen Schreck.

»Eine Hundertdollarnote?« stammelte er. »Hier? — Wer?« Plötzlich kam ihm ein Gedanke, der ihn noch verstörter werden ließ. »Sie brauchen es mir nicht zu sagen«, stieß er hervor, »ich weiß es: Alf Duncan...«

»Kennen Sie ihn?« erkundigte sich Fielder vorsichtig.

»Ob ich ihn kenne.« Der Mime rollte wild mit den Augen und schwang den Golfschläger. »Ein gefährlicher, rücksichtsloser Bursche. Als ich ihn gestern hier erblickte, ahnte mir sofort Schlimmes. — Er hat mich in meinem Klub in gemeinster Weise bloßgestellt.«

»Hat er Sie beim Falschspiel ertappt?«

Gwynne überhörte diese taktlose Frage.

»Also Duncan«, wiederholte er bestürzt. »Wie ist das möglich?«

»Es muß drüben irgendeine Unvorsichtigkeit geschehen sein«, meinte Fielder, indem er mißbilligend mit dem Kopfe wackelte. »Hier ist ja bisher nicht eine einzige Note ausgegeben worden, da die gewissen Geschäfte nicht zustande gekommen sind. Man kann uns also nichts nachweisen, aber das unverschämte Auftreten dieses Hochstaplers gefällt mir nicht. Und auch Miss Reid gibt mir sehr zu denken. Sie hatte plötzlich den Wunsch, sich den Meilenstein anzusehen, und will einige Tage hier bleiben. — Das war es, worauf ich Sie vor allem aufmerksam machen wollte. Ich vermute, sie interessiert sich auch für Marwel und das Buschhaus.«

Der kleine Mann hatte die unangenehmen Neuigkeiten mit seinem gewöhnlichen Gleichmut vorgebracht, aber Gwynne war dabei in immer größere Aufregung geraten. Er zappelte, als ob er auf glühenden Steinen stünde, und reckte verzweifelt die Arme zum Himmel.

»Miss Reid — das auch noch«, stöhnte er. »Und ich hatte Sie doch damals gleich gewarnt. Aber Sie wollten nicht hören.«

»Sie brauchten mich nicht zu warnen«, bemerkte Fielder etwas ungeduldig. »Ich wußte ganz genau, woran ich mit der Frau war. Und eben darum schien es mir am geratensten, sie unter den Augen zu haben. Während sie glaubte, mir auf die Finger zu sehen, hatte ich Gelegenheit, auf sie acht zu geben. Sie ist heute so klug wie am ersten Tag, und sie wird auch hier nicht weiterkommen, wenn Sie keine Dummheiten begehen. — Wissen Sie, wer Charles Barres ist?«

»Charles Barres...?« Gwynne machte sich daran, mit großer Umständlichkeit seine Golfgeräte aufzuklauben. »Warten Sie einmal... Ja«, sagte er dann, »ich glaube, ich bin ihm schon begegnet.«

Der kleine Mr. Fielder nickte befriedigt.

»Das ist der Mann, mit dem sie zusammenarbeitet«, erklärte er. »Wahrscheinlich werden sie sich also hier treffen, und Sie müssen herauszubekommen trachten, was die beiden eigentlich vorhaben. Es dürfte nicht allzu schwer sein, da ja Miss Reid von unseren Beziehungen nichts ahnt und sich daher unbeobachtet glauben wird. Aber trotzdem müssen Sie es geschickt anstellen, denn sie ist sehr schlau und mißtrauisch. Und für Perkins und diesen Duncan gilt dasselbe. Jetzt können Sie endlich einmal zeigen, daß Sie das viele Geld wert sind, das Sie mich kosten.«

Gwynne deutete durch ein Achselzucken an, daß er diese Bemerkung höchst überflüssig und schäbig fand.

»Gut, ich werde mein Möglichstes tun«, sagte er frostig. »Aber dann können Sie natürlich bei der Sache mit der Amerikanerin nicht mit mir rechnen.«

»Nein«, erwiderte Fielder, indem er mit den schweren Augenlidern klapperte. »Übrigens dürfte daraus überhaupt nichts werden. Miss Longden ist nämlich bereits abgereist. Das wollte ich Ihnen auch noch sagen.«

Er beendete die Unterredung mit demselben kurzen Nicken, mit dem er sie begonnen hatte, und der nervöse Mr. Gwynne blieb mir dem unbehaglichen Gefühl zurück, daß dieser unscheinbare Mann ein weit vollendeterer Komödiant war als er selbst.

Mit dem Meilenstein und dem Golfplatz hatte Mr. Fielder alles gesehen, was es in Blackfield zu sehen gab, und kaum auf die Terrasse zurückgekehrt, rüstete er auch schon eilig zum Aufbruch. Miss Reid atmete endlich auf, ließ es sich aber nicht nehmen, den Chef bis zum Wagen zu geleiten.

Dort gab es noch einen kleinen, unvorhergesehenen Aufenthalt, da Fielder plötzlich den Chefinspektor gewahrte, der einige Schritte abseits den Sergeanten mit allerlei Fragen in der Arbeit hatte.

Der kleine Mann zögerte einen Augenblick unschlüssig, dann grüßte er höflich und schritt auf Perkins zu.

»Sie werden sich meiner vielleicht erinnern«, sagte er bescheiden. »Ich habe mit Parteifreunden, die im Parlament sitzen, bereits einige Male bei Ihnen vorgesprochen. Dabei handelte es sich allerdings nie um so wichtige und aufregende Dinge, wie sie Sie augenblicklich hier beschäftigen. Dieser Schwarze Meilenstein droht zu einem bedenklichen Schreckgespenst zu werden, und es wäre ein großes Verdienst um die Öffentlichkeit, wenn es Ihrer bekannten Tüchtigkeit gelänge, die Sache endlich aufzuklären.«

Mr. Fielder glotzte den Chefinspektor mit schmeichelhafter Zuversicht an, aber Perkins zeigte sich für die schönen Worte nicht sonderlich erkenntlich.

»Ach, Mr. Fielder.« Er kniff die Augen halb zu und ließ die breite Reihe seiner gelben Zähne sehen. »Ja, ich erinnere mich. Übrigens habe ich Ihnen auch schon einige Male im Hyde Park zugehört, wo Sie den Leuten immer erzählen, wie herrlich es auf dieser Jammerwelt aussehen wird, wenn Sie erst einmal dreinzureden haben werden. Meine Stimme kriegen Sie, wenn Sie kandidieren, denn Sie sind unbedingt ein Menschenfreund. Sogar für unsere ärgsten Galgenvögel haben Sie noch ein Herz, wie ich mir sagen ließ.« Er verzog den breiten Mund noch hämischer und liebäugelte mit dem kleinen Mann wie ein Fuchs mit einem Frosch. »Wahrscheinlich hat der arme Dan Kaye auch zu Ihren Kunden gehört?«

Fielder hatte ein zu sanftes und harmloses Gemüt, um sich durch den etwas ausfälligen Ton des Detektivs gekränkt zu fühlen.

»Dan Kaye?« wiederholte er verständnislos. Aber dann ging ihm ein Licht auf, und er wandte sich mit großer Lebhaftigkeit an seine Begleiterin, die etwas zurückgeblieben war.

»Bitte, liebe Miss Reid«, sagte er unbefangen, »Mr. Perkins von Scotland Yard interessiert sich dafür, ob wir einmal an einen Dan Kaye eine. Unterstützung ausgezahlt haben. Sie führen ja die Aufzeichnungen und haben ein sehr gutes Gedächtnis, was ich leider von mir nicht behaupten kann.«

Miss Reid dachte einige Augenblicke nach.

»Nein«, erklärte sie dann mit ihrer angenehmen Altstimme ebenso unbefangen, »an diesen Namen erinnere ich mich nicht. Aber wir können ja die Liste durchsehen.«

Der kleine Mr. Fielder nickte bereitwilligst, aber der sprunghafte — Chefinspektor wandte sich plötzlich mit einem flüchtigen Gruß ab. Nur der Sergeant bemerkte das tückische Grinsen in dem breiten Gesicht, und es wurde ihm nicht wohl dabei.


21. Kapitel

Für Isabel Longden hatte das Abenteuer der letzten Nacht eine ganz unerwartete wohltätige Folge gehabt. Ihre Gedanken waren durch den sonderbaren Besuch von der gewissen qualvollen Erinnerung wenigstens einigermaßen abgelenkt worden und. beschäftigten sich seither auch wieder mit weniger schrecklichen Dingen. Vor allem mit dem geheimnisvollen jungen Mann, der ihr nun sogar bis in das versteckte Alderscourt gefolgt war. Was bezweckte er damit — und wer war er?

Auf die letzte Frage hatte sie aus seinem eigenen Munde Antwort erhalten, und die freimütigen Andeutungen mußten alle ihre Illusionen zerstören. Nach der Erschütterung, die sie durchlebt hatte, traf sie jedoch diese Enttäuschung nicht allzu empfindlich. Sie sah die Welt plötzlich mit anderen Augen, und was sie noch vor wenigen Tagen erschreckt und mit Abscheu erfüllt hätte, schien ihr nun geringfügig im Vergleich zu ihrer eigenen Schuld. Dabei hatte sie das Empfinden, daß der Unbekannte es gut und ehrlich mit ihr meinte, wenn sie auch vergeblich darüber nachgrübelte, was seine ernsten Warnungen zu bedeuten hatten.

Welche andere Gefahr als die, zur Verantwortung gezogen zu werden, konnte ihr drohen?

Isabel war nicht ängstlich, nur die Ungewißheit beunruhigte sie und ließ sie die Bedenklichkeit ihrer Lage allmählich immer deutlicher erkennen. Sie hatte zwar einen anscheinend sicheren Zufluchtsort gefunden, war aber nun von der Außenwelt völlig abgeschnitten und hatte sich ganz in fremde Hände begeben. Noch fehlte allerdings jede Veranlassung zu irgendwelchem Mißtrauen. Nur die erste Begegnung mit dem Mann, dessen Gastfreundschaft sie genoß, kam ihr etwas sonderbar vor. Sie konnte zwar verstehen, daß er in die gefährliche Sache nicht verwickelt werden wollte, aber die Heimlichkeit dünkte ihr doch zu weit getrieben. Auch die beiden Frauen, die sie mit solcher Zudringlichkeit betreuten, wollten ihr wenig gefallen.

Etwas schien da nicht in Ordnung zu sein, und während Isabel über dieses Etwas nachgrübelte, baute sie in ihrer bangen Ratlosigkeit unwillkürlich auf die Hilfe des offenkundigen Abenteurers.

Er dünkte ihr der Mann, unter dessen Schutz sie sich vor jeder Gefahr geborgen fühlen durfte. So liebenswürdig und harmlos das vornehme Gesicht mit seiner Ruhe und dem treuherzigen Blick wirkte, um den Mund war ein Zug eingeprägt, der auch von unbedenklicher Entschlossenheit sprach. Übrigens hatte dieser Mr. Duncan durch sein Eindringen in das so wohl behütete Gehöft ja bewiesen, wozu er imstande war.

Inmitten dieser wirbelnden Gedanken verfiel Isabel Longden in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Molly mußte am Morgen eine lange Weile pochen, bevor sie mit dem Frühstück Einlaß erhielt, und da in wunderte sie sich über die Veränderung, die mit dem Gast vorgegangen war. Das feine, stolze Gesicht hatte wieder seine frischen Farben, die braunen Augen unter den langen Wimpern blickten strahlender und freier, und die Haltung war straffer und geschmeidiger.

Auch Isabel selbst wunderte sich, Sie verspürte vor allem ein Gefühl des Hungers, und obwohl sie den Tee herzlich schlecht und das übrige nicht viel besser fand, verzehrte sie das Frühstück doch mit einigem Appetit.

Dann nahm sie in einem plötzlichen Entschluß ihre Handtasche an sich, in der sie außer dem Geld und den wertvollsten Schmuckstücken auch die Waffe geborgen hatte, und verließ ihr Zimmer. Es schien ihr geraten, von Alderscourt etwas mehr kennenzulernen, als sie von ihren Fenstern aus sehen konnte.

Die Diele im Erdgeschoß war auch bei Tag sehr düster, aber von vorn klangen aus einem Raum neben dem halb offenstehenden Eingang Stimmen. Isabel huschte rasch und geräuschlos vorbei, um womöglich unbemerkt aus dem Haus zu gelangen. Das glückte ihr auch, aber kaum hatte sie den Vorplatz erreicht, als der durch Hunger ewig gereizte Köter aus seiner Hütte fuhr und sich unter heiseren Wutlauten fast strangulierte.

Im Flur flog eine Tür, und eine rasselnde Stimme wünschte dem verdammten Biest die übelsten Dinge an den Hals.

Mrs. Drew sah auch im hellen Tageslicht nicht gerade vertrauenerweckend aus, aber als sie sich von ihrer Überraschung erholt hatte, floß ihr fettiges Gesicht vor Freundlichkeit und Wohlwollen völlig auseinander.

»Wahrhaftig — unsere Miss«, rasselte sie so begeistert, daß auch Molly ganz aufgeregt angestürzt kam. »Nun, sehen Sie, Kindchen, das ist vernünftig. Der Mensch soll nicht so allein sein, das hält er nicht aus. Und wir werden uns schon verstehen.« Sie blinzelte vielsagend und legte die Hand, die sie rücksichtsvoll an der wuchtigen Hüfte gescheuert hatte, vertraulich auf den Arm des jungen Mädchens. »Unsereins weiß ja, wie es in der Welt zugeht...«

Isabel zuckte unter der Berührung zusammen.«

»Ich wollte nur ein wenig an die frische Luft«, stieß sie abweisend hervor, aber die gütige Mrs. Drew nickte lebhaft.

»Ja«, sagte sie, »laufen Sie sich ordentlich aus. Am besten wird es sein, Sie gehen in den Garten«, meinte sie fürsorglich. »Da haben Sie hübsche Wege, und Sonne gibt es dort auch. — Molly, du wirst die Miss begleiten«, fügte sie kategorisch hinzu. »Ich bin leider etwas schlecht zu Fuß.«

Isabel war darüber nicht sehr erfreut und ließ das deutlich merken, aber auch Molly dachte sich die Sache anders.

»Ich könnte inzwischen vielleicht oben gründlich Ordnung machen«, wandte sie eifrig ein, indem sie mit der Mutter einen raschen Blick wechselte, der Mrs. Drew zu denken gab.

»Ja, auch das wird notwendig sein«, gab sie zögernd zu, aber in ihren Augen lag eine deutliche Warnung. »Da werde ich die Miss halt doch selbst ein bißchen herumführen.«

Vor allem nahm Mrs. Drew die Gelegenheit wahr, um endlich den rebellierenden Hund mit der neuen Hausgenossin zu befreunden. Dieser Versuch ließ sich aber etwas schwierig an. Sowie das Tier seine holde Herrin eräugte, klemmte es den Schweif zwischen die Beine und fuhr in die Hütte, wo es mit verdoppelter Wut weiterröchelte. Erst als Mrs. Drew ihre vergeblichen sanften Lockungen mit einer weniger sanften Redensart aufgab, und Isabel, nur um dem Lärm ein Ende zu machen, einen schüchternen Versuch unternahm, wurde der Köter mit einem Mal still. Und dann erschien in dem Schlupfloch vorsichtig ein struppiger Hundeschädel, der zahm und scheu nach dem Wunderwesen äugte, das sich unter die zweibeinigen Bestien von Alderscourt verirrt hatte.

Mrs. Drew war mit diesem Erfolg ihrer Vermittlung sehr zufrieden und watschelte nun geschäftig voraus nach dem Garten. Dieser bestand aus einem dichten Gewirr von alten, verwahrlosten Bäumen und wild wucherndem Gesträuch. Die »schönen Wege« glichen geradezu Drahtverhauen, aber die massive Frau legte wie ein Tank alle Hindernisse nieder. Schließlich ging es eine kleine Bodenwelle hinauf zu einer mächtigen Buche, unter der eine halb verfallene Bank stand. Hier gab es wirklich Sonne und sogar so etwas wie einen Ausblick, denn man konnte über die nahe Mauer hinweg ein Stück des Weidelandes sehen.

Mrs. Drew ließ sich mit einiger Vorsicht nieder und beschrieb mit ihrem stattlichen Zeigefinger einen weiten Kreis.

»Da können Sie treiben, was Sie wollen, Miss«, versicherte sie mit einem beruhigenden Zwinkern. »Hierher kommt kein Mensch. Aber gar zu nahe an die Mauer dürfen Sie nicht heran und darüber hinaus natürlich schon gar nicht. Es könnte Sie doch jemand sehen, und dann wäre das Unglück fertig.«

Isabel horchte betroffen auf.

»Man hat Ihnen gesagt...?« begann sie bestürzt, aber die gescheite Mrs. Drew verstand bereits und nickte mit großem Nachdruck.

»Natürlich hat man mir gesagt«, erklärte sie etwas gekränkt und spitz. »Wenn ich aufpassen soll, muß ich doch wissen, worum es geht. Mir wär's aber weit lieber, ich wüßte nichts davon, denn es kann schlimm ausfallen, und darin hänge ich auch wieder mit.« Sie seufzte sorgenvoll und faltete dann die Hände behaglich über dem Leib, weil endlich der große Augenblick gekommen war, den sie so ungeduldig erwartet hatte. »Ich kenne das, denn ich bin durch meine Gutherzigkeit schon einige Male so ins Unglück geraten. Aber noch einmal würde ich es nicht überleben. — Sie wissen ja nicht, wie es dort zugeht, Miss. So ein Gefängnis ist das Niederträchtigste, was es auf der Welt gibt. Fortwährend heißt es nur arbeiten, arbeiten und wieder arbeiten, und die nichtsnutzigen Aufseherinnen sitzen einem dabei im Genick und werden dick und fett. Nicht einmal einen kleinen Plausch darf man sich erlauben, weil dieses Pack gleich dazwischenfährt. Und wenn man ganz unschuldig den Mund aufmacht, ist sofort der Teufel los. Da könnte ich Ihnen Geschichten erzählen, daß Ihnen die Augen übergehen würden. Einmal ist so ein feines, junges Ding wie Sie, bei uns gewesen, das ist aus Verzweiflung abends immer mit dem Kopf gegen die Wand gerannt. Das war so schrecklich, daß ich noch jetzt manchmal davon träume...«

Die gemütvolle Frau schluckte und schielte nach Isabel, die mit totenblassem Gesicht und schreckhaft geweiteten Augen an dem Baum lehnte.

»Ja«, setzte Mrs. Drew für alle Fälle noch hinzu, »so was ist kein Spaß, und ich gehe auch lieber ins Wasser, ehe ich mich noch einmal einsperren lasse. Das werden Sie doch sicher nicht auf dem Gewissen haben wollen...«

Damit glaubte sie ihren Ermahnungen fürs erste genügend Nachdruck verliehen zu haben. Sie hätte zwar noch manches Schreckliche zu sagen gehabt, aber das konnte ein andermal geschehen. Augenblicklich drängte es sie, wieder nach vorn zu kommen und Molly auf die Finger zu schauen. Das ungeratene Ding war imstande, oben in den Gastzimmern alles durchzuwühlen, und wenn dabei etwas verlorenging, konnte es am Ende einen argen Verdruß mit dem Herrn geben.

Aber zu ihrer Überraschung kam ihr Molly bereits auf halbem Wege entgegen.

»Was ist los?« fragte Mrs. Drew besorgt, da ihr die Miene ihrer Tochter nicht gefallen wollte.

»Drüben beim Meilenstein ist heute nacht wieder ein Unglück geschehen«, stieß Molly aufgeregt hervor. »Der Postbote, der vorbeigekommen ist, hat mir davon erzählt, und ich bin ein Stück mit ihm gegangen.« Sie heftete die wasserblauen Augen mit einem scheuen Ausdruck auf die Mutter, und ihre Stimme klang etwas heiser. »Es soll in Blackfield alles voll Polizei sein... Der verdammte Perkins ist auch dabei.«

Mrs. Drew fuhr sich mit den Händen an die stämmigen Knie, die dieser Nachricht nicht gewachsen waren. Das Unglück machte ihr nichts aus, aber der Name des Chefinspektors verursachte ihr die schrecklichsten Zustände.

»Pfui Teufel...«, vermochte sie nur zu stammeln, und auch Molly fühlte sich gar nicht wohl.

»Ja«, stimmte sie besorgt bei, »der wird jetzt in der ganzen Gegend herumschnüffeln, und es wäre vielleicht am besten, man machte sich für ein paar Tage dünne.«

»Hierher kommt er nicht«, versuchte Mrs. Drew sich selbst zu beruhigen, aber es hörte sich mehr weinerlich als überzeugt an. »Was hätte er denn auch hier zu suchen? Wir sind ja so weit von der Landstraße weg, und auch wenn sie auf den anderen Weg geraten sollten, werden sie sich um Alderscourt wohl kaum weiter scheren «

Molly verriet lebhafte Aufregung und sah sich scheu nach allen Seiten um.

»Darauf möchte ich mich nicht verlassen«, tuschelte sie geheimnisvoll. »Die Polizei fragt wegen des Autos herum, das kaputt gegangen ist. Man weiß nicht; wem es gehört und wie es zu dem Meilenstein gekommen ist. Da habe ich mich an den Wagen drüben in der alten Scheune am Weg erinnert und jetzt im Vorübergehen rasch hineingeguckt. — Er ist nicht mehr da, obwohl ich beschwören könnte, daß ich ihn gestern gegen Abend noch deutlich drin gesehen habe. Die Ritzen sind ja so groß, daß...«

»Pschschscht...«, warnte Mrs. Drew entsetzt, und ihre Lippen klapperten so, daß sie sekundenlang keinen weiteren Laut hervorzubringen vermochte. Aber dann verzog sich ihr breites Gesicht zu einer bitterlichen Anklage, und Molly bekam einen höchst giftigen Blick ab. »Das kommt von deiner verdammten Schnüffelei«, jammerte sie verzweifelt. »Was gehen dich diese Sachen an? Jetzt werde ich keine ruhige Stunde mehr haben...«


22. Kapitel

Nach dem reichlichen Mittagessen — die wählerische Miss hatte wieder einmal kaum einen Bissen angerührt — fand Mrs. Drew die Dinge etwas weniger besorgniserregend als mit dem nüchternen Magen, aber man kam überein, daß Molly doch ein bißchen herumhorchen sollte. Nicht oben in Blackfield, wo dies zu gefährlich war, sondern in dem anderen Nachbarort. Dieser lag zwar in der entgegengesetzten Richtung, aber nur wenige hundert Schritte von dem Fahrweg, der von der Spitze des Unglücksgehölzes herführte. Die Leute dort würden also sicher alle an Ort und Stelle gewesen sein und manches gesehen und gehört haben.

Im übrigen kam Molly dieser Spaziergang sehr gelegen, da sie einige Einkäufe zu machen gedachte.

Trotz der Eile, in der sie die Gastzimmer aufgeräumt hatte, waren ihr zwischen den Kleidern der Miss doch zwei verstreute Pfundnoten in die Hände gefallen.

Als sie mit ihrer umständlichen Toilette fertig war, ruhten sogar die Augen der Mrs. Drew mit einigem Wohlgefallen auf der Tochter. Molly sah auch wirklich höllisch vornehm aus, und man hätte ein Taschenbuch des höchsten englischen Geburts- und Geldadels zur Hand nehmen müssen, um die früheren Besitzerinnen all der eleganten Dinge zu ermitteln, die sie vom Kopf bis zu den Füßen auf dem Leibe trug.

Dann trippelte Molly in ihren etwas zu engen Krokodilschuhen davon, Mrs. Drew aber setzte sich in dem plattgedrückten Lehnstuhl zurecht, um ihre »fünf Minuten bis halb sechs« zu nicken.

Sie schlummerte so sorglos und fest, daß Isabel diesmal völlig unbemerkt in den Garten gelangte. Sie hatte lange gezögert, bevor sie diesen Weg neuerlich wagte, denn der Gedanke, vielleicht wiederum die Gesellschaft dieses ordinären Weibes ertragen zu müssen, war ihr schrecklich. Daß jene offenbar alles wußte und sich deshalb zu einer so widerlichen Vertraulichkeit berechtigt fühlte, hatte das junge Mädchen wie ein Peitschenhieb getroffen. Und die Dinge, die sie hatte anhören müssen, hatten ihr aus diesem Munde doppelt grauenvoll geklungen. Das bißchen Fassung war mit einem Mal wieder geschwunden, und wiederum jagten Angst und Verzweiflung ihre Gedanken. Als Molly sie zum Mittagessen gerufen hatte, war sie in förmlicher Flucht auf ihre Zimmer gestürzt, aber in den düsteren Mauern wurden die Schreckgespenster noch lebendiger und drohender.

Isabel wußte nicht, ob Minuten oder bereits Stunden vergangen waren, als der Schatten, der über ihre Schulter fiel, sie aus ihrem qualvollen Brüten auffahren ließ...

»Glück muß man haben«, sagte Alf Duncan mit seinem bestrickenden Lächeln, indem er ohne weiteres neben ihr Platz nahm. »Es ist mir lieb, ein bißchen mit Ihnen plaudern zu können, denn ich komme eben von Thame.«

So harmlos das klang, Isabel wußte, welche Bedeutung es hatte, und aus ihrem erschreckten Gesicht wich die letzte Farbe. Sie bewegte die Lippen, aber die Stimme wollte ihr nicht gehorchen.

»Warum spielen Sie mit mir?« brachte sie endlich mühsam hervor. »Warum sagen Sie mir nicht offen, was Sie von mir wollen? Ich habe schon so viel gelitten, daß ich bald am Ende bin...«

Sie verschränkte die Hände krampfhaft über den Knien, und ihr hübscher Kopf sank kraftlos herab. Der junge Mann musterte sie mit einem langen Blick, aber weit mehr als der ergreifende Jammer, der aus ihrer Haltung sprach, schien ihn das wundervolle Lichterspiel in dem kupferbraunen Haar zu beschäftigen.

Auch was er nach einigen Sekunden zu erwidern hatte, klang nicht gerade gefühlvoll.

»Ja«, meinte er leichthin, »das kann ich mir vorstellen. Eine sehr schreckliche Sache. Ich habe einmal als Junge etwas Ähnliches durchlebt — aber gottlob nur im Schlaf. Mir träumte nämlich, ich hätte auf der Jagd meinen besten Freund erschossen. Seither bin ich bei solchen Gelegenheiten ein sehr vorsichtiger Schütze geworden, und die schlimme Nacht hat also doch ihr Gutes gehabt. — Wieviel soll die Geschichte Sie kosten, Miss Longden?«

Die bedeutungslose Erinnerung hatte auf Isabel keinen Eindruck gemacht, aber die unvermittelte, geschäftsmäßige Frage rüttelte sie auf. Sie blickte Duncan aus scheuen Augen betroffen an.

»Wieso wissen Sie auch davon?«

»Nun, das ist doch bei solchen Fällen üblich«, erwiderte er ausweichend. »Also wieviel hat man von Ihnen verlangt?«

»Verlangt hat man nichts, sondern ich habe mich selbst dazu erboten«, erklärte Isabel hastig und nachdrücklich. »Aber wer weiß, ob man darauf eingehen wird. Ich habe augenblicklich nicht mehr als fünfzehntausend Dollar zur Verfügung.«

»Nicht mehr als fünfzehntausend Dollar, so...« Um die Lippen Alf Duncans ging ein flüchtiges Zucken. »Das ist allerdings nicht viel, aber ich glaube, man wird sich damit zufriedengeben. — Und was dann?«

Isabel hielt den Blick gesenkt und fiel noch mehr in sich zusammen. Sie vermochte sich keine Rechenschaft darüber zu geben, weshalb sie dem völlig Unbekannten so willig Rede und Antwort stand. Vielleicht war es die Gelassenheit, mit der er über die schreckliche Sache sprach, die sie dazu veranlaßte. Der Gedanke, daß es einen Menschen gab, der ihre furchtbare Schuld so leicht nahm, richtete sie unwillkürlich auf, und es drängte sie, an ihm in ihrer ratlosen Verzweiflung einen Halt zu suchen.

»Ich weiß, daß ich das nicht tun durfte«, brach sie plötzlich los. »Ich hätte halten und alles über mich ergehen lassen müssen. — Ich konnte ja doch nichts dafür. Bitte, glauben Sie mir, es war nicht meine Schuld. Ich bin nicht unvorsichtig und rücksichtslos gefahren... Aber es kam wenige Schritte vor meinem Wagen von der Seite und...«

Sie schauderte zusammen und barg das Gesicht in den Händen, denn das furchtbare Bild war wieder da.

Der robustere Alf Duncan aber schlug gemächlich ein Bein über das andere.

»Ja«, bestätigte er, »es kam aus einem Feldwege, der durch Hecken ganz verdeckt und an seiner Einmündung in die Straße auch noch ein wenig abschüssig ist. — Ein geradezu idealer Platz für solch ein Unglück. Ich habe mir ihn gründlich angesehen und kann mir ganz genau vorstellen, wie es zugegangen ist. Sogar den betreffenden Fleck glaube ich gefunden zu haben, denn es sind dort einige deutliche Spuren zurückgeblieben. — Und aus dem Grase am Rande habe ich verschiedene Überreste aufgeklaubt«, fügte er hinzu, indem er eine kleine Schachtel zum Vorschein brachte und damit schüttelte.

Es gab einen eigentümlich scheppernden Laut, und Isabel hob mit einem scheuen Blick jäh den Kopf.

»Was ist es?« wagte sie endlich mit zuckenden Lippen zu fragen und wurde völlig fassungslos, als sie nur ein kurzes, belustigtes Auflachen zur Antwort erhielt. Schon aber war ihr sonderbarer Unbekannter wieder ernst, und in seiner Stimme lag eine gewisse Schärfe.

»Weshalb haben Sie also nicht sofort gehalten, Miss Longden?«

»Weil ich den Kopf verloren hatte«, bekannte sie kleinlaut. »Es war ja so entsetzlich. — Und weil man...«

Sie brach plötzlich fast erschreckt ab, aber Duncan fuhr für sie fort:

»Und weil man Ihnen zurief, so rasch wie möglich weiterzufahren. Es scheint also, daß auch der arme Mr. Fielder den Kopf verloren hatte.«

»Mr. Fielder...?« Die Verwunderung Isabels wirkte ehrlich und überzeugend. »Sie irren. Ich war zwar am Nachmittag in seiner Gesellschaft, aber dann« — sie zögerte einen Augenblick — »hatte ich eine andere Verabredung.«

Zum ersten Male geriet der überlegene Mann etwas aus seiner Gelassenheit.

»Eine andere Verabredung?« wiederholte er überrascht. »Aber Mr. Fielder hat doch sicher wenigstens davon gewußt?«

»Nein.« Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Ich hatte sogar versprechen müssen, ihm nichts davon zu sagen. — Es handelte sich um ein Geschäft«, fügte sie verwirrt hinzu, weil die scharfen Männeraugen mit einem so eigenartigen Ausdruck auf ihr ruhten. »Und Mr. Fielder hätte sich vielleicht gekränkt, daß er dabei ausgeschaltet wurde. Das wäre mir sehr peinlich gewesen, denn er ist mir in liebenswürdigster Weise an die Hand gegangen.«

»Sicher hätte er sich sehr gekränkt«, pflichtete Duncan bei und begann dann ein nachdenkliches Selbstgespräch zu führen. »Also ein anderer — sieh da... Das ändert die Sache etwas.« Er blinzelte eine Weile vor sich hin, dann wandte er sich wieder an Isabel. »Dieser nette Mr. Fielder ist Ihnen wohl in Paris von Ihrem Landsmann Mr. Nash empfohlen worden?«

Sie nickte nur stumm.

»Und wie sind Sie zu dieser Bekanntschaft gekommen?«

»Durch einen Zufall. Ich sah in dem Antiquitätengeschäft einen alten Ring, der mir gefiel, und habe ihn erworben. Und Mr. Nash ist mir dann auch noch bei verschiedenen anderen Käufen behilflich gewesen.«

»In ebenso liebenswürdiger Weise wie Mr. Fielder.« Der junge Mann hatte schon wieder einen unerfindlichen Grund, ein höchst amüsiertes Lachen hören zu lassen. »Ja, verehrte Miss Longden, dieses gemütliche Europa wimmelt nur so von liebenswürdigen Leuten. — Wie alt sind Sie eigentlich?«

Die unvermittelte Frage klang sehr unverschämt, aber Isabel wurde sich dessen in ihrer augenblicklichen Verfassung nicht bewußt.

»Zwanzig Jahre«, erklärte sie freimütig. »Das heißt, bereits vorüber.«

»Na ja...« Die kurze, nichtssagende Bemerkung klang hoch unverschämter als vorhin die Frage. »Und dieser andere, von dem Mr. Fielder nichts wissen sollte, hat Sie also veranlaßt, sich hier zu verkriechen?«

Aber mit Isabels willenloser Fügsamkeit war es nun plötzlich vorbei. In ihrem Gesicht erschien ein abweisender Zug, und ihre ganze Haltung änderte sich mit einem Male.

»Darauf werde ich Ihnen keine Antwort geben«, erklärte sie fast schroff. »Eigentlich habe ich überhaupt schon zu viel gesagt. Ich kenne Sie ja gar nicht und weiß auch nicht, welche Absichten Sie eigentlich haben. Wenn Sie es wirklich gut meinen, und ich Ihnen vertrauen soll, so müssen Sie völlig offen mit mir sprechen. Ihre geheimnisvollen Andeutungen haben mich nur noch ratloser und unsicherer gemacht.« Sie schwieg einen Augenblick und schöpfte tief Atem, um dann etwas stockend fortzufahren. »Wenn jemand mir behilflich wäre, aus dieser schrecklichen Lage herauszukommen, würde ich ihm aufrichtig dankbar sein. Ich meine, daß ich...«

Sie wußte nicht, wie sie das, was sie sagen wollte, möglichst taktvoll in Worte kleiden sollte, aber der gewiegte Mr. Alf Duncan hatte bereits begriffen und kam ihr unbefangen zu Hilfe.

»Sie meinen, daß Sie sich die Sache etwas kosten lassen würden? Schön, das läßt sich hören. Ich werde mir also zu gegebener Zeit gestatten, Sie daran zu erinnern. — Vorläufig wollen Sie mir offen und ehrlich sagen, ob und wovor Sie sich fürchten. Danach wird nämlich mein Rat ausfallen. Ist es nur die Polizei, so würde ich Ihnen empfehlen, noch einige Tage in diesem sicheren Versteck zu bleiben. Ängstigen Sie sich aber wegen der Einsamkeit hier draußen oder wegen sonst irgend etwas, dann wäre es allerdings geratener, Sie trachteten, schleunigst von hier fortzukommen. Es dürften sich dabei zwar einige Schwierigkeiten ergeben, aber diese ließen sich schließlich aus dem Wege räumen. — Lieber wäre es mir allerdings, Sie blieben. Ich halte Sie für eine ganz tapfere, junge Dame, und wenn Sie meine Warnungen beherzigen, kann Ihnen kaum etwas geschehen. Übrigens werde ich schon selbst dafür sorgen.«

Er sah sie erwartungsvoll an, aber Isabel wich seinem Blicke unschlüssig aus. Sie hatte eine rückhaltlose Aufklärung erwartet, war aber wieder bloß mit unverständlichen Anspielungen abgefertigt worden. Nur das Wesentliche seiner Frage hatte sie begriffen und gab darauf endlich Antwort.

»Ich fürchte mich nur wegen der Folgen«, stammelte sie kaum hörbar. »Die Frau, die hier im Hause ist, hat mir davon so Entsetzliches erzählt.«

»Ach«, machte Duncan vergnügt, und in seinem Gesicht zeigte sich ein geradezu teuflisches Lächeln. »Also die liebe Mrs. Drew hat Ihnen erzählt... Natürlich, das gehört ja wohl auch dazu. Und wenn die würdige Frau mit ihren reichen Erfahrungen auspackt, muß dies allerdings gehörigen Eindruck machen. Das verstehe ich vollkommen. Aber damit ist es genug. Falls sie Ihnen noch einmal mit diesen angenehmen Erinnerungen in den Ohren liegen sollte, so sagen Sie ihr, sie möchte noch ein bißchen zuwarten. So in fünf oder sechs Jahren würde sie ganz bestimmt noch mehr und noch schauerlichere Erlebnisse zu berichten haben, und dann würden Sie sie gerne anhören. — Ich nehme an, die gute Mrs. Drew wird daraufhin sehr einsilbig werden und Sie werden Ruhe haben.«

Er verkniff ein Auge und blinzelte ihr aufmunternd zu, und seine Art, alle diese ernsten Dinge so leichthin abzutun, verfehlte nicht ihre Wirkung. Isabel atmete etwas auf, und auch ihr Vertrauen zu dem rätselhaften Mann stellte sich wieder ein.

»Was soll ich also tun?« fragte sie.

»Ein bißchen beherzt sein und aushalten«, bekam sie zur Antwort, und dann folgten wieder einige beiläufige Bemerkungen, deren Sinn sie nicht verstand. »Es ist ja nicht gerade gemütlich und unterhaltend hier, aber in so einem Polizeigefängnis lebt es sich auch nicht sonderlich angenehm. Ich kenne das. Und eine Strafe muß schließlich sein. Warum haben Sie nicht angehalten? — Vergessen Sie aber nicht, was ich Ihnen gestern geraten habe. Wie ich sehe, tragen Sie die Waffe in Ihrer Handtasche. Das ist gut. Man kann nicht wissen...«

Er war immer leiser und schleppender geworden, und sein Gesicht hatte einen gespannten Ausdruck angenommen. Nun legte er mit einer hastigen Bewegung seine Rechte warnend auf ihre Hand und lauschte mit zurückgeneigtem Kopfe in das Buschwerk in ihrem Rücken. Und ehe Isabel sich noch darüber klar wurde, was das zu bedeuten hatte, voltigierte er plötzlich mit einem federnden Sprung über die Bank.

Es raschelte und brach sekundenlang in den Sträuchern, dann war eine aufgeregt keuchende Frauenstimme zu vernehmen.

»Lassen Sie los, oder ich hetze den Hund auf Sie...«

»Bemühen Sie Ihr niedliches Schoßhündchen nicht, denn ich möchte nicht gerne Flöhe bekommen«, beruhigte sie Duncan in den sanftesten Tönen. »Es geschieht Ihnen ja nichts. Aber als Gentleman kann ich doch nicht zugeben, daß eine so feine, junge Dame hinter dem Busch die Ohren spitzen muß wie ein nichtsnutziges Stubenmädchen.«

Im nächsten Augenblick brachte er wirklich die heftig widerstrebende Molly mit einem festen Griff angeschleift. Sie glühte vor Wut und Scham, und ihr eleganter Hut saß schief auf dem Kopfe.

Isabel begriff, den Zweck der peinlichen Szene nicht, und die Erklärung Duncans machte ihn ihr nicht verständlicher.

»Miss Molly ist etwas neugierig«, sagte er, als ob er von einer alten Bekannten spräche, »und möchte für ihr Leben gerne wissen, was wir uns hier zu sagen haben. Ich bin daher dafür, daß wir sie zuhören lassen.« Er lächelte das robuste Mädchen, das sich zu einem giftigen Ausbruch sammelte, mit harmloser Liebenswürdigkeit an. »Ich war also eben dabei, eine kleine Geschichte von einem jungen Mann in Pimlico zu erzählen, die allerdings noch kein richtiges Ende hat. Aber das werden Sie vielleicht später einmal erfahren. Dieser junge Mann, ein kleiner Angestellter, hatte einen Griff in die Kasse seines Geschäftes getan, um sich einen guten Tag zu machen. Aber die Sache ist ihm sehr übel bekommen. Man fand ihn am nächsten Morgen jämmerlich zugerichtet und völlig ausgeplündert am Themseufer. Und die Polizei sucht nun seit Monaten nach seiner Begleiterin, die vielleicht etwas Näheres darüber wissen dürfte. — Ist Ihre Neugierde damit gestillt, Miss Drew?«

Molly hatte auf diese, höfliche Frage nichts zu erwidern. Sie stand da, als ob sie eben ein eisiges Sturzbad abbekommen hätte, und starrte den jungen, eleganten Mann mit einem geradezu entsetzten Blick an.

Duncan nickte ihr gnädig zu.

»So, und nun wollen wir Sie nicht länger aufhalten. Ich hoffe, daß Sie die interessante Geschichte nicht Mrs. Drew erzählen werden, denn die gute Frau könnte sich zu sehr aufregen. — Und dann noch eins.« Er blinzelte Isabel bedeutsam zu. »Wenn Sie vielleicht, einmal das eine oder das andere plötzlich vermissen sollten, Miss Longden, so wenden Sie sich vertrauensvoll an diese Perle aller Kammerzofen. Sie wird es binnen fünf Minuten herbeischaffen. — Binnen fünf Minuten«, wiederholte er noch einmal mit Nachdruck. »Haben Sie gehört, Miss Molly?«

Miss Molly hatte nichts mehr gehört, denn sie stürmte bereits dem Haus zu, und der Schreck lag ihr in allen Gliedern.

Isabel saß noch immer mit großen, scheuen Augen da, aber Alf Duncan hatte für ihre begierige, stumme Frage kein Verständnis. Er sah plötzlich nach der Uhr und zog die Brauen hoch.

»Also, über den gewissen andern wollen Sie mir wirklich nichts verraten?« fragte er dann unvermittelt.

Sie schüttelte auch diesmal sehr entschieden den Kopf.

»Nein. Es wäre unschön gehandelt, wenn ich ihm Ungelegenheiten bereiten würde.«

»Nun ja, es wären allerdings gewaltige Ungelegenheiten«, gab er mit zuckendem Mund zu und tat dann noch eine andere Frage. »Für wann sollen Sie also das Geld bereithalten?«

»Für einen der nächsten Tage... Das heißt, einen Scheck — und wenn es überhaupt dazu kommt...«

»Dann haben wir also vorläufig noch Zeit«, meinte er in seiner geheimnisvollen Art und streckte ihr die Hand hin.

Isabel schlug mit gesenkten Lidern ein, und als sie den Blick wieder hob, sah sie gerade noch, wie der junge Mann mit erstaunlicher Behendigkeit über die Mauer setzte.


23. Kapitel

Obwohl sie doch der Hochbetrieb dieses Tages genügend in Atem gehalten hatte, wollte die abendliche Stille im Golfhaus der lebhaften Mrs. Hingley gar nicht behagen, und sie versicherte später, daß sie das nahende Unheil deutlich vorausgefühlt habe.

Mit Mr. Gwynne hatte sie ja nicht gerechnet, denn der große Künstler schien nun einmal kein geselliger Mensch zu sein, und daß er sich nach seiner Rückkehr vom Golfplatz sofort zurückgezogen hatte, war nichts Besonderes.

Aber daß auch Mr. Duncan seit der Teestunde unsichtbar blieb, bedeutete für die stattliche Witwe eine arge Enttäuschung. Sie hatte ja mit dem feinen, netten Gast infolge des Rummels tagsüber nur wenige Worte wechseln können, und alle ihre verschwiegenen Hoffnungen hatten dem Abend gegolten. Zu diesem Zweck hatte sie sogar, obwohl sie ehrlich müde war, die erste freie Stunde darauf verwandt, ihre Ondulation und die Fingernägel gründlich herzurichten und in ihr Staatskleid zu schlüpfen, das sie sich eben erst in diesem Sommer anläßlich der Weihe der neuen Feuerspritze von Blackfield eigens in einem Londoner Salon hatte machen lassen. Dazu wollte aber, wie Mrs. Hingley fand, die Kette mit ihren drei Verewigten nicht recht passen, und sie ließ sie daher mit einem pietätvollen Seufzer in der Kommode verschwinden, um einen Halsschmuck von erbsengroßen Perlen zu wählen, der ihr auch besser zu Gesicht stand.

So angetan wandelte Mrs. Hingley bereits eine halbe Stunde durch die Räume und Gänge des Golfhauses und hatte mit ihrer sonoren Stimme ununterbrochen etwas anzuordnen oder auszusetzen. Der schläfrige, unbeholfene William geriet dabei immer mehr in Verwirrung, aber so bemerkbar sich die Frau des Hauses auch machte, hinter den Türen der Gästezimmer blieb es still. Diese lagen alle im Oberstock. Der bevorzugte Mr. Duncan und Mr. Perkins waren nach vorn gegen die Chaussee und den Wald zu untergebracht, während Mr. Gwynne und Miss Reid sich mit der Aussicht auf die buschige Lehne begnügen mußten, die unmittelbar hinter dem Hause anstieg.

Als auch die sanften Töne, mit denen sie dicht vor Duncans Zimmer ihre Anwesenheit kundgab, erfolglos blieben, zog Mrs. Hingley endlich etwas verstimmt wieder ab, und der geplagte Geschäftsführer glitt wie ein eiliger Schatten umher, um den Anweisungen, die auf ihn niedergeprasselt waren, nachzukommen.

Miss Reid öffnete lautlos ihre Tür, verharrte einen Augenblick unschlüssig an der Schwelle und schlüpfte dann nach vorn. Die matten Deckenlampen gaben kein aufdringliches Licht, und der dicke Läufer verschlang die leichten, flüchtigen Schritte.

An der Treppe machte sie noch einmal kurz halt und lauschte in das Erdgeschoß. Dann eilte sie weiter und klopfte leise, aber dringlich bei Duncan an: Als seine Stimme sich meldete, tat sie es ein zweites Mal noch dringlicher und drückte sich dann dicht neben die Tür.

Duncan öffnete nun wirklich selbst, um nachzusehen, und im gleichen Augenblick sprudelte Miss Reid auch schon mit vorsichtig gedämpfter Stimme los.

»Warum melden Sie sich nicht? Sie haben doch meinen Zettel gefunden? Ich muß mit Ihnen sprechen. So bald wie möglich... Es handelt sich um eine sehr wichtige und dringende Sache.«

»Um die Amerikanerin?« forschte Duncan ebenso hastig und leise.

»Vielleicht — ich weiß es noch nicht. Vor allem suche ich Charles Barres. Sie kennen ihn wohl, und es hat keinen Zweck, daß wir weiter Komödie spielen. Er ist gestern wegen dieses Dan Kaye...«

»Vorsicht«, zischte Duncan, und es klang so scharf, daß sie erschreckt innehielt. »Wenn es irgendwie damit zusammenhängt, keinen Laut davon in diesem Haus. — Ich warte um zehn Uhr auf dem Weg, der längs des Hanges und dann nach links führt. Gleich bei den ersten Bäumen. Gehen Sie über die Hintertreppe — die Tür wird offen sein. Und wie gesagt — sehen Sie sich vor...«

Die Tür schloß sich eilig, aber der ernste Ton der Warnung hatte Miss Reid derart betroffen gemacht, daß sie lange Sekunden nicht wagte, sich vom Fleck zu rühren.


24. Kapitel

Erst so gegen die achte Stunde erwiesen sich die umständlichen Vorbereitungen der immer aufgeregter harrenden und schaltenden Mrs. Hingley als nicht vergeblich, denn kurz nacheinander erschienen der Chefinspektor, dann Miss Reid und endlich Alf Duncan unten in dem gemütlichen kleinen Speisesaal.

Mr. Perkins in brummiger, kurz angebundener Laune, Miss Reid etwas blaß und nervös und für das kritisch prüfende Auge der Wirtin etwas zu sehr hergerichtet, der vornehme, junge Mann aber frisch, geschmeidig und mit einem so unwiderstehlichen Lächeln, daß die Perlenkette am Halse von Mrs. Hingley zu platzen drohte.

Die Gäste begrüßen einander höflich, aber fremd und hatten auch weiter kein Interesse für einander.

So verlief das Dinner in geradezu unheimlicher Stille. Sogar die sonst so laute Herrin des Hauses dirigierte den müden, abgehetzten William bloß mit den Augen, aber ihre Blicke waren so schrecklich, daß der Geschäftsführer immer kopfloser hin und her schoß.

Als endlich abserviert war, atmete Mrs. Hingley tief auf und puderte hinter einer Portiere rasch ihr vor Erregung glühendes Gesicht. Dann richtete sie zunächst an Miss Reid und hierauf an Mr. Perkins einige artige Fragen und war gar nicht gekränkt, als diese ziemlich einsilbig beantwortet wurden, denn um so früher kam sie an den dritten Tisch.

Fünf Minuten später befand sie sich dort in einer äußerst angeregten Unterhaltung. Das heißt, sie sprach, und Mr. Duncan hörte stumm zu. Aber mit Blicken, die auf die empfängliche Witwe wirkten, als ob sie in einem Verjüngungsbad säße. Sie plauderte und tuschelte, seufzte und kicherte wie ein kurzgeschürztes Mädchen und war krampfhaft bemüht, in dieser neckischen Vertraulichkeit keine ernüchternde Pause eintreten zu lassen.

Mr. Alf Duncan lächelte die strahlende Frau immer bestrickender an, aber er hörte ihr schon längst nicht mehr zu. Seine Gedanken waren mit ganz anderen Dingen beschäftigt, und auch seine seelenvollen Blicke hatten mit dem verschämten Mienenspiel der außer Rand und Band geratenen Frau nichts zu tun. Sie glitten von Zeit zu Zeit zu dem mürrischen Mann von Scotland Yard hinüber, hafteten dann wieder auf den unruhigen Händen von Miss Reid und folgten William, dessen Füße unsicher und ungeschickt über den Teppich schlürften. Sie nahmen wahr, wie Miss Reid plötzlich sehr angelegentlich auf die Uhr an ihrem Handgelenk blickte und dann mechanisch an der Feder drehte, und sie trafen auch auf den Polizeisergeanten, der plötzlich draußen auf der Veranda auftauchte und in strammer Haltung die Hand an den Helm legte.

Mr. Perkins erhob sich, nickte einen kurzen Gruß und marschierte breitbeinig ins Freie.

Miss Reid zog nochmals ihre Uhr zu Rate, dann neigte auch sie kühl den dunklen Kopf und verschwand durch die Tür zur Hall.

Mrs. Hingley aber schickte sich an, nun noch freier und angeregter als bisher weiter zu plaudern.

»Ich werde also jetzt einmal zum Buschhaus hinausschauen, Sir«, flüsterte draußen der Sergeant dem Chefinspektor zu. »Wenn Sie mich noch brauchen, bin ich in etwa einer Stunde wieder hier. Ich könnte es zwar viel kürzer machen, wenn ich gleich hier hinter dem Haus den Weg über die Lehne nähme, aber bei Nacht ist das zu gefährlich. Wenn man drüben auf der anderen Seite ausrutscht, kann man an die fünfzehn Meter tief abstürzen und sich den Hals brechen.«

»Das hat keinen Zweck«, sagte Perkins kurz. »Ich brauche Sie heute nicht mehr. — Morgen um sieben Uhr früh melden Sie sich wieder.

Der Sergeant salutierte und schlug in seinem gleichmäßigen Dienstschritt die Richtung zur Chaussee ein.


25. Kapitel

Man vernahm deutlich, wie der Chefinspektor hinter ihm schwer die Stufen hinunterstapfte, und im selben Augenblick schrillte in dem Anrichteraum, der direkt neben dem Speisesaal lag, eine Klingel mehrmals hintereinander.

Duncans Blick streifte die Uhr über dem Kamin. Sie zeigte 9 Uhr 15 Minuten.

Mrs. Hingley plauderte noch immer lebhaft weiter, und erst als die Glocke nebenan Sturm zu läuten begann, brach sie jäh ab und sah sich mit gebieterischen Augen suchend nach William um.

»Das ist Mr. Gwynne«, erklärte sie Duncan wie zur Entschuldigung. »Er wird immer gleich ungeduldig.«

Sie traf Anstalten, sich zu erheben, um dem langsamen Geschäftsführer Beine zu machen, aber dieser stürzte bereits von draußen herein und eilte nach der Hall.

»Also kein angenehmer Gast, dieser Mr. Gwynne«, meinte Alf leichthin, und die Wirtin schüttelte mißmutig den Kopf. Sie fand es unerhört rücksichtslos von dem Mann, daß er die schöne Stimmung durch sein aufgeregtes Gebimmel gestört hatte.

»Nein«, erklärte sie. »Er ist in allem so eigen. Obwohl er sich bei seinen Mahlzeiten an keine Stunde hält, soll dann alles immer in einer Minute gehen, sonst schlägt er einen furchtbaren Lärm. William ist ja gewiß nicht der flinkste, aber so, wie Mr. Gwynne es sich vorstellt, trifft es höchstens ein ›Tischlein, deck dich‹. Ich habe das gestern abend zufällig selbst beobachtet. Da wünschte nämlich Mr. Gwynne etwa um dieselbe Zeit noch eine Flasche Wein, aber William war noch nicht bis zur Treppe gekommen, als der Krach schon losging. Mr. Gwynne hat sich dabei so aufgeregt, daß er an ganzen Leibe zitterte, und dann hat er plötzlich geschrien, daß er bei einer derartigen Bedienung verzichte, und hat die Tür zugeschlagen und abgeriegelt. — Natürlich war mir das schrecklich peinlich«, versicherte Mrs. Hingley mit einem tiefen Seufzer und empfand es sehr wohltuend, daß sie in den treuherzigen Augen ihres Gegenübers so warmes Verständnis las.

»Natürlich...« sagte Duncan. »Also gestern abend um dieselbe Zeit...«

Die Wirtin nickte bestätigend, aber plötzlich schnellte ihr Kopf erschreckt in die Höhe, weil von der Hall her ein dumpfes Poltern und das Klirren von Scherben zu hören war.

Mrs. Hingley flog bereits ab, und der junge Mann sah unwillkürlich noch einmal nach der Zeit. Es war nun 9 Uhr 27 Minuten.

Dann schlenderte er gemächlich hinter der besorgten Frau des Hauses drein.

Das Unglück war nicht so arg, wie es der Lärm hatte befürchten lassen. William hatte Mr. Gwynne Tee aufs Zimmer gebracht und war auf dem Rückweg mit dem Tablett, auf dem er eine leere Sodaflasche und einige Gläser trug, über einen ganzen Treppenabsatz herabgestürzt. Er hatte sich zwar bereits wieder aufgekrabbelt, lehnte aber, den linken Fuß schonend aufgezogen, etwas verstört am Geländer.

»Was haben Sie schon wieder angestellt, Sie Unglücksmensch?« fuhr ihn Mrs. Hingley ungnädig an, wurde aber angesichts seiner Jammermiene sofort etwas milder. »Ist Ihnen etwas geschehen?«

»Ich weiß nicht«, stotterte der Geschäftsführer, indem er vorsichtig mit dem Fuß schlenkerte. »Ganz scheint er ja zu sein, aber ich kann nicht auftreten. Vielleicht habe ich mir den Knöchel ein bißchen verstaucht...«

In diesem Augenblick nahm der gefällige Mr. Duncan mit zwei Sätzen die halbe Treppe und faßte mit einem raschen Griff hilfsbereit nach dem verunglückten Bein.

William war so überrascht, daß er es ohne Widerstand geschehen ließ, aber dann stieß er einen lauten Schmerzensschrei aus, und nun meldete sich auch Mr. Gwynne. Er erschien, angetan mit einem prunkvollen Hausanzug aus geblümtem Seidensamt, oben an der Treppe, und sein düsteres Gesicht lag in zürnenden Falten.

»Was geht hier vor?« grollte er vorwurfsvoll in die Tiefe. »Kennt man denn in diesem Haus keine Rücksicht auf die Gäste? Ich habe das Bedürfnis zu schlafen, und man poltert vor meiner Tür, wie in einem Pferdestall. Obwohl man doch schon wissen sollte, daß meine Nerven...«

Der gestörte Mr. Gwynne war immer pathetischer geworden, aber nun brach er plötzlich mitten im Satz ab, zischte einige abgerissene Worte hervor und stob in förmlicher Flucht nach seinem Zimmer zurück. Die Tür flog, krachend ins Schloß, und mit dem gleichen Ingrimm wurde der Schlüssel zweimal energisch umgedreht.

Alf Duncan schmunzelte befriedigt, aber die Wirtin gebot mit verzweifelten stummen Gesten Stille.

»Tummeln Sie sich«, raunte sie dem Mädchen zu, das herbeigeeilt war, um die Scherben zusammenzukehren. »Und Sie«, wandte sie sich ebenso leise, aber bestimmt an den schuldbewußten William, »legen sich sofort nieder. Machen Sie sich einen kalten Umschlag, damit Sie morgen wieder auf dem Damm sind. — Heute werde ich mich ohne Sie behelfen.«

Der Geschäftsführer nickte dankbar und humpelte mit einem kurzen »Gute Nacht« mühsam die Treppe hinauf.

»Wo schläft er denn?« erkundigte sich Duncan so nebenbei, und Mrs. Hingley gab ihm bereitwilligst Auskunft.

»Oben in dem rückwärtigen Seitengang. Früher hatte ich die Leute alle vorn, aber wegen der Gäste muß doch jemand bei der Hand sein.«


26. Kapitel

Eben als der Sergeant den Serpentinenweg zum Buschhaus hinunterstieg, schlug die Turmuhr oben in Blackfield drei Viertel zehn. Er hatte sich Zeit gelassen, denn er war nun wegen der neuen Sache beim Schwarzen Meilenstein seit fast vierundzwanzig Stunden ununterbrochen auf den Beinen und fühlte sich ehrlich müde.

Außerdem war er überzeugt, daß sein nächtlicher Erkundungsgang keinen Zweck hatte. Wenn sich im Buschhaus wirklich jemand aufhielt, so hätte er schon längst etwas davon merken müssen. Aber der Chefinspektor von Scotland Yard wünschte darüber Gewißheit, und er war ein pflichteifriger Mann, der allen Befehlen genauestens nachkam.

Der Kessel lag dunkel und still, nur die Wände des Steinbruchs leuchteten matt aus der Finsternis. Das Buschhaus, das knapp daneben an einem ziemlich steil aufstrebenden Hang klebte, war in seiner verwilderten Heckenumfriedung erst zu entdecken, wenn man dicht davor stand, und der Sergeant mußte seine Taschenlaterne hervorholen, um einen Durchgang zu finden. Dann besah er sich zunächst die Schwelle, vor der ein dicker Teppich gefallenen Laubes angehäuft war, und hierauf die Tür und die mit einer harten Staubkruste überzogenen Fenster.

Da war nirgends ein Anzeichen, daß hier jemand aus- und einging oder in diesem Haufen Schmutz und Moder vielleicht gar hauste.

Aber der Sergeant nahm die Sache gründlich und versuchte nun auch das Schloß. Die Klinke gab seinem vorsichtigen Druck nach, aber die Tür öffnete sich nicht, und der gewissenhafte Mann überlegte eine Weile unschlüssig. Es war ein leichtes, mit dem morschen Holz fertig zu werden, aber so weit ging sein Auftrag eigentlich nicht. Daraus konnten Unannehmlichkeiten entstehen, die er nicht auf seine Kappe nehmen wollte. Er wußte nicht, wem die Hütte mit dem Steinbruch augenblicklich gehörte, und manche Leute verstanden in solchen Dingen keinen Spaß.

Er entschloß sich daher, vorerst seine Nachforschungen von außen fortzusetzen. Wenn sich dabei auch weiterhin nichts Verdächtiges ergab, so hatte ja ein gewaltsames Eindringen keinen Zweck.

Der Polizist arbeitete sich mit seiner Laterne durch die Büsche an die verfallene Hofmauer heran, die ein Stück den Hang hinauflief. Sie war kaum mannshoch, und man konnte von hier aus nun auch die fensterlose Rückseite des Hauses sehen. Diese hatte ebenfalls eine Tür, und der Sergeant ließ es sich nicht verdrießen, hinüberzuklettern und auch hier einen gründlichen Augenschein vorzunehmen. Aber auch dieser Zugang war fest versperrt, und der Mann glaubte nun seiner Sache völlig sicher zu sein. Nur um wirklich alles getan zu haben, was er tun konnte, klopfte er mit der geballten Hand noch mehrere Male kräftig an das Holz. Er war gar nicht enttäuscht, als auch nicht der geringste Laut aus den brüchigen Mauern drang.

Sonst bot der verwahrloste Hofraum nichts, was der Beachtung wert war. Die Umfriedung reichte bis zu einer fast senkrecht aufsteigenden Felswand, und dort kam dicht am Rande des Steinbruchs auch der gefährliche Steig herunter. Wer ihn nicht scheute, konnte in sechs oder sieben Minuten auf der Höhe und in weiteren drei oder vier Minuten über die steile Lehne unten beim Golfhaus sein.

Der Sergeant dachte auch jetzt nicht daran, sich auf diese Weise den Rückweg abzukürzen. Er ging wieder längs dem Wiesengrunde vor dem Buschhaus und begann dann vorne am Hange die Serpentine hinaufzusteigen, über die er heruntergekommen war.

Er war eben zur ersten Biegung gelangt, als er mit einem jähen Ruck haltmachte und den Kopf lauschend nach der Richtung des Steinbruchs wandte.

Es war ein eigentümlich dumpfer Schlag von dort hergedrungen, und nun hörte er auch deutlich, wie abgebröckeltes Geröll in die Tiefe kollerte...

Das war nichts Besonderes. Von den Wänden, die durch Hunderte von Sprengschüssen zerrissen waren, mochten sich wohl häufig Gesteinsmassen lösen...

Trotzdem trieb ein unbestimmtes Gefühl den Polizisten im Eilschritt zurück. Er stürmte um das Buschhaus herum dem Steinbruch zu, aber als er an die Mauer kam, hielt er plötzlich inne, denn er glaubte dahinter ein Geräusch vernommen zu haben.

Kurz entschlossen setzte er über den Steinwall hinweg, und als er drüben landete, ließ er auch schon seine Taschenlampe spielen.

Die Gestalt, die der helle Lichtkegel traf, duckte sich blitzschnell und brach in wilder Flucht durch das Strauchwerk, aber der Sergeant holte sie mit wenigen Sprüngen ein und riß sie herum...

Dann aber ließ seine Hand plötzlich los, und er starrte in höchster Verwunderung in das Gesicht, das er vor sich hatte.

»Sie?« stammelte er betroffen. »Ja, was suchen denn Sie hier...?«

Der andere wand sich, als ob er noch immer nach einem Ausweg suchte, dann ließ er ein leises sprödes Lachen hören.

»Allerdings — gewiß — ich verstehe, daß Sie überrascht sind... stieß er endlich verwirrt und abgerissen hervor, indem er sich mit dem Taschentuch krampfhaft die nasse Stirn trocknete. »Aber ich werde es Ihnen erklären. — Sie werden...«

Er steckte das Tuch hastig wieder ein — und im nächsten Augenblicke fuhr seine Hand mit einer blitzschnellen Bewegung gegen das Gesicht des Polizisten.

Der Mann schnellte mit einem heiseren Röcheln die Arme in die Höhe und sackte in der gleichen Sekunde zu Boden.


27. Kapitel

Der entschiedene Protest des nervösen Mr. Gwynne hatte gewirkt. Zehn Minuten vor zehn herrschte im Golfhaus lautlose Stillte, und sie wurde auch durch Alf Duncan nicht gestört, als dieser in seiner rücksichtsvollen Art durch den langen Gang nach der Seitentreppe schlich.

Miss Reid hatte einen kürzeren Weg, denn ihr Zimmer lag fast unmittelbar daneben, und das beruhigte den jungen Mann. Vorläufig weilte sie noch oben, und ihre Fenster waren die einzigen erleuchteten auf dieser Front. Von dem Fuß des Hanges aus konnte Duncan sogar einige Male ihren unruhigen Schatten sehen. Wahrscheinlich rüstete sie sich bereits zum Weggehen, und er war in ernster Sorge, ob sie dabei seine dringende Warnung auch wirklich beachten würde.

Er wußte, wie ernst und gefährlich die Sache war, wenn er sich über die Zusammenhänge auch noch nicht ganz klar zu werden vermochte. Es ging um verschiedenes, aber irgendwo gab es für alle diese Dinge zweifellos einen gemeinsamen Angelpunkt, für die Hundert-Dollar-Scheine, für das böse Erlebnis der hübschen Miss Longden und für das Geheimnis des Schwarzen Meilensteins.

Alf Duncan glaubte seit einigen Stunden auch zu ahnen, in welcher Hand alle diese Fäden zusammenliefen, aber mit Ahnungen war nichts anzufangen. Vielleicht würden ihn aber nun die Mitteilungen von Miss Reid etwas weiterbringen. Daß der arme Dan Kaye unmittelbar vor seinem verhängnisvollen Ausflug bei Fielder gewesen war, hatte er ja selbst beobachtet, aber nun würde er vielleicht erfahren, was der alte Zuchthäusler hier draußen gesucht hatte. Und noch mehr interessierte Duncan die Andeutung über Charles Barres. Das war eine neue Figur in dem etwas undurchsichtigen Spiel. Was hatte Barres damit zu tun, und warum war Miss Reid auf einer so aufgeregten Suche nach ihm?

So sehr der abenteuerliche Gentleman von diesen seinen Gedanken in Anspruch genommen wurde, hielt er auf seinem Wege doch Augen und Ohren offen. Aber es schien nirgends eine neugierige menschliche Seele zu geben.

Der Pfad führte zunächst um eine kleine Nase des buschigen Hanges herum und bog dann nach links ab, wo in einer Entfernung von etwa hundert Schritten eine vereinzelte Baumgruppe stand. Noch etwas weiter lag dann das Fichtendickicht, und hinter diesem dehnte sich der Golfplatz aus.

Der ganze Weg mochte etwa acht Minuten betragen, und Alf war daher noch vor der verabredeten Zeit an Ort und Stelle. Er konnte von hier aus infolge der Dunkelheit nur eine kurze Strecke des Fußsteiges übersehen, und das Golfhaus war überhaupt durch den vorspringenden Teil des Hanges verdeckt.

Miss Reid war nicht so pünktlich.

Aber erst nach einer Viertelstunde begann Duncan ungeduldig und dann nach weiteren fünf Minuten unruhig zu werden und nach einer Erklärung für ihr langes Ausbleiben zu suchen. Daß sie es sich anders überlegt hätte, war kaum anzunehmen, aber vielleicht war im letzten Augenblick etwas dazwischen gekommen, was sie abhielt. Und schließlich konnte es auch sein, daß man die offene Hinterpforte entdeckt und wieder verschlossen hatte, obwohl der Schlüssel sich in seiner Tasche befand. Dann war Miss Reid dieser Weg versperrt, und zu einem anderen konnte sie sich vielleicht nicht entschließen...

Alles das war möglich, aber nebenbei drängten sich Alf allmählich weit bedenklichere Vermutungen auf. Er dachte an den ungeduldigen Mr. Gwynne und an den ungeschickten William, und als es halb elf geworden war, wollte er sich Gewißheit verschaffen.

Noch lautloser und vorsichtiger, als er gekommen war, eilte er den Pfad wieder zurück und wurde erst etwas langsamer, als das Golfhaus in schattenhaften Umrissen vor ihm auftauchte.

Sein erster Blick galt den Fenstern von Miss Reid, und als er sie noch immer erleuchtet fand, ließ seine Spannung nach. Anscheinend hatte sich also wirklich ein Hindernis ergeben, und wahrscheinlich wartete die Frau nun auf seine Rückkehr, um ihm davon Mitteilung zu machen.

Das wollte Duncan aus gewissen Gründen vermeiden, und er suchte nach einer Möglichkeit, sich mit ihr auf eine andere tunlichst unauffällige Art in Verbindung zu setzen. Wenn er den Hang ein Stückchen hinaufstieg, mußte er Einblick in ihr Zimmer gewinnen, und vielleicht gelang es ihm auch, sich bemerkbar zu machen, da eines der Fenster offenstand.

Wenige Schritte vom Haus zeigte sich neben dem Fußsteig eine kleine Lücke in dem dichten Gestrüpp des Hanges, und Alf begann, sich behutsam durchzuarbeiten. Es ging zwar dabei nicht ganz ohne Geräusch ab, aber das ließ sich nun einmal nicht vermeiden. Und da ringsumher eine so beruhigende Stille herrschte, war ja zu übertriebener Vorsicht eigentlich kein Grund vorhanden.

Zunächst kam Duncan ziemlich gut und rasch vorwärts, da er auf eine Art Pfad geraten war, aber als er sich nach dem Haus umsah, merkte er, daß ihn diese Richtung zu weit abführen würde. Er mußte sich mehr nach rechts halten, wenn auch das ziemlich hohe Sträuchergewirr wenig einladend war.

Eben im Begriff abzubiegen, gewahrte er auf einer der Stauden plötzlich einen hellen Fleck, und kaum hatte er näher hingesehen, als er auch schon mit großer Hast zugriff.

Es war ein winziges Damentaschentuch, und ohne es näher zu betrachten, glaubte er sich über die Verliererin bereits im klaren zu sein. Er hatte dieses eigenartige, etwas aufdringliche Parfüm schon bei seinem Besuche im Kontor Fielders und dann heute wieder bei der kurzen Unterredung vor seiner Tür mit Unbehagen wahrgenommen.

Was hatte aber dann dieser Fund zu bedeuten? War Miss Reid irre gegangen und, statt den unteren Weg weiter zu verfolgen, hier heraufgestiegen? — Das hatte wenig Wahrscheinlichkeit für sich. Der Pfad längs des Hauses war ausgetreten und auch in der Dunkelheit nicht zu verfehlen. Um hier herauf zu geraten, mußte man aber schon eine gewisse Ortskenntnis besitzen.

Über Alf Duncan kamen wieder die gewissen Gedanken, und er brach sich plötzlich mit ziemlicher Eile Bahn.

Aber seine Mühe lohnte sich nicht. Als er sich endlich gegenüber der Hausfront befand, vermochte er zwar tatsächlich einen Teil des erleuchteten Zimmers zu überblicken, von Miss Reid jedoch war nichts zu sehen. Sie mußte sich völlig ruhig verhalten — oder war überhaupt nicht da.

Nach zehn Minuten vergeblicher Beobachtung stand für Duncan das letztere fest, und sein Fund bekam nun wirklich ernstere Bedeutung.

Wo war Miss Reid, und was war geschehen?

Der junge Mann versuchte den kürzesten Weg den Hang hinunterzunehmen, aber schon nach wenigen Schritten kam er nicht weiter. Er arbeitete sich also wieder nach der lichteren Seite durch, von der er gekommen war, und atmete eine Sekunde auf, als er das ärgste Gewirr von Zweigen und Blättern endlich hinter sich hatte...

Aber im letzten Bruchteil dieser Sekunde warnten ihn seine geschärften Sinne plötzlich vor einer Gefahr. Er duckte sich blitzschnell und sprang zurück — eben als dicht vor ihm ein Arm aus dem Buschwerk stieß.

Duncan war so kaltblütig, daß er auf den Knall wartete, der nun folgen würde, aber dieser kam nicht. Nur ein kurzes, leises Fauchen war zu hören, und dann brach jemand auch schon aufwärts durch das Unterholz...

Ohne zu überlegen, stürzte Alf hinterdrein, und erst als das Knacken und Rauschen, das ihm einzig den Weg wies, plötzlich aufhörte, wurde er sich der Aussichtslosigkeit dieser Jagd bewußt. Warum war er überhaupt hinter dem Flüchtenden her? Es hatte zwar wie ein Überfall ausgesehen, war aber doch keiner gewesen...

Der junge Mann mußte feststellen, daß er bei der hitzigen Verfolgung die Orientierung verloren hatte, und es verging eine weitere Viertelstunde, bis er sich wieder zurechtfand.


28. Kapitel

Die Nebenpforte des Golfhauses war noch immer unverschlossen, aber Alf Duncan versperrte sie nun wieder und glitt wie ein Schatten die schmale Seitentreppe hinauf.

Auf dem Rückweg war er zu einem Entschluß gekommen, der ihm zwar nicht sehr sympathisch war, aber unter den gegebenen Verhältnissen geboten schien. Wenn er sich nicht sehr täuschte, bereitete sich nun eine rasche Entwicklung vor, bei der die Dinge kaum mehr so leicht auseinanderzuhalten sein würden, und ein Mißgriff der einen Seite auch den Erfolg der andern in Frage stellen konnte. Und schließlich hatte er ja so viele Trümpfe in seinem Spiel, daß ihm die Vorhand nicht mehr streitig gemacht werden konnte.

Das Zimmer des Chefinspektors lag der Tür des nervösen Mr. Gwynne etwas schräg gegenüber. Das war für Duncan eine Mahnung, besonders leise zu sein, als er mit dem Fingernagel in kurzen Pausen drei leichte Kratzer tat. Eine Maus konnte sich bei ihrer Arbeit nicht rücksichtsvoller benehmen, und es schien gerade kein geeignetes Mittel, einen abgehetzten Menschen aus dem ersten Schlummer zu wecken.

Aber Alf hatte noch den Finger erhoben, als er auch schon Einlaß fand. Das Zimmer war dunkel, aber dann glitt der geölte Riegel vor, und Perkins knipste das Licht an. Er war noch immer angekleidet und schien über einer Arbeit gesessen zu haben, denn den Tisch bedeckten Orientierungskarten und verschiedene Papiere.

In dem Blicke, mit dem er den Besucher empfing, lag gewaltige Spannung, und der Chefinspektor entwickelte diesmal sogar eine geradezu verblüffende Höflichkeit. Er schob dem leichtlebigen jungen Herrn beflissen einen Stuhl und die Zigarrenkiste zurecht, brachte eine Flasche herbei und wartete dann begierig, aber ohne jedes Zeichen von Ungeduld, was der andere ihm so Dringendes mitzuteilen haben mochte.

Duncan ließ ihn ziemlich lange warten, denn er mußte sich wieder einmal erst seinen äußeren Menschen gründlich betrachten. Der dunkelblaue Anzug sah sehr mitgenommen aus, und das feine Schuhwerk hatte es bei der Partie über Stock und Stein ebenfalls gehörig abbekommen.

Auch Perkins bemerkte das und ergriff die Gelegenheit, um vielleicht endlich zur Sache zu kommen.

»Es scheint kein hübscher Weg gewesen zu sein«, meinte er. »Den Rücken haben Sie verstaubt, als ob Sie geradenwegs aus einer Mühle kämen...« Der Chefinspektor wußte sich den seltsamen Blick, der ihn traf, nicht zu deuten und nickte bekräftigend. »Jawohl. Gerade unter dem Kragen...«

Er machte Miene, mit seiner großen Hand säubernd über die Stelle zu fahren, aber in diesem Augenblicke schnellte der junge Mann mit einem förmlichen Sprung zurück und ging auch schon daran, sich mit größter Behutsamkeit den Rock vom Leib zu ziehen.

»Also das war es...«, sagte er, als er sich die graue Staubschicht eine Weile nachdenklich betrachtet hatte. »Wahrscheinlich hätte ich doch schießen sollen. Bitte, einen Bogen reines Papier, Mr. Perkins...«

Der Chefinspektor begriff nicht ein Wort, aber er gehorchte und sah dann mit großen Augen zu, wie Duncan den Schmutz mit einem Messer sorgsam von dem Kleidungsstücke schabte. Die Ausbeute war nicht besonders reich, aber einen Fingerhut voll mochte sie doch ergeben, und der junge Mann schien sehr zufrieden, als er sie mit großer Behutsamkeit geborgen hatte.

»So«, sagte er, indem er das Papier Perkins überreichte, »nehmen Sie das an sich, und verwahren Sie es gut. Es dürfte zu Ihrer Sache gehören und wahrscheinlich eine große Rolle spielen. — Nun aber müssen wir uns um Miss Reid kümmern.«

Die unvermittelte Bemerkung ließ den Chefinspektor den Kopf aufwerfen, und die Spannung in seinem ledernen Gesicht wurde noch deutlicher.

»Ich warte seit ungefähr einer halben Stunde auf ihre Rückkehr«, erklärte er. »Sie hat kurz vor zehn das Haus verlassen, und ich bin ihr gefolgt, habe aber draußen nichts mehr von ihr entdecken können.«

Es war nun Duncan, der plötzlich eine lebhafte Wißbegierde bekundete.

»Wo haben Sie ihre Spur verloren?«

»Ich habe sie überhaupt nicht gefunden«, gestand Perkins etwas verlegen. »Als ich hörte, wie die Frau sich mit solcher Heimlichkeit über die Seitentreppe davon machte, bin ich in der nächsten Minute auf demselben Weg hinter ihr drein. Aber als ich aus dem Haus kam, war sie verschwunden. Ich bin dann noch ein Stückchen längs dem Hang gegangen, habe es jedoch schließlich sein lassen.«

»Wie weit sind Sie gekommen?«

»Nur etwa hundert Schritte. Sie hatte ja keinen allzu großen Vorsprung, und wenn ich auf dem rechten Weg war, hätte ich sie unbedingt noch sehen müssen.«

»Und gehört haben Sie auch nichts?«

Der Chefinspektor schüttelte den Kopf.

»Keinen Laut«, versicherte er befremdet. Aber statt einer Erklärung kam eine neue Frage.

»Weshalb interessieren Sie sich für Miss Reid?«

Um den breiten Mund des Detektivs erschien wieder einmal das spöttische Feixen, aber es war diesmal etwas bescheidener als sonst.

»Nun, unsereiner hat zwar nicht in Oxford studiert...«

»In Cambridge«, fiel ihm Duncan mit ärgerlichem Nachdruck ins Wort. »Daß Sie sich das nicht merken können. — Sie werden mit Ihrem schwachen Gedächtnis einmal noch große Unannehmlichkeiten haben.«

»Also schön, in Cambridge«, fuhr Perkins grinsend fort. »Und man besitzt auch nicht die Intelligenz und die vielseitigen Beziehungen gewisser Leute von Welt, aber man weiß doch immerhin einiges. Und eine Frau wie diese Miss Reid, oder wie sie sonst heißen mag, merkt man sich, wenn man ihr einmal begegnet ist. Ich habe zufällig dem großen Erpressungsprozeß beigewohnt, den man ihr vor ungefähr einem Jahr vor Old Bailey angehängt hatte, und habe dabei einiges über ihre Methoden und ihre Tüchtigkeit erfahren. Und wie sie mir heute nachmittag plötzlich hier mit diesem käsigen Menschenfreund in den Weg gelaufen ist, bin ich blitzartig auf eine Vermutung gekommen.«

»Auf welche Vermutung?« forschte der junge Mann weiter, aber der Chefinspektor schien dieses förmliche Verhör nun endlich satt zu haben. Er zuckte nur mit den Achseln und verkniff trotzig die Lippen.

»Also, sagen wir auf die Vermutung, daß Miss Reid etwas mit dem Fall Dan Kaye zu tun haben könnte«, setzte ihm Duncan hartnäckig zu. »Sie haben richtig geraten. Der Zettel, den Sie hier auf dem Tisch liegen haben« — er tippte mit dem Zeigefinger auf das schmierige, zerknitterte Papier — »ist von ihrer Hand geschrieben. Gestern vormittag — so gegen elf Uhr.«

»Sehen Sie«, triumphierte der Chefinspektor. »Also hat sie ihn wirklich herausgeschickt. — Aber zu welchem Zweck?«

Der Gentleman legte sich in den Stuhl zurück und starrte mit ernstem Gesicht zur Decke. Dann heftete er die halbgeschlossenen Augen plötzlich mit einem langen Blicke auf Perkins.

»Das herauszubringen ist nun Ihre Sache. — Warum haben Sie auf Miss Reid nicht besser aufgepaßt? Als Sie ihr folgten, war sie eben auf dem Wege, um mir etwas darüber zu sagen. Aber sie ist nicht so weit gekommen, und ich fürchte sehr« — er machte eine kleine Pause, die noch mehr verriet als seine Worte — »daß wir aus ihrem Mund nun nichts mehr erfahren werden...«

Der Chefinspektor war mit einem jähen Ruck aufgefahren.

»Sie glauben...«, stieß er heiser hervor und scheute sich, das Weitere auszusprechen.

Alf Duncan nickte.

»Förmlich zwischen uns beiden... Gut, was? — Ich schätze, daß Sie keine hundert Schritte von dem Ort entfernt gewesen sein dürften, als es geschah. Aber ich habe Sie ja darauf aufmerksam gemacht, daß Sie auf verschiedene Teufeleien gefaßt sein müßten. Das war die erste, aber kaum die letzte. Der Schwarze Meilenstein ist eine verdammt gefährliche Sache — auch wenn man nicht im Auto fährt. Sehen Sie sich also vor. Ich habe meine Lehre weg und bin gewitzigt.«

Und der junge Mann begann kurz und gelassen zu berichten, was er für notwendig fand. Der Chefinspektor hörte mit verhaltenem Atem zu, und nur seine derben Finger führten ein unruhiges Spiel auf.

»Was also jetzt?« würgte er endlich unschlüssig hervor, als Duncan fertig war und das Taschentuch mit gespitzten Fingern auf den Tisch legte.

»Darüber müssen Sie sich schlüssig werden«, bekam Perkins zu seiner Erleichterung und doch auch ein wenig zu seiner Enttäuschung zur Antwort. »Es betrifft zweifellos Ihren Fall, und Sie tragen die Verantwortung. Daran wollen wir uns halten. — Wenn Sie aber auf einen Rat hören wollen, so übereilen Sie nichts. Es gibt diesmal so viele Fährten, daß Sie leicht auf eine falsche geraten können, und der richtige Mann Ihnen dabei durch die Lappen geht.«

Perkins nagte aufgeregt an den Lippen.

»Wollen Sie nicht ein bißchen deutlicher werden?« drängte er, indem er sich erwartungsvoll über den Tisch beugte.

»Nein«, erklärte Duncan mit einer Gelassenheit, die den Chefinspektor fast aus der Haut fahren ließ. »Ich kann Ihnen höchstens noch verraten, daß der arme William sich heute abend den Fuß verstaucht hat, und der alte Komödiant Ihnen gegenüber einen Heidenspektakel schlug, weil er in seiner Ruhe gestört wurde. — Und vielleicht auch noch, daß Mr. Fielder die Freundlichkeit hatte, mir einen meiner hübschen Dollarscheine zu wechseln. — Das ist aber nun wirklich alles, und damit werden Sie kaum viel anzufangen wissen.«

Der Chefinspektor schnitt ein verzweifeltes Gesicht.

»Nun — und wegen Miss Reid?« fragte er dann plötzlich.

»Ja, wegen Miss Reid...«, wiederholte Alf unschlüssig, indem er sich erhob. »Das will sehr überlegt sein. Was ich Ihnen angedeutet habe, ist ja schließlich bloß eine Vermutung. Trifft sie nicht zu, so kann es nur schaden, wenn Sie jetzt sofort Lärm schlagen, — trifft sie aber zu, so kann es kaum mehr viel nützen. Der Frau nicht und Ihnen nicht, denn es sind seither fast zwei Stunden verstrichen. Schließlich könnten Sie ja auch nur planlos in dem schauderhaften Gestrüpp herumstolpern, und bevor Sie Ihre Polizeimacht zusammentrommeln...«

Sein Blick hatte nachdenklich an den schweren Vorhängen gehaftet, die der herbstliche Nachtwind hie und da auseinandertrieb. Nun schnellte er mit einem Sprung zum Fenster und spähte gespannt durch einen Spalt.

Etwa zehn Schritte gegenüber stand ein starker Baum, und Duncan glaubte in dem bereits halb entblätterten Astwerk einen fadendünnen Schimmer wahrgenommen zu haben.

Und nun sah er es nach einigen Sekunden ganz deutlich wieder aufglimmen. Dreifach, vierfach — in einem ganzen Bündel... Mit dem matten Zucken einer unzulänglich gespeisten Glühbirne...

Der junge Mann prallte jäh zurück, und ehe der Chefinspektor wußte, wie ihm geschah, wurde er von einem kräftigen Arm zur Tür gerissen und in den Korridor geschleudert.

Es war nicht einen Augenblick zu früh.


29. Kapitel

In der nächsten Sekunde ließ ein gewaltiger Knall die Mauern des Golfhauses erzittern, und in das Splittern und Klirren von vielem Glas prasselten kurze, harte Schläge auf Mauerwerk und Holz.

»Trommeln Sie den Burschen heraus«, zischte Duncan dem etwas verstörten Perkins zu, indem er selbst den ersten Rumpler an die Tür des nervösen Mr. Gwynne tat und dann nach dem Seitengang davonstürzte. Er wollte sich um William kümmern, damit dieser nicht etwa zu Schaden kam.

Aber während der große Künstler anscheinend einen sehr guten Schlaf hatte, da der Chefinspektor vorn noch immer weiterpolterte, traf Duncan den Geschäftsführer bereits an der Schwelle seines Zimmers. William sah verschlafener denn je aus und mußte an dem Türstock Halt suchen, da sein dick eingebundener Fuß ihm den Dienst versagte. In seinen blinzelnden Augen stand eine erschreckte Frage.

»Ja«, sagte Duncan leichthin, »ein Pechtag. Bei Ihnen hat es begonnen, und nun scheint noch etwas mehr Glas in Scherben gegangen zu sein. Haben Sie den Krach gehört?«

»Natürlich«, stotterte der Geschäftsführer. »Es hat mich förmlich aus dem Bett geworfen. — Was ist eigentlich geschehen?«

»Das werden wir uns jetzt erst anschauen. Wie Sie hören, trommelt Perkins bereits das ganze Haus zusammen, und da müssen Sie wohl auch dabei sein. — Wird es mit Ihrem Fuß halbwegs gehen?«

»Es wird eben gehen müssen«, meinte William mit einem resignierten Achselzucken. »Ich werde mich nur rasch ein bißchen ankleiden...«

Er wandte sich schwerfällig auf einem Bein, um wieder ins Zimmer zurückzuhumpeln, aber Alf faßte ihn mit raschem Griff.

»Ach was, kommen Sie nur so, wie Sie sind. Bei solchen Gelegenheiten nimmt man es nicht so genau«, drängte er ungeduldig, und William fügte sich ohne jede Widerrede. Er versperrte nur rasch noch seine Tür und hinkte dann, so eilig dies gehen wollte, mit nach vorn.

Schon von weitem war die Auseinandersetzung zu hören, die zwischen Mr. Gwynne und dem Chefinspektor vorerst durch die geschlossene Tür stattfand. Der aufgelöste Mime gab zunächst eine große Szene eines gereizten Tobsüchtigen zum besten, und sein Organ rollte und fauchte, donnerte und kreischte, daß es klang, als ob ein Löwe unter ein schlecht geschmiertes Wagenrad geraten wäre. Aber mit einem Mal kippte die grimmige Stimme um und ging dann in sanfte, ölige Töne über, denn Mr. Gwynne hatte endlich geruht aufzumachen.

»Oh — Mr. Perkins...«, orgelte er überrascht und voll Ehrerbietung. »Das konnte ich ja nicht ahnen. Dieses Haus steckt ständig voll Rücksichtslosigkeit und Unruhe, und ich dachte... Aber die hohe Obrigkeit — das ist natürlich etwas anderes. Verzeihen Sie und gebieten Sie...«

Er streckte dem Chefinspektor mit einer weit ausholenden runden Geste beide Hände entgegen, aber Perkins wußte nicht, was er damit anfangen sollte. Er hatte diesen pathetischen Komödianten herausgeklopft, weil es ihn der verwünschte Teufelsschüler von Oxford oder Cambridge so geheißen hatte. Nun aber, da der Mann in einem purpurfarbenen Pyjama und einem japanischen Schlafrock vor ihm stand, war er in ehrlicher Verlegenheit.

Glücklicherweise kam ihm Duncan bereits zu Hilfe.

»Hier haben Sie also William«, sagte dieser wenig freundlich, indem er auf den mühsam nachhinkenden Geschäftsführer wies. »Hoffentlich erfahren wir nun, was der Spektakel zu bedeuten hatte. Sie wollten zunächst einmal draußen nachsehen...«

Perkins war sich zwar noch immer nicht schlüssig, was er eigentlich wollte, aber nun sagte er hastig »Jawohl«, und als der wenig interessierte Mr. Gwynne sich bescheiden wieder zurückziehen wollte, machte er eine sehr nachdrückliche einladende Handbewegung.

Eben als man den Vorplatz erreichte, kam vom »Reitenden Postillon« her Mrs. Hingley angekeucht, gefolgt von einem Stabe erschreckter dienstbarer Geister. Es war ein höchst dramatischer Aufzug, und im nächsten Augenblick bildete sich um den Chefinspektor und seine Begleitung ein aufgeregt wogender und lärmender Knäuel.

Alf Duncan benützte diese Gelegenheit, um wieder im Golfhaus zu verschwinden.


30. Kapitel

Sogar die Wirtin vermißte ihren bevorzugten Gast in der nächsten Viertelstunde nicht, denn sie wurde von den schrecklichen Dingen, die sich nun herausstellten, völlig in Anspruch genommen..

Kaum vor dem Haus, war der Chefinspektor nach einem raschen Rundblick endlich im Bilde, und das gab ihm seine grimmige Ruhe wieder. Er schritt geradenwegs auf den nächsten Baum zu und sah angelegentlich in das Astwerk hinauf, das mit frischen Bruchstellen wirr durcheinander hing. Dann ging er einige Male langsam um den Baum herum, nahm hie und da etwas vom Boden auf und schwang sich plötzlich in die unterste Astgabelung. Der schwerfällige Mann kletterte mit erstaunlicher Sicherheit und Behendigkeit.

Perkins war mit seiner Untersuchung rasch zu Ende. Zwischen zwei starken Ästen baumelten Stücke einer durchgerissenen Leine, und ein zweites solches Bündel fand sich am Stamm. Hier war also offenbar das Ding, aus dem der Schuß gekommen war, eingespannt gewesen, aber dann durch den gewaltigen Rückstoß aus der Bindung gerissen werden. Dabei waren die beiden dicken Äste gebrochen, und auch der Stamm hatte eine tiefe Schramme abbekommen.

Fünf Minuten später brachte der Chefinspektor vom Parkplatz her ein etwa armlanges, verbeultes Eisenrohr von gut vier Fingern im Durchmesser angeschleppt und hielt es der entsetzt zurückweichenden Mrs. Hingley dicht vor die Augen.

»Sie haben Glück gehabt«, sagte er mit seinem unangenehmsten Grinsen. »Wenn das Ding etwas mehr nach rechts geflogen wäre, hätte es auch im Vorderhaus ein gehöriges Loch gegeben. — Und ich glaube, Sie werden schon an der Bescherung hier hinten wenig Freude haben.«

Er deutete nach seinem Fenster, und die Wirtin schlug mit verstörten Augen wortlos die Hände zusammen, denn trotz der Dunkelheit waren die Spuren der Verwüstung deutlich zu sehen. Rund um die Fensteröffnung waren ganze Stücke des Mauerwerks abgeschlagen, und dahinter baumelten die schweren Vorhänge mit klaffenden Löchern und flatternden Fetzen.

So niederschmetternd dieser Anblick war, die resolute Mrs. Hingley brachte er mit einem Mal in einen gewaltigen Schwung. Sie stürmte mit einem derartigen Anlauf ins Haus, daß sogar Perkins ihr kaum zu folgen vermochte, und es war kein Wunder, daß da William mit seinem kranken Bein beträchtlich zurückbleiben mußte. Mr. Gwynne in seinem japanischen Schlafrock aber blieb noch weiter zurück, um zu bekunden, daß er für die Sache nicht das mindeste Interesse hatte und den Alarm nach wie vor als eine rücksichtslose Störung seiner Nachtruhe betrachtete.

Auf dem ersten Treppenabsatz mußte der Geschäftsführer einen Augenblick ausruhen, und das veranlaßte auch den ungeselligen Künstler, einige Stufen tiefer haltzumachen. Von oben klang bereits aufgeregtes Stimmengewirr herunter, in das die tiefe Stimme der Wirtin mit verzweifelten Ausrufen dröhnte.

William seufzte schmerzhaft auf und versuchte sich in einem krampfhaften Lächeln.

»Daß doch immer alles zusammenkommen muß«, beklagte er sich mit müder, kaum hörbarer Stimme. »Es wird nun wohl die ganze Nacht keine Ruhe geben, und ich kann kaum kriechen. — Wenn man wenigstens wüßte, was eigentlich geschehen ist.«

Er sah den Künstler mit unruhig flackernden Augen an, und Mr. Gwynne zeigte plötzlich sein allzu regelmäßiges und blendendes Gebiß.

»Der hinkende Mann mit dem Bart würde es uns wohl genau sagen können«, zischte er. »Er ist aus der Richtung aufgetaucht, nach der Ihre Fenster gehen.«

»Der hinkende Mann mit dem Bart?« wiederholte William verwundert. »Einen solchen Mann habe ich nicht bemerkt, obwohl ich ziemlich lange wach war und am Fenster gesessen habe. Ich konnte nämlich vor Schmerzen nicht einschlafen.« Er überlegte noch einmal und schüttelte dann mit dem Kopf. »Nein«, fuhr er schleppend fort, »ich habe bloß gesehen, daß Mr. Duncan so gegen zehn Uhr das Haus durch die rückwärtige kleine Pforte verlassen hat. Einige Minuten später kam dann Miss Reid auf demselben Weg und kurz nach ihr Mr. Perkins. — Unmittelbar hinter Mr. Duncan ist allerdings noch eine Gestalt gegen die Lehne zu verschwunden, aber ich habe sie nicht so recht...«

Das Weitere wurde durch ein lautes, krampfhaftes Räuspern Mr. Gwynnes abgeschnitten. Alf Duncan stand jedoch bereits zwischen ihnen. Er war mit katzenhafter Lautlosigkeit irgendwo von unten gekommen, gab sich aber mit liebenswürdiger Harmlosigkeit. Er erwiderte die eisige Abweisung im Gesicht des Mimen mit einem freundlichen Lächeln, und dem ächzenden Geschäftsführer klopfte er leutselig auf die Schulter.

»Böse Schmerzen, was?« erkundigte er sich teilnehmend. »Aber vielleicht wird Ihnen ein bißchen Bewegung gerade gut tun. Beißen Sie also die Zähne zusammen, und versuchen Sie es. — Wenn der Fuß, dann morgen nicht besser sein sollte, werde ich mir ihn einmal ansehen. Ich verstehe einiges davon und habe damit schon manchem rasch wieder auf die Beine geholfen.«

William schnitt ein Gesicht, das seine Dankbarkeit ausdrücken sollte, aber Duncan war bereits mit zwei Sätzen die Treppe hinauf und kam gerade dazu, wie der Chefinspektor der völlig niedergeschmetterten Mrs. Hingley die Sache mit Behagen erklärte.,

»Es war ein richtiger Kartätschenschuß«, sagte er. »Bis jetzt habe ich vierzehn Einschläge gezählt, aber wahrscheinlich wird noch hier und dort ein Stück gehacktes Blei stecken.«

»In meinen schönen, neuen Möbeln...«, jammerte die Wirtin, aber Mr. Perkins feixte.

»Besser als in meiner alten Haut«, meinte er gemütsroh und sah sich dann noch einmal mit halbgeschlossenen Augen in dem Raum um. Das primitive Geschütz war mit großer Präzision gerichtet gewesen, und der Mann, der diese Teufelei ausgeheckt hatte, mußte etwas von solchen Dingen verstehen. Die Geschoßgarbe war fast ganz ins Zimmer gefegt, und Duncan und er hätten unbedingt das Dickste davon abbekommen.

Der Chefinspektor fühlte einen Augenblick ein leichtes Frösteln im Rücken und zuckte unbehaglich mit den Schultern. Aber dann ließ er plötzlich seinen Blick suchend über die scheue Runde gehen. Mrs. Hingley lag mit gerungenen Händen und bebendem Doppelkinn in einem Stuhl, ihre Mädchen drückten sich in eine Ecke und hielten einander ängstlich an den Röcken, und der glotzäugige Hausdiener bohrte ratlos in seiner bläulich schimmernden Nase. Und eben schob sich auch der Geschäftsführer neugierig durch die offene Tür herein, während Mr. Gwynnes Künstlerkopf sich nur als Schattenriß von der Wand des Korridors abhob.

»Wo ist Miss Reid?« fragte Perkins auf einmal unvermittelt, und seine Stimme klang so scharf, daß die Frauen schreckhaft zusammenfuhren.

Aber niemand antwortete.

Der Chefinspektor wartete fünf Sekunden, noch weitere zwei Sekunden, dann machte er plötzlich eine ruckartige Wendung und, getrieben von einer beklemmenden Ahnung, drängten alle hinter ihm drein.

Vor dem Zimmer von Miss Reid zögerte Perkins noch einen Augenblick unschlüssig, dann ließ er seine Hand schwer auf die Klinke fallen und riß ohne weiteres an der Tür.

Sie flog auf, und gleichzeitig erscholl von drinnen eine aufgeregte Stimme.

»Was soll das heißen...?«

Der Chefinspektor starrte mit versteinertem Gesicht auf die Frau, die er wenige Schritte vor sich hatte. Miss Reid war völlig angekleidet und hatte auch noch einen Schal übergeworfen. Ihre dunklen Augen hafteten mit einem Ausdruck ängstlicher Bestürzung auf dem rücksichtslosen Eindringling, aber dessen sichtliche Betroffenheit ließ sie rasch ihre Fassung wiedergewinnen.

»Was wünschen Sie?« fragte sie, mußte jedoch eine lange Weile auf eine Antwort warten, da Perkins die Lippen nicht aus den verbissenen Zähnen brachte.

»Ich wollte mich nur nach Ihrem Befinden erkundigen«, fauchte er endlich mit einem grimmigen Grinsen, und genau so flegelhaft war die Art, in der er die Tür wieder ins Schloß warf.

Dann flog sein ratloser Blick blitzschnell zu Alf Duncan, der sich im Hintergrund mit einem schmachtenden Lächeln auf den Fußspitzen wiegte. Aber der junge Gentleman hatte für die Nöte des Chefinspektors augenblicklich weder Verständnis noch Zeit. All seine Aufmerksamkeit galt ausschließlich Mrs. Hingley, und die Witwe fühlte das und schwitzte vor schrecklichem Bangen und hoffnungsvoller Glückseligkeit. Das Bangen war jedoch stärker, und sie hielt die Lider streng und sittsam gesenkt.


31. Kapitel

Es wurde sehr spät, bevor man im Golfhaus endlich zur Ruhe kam, aber trotzdem machte sich Chefinspektor Perkins schon gegen sechs Uhr morgens wieder in ziemlich rücksichtsloser Weise bemerkbar. Er war noch in der Nacht in ein Zimmer auf der anderen Gangseite umquartiert worden und hatte dort lang und laut herumgewirtschaftet. Beim ersten Tageslicht begann dann seine Geschäftigkeit von neuem, und schließlich knallte er mit der Tür wie ein aufgeregter Theatermanager und unternahm einen geräuschvollen Spaziergang im Korridor.

Sogar der schlafsüchtige William wurde davon munter und kam aus dem Seitengang eilig angehumpelt. Er trug zwar noch einen Hausschuh an dem einen Fuße, aber die nächtliche Bewegung schien ihm wirklich gut getan zu haben.

»Ich werde das Frühstück sofort bringen«, flüsterte er dem ungeduldig auf und ab marschierenden Manne mit großer Dienstbeflissenheit zu und wollte die Treppe hinunter, aber Perkins erwischte ihn mit einem harten Griff an der Brust und schwenkte ihn wie einen winzigen Bleisoldaten wieder herum.

»Halt, mein Lieber — zuerst etwas anderes«, donnerte er so gewaltig, daß man es hinter allen Türen hören mußte, und stocherte dabei mit seinem kalten Blick sekundenlang in den erschreckten Augen des Geschäftsführers herum. »Mir ist bei dem Rummel ein Papier weggekommen, das ich auf dem Tisch liegen hatte. Das muß wieder her. Kümmern Sie sich also darum. Wenn der Zettel nicht längstens in einer Stunde wieder zum Vorschein kommt, sprenge ich das Haus in die Luft. Und dann fliegt alles mit, was drin ist.«

Der Chefinspektor liebte zuweilen solche Übertreibungen, aber der einfältige William nahm die schreckliche Drohung offenbar sehr ernst. Sein dunkles Gesicht verfärbte sich, und er vermochte nur mühsam zu stottern.

»Jawohl... Ich werde mich sofort bei den Mädchen erkundigen. Sie haben ja die Sachen hinübergetragen. Ich konnte nicht mithelfen, weil...«

Er deutete, entschuldigend auf seinen Fuß und atmete wirklich erleichtert auf, als Perkins mit einem halblauten Fluch vor ihm die Treppe hinabpolterte.

Auch während des Frühstücks wurde die Laune des Chefinspektors nicht besser. William hatte ihm mitteilen müssen, daß die Mädchen von dem vermißten Zettel nichts wüßten, daß man aber sofort überall gründlich Nachschau halten werde. Darauf hatte Perkins mit einem bösartigen Zähnefletschen etwas Unverständliches geknurrt, und dann wurde er mit einem Mal höchst ungeduldig. Er riß alle paar Minuten seine handtellergroße Nickeluhr hervor, und als es Punkt sieben war, stürzte er in die Halle und begann dort das Telefon zu massakrieren.

Was er dann hineinbrüllte, waren schwere Ehrenkränkungen für die Landpolizei im allgemeinen und für jene des Bezirks im besonderen. Aber plötzlich hielt er mitten in einer dieser Liebenswürdigkeiten inne und lauschte betroffen in den Apparat.

»Bis jetzt nicht zurückgekommen?« wiederholte er endlich verwundert. »Ja, zum Teufel, wo kann er denn stecken? Ich habe ihn gestern abend entlassen, und er wollte nur noch einen kurzen Gang machen.«

Es kam abermals eine Erwiderung, und das gegerbte Gesicht des Chefinspektors wurde immer ratloser und bedenklicher.

»Jawohl, kommen Sie sofort herüber«, entschied er endlich mit auffallender Hast. »Auch wenn der Sergeant sich inzwischen melden sollte, wird es für Sie einiges zu tun geben.«

Das Gespräch hatte Perkins so nachdenklich gestimmt, daß er mit gesenktem Kopf und ohne die gewöhnliche Kraftaufwendung in den Speisesaal zurückkehrte. Nur als er daran ging, seine Pfeife zu stopfen, tat er dies so nachdrücklich, als ob der Daumen unten herauskommen sollte.

»Es wäre vielleicht an der Zeit, daß Sie einige Ihrer Leute herausbeordern«, ließ sich auf einmal eine gedämpfte Stimme vernehmen, und der Chefinspektor fuhr nervös herum, denn genau dasselbe hatte er in diesem Augenblick selbst erwogen.

Er sah nur ein riesengroßes Zeitungsblatt und darunter zwei tadellose Bügelfalten und eine fabelhafte Beschuhung.

»Haben Sie zugehört?« raunte er in die Ecke hinein. »Diesmal ist der Sergeant verschwunden. — Wenn der Reinfall mit Miss Reid heute nacht nicht gewesen wäre, könnte man wieder auf alle möglichen albernen Vermutungen kommen.«

Es sollte ironisch klingen, geriet aber sehr unsicher. Jedenfalls fühlte sich Alf Duncan von der Anspielung gar nicht getroffen.

»Das mit Miss Reid war kein Reinfall, sondern ein Zufall«, kam es gelassen hinter der Zeitung hervor. »Wahrscheinlich haben Sie ihn sogar selbst herbeigeführt. Jedenfalls würde ich mich dadurch in meinen Vermutungen nicht beirren lassen.«

Perkins zermalmte das Streichholz, mit dem er die Pfeife angebrannt hatte, zwischen den klobigen Fingern, dann sprang er plötzlich mit einem temperamentvollen Ruck wieder auf und stellte sich an die Tür zur Terrasse.

»Der Teufel soll mich holen, wenn ich daraus klug werde«, zischte er über die Schulter, und dann schien ihm etwas in die Kehle gekommen zu sein, denn er würgte ein bißchen. »Aber das eine weiß ich: Wenn ich mir bei dieser verdammten Geschichte den Hals breche, sind nur Sie daran schuld. Daran sollten Sie denken. Schließlich hat man sich in fünfundzwanzig Jahren doch auch einige Verdienste erworben — wenn man auch nicht aus Ox... Cambridge gekommen ist.«

»Ihr Gedächtnis bessert sich, Mr. Perkins«, lobte ihn der junge Mann, indem er seine »Times« pedantisch zusammenfaltete. »Cambridge, jawohl. — Nur Ihre Nerven lassen noch einiges zu wünschen übrig. Sie werden sie etwas mehr im Zaum halten müssen. Es dürfte zwar für Sie ein sehr heißer Tag werden, aber vielleicht spannen Sie trotzdem gegen Abend einige Stunden aus. — Sagen wir um vier Uhr. Ich erwarte Sie auf der Chaussee drei Meilen von hier bei der Abzweigung gegen Thame und fahre Sie eine Weile spazieren. Das wird Ihnen in jeder Hinsicht gut tun.«

Der Chefinspektor konnte seine Zustimmung zu diesem Vorschlag nur durch ein lebhaftes Kopfnicken äußern, denn eben tauchte draußen der zweite Ortspolizist auf. Er sah viel weniger intelligent und diensteifrig aus als der Sergeant, machte aber mit seinem martialischen Schnurrbart und seinem gut bürgerlichen Bäuchlein einen sehr würdewollen Eindruck.

»Zum Buschhaus«, schnauzte ihn Perkins ohne weitere Einleitung an. »Aber auf dem kürzesten Wege. Er soll gleich hinter dem Haus hinüberführen.«

Damit stürmte er auch schon mit weit ausgreifenden Schritten voran, und der behäbige Polizist keuchte mit unbehaglichem Gesicht eilig hinter ihm drein.


32. Kapitel

William, der eben mit dem Frühstück für Mr. Duncan vom Vorderhaus herkam, sandte den beiden einen raschen Blick nach und setzte auf der Terrasse das Tablett für einige Sekunden ab, weil ihm sein verknackster Fuß doch noch zu schaffen machte. Aber dann riß er sich zusammen und marschierte tapfer in den Speisesaal, wo ihn Alf mit einem befriedigten Kopfnicken empfing.

»Sehen Sie, es geht also wirklich schon besser«, meinte er. »Ich habe es Ihnen ja gesagt. Wenn Sie aber wünschen, will ich mir den Schaden für alle Fälle doch noch besehen.«

»Nein, danke«, stotterte der Geschäftsführer hastig, indem er mit unsicheren Händen den Tisch deckte. »Es ist wirklich nicht mehr notwendig. Ich muß nur den Fuß noch etwas schonen.« Er entwickelte eine nervöse Geschäftigkeit und wurde dann plötzlich sehr gesprächig. »Es war eine schreckliche Nacht. Mrs. Hingley hat einen Weinkrampf bekommen, weil so viel ruiniert worden ist, und wird vielleicht heute gar nicht aufstehen können. Dabei wird es wahrscheinlich wieder eine Menge zu tun geben. So oft so ein Unglück beim Schwarzen Meilenstein geschah, dauerten die Prozessionen fast immer eine ganze Woche. Und wenn nun auch noch die Geschichte von dem geheimnisvollen Schuß heute nacht bekannt werden wird...«

»Und verschiedene andere Dinge...«, warf Duncan leichthin ein, indem er bedächtig ein Ei aufschlug, aber William bückte sich eben nach der Serviette, die ihm entfallen war.

»Wenn man wenigstens wüßte, was es zu bedeuten, hatte«, preßte er etwas heiser hervor, als er sich wieder aufrichtete, und diesmal legte Alf den Löffel nieder und sah mit besonders treuherzigen Augen drein.

»Das kann ich Ihnen ganz genau sagen«, erklärte er gefällig. »Am Ende bedeutet es, daß in den nächsten zwei oder drei Monaten jemand gehenkt werden wird.«

»Oh...«, hauchte der Geschäftsführer erschreckt, da er nicht wußte, was er sonst auf diese unheimliche Andeutung erwidern sollte, und dann humpelte er mit einer entschuldigenden Grimasse etwas plötzlich ab.

Er ließ sich auch nicht mehr blicken, obwohl Duncan sein Frühstück mit genießerischem Behagen ziemlich lange ausdehnte. Erst als er die Morgenzigarette bedächtig zu Ende geraucht hatte, erhob er sich und schlenderte langsam in die Hall. Das Haus lag in lautloser Ruhe, und Alf mußte keine besondere Vorsicht anwenden, um unbemerkt zu der Hinterpforte zu gelangen. Aber der Nebenausgang war diesmal nicht nur verschlossen, sondern man hatte auch den Schlüssel abgezogen.

Der junge Gentleman lächelte nachsichtig und holte aus der Rocktasche ein flaches Lederetui hervor. Dann stocherte er sekundenlang in dem Schloß herum, und die Sache ging so leicht, daß er es sich nicht verdrießen ließ, von außen auch wieder abzusperren.

Die rückwärtige Front des Golfhauses verlief etwas unregelmäßig. Sie wies in der Mitte und. an der Ecke gegen den Parkplatz je einen kleinen Vorbau auf, von denen der eine die Zimmerreihe unterbrach, und der zweite eine Verlängerung des Seitenganges bildete.

Duncan hielt sich dicht an der Hausmauer und hatte nur für den Boden und die Fenster des Oberstocks Interesse. Das Zimmer Mr. Gwynnes befand sich vor dem ersten Vorsprung, und die herabgelassenen Jalousien ließen annehmen, daß sein Bewohner nach der unruhigen Nacht noch in tiefem Schlaf lag. Obwohl die Höhe des Simses kaum viel mehr als vier Meter betrug, nahm Alf sogar ein winziges Glas zu Hilfe, um das Mauerwerk Zoll für Zoll abzusuchen, und dann kauerte er sich nieder, um das Pflaster einer ebenso gründlichen Besichtigung zu unterziehen. Plötzlich spitzte er die Lippen, sah noch einmal gedankenvoll nach oben und schlängelte sich dann weiter.

Die Fenster von Miss Reid streifte er nur mit einem flüchtigen Blick, aber in dem Winkel an der äußerten Ecke, wo der Geschäftsführer William seine kleine Kammer hatte, machte sich Duncan wieder eine ziemlich lange Weile zu schaffen.

Etwa eine Viertelstunde später aber kam er auf seinem planlosen Morgenspaziergang vom Parkplatz her. Vor dem Golfhaus besah er sich mit lebhafter Neugier den Baum, von dem in der Nacht der verheerende Geschoßhagel in das Zimmer des Chefinspektors geprasselt war. Das primitive Geschützrohr mußte eine gewaltige Pulverladung enthalten haben, denn die Äste in der Schußrichtung waren tief geschwärzt und arg zugerichtet, und auch die Fassade gegenüber sah sehr übel aus.

Alf war eben dabei, die Einschläge zusammenzuzählen, als Miss Reid in ziemlicher Eile aus dem Speisesaal kam. An den Stufen der Terrasse machte sie aber plötzlich unschlüssig halt und sah sich vorsichtig nach allen Seiten um. In ihrem sonst so beherrschten Gesicht zuckte es unruhig, und um ihre Augen lagen tiefe Schatten. Sie hatte offenbar einen Weg vor, bei dem sie nicht beobachtet werden wollte, und der junge Mann drückte sich geschmeidig hinter den Stamm.

Miss Reid gewahrte ihn auch wirklich nicht, sondern huschte nach einigen Sekunden um die Terrasse herum gegen die Lehne zu.

Duncan war blitzschnell hinter ihr her, sah sich aber in seiner Annahme getäuscht. Miss Reid lief an der gewissen Lücke am Buschwerk völlig achtlos vorbei und schlug jenen Pfad ein, auf dem sie am verflossenen Abend hätte kommen sollen.

Und dann schien sie plötzlich weder sonderliche Eile, noch ein bestimmtes Ziel mehr zu haben. Sie verfiel in einen gemächlichen Schlenderschritt, und all ihr Interesse galt einzig dem farbenfrohen herbstlichen Landschaftsbild.

Vielleicht hat sie wirklich nur unbemerkt vom Golfhaus fortkommen wollen, um peinlichen Fragen zu entgehen, mutmaßte Alf und schlug mit der Geschmeidigkeit eines gewandten Jägers einen großen Bogen um sein Wild.

Miss Reid war etwas fassungslos, als er plötzlich wenige Schritte vor ihr auftauchte, aber Duncan erwiderte ihren fast bösen Blick mit seinem entwaffnendsten Lächeln.

»Sie haben mich etwas lange warten lassen«, scherzte er, indem er nach der Uhr sah. »Genau neuneinhalb Stunden. Das ist bei meinem bisherigen Rendezvous mit Damen ein unbestrittener Rekord. Und den Ort haben Sie auch nicht genau eingehalten. Er liegt etwas weiter dort drüben bei den Bäumen.«

Er deutete ernsthaft in der Richtung. Miss Reid war jedoch nicht in der Laune, auf seinen Ton einzugehen.

»Entschuldigen Sie«, sagte sie etwas ungeduldig und wenig höflich, »aber die Angelegenheit, die ich mit Ihnen besprechen wollte, hatte sich im letzten Augenblick aufgeklärt. Allerdings hätte ich Sie verständigen sollen. Ich will mich jedoch für Ihren Zeitverlust gerne erkenntlich zeigen und auch für Ihre anderen Bemühungen. Die gewisse Sache, in der ich Sie um Nachforschung bat, ist nämlich ebenfalls bereits erledigt. Es handelte sich bei allen diesen Dingen um dumme Mißverständnisse. Wahrscheinlich kehre ich schon heute abend oder spätestens morgen mittag nach London zurück, und Sie können mich dann an einem der nächsten Tage zu der gewissen Stunde im Kontor aufsuchen. Sie sollen nicht zu kurz kommen. Aber ich erwarte dafür, daß Sie über alle diese Dinge Stillschweigen bewahren. Auch über unsere gestrige Verabredung.«

Sie hatte ihre Erklärung mit großer Hast vorgebracht und deutete nun durch ein verabschiedendes Kopfnicken an, daß sie die Unterredung damit für beendet hielt. Aber plötzlich fiel ihr noch etwas ein.

»Was hat es eigentlich gestern abend gegeben?« fragte sie so beiläufig. »Ich hörte eine schreckliche Explosion, aber als ich mich angekleidet hatte und nachsehen wollte, stürzte bereits dieser Mr. Perkins in mein Zimmer.«

»Ja», erklärte Duncan ebenso beiläufig, »es war auch so etwas wie eine Explosion. Und Mr. Perkins hat deshalb das ganze Haus zusammengetrommelt.« Nach einem Atemzug aber fügte er hinzu: »Wenn ich die Finger irgendwie in der Sache mit dem Schwarzen Meilenstein hätte, würde ich sie schleunigst herausziehen.«

Miss Reid hob mit einer raschen Bewegung den Kopf, und ihr Blick war betroffen und mißtrauisch.

»Weshalb sagen Sie mir das?« stieß sie mit unsicherer Stimme hervor. »Ich habe damit absolut nichts zu tun, und es ist völlig zwecklos, falls Sie mir deshalb etwa nachspionieren sollten. Sie werden viel besser fahren, wenn Sie sich auf die Vereinbarung verlassen, die ich Ihnen in Aussicht gestellt habe. Sonst könnte es sein, daß ich es mir noch überlege. Ich habe gar nichts zu fürchten.«

Sie wandte sich so brüsk ab, daß Alf Duncan sogar mit seiner Miene arg gekränkter Treuherzigkeit zu spät kam, und manches unausgesprochen blieb, was er eigentlich noch sagen wollte.

Aber erst nach Stunden wurde ihm klar, welch verhängnisvollen Fehler er damit begangen hatte. Augenblicklich kam ihm die bündige Verabschiedung sehr gelegen, denn er erwartete von Minute zu Minute etwas anderes.


33. Kapitel

Was der ahnungsvolle junge Gentleman erwartete, war bereits eingetreten: Unten beim Buschhaus war der Teufel los.

Der Chefinspektor hatte den steilen Hang trotz des Gerölls und des hinderlichen Gestrüpps in einem derartigen Tempo genommen, daß der kurzatmige Polizist immer weiter zurückgeblieben war.

Perkins wußte selbst nicht, was ihn plötzlich so vorwärtstrieb, das heißt, er wollte es sich nicht eingestehen. Aber das unerklärliche Ausbleiben des Sergeanten hatte ihm jäh eine schlimme Ahnung aufgedrängt, die er nicht loswerden konnte. Nach dem Erlebnis Duncans in der verflossenen Nacht und dem wohlgezielten Kartätschenschuß, der gleich darauf gefolgt war, mußte man ja auch noch auf verschiedenes andere gefaßt sein. Der Mann, um dessen Kopf es ging, war offenbar bereits auf seiner Hut und schreckte vor nichts zurück. Wenn der ahnungslose Sergeant ihm in den Weg gelaufen war...

Nach jedem tiefen Atemzug, den ihm die eklige Kraxelei erpreßte, wünschte der Chefinspektor einem gewissen Jemand die Krätze und andere gleich angenehme Dinge an den Hals. Dieser Jemand war aber nicht der verteufelte Bursche, der so tückisch um sich hieb, denn von diesem vermochte er sich vorläufig nicht einmal ein schattenhaftes Bild zu machen. In den vierundzwanzig Stunden, die er nun in Blackfield weilte, war er zwar einigen Gesichtern begegnet, denen er nicht über den Weg traute. Aber bisher hatte er auch nicht den winzigsten Anhaltspunkt dafür gefunden, daß der eine oder der andere dieser seltsamen Gesellschaft oder vielleicht auch alle zusammen zu dem düsteren Rätsel um den Schwarzen Meilenstein und zu den letzten Geschehnissen wirklich irgendwie in Beziehung stehen könnten.

Und was war das überhaupt mit dem Schwarzen Meilenstein?

Das Massenaufgebot von Sachverständigen hatte nach langen Beratungen auch diesmal wieder nur ein negatives Ergebnis gehabt, das man zur Beruhigung der Öffentlichkeit mit vielen gelehrten Worten zu einem harmlosen Befund gedrechselt hatte.

Trotzdem stand es für ihn fest, daß es bei der Todesfahrt Dan Kayes nicht mit rechten Dingen zugegangen war und daß dieser eine Fall auch das Geheimnis aller früheren barg.

Aber worin bestand es? Warum waren alle diese Dinge geschehen und wie? — Immer an derselben Stelle und immer auf dieselbe unerklärliche Weise?

Chefinspektor Perkins war ein geschickter und zäher Mann, der sich selbst durch die schwierigsten Probleme durchbiß, aber er mußte in Ruhe alles überdenken und dann unbeeinflußt arbeiten können.

Und das konnte er diesmal nicht. Seitdem er am gestrigen Morgen, zwar nicht ganz unvermutet, aber jedenfalls zu seinem höchsten Mißvergnügen, auf den tadellosen jungen Gentleman aus Oxford oder Cambridge gestoßen war, hatte ihn eine Unruhe gepackt, die seinen Blick verdunkelte und ihn rat- und planlos herumtappen ließ. Es war fast so wie bei dem beliebten Kinderspiel, bei dem es gilt, einen versteckten Gegenstand zu finden. Man sucht viel weniger zerfahren und weit sicherer, wenn man dem eigenen Instinkt folgt, als wenn man sich durch die Zurufe »warm«, »kalt«, »heiß« hin und her treiben läßt. Solche Zurufe aber bedeuteten die Anspielungen und halben Andeutungen Alf Duncans, und deshalb kam der nette junge Mann in den Gedanken des Chefinspektors augenblicklich sehr übel weg. Da mochte der Teufel nicht nervös werden.

Oben auf dem Kamm lichtete sich das Gestrüpp, und Perkins machte halt, um den dicken Polizisten zu erwarten, der mit blaurotem Gesicht gegen einen Schlaganfall ankämpfte. Er brauchte den Mann nun, um den gewissen Abstieg zum Buschhaus zu finden. Auf den ersten Blick schien es, als ob es hier überhaupt kein Weiter gäbe. Geradeaus sprang eine Felsplatte vor, und knapp daneben fielen zur Linken die steilen, rissigen Wände des Steinbruches ab.

Der ortskundige Führer deutete ängstlich und jammervoll nach einem schmalen Einschnitt neben dem Felsen, und der Chefinspektor zwängte sich auch schon behende hindurch. Im nächsten Augenblick hatte er das Buschhaus und den ganzen Kessel vor sich, aber der Weg hinunter war wirklich geradezu halsbrecherisch. Kaum einen halben Meter breit, führte er in seinem oberen Teil so dicht am Rand des Steinbruchs hin, daß der kleinste Fehltritt einen tödlichen Absturz zur Folge haben mußte.

Erst an dem Steinwall, der den Hofraum des Buschhauses umsäumte, verbreiterte er sich etwas, und als Perkins so weit gekommen war, stürmte er mit langen Schritten geradenwegs auf die baufällige Hütte los. Zunächst rüttelte er einigemal kräftig an der Klinke, dann drosch er noch kräftiger an das Türholz, und als sich noch immer nichts rührte, trug er weit weniger Bedenken, als am Abend vorher der Sergeant.

»'ran«, befahl er seinem schnaufenden Begleiter und setzte die wuchtige Schulter auch schon zum Stoß an. Der schwerfällige Polizist kam mit seinem ansehnlichen Gewicht um eine Sekunde zu spät und purzelte der Tür nach, die mit einem gewaltigen Krach aus den Angeln flog.

Der Chefinspektor brauchte nicht lange, um festzustellen, daß die Mühe umsonst gewesen war. In dem Wohnraum zur Linken und der Küche zur Rechten des schmalen Flurs fand sich nichts, was auf einen Bewohner hätte schließen lassen. Es gab da zwar ein klappriges Eisenbett mit einem Strohsack und einiges andere Einrichtungsgerümpel, aber auf allem lag eine fingerdicke Staubschicht, und es hatte daher gar keinen Zweck, hier weiter Zeit zu verlieren. Wenn der Sergeant auch seinem Auftrag nachgekommen war, das Haus hatte er offenbar nicht betreten, da sich sonst doch wenigstens irgendeine Spur seiner Durchsuchung hätte vorfinden müssen. Und das Wort »Buschhaus« auf dem Zettel in der Tasche des toten Dan Kaye mochte vielleicht wer weiß was bedeutet haben.

Perkins war arg enttäuscht, denn der verlassene Bau ließ den einzigen Anhaltspunkt, den er bisher gefunden zu haben meinte, so gut wie wertlos erscheinen. Und dabei konnte er sich nicht einmal über das Schicksal des Sergeanten beruhigt fühlen. Bisher hatte er immer noch gehofft, daß der Mann mit dieser oder jener Erklärung oder Entschuldigung angestürmt kommen würde, aber nun war daran wohl nicht mehr zu denken. Die Uhr zeigte bereits einige Minuten nach acht, und eine solche Unpünktlichkeit hätte sich der intelligente und pflichteifrige Polizist unter keinen Umständen zuschulden kommen lassen. Es mußte ihm also unbedingt etwas zugestoßen sein. Aber wo sollte man nach ihm suchen, wenn hier keine Spur von ihm zu entdecken war?

Der Chefinspektor sah sich noch einmal mit scharfen Augen um, konnte jedoch keine weitere Tür finden. Die einfache Baracke hatte offenbar weder Keller noch Dachboden, und in den beiden kahlen Räumen sowie in der Diele gab es nicht den kleinsten versteckten Winkel.

Ebenso ergebnislos gestalteten sich vorerst die Nachforschungen im Hof. Ein verfallener Bretterschuppen war mit einem Haufen wertlosen Krams angefüllt, der auseinanderpolterte, als der Chefinspektor mit einer Latte darin herumstocherte. Dann kamen die einzelnen Büsche und Steinhaufen an die Reihe und schließlich die schweren mannshohen Blöcke, die oben an der fast senkrecht aufsteigenden Felswand lagen.

Nichts.

Der behäbige Polizeimann von Blackfield wischte sich den Schweiß von der Stirn und schielte scheu nach dem Gesicht des Gewaltigen von Scotland Yard. Das sah in seiner düsteren Unbewegtheit bedenklich nach Sturm aus.

Aber plötzlich kniff der Chefinspektor blitzschnell die Augen halb zu, und dann sprang er fast den halben Hang wieder hinunter und nahm hastig einen Gegenstand auf, der auf einem Geröllhaufen glitzerte.

»Die Taschenlampe des Sergeanten«, stieß der Polizist verwundert hervor, als Perkins ihm das Ding wortlos unter die Augen hielt. »Ich erkenne sie genau, denn ich habe erst vor einigen Tagen den Bügelhalter frisch angelötet.«

Der Chefinspektor erwiderte nichts, sondern sah starr erst eine Weile hinauf nach dem Pfad, den sie gekommen waren, und dann hinüber nach den Wänden des Steinbruchs. Dann machte er eine jähe Wendung und stürmte den Hang vollends hinunter und um das Buschhaus herum.

Unten mußte man noch ungefähr fünfzig Schritte zurücklegen, um in den Steinbruch selbst zu gelangen. Und dann kam eine beschwerliche Kletterpartie. Anscheinend war der Betrieb eines Tages ganz plötzlich eingestellt worden und seither alles so geblieben, wie es damals gerade lag und stand. Auf der Sohle türmten sich ganze Waggonladungen von Gestein, und es währte eine ziemliche Weile, bis Perkins sich hindurch und darüber hinweggearbeitet hatte. Es zog ihn zunächst nach der gegen das Haus gelegenen Wand. Wenn der Sergeant auch den sicheren Weg hatte wählen wollen, so konnte er sich aus irgendeinem Grund doch entschlossen haben, über den Hang zurückzukehren. Vielleicht hatte er etwas Wichtiges entdeckt und mochte keine Zeit verlieren...

Perkins war auf alles mögliche gefaßt, aber der erste Fund überraschte ihn doch. Es war ein weicher grauer Herrenhut, und wenige Schritte weiter hatte sich an einem der aufragenden Blöcke ein Überrock verfangen. Die beiden Kleidungsstücke konnten nach ihrem Zustand erst kurze Zeit hier liegen, und wenn sie auch keine Spur von dem verschwundenen Sergeanten bedeuteten, versetzten sie den Detektiv doch in fieberhafte Erregung. Er war nun fast schon dort angelangt, wo oben der Pfad so gefährlich wurde, konnte aber noch immer keinen Ausblick auf den darunterliegenden Grund gewinnen. Erst als er zwei weitere Steinmauern umgangen hatte, sah er endlich die Wand vor sich, und dann schritt er fast bedächtig auf die beiden reglosen Körper zu, die einige Schritte vom Rand nebeneinander lagen.

Sein erster Blick galt dem Sergeanten, aber da war nichts mehr zu machen. Nach der Starre der Glieder mußte der Tod bereits in der Nacht eingetreten sein. Und ebenso bei dem zweiten. Perkins besah sich interessiert das schmale, bartlose Gesicht, aber es war ihm völlig fremd. Der Mann mochte etwa vierzig Jahre alt gewesen sein, und wie der Hut und der Überrock, deuteten auch die übrige Kleidung und die Wäsche auf besondere Eleganz.

Aber alles das hatte Zeit.

Der Chefinspektor erinnerte sich endlich an seinen Begleiter und sah sich nach ihm um. Der brave Polizist war ihm wirklich über Stock und Stein gefolgt, aber nun lehnte er mit schlotternden Knien und krampfhaft geschlossenen Augen an einem Steinhaufen. Solche Dinge konnte er nicht sehen, und während seiner fast zwanzigjährigen ehrenvollen Dienstzeit hatte er es immer verstanden, sich zu drücken, wenn es so etwas gab. Nun aber war er ganz unversehens mitten in Mord und Totschlag und Leichen hineingeraten. Und eine davon war sogar sein Sergeant...

»Sie werden hierbleiben und aufpassen, bis ich wieder zurückkomme«, vernahm er die Stimme des Chefinspektors wie aus weiter Ferne. »Es darf niemand in die Nähe. — Haben Sie eine Waffe?«

Der arme Mann kniff die Augen noch verzweifelter zu und schüttelte entsetzt mit dem Kopfe.

»Dann nehmen Sie für alle Fälle einen gehörigen Stein, und wenn Ihnen einer in die Quere kommt, so klopfen Sie ihm damit kräftig auf den Schädel«, sagte Perkins mit gruseliger Gelassenheit und turnte über die Blöcke und das Geröll unter großem Lärm davon.


34. Kapitel

Und ebenso laut knallte er genau elf Minuten später in das Golfhaus.

William stand eben wieder einmal ein bißchen müßig in der Tür der Hall, als der Chefinspektor mit triefendem Gesicht und völlig außer Atem um die Ecke gestürzt kam. Der Geschäftsführer versuchte, eiligst zu verschwinden, aber Perkins hatte ihn bereits mit dem gewissen Griff vorne an der Brust.

»Sie kommen mir gerade recht«, keuchte er. »Ich habe dringend zu telefonieren und will dabei nicht gestört werden. Sperren Sie also sofort den Zugang vom Speisesaal ab, und dann stellen Sie sich hier draußen vor die Tür und lassen niemand in die Hall. — Ist noch jemand oben in den Zimmern?«

»Nur Mr. Gwynne«, erklärte William aufgeregt und humpelte geschäftig in den Speisesaal, wo er den Schlüssel vernehmlich im Schloß drehte.

Der Chefinspektor warf die große Eingangstür mit Nachdruck zu und nahm dann das Telefon in Arbeit, das sich in einer primitiven Zelle neben der kleinen Pförtnerloge befand.

William war viel rascher auf dem ihm angewiesenen Posten, als man dies bei seinem schonungsbedürftigen Fuße erwarten durfte, und er nahm seinen Auftrag so ernst, daß er sich ganz dicht an die Tür lehnte. Der Chefinspektor schien bereits zu sprechen, denn von innen drangen vereinzelte Laute, die sich wie ein abgehacktes Knurren und Bellen anhörten. Plötzlich aber gab es drinnen ein wütendes Gebrüll, und jedes Wort war deutlich zu vernehmen.

»Die Leitung frei für Scotland Yard, habe ich Ihnen gesagt«, donnerte Perkins erbost. »Verstehen Sie nicht? Ihre Börsengespräche kümmern mich einen Pfifferling...«

Die Stimme schnappte über, und der Geschäftsführer lauschte mit angehaltenem Atem. Bevor es aber noch soweit war, wurde sein Kopf an dem freien Ohr sanft von der Tür weggezogen...

Mr. Duncan schien derartige kleine Scherze zu lieben, denn er strahlte über das ganze Gesicht. Aber Williams war etwas gekränkt.

»Mr. Perkins telefoniert und hat mir aufgetragen, hier aufzupassen«, erklärte er wichtig, und Mr. Duncan lächelte noch vergnügter.

»So, hat er das? Nun, dann passen Sie nur recht scharf auf. Vielleicht hören Sie wirklich etwas, was für die drei A von Bedeutung sein könnte.«

Die Anspielung kam so unerwartet, daß es dem Geschäftsführer einen förmlichen Riß gab. Er starrte den eleganten Gentleman bestürzt an, und erst nach langen Sekunden machte er einen kläglichen Versuch, gleichmütig mit den Achseln zu zucken.

»Ich verstehe Sie nicht, Sir...«

»Schlimm«, meinte Duncan lakonisch und hatte plötzlich ein sehr bedenkliches Gesicht. »Einige hundert oder vielleicht auch tausend Dollar sind ja gewiß ein schönes Geld — aber meine Haut wäre mir unbedingt lieber.«

Da William nicht verstand, hob er wieder bloß die Schultern, aber er war auf einmal sehr bleich und hatte für das, was in der Hall gesprochen wurde, gar kein Interesse mehr.

Erst nach einer langen Viertelstunde wurde die Tür heftig aufgerissen, und der Chefinspektor schoß mit einem gewaltigen Sprung heraus. Er schien in diesem ansehnlichen Tempo weitermachen zu wollen, aber nach dem zweiten Satz hielt er plötzlich inne. Er hatte aus den Augenwinkeln Duncan gewahrt, und der arme Geschäftsführer bekam ganz unschuldig und unerwartet wieder einen Anschnauzer ab.

»Zum Teufel, was lungern Sie fortwährend herum? Man kann keinen Schritt machen, ohne über Sie zu stolpern. Wenn Sie mir noch einmal in den Weg kommen...«

»Recht so«, sagte Duncan, als der ewig gehetzte William verschwunden war. »Halten Sie sich den Burschen nur gehörig vom Leibe. Es könnte Sie sonst teuer zu stehen kommen.«

Perkins war so erregt, daß er die Bemerkung völlig überhörte. Er sah sich rasch nach allen Seiten um und keuchte dann seine Neuigkeiten hervor.

»Den zweiten kenne ich nicht«, schloß er. »Vielleicht haben die beiden oben auf dem verdammten Weg miteinander gerungen und sind dabei abgestürzt. Der andere hat etwas früher seinen Hut und Überzieher hinuntergeworfen, als ob ihm diese Dinge hinderlich gewesen wären.«

Er heftete den ratlosen Blick auf Alf, aber dieser betrachtete mit hochgezogenen Brauen die Spitzen seiner Schuhe.

»Also noch ein zweiter«, murmelte er endlich. »Wenn Sie mir ihn etwas näher beschreiben, werde ich Ihnen vielleicht einiges über ihn sagen können.«

Und dann nickte er schon nach den ersten Worten des Chefinspektors.

»Charles Barres«, erklärte er entschieden. »Es stimmt alles ganz genau, und ich habe es auch gleich vermutet. — Aber warum ist dann Miss Reid gestern abend nicht gekommen?« fügte er nachdenklich hinzu. »Und wieso geht sie augenblicklich so seelenruhig spazieren?«

Perkins fand diese Fragen vorläufig nicht so wichtig, um sich mit ihnen zu beschäftigen.

»Ich muß sofort wieder hinüber«, bemerkte er. »Bis jetzt bin ich ja noch gar nicht dazu gekommen, mich gründlicher umzusehen. Vielleicht läßt sich doch irgendwie herausfinden, wie die Geschichte zugegangen ist und was sie zu bedeuten hat.« Er wischte sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn und hauchte zu seiner Erleichterung, wieder einmal so etwas wie einen kurzen Fluch. »So ganz allein ist man bei einem solchen Fall verloren«, fuhr er dann fort. »Aber ich habe mir eben die Ajaxe herauszitiert. Sie können in fünf Viertelstunden hier sein, denn der Rasende fährt wie der Teufel, und mittlerweile werde ich mich mit dem Sheriff und dem Leichenbeschauer unterhalten.«

So eilig er es aber hatte, zögerte er doch noch und schien auf etwas zu warten. Als es nicht kam, trat er ungeduldig von einem Fuß auf den andern, und dann räusperte er sich höchst umständlich.

»Wie Sie sich denken können, wird es für mich in den nächsten Stunden eine Menge zu tun geben«, meinte er endlich, »aber trotzdem werde ich natürlich unsere Verabredung einhalten. — Also pünktlich um vier Uhr bei der gewissen Straßenkreuzung.«

»Ja«, erwiderte der junge Gentleman in seiner verwünschten Art, »die Ajaxe sind gut, aber ich glaube, die Spazierfahrt wird Ihnen noch besser bekommen.«


35. Kapitel

So gegen Mittag wurde es auf dem weiten Rasenplan um den »Reitenden Postillon« wieder gewaltig lebendig. Erst kamen die Privatwagen, dann die Autobusse und Motorräder und schließlich lange Schlangen von Fußgängern, die, wenn sie schon kein Auto hatten, wenigstens nicht um das Gruseln kommen wollten. Auf der Chausseestrecke zum Schwarzen Meilenstein wimmelte es wie in Picadilly Circus zur Stunde des Theaterbeginns, und im Golfhaus wie zur Dinnerzeit im Carlton oder Claridge.

Auch die Straßenschenke bekam ihre Gäste ab, und da litt es Mrs. Hingley nicht länger in der Zurückgezogenheit, die sie sich wegen der schrecklichen Nacht auferlegt hatte. Aber sie beschränkte ihr Schalten auf den großen Küchenraum im Stammhaus, von dem sie ja gottlob so ziemlich alles übersehen konnte. Vor den Gästen mochte sie sich um keinen Preis zeigen, denn sie schämte sich in Grund und Boden. Was mußten sich die vielen feinen Leute von dem Golfhaus denken, da es wie eine Räuberhöhle zugerichtet war? Sie hatte zwar noch in der Nacht die Absicht geäußert, die Fassade gleich am frühen Morgen rasch verputzen zu lassen, obwohl das mindestens fünfzig Schilling kosten würde, aber Mr. Perkins, der übrigens sehr schlechte Manieren hatte, war dagegen gewesen. Das müßte vorläufig so bleiben, hatte er sie grob angefahren, und der feinfühligen Witwe kam es nun so vor, als ob die garstigen Löcher nicht nur in der Mauer, sondern auch in den Kleidern auf ihrem Leibe und in ihrer Ehre säßen, und sie fühlte sich sehr unglücklich.

Hauptsächlich aber eigentlich wegen der anderen Sache, die sie geradezu bange machte. Sie hatte doch ihre bisherigen Männer einen nach dem andern gewiß so betrauert, wie es sich schickte, aber das konnte doch nicht ewig so fortgehen. Schließlich kam sie ja eigentlich erst in die besten Jahre, und wenn sie einmal ihre Verewigten in die Kommode steckte, so war dies doch keine so große Sünde, daß deshalb gleich ein Unglück über das andere über sie kommen mußte. Wenn nur William sich den Fuß vertreten hätte, hätte sie ja nichts gesagt, aber daß man ihr deshalb gleich ihr schönes Haus zusammenschoß, hatte sie gewiß nicht verdient.

Für alle Fälle aber hatte sie heute wieder ihre Medaillons umgehängt und ein Kleid angezogen, das bis zum Halse zu war. Und in einen Plausch mit Mr. Duncan wollte sie sich nur mehr einlassen, wenn sie absolut nicht ausweichen konnte.

Sie stellte sich zu diesem Zwecke immer wieder für ein Weilchen knapp an die Ecke neben der Küchentür, um die er vom Golfhaus her kommen mußte, aber Mr. Duncan kam nicht. Er trieb sich augenblicklich drüben auf dem Parkplatz umher, wo er zunächst seinen Wagen aus der Garage brachte und von außen und innen mit großer Gründlichkeit beguckte. Dann schob er den Hut noch etwas unternehmender aufs Ohr und die Hände in die Hosentaschen und interessierte sich ein bißchen für die Leute, die angefahren kamen. Er hätte mindestens jeden Dritten beim Namen nennen können, und es waren sehr klangvolle und gute Namen darunter. Hie und da hob einer der Ankömmlinge überrascht die Hand zu einer freudigen Begrüßung, hielt aber auf halbem Wege inne, weil der andere Gentleman gar so fremd tat. Und eine offenbar etwas stürmische und sehr junge Dame, die mit ihrem Zweisitzer in einem guten Hundertkilometertempo angerast kam, jubelte sogar ein lautes »Hallo — my boy«, hätte aber vor Verlegenheit fast den Finger in den hübschen offenen Mund gesteckt, als sie einem so abweisenden, kalten Blick aus schrecklich dreinschauenden Augen begegnete.

Fünf Minuten später erzitterte der Boden und erdröhnte die Luft, und auf dem Herd im »Reitenden Postillon« tanzte sogar das Geschirr. Zum größten Entsetzen von Mrs. Hingley, die befürchtete, daß eine neue Heimsuchung über sie kommen solle.

Es kam aber bloß Mr. Hunter, Unterinspektor vom Scotland Yard, genannt Ajax der Rasende. Er hockte in seinem offenen Ungetüm wie ein Abc-Schütze in einer Primanerbank, und nur die achtunggebietende Hakennase ragte über das Steuer und schnitt wie ein scharfer Kiel in die flimmernde Luft. Mr. Hunter hatte eine Vorschrift aus den letzten Tagen des verflossenen Jahrhunderts herausgeschnüffelt, die anordnete, daß bei Dienstfahrten mit dem neuen Verkehrsmittel die Geschwindigkeit des Wagens »voll« auszunützen sei, und wie an jede andere Vorschrift, hielt sich Mr. Hunter auch an diese mit pedantischer Genauigkeit. Seine kleinen funkelnden Augen hafteten ununterbrochen auf dem Geschwindigkeitszeiger, ob dieser auch wirklich nicht um einen Teilstrich zurückrutsche, und der Mann an seiner Seite murmelte unterdessen mit klappernden Lippen inbrünstige Stoßgebete.

Mehr hatte Mr. Bell, Ajax der Andere, für gewöhnlich nicht zu reden, obwohl er eigentlich erst dort so richtig anfing, wo Mr. Hunter bereits aufhörte. Er durfte sich erst dann zur Geltung bringen, wenn der Wagen aus einem Straßengraben herauszubugsieren oder Ajax der Rasende aus einer jener Patschen herauszuhauen war, in die er durch seine Schneidigkeit des öfteren zu geraten pflegte.

Mr. Hunter hüpfte, Mr. Bell aber schob sich aus dem Wagen, und dann blickten beide wie auf Kommando nach dem neugierigen jungen Gentleman in der Mitte des Parkplatzes. Dann sah der eine der Ajaxe starr nach links, der andere ebenso starr nach rechts, und Mr. Hunter holte eine Spezialkarte hervor, auf der er mit dem Zeigefinger herumzusuchen begann. Mr. Bell hockte sich nieder, um ihm über die Schulter gucken zu können, hielt aber dabei die Hände krampfhaft auf dem. Rücken. Es war ihm verboten, bei solchen Orientierungen der Karte mit dem Finger nahezukommen, weil er damit immer gleich einige Meilen im Umkreis verdeckte.

Alf Duncan fand das Schauspiel dieser Massenauffahrt auf die Dauer doch etwas langweilig. Als sein Wagen in der nächsten Viertelstunde in der entgegengesetzten Richtung des Schwarzen Meilensteins verschwand, blickten ihm die Ajaxe mit gespitzten Augen nach, und dann nickten sie beide so gleichzeitig und abgemessen, als ob ihre Köpfe an einem Draht gezogen würden.


36. Kapitel

Mrs. Drew saß breit vor dem Haus, schälte Kartoffeln und beschäftigte sich mit unangenehmen Gedanken.

Ihre Tochter Molly wollte ihr seit vierundzwanzig Stunden noch weniger als sonst gefallen. Sie hatte plötzlich einen so lauernden und verschlagenen Blick, als ob sie irgendeine Niederträchtigkeit im Kopf hätte, und die besorgte Mrs. Drew hatte deshalb den Beutel mit ihrem Ersparten lieber rasch aus dem Strohsack genommen und um den Leib gebunden.

Dabei war Molly auf einmal so schreckhaft, daß sie bei jedem Geräusch zusammenfuhr. Das ging dann auch einem selbst immer in die Glieder und ans Herz, denn wo die verdammte Polizei so nahe war, konnte ja wirklich etwas los sein.

Mrs. Drew schluckte geräuschvoll, denn sie tat sich furchtbar leid. Auf ihre alten Tage hatte sie doch gewiß ein ruhigeres und angenehmeres Leben verdient. Aber die Welt war voller Bosheit und Undank, und Molly war ein hinterhältiges Biest; die andere aber, diese Miss, eine aufgeblasene Gans, der sie es schon noch heimzahlen wollte. Daß man sie so von oben herab ansah und sie dann einfach stehen ließ, wo sie es doch nur gut meinte, mußte sie sich von so einer, die wer weiß welche schreckliche Todsünde auf dem Gewissen hatte, nicht gefallen lassen.

Und nun wollte die arme Mrs. Drew wieder einmal auch noch der Hund ärgern. Er fuhr plötzlich mit einem Satz aus seiner Hütte und tobte wie eine ganze Meute von verkühlten Kötern.

Aber die blitzschnell aufgegriffene Handvoll Kartoffeln blieb ungeworfen...

Alf Duncan saß schon längst neben ihr auf der Bank und lächelte freundlich wie immer, als Mrs. Drew endlich zum Sprechen kam.

»Sie sind wohl fremd hier herum und haben sich verirrt?« fragte sie mit leiser Hoffnung und bekam einen neuerlichen Schreck, als der feine Herr, über den sie sich nicht recht klar werden konnte, mit dem Kopf schüttelte.

»Nein«, erwiderte er mit treuherzigen Augen, »verirrt habe ich mich nicht, denn ich bin ja schon gestern einmal hier gewesen. Hinten im Garten. — Ich dachte, daß Ihnen Miss Molly vielleicht doch davon erzählt hätte.«

»Molly? — Nicht ein Wort«, entfuhr es der überraschten Mrs. Drew, und dann begann sie sich die Hände so gründlich an der Schürze zu säubern, wie sie es schon lange nicht getan hatte. Wenn dieser fesche Mann ihre leibliche Tochter »Miss Molly« nannte, war er gewiß nicht von der Polizei, denn das waren lauter ungebildete Leute, die immer gleich grob kamen. Wenn er aber nicht von der Polizei war — und da Molly damit so heimlich tat und auf einmal so eigen war, konnte das nur bedeuten, daß... So ein Malefizracker...

In Mrs. Drew regte sich so etwas wie mütterlicher Stolz, und auch in dem Druck der gesäuberten Hand, die sie Alf auf den Arm legte, war etwas Mütterliches.

»Ich werde Ihnen Molly herausrufen, wenn Sie mit ihr reden wollen«, sagte sie mit einem vertraulichen Zwinkern und traf auch wirklich schon Anstalten, sich in Bewegung zu setzen. »Aber Sie werden halt ein kleines bißl warten müssen.« Mrs. Drew wurde noch vertraulicher. »Sie ist nämlich gerade hinten in der Waschküche. — Nur mit der eigenen feinen Wäsche«, fügte sie rasch als Entschuldigung hinzu, »denn die gibt sie nun einmal nicht aus der Hand. Auf so etwas hält ja jedes ordentliche Mädel. — Sie hat auch wirklich lauter Prachtstücke auf dem Leib. Nichts als Seide und Spitzen. Wenn Sie das einmal sehen könnten...«

»Bitte, stören Sie sie nicht. Sie könnte es vielleicht übelnehmen«, meinte Duncan, indem er die gefällige Mutter sanft zurückhielt. Und bevor Mrs. Drew noch dazu kam, ihm das Gegenteil zu versichern, setzte er fort: »Ich bin eigentlich auch wegen etwas anderem hergekommen: Wo ist die Miss, die Sie hier zu Besuch haben?«

Mrs. Drew saß schon wieder, denn mit ihren mütterlichen Hoffnungen waren auch ihre Beine jäh zusammengebrochen. Und was sie sonst noch gehört hatte, ließ ihr den armen Kopf wirbeln.

Am Ende fing die verdammte Geschichte wirklich schon an...

»Da gibt es keine Miss und keinen Besuch«, stieß sie krächzend hervor und hatte mit einem Male alle Liebenswürdigkeit abgelegt. »Da schau einer an. Schleicht sich so etwas mit Lug und Trug in ein ehrliches Haus und möchte da herumspionieren. — Und wer weiß, was noch alles. — Aber Gott sei Dank haben wir eine Poli...«

Das Wort, auf das sie nur Schreck und Wut verfallen lassen konnten, war aber doch etwas zu viel für Mrs. Drew, und es blieb ihr zu einem Drittel im trockenen Halse stecken. Gar, da der verdächtige Bursche neben ihr so ruhig nickte.

»Die sucht sie eben, Mutter Drew«, sagte er dann auch noch dazu. »Deshalb sollten Sie vernünftig sein.«

Er griff in die Westentasche, und als er die Finger wieder hervorzog und mit der Hand schüttelte, klimperte es darin so lieblich, daß Mrs. Drew trotz ihrer Verstörtheit die fleischigen Ohren spitzte. Von einem von der Polizei hatte sie so etwas noch nie erlebt, und vielleicht war wirklich nichts dabei.

»Schließlich sind zehn Schillinge immer besser als zehn Jahre«, redete ihr Duncan auch noch zu.

»Au...«, entfuhr es Mrs. Drew, und sie griff mit einer schmerzhaften Grimasse an das zwickende Knie. Dieser verdammte Stich kam immer, wenn sie irgend etwas von »Jahren« hörte.

»Na also«, sagte der Herr und jonglierte so geschickt mit den glitzernden Silberstücken, daß die Augen von Mrs. Drew immer mehr hervorquollen. »Ich warte mittlerweile im Garten, damit ich Ihnen hier nicht im Wege bin. — Und wegen Ihres Hausherrn brauchen Sie sich auch nicht zu sorgen. Der läßt sich ja um diese Zeit nicht blicken.«

Obwohl diese Bemerkung doch als Beruhigung gedacht war, wollte sie der Frau wieder gar nicht gefallen.

»Ich kenne keinen Hausherrn«, sagte sie scharf, »und weiß nicht, was die Rederei bedeuten soll. Ich habe hier gemietet. Von einem Makler in Aylesbury. Und wenn es einen Hausherrn gibt, so habe ich ihn nie gesehen.« Sie erinnerte sich plötzlich, daß sie in ihrem Leben noch nie Gelegenheit gehabt hatte, einen so wahrhaftigen Eid zu leisten, und wollte sich das schöne Gefühl, das man dabei haben mußte, nicht entgehen lassen. Sie hob daher rasch und mit feierlicher Würde drei ihrer dicken Finger. »Bei Gott, das kann ich auf meine Seligkeit beschwören: von einem Hausherrn, wenn es da einen solchen gibt, habe ich mit diesen meinen Augen noch nie etwas gesehen...«

Dann ließ sie die Finger wieder sinken, und da sie dabei zufällig in der Nähe der blinkenden Schillinge vorbeikam, nahm sie diese mit.


37. Kapitel

Alf Duncan mußte nicht allzu lange warten. Isabel erschien mit einem etwas verlegenen Lächeln, und ihr Blick sagte ihm, daß er nicht unwillkommen war. Aber sie hatte doch einige Bedenken.

»Die Frau schien sehr böse«, sagte sie, »und ich weiß auch wirklich nicht, ob ich recht handle. Wenn für die Leute, die mir helfen wollten, Unannehmlichkeiten entstehen, werde ich mir auch noch deshalb schwere Vorwürfe machen müssen.«

Sie streifte Duncans Gesicht mit einer ängstlichen stummen Frage, erhielt aber darauf keine Antwort.

»Sie sehen heute etwas besser aus«, sagte er, »und ich schließe daraus, daß seit gestern nichts Besonderes vorgefallen ist. Aber heute wird es wohl losgehen, und deshalb wollte ich Sie vorher noch sprechen.«

Isabel verfärbte sich leicht und sah ihn mit schreckhaften Augen an.

»Losgehen...? — Was meinen Sie damit?«

»Nun, die gewisse Sache«, erklärte er leichthin. »Es dürfte nun wohl soweit sein.«

»Haben Sie etwas darüber gehört?« drängte sie.

»Nein, aber ich vermute es. Ich kann mich jedoch auch irren. Es sind jetzt sehr bewegte Tage, und vielleicht kann Ihr Beschützer nicht so über seine Zeit verfügen, wie er es möchte. Dann werden Sie sich eben noch etwas gedulden müssen. Einmal werden Sie den Scheck schon loswerden, und dann...«

»Und dann?« forschte Isabel bange, da er so unvermittelt abgebrochen hatte.

»Ja, was dann werden wird, weiß ich noch nicht. Darüber zerbreche ich mir eben den Kopf. Zuerst vermutete ich, daß man Sie dann nach Hause schicken werde. Den Weg, den Sie gekommen sind — beim Schwarzen Meilenstein vorüber. Aber nun...«

»Davor haben Sie mich gewarnt«, fiel sie ihm ins Wort. »Was hat es damit für eine Bewandtnis? Und wo ist dieser Meilenstein?«

»Knapp vor der letzten Ortschaft, die Sie passiert haben.«

Sie dachte einen Augenblick nach.

»Oh — wohl dort, wo mich die zwei Polizisten aufhalten wollten...«

Alf lachte, und sie fand ihn überhaupt viel vergnügter, als er hätte sein dürfen, wenn er an ihrer schrecklichen Lage wirklich Anteil genommen hätte.

»Das waren keine Polizisten, liebe Miss Longden, sondern ganz harmlose Patrouillenfahrer. Aber die Stelle war es. Wenn sie also in den nächsten Tagen vielleicht in ihre Nähe kommen sollten, so machen Sie schleunigst kehrt. Diese Möglichkeit scheint mir zwar heute nicht mehr sehr wahrscheinlich, aber so lange ich nicht ganz sicher bin, möchte ich nichts versäumen. — Sie könnten mir da mit einer kleinen Andeutung über Ihren Begleiter bei der gewissen Fahrt wirklich helfen...«

Die Aufforderung klang sehr dringlich, aber Isabel schüttelte fast trotzig den Kopf. Sie empfand es als starke Zumutung, daß sie sich ihm noch weiter anvertrauen sollte, während er nach wie vor in unlösbaren Rätseln zu ihr sprach. Sie hatte auch jetzt den Sinn der meisten seiner Worte nicht zu fassen vermocht und ahnte nur, daß um sie irgendwelche geheimnisvollen Dinge vorgingen, die noch anderes betrafen als ihre Schuld. Über diese war sie endlich wenigstens so weit hinweggekommen, daß sie in den endlosen Stunden des Alleinseins nicht mehr der Verzweiflung verfiel. Das schreckliche Bild tauchte zwar noch immer auf, aber es hatte nicht mehr die alleinige Macht über sie. Es gab nun noch manches andere, das sie beschäftigte. Vor allem immer wieder die Frage, wer der Mann war, der sich von Paris bis Alderscourt so hartnäckig auf ihrer Spur gehalten hatte und was er damit bezweckte. Die Antwort darauf war Isabel Longden wichtiger, als sie sich eingestehen wollte, und daß er ihr so beharrlich und so geschickt auswich, ließ sie immer gereizter werden.

Sie sah plötzlich sehr kühl und abweisend drein, erzielte aber damit wenig Erfolg. Duncan betrachtete vielmehr ihr hochmütiges Gesichtchen mit sichtlichem Wohlgefallen und brach dann wiederum in so ein schrecklich unangebrachtes Lachen aus.

»Also nicht«, sagte er. »Übrigens fahre ich heute wieder nach Thame.«

Der Name genügte, um Isabels verstocktes Schweigen sofort zu brechen.

»Was wollen Sie dort?« fragte sie hastig.

»Ein bißchen die Leute aushorchen«, erklärte er mit einem launigen Blinzeln. »Vielleicht erfahre ich einiges, was für Sie von Interesse ist. Es könnte ja sein, daß die Dinge gar nicht so schlimm stehen.«

Sie schüttelte mit einem schmerzlichen Ausdruck den Kopf, und er verstand sie.

»Nun ja, daß Sie glatt darüber hinweg sind, ist nun einmal sicher. Und auch, daß alles kaputt gegangen ist. Alles. — Dafür ist sogar noch ein weiterer Zeuge vorhanden. — Aber es fragt sich, ob die Polizei in Erfahrung gebracht hat, welcher Wagen das Unheil angerichtet hat. Sie haben sich ja sehr rasch davon gemacht.«

»Man weiß bereits alles«, preßte sie hoffnungslos hervor. »Es soll eine schreckliche Aufregung gegeben haben.«

Diesmal ließ sie seine laute Heiterkeit geradezu erstarren.

»Ich fürchte, es wird noch schrecklichere Aufregungen geben«, meinte er, als er sich endlich beruhigt hatte.

Und dann griff er plötzlich, bevor sie es ihm verwehren konnte, nach ihrer Hand, nahm sie in die seine und begann beruhigend ihre zuckenden Finger zu streicheln. Und die Berührung war so sanft und zart, daß sie Isabel gar nicht zum Bewußtsein kam.

»Wenn Sie erst heil aus dieser Geschichte heraus sind, Miss Longden«, sagte dabei der vollendete Gentleman, »werde ich Ihnen ein Präsent machen. — Ein Geschenk, das Ihnen eine so große Freude bereiten wird, wie wohl noch keines zuvor. Und das Sie in ganz besonderen Ehren halten werden. Als kostbare Erinnerung. — Für sich — und Ihre Kinder und Kindeskinder«, fügte er unverschämt hinzu, und Isabel riß ihre Hand hastig aus der seinen und barg sie auf dem Rücken...

Mrs. Drew saß mittlerweile stocksteif vorn auf der Bank und hatte ein blaurotes Gesicht und eine Flasche neben sich.

Das alles kam von der Aufregung.

Das waren ja feine Geschichten. Ein fremdes Mannsbild in Alderscourt und um die Miss herum, obwohl doch der Herr das so streng verboten hatte. Pfui Teufel, wenn es da am Ende einen Krach gab.

Mrs. Drew mußte rasch wieder einen Schluck machen, um über diesen schrecklichen Gedanken hinwegzukommen. Aber was hätte sie tun sollen? Der geschniegelte Bursche hatte so verdächtig herumgeredet, daß sie ganz kalte Beine bekommen hatte. Und zehn Schillinge fand man auf diesem Misthaufen hier draußen schließlich auch nicht alle Tage...

Aber an allem war nur dieses verschlagene Luder, die Molly, schuld. Wahrscheinlich hatte er ihr auch ein paar Schillinge zugesteckt, vielleicht sogar auch ganze zehn, und dieser ungeratene Balg hatte wirklich das Maul gehalten. Damit sie ihrer armen alten Mutter ja nicht etwas davon abgeben müßte.

In diesem etwas ungünstigen Augenblick kam die ahnungslose Molly aus dem Hause, um ihrer feinen Wäsche beim Brunnen die letzte Blütenweiße zu geben.

Mrs. Drew stand plötzlich breit auf den Beinen, und ihre Hand fuhr blitzschnell in das Schaff. Dann patschte ein triefendes Bündel einige Male klatschend um Mollys versteinertes Gesicht, und dann flogen die Prachtstücke aus lauter Seide und Spitzen in den Dreck von Alderscourt.

Molly wußte nicht, wie ihr geschah, aber sie wußte nun, daß es an der Zeit war, das zu tun, was sie ohnehin schon vorhatte.


38. Kapitel

»Haben Sie irgend etwas gefunden, was annehmen läßt, daß es zwischen den beiden einen Kampf gegeben hat?« fragte Chef Inspektor Perkins ungeduldig, als der Arzt mit seiner gründlichen Untersuchung zu Ende war.

Er erhielt darauf eine Antwort, die ihn noch ratloser werden ließ, als er ohnehin schon war.

»Einen Kampf? — Zwischen den beiden?« Der noch ziemlich junge hochblonde Mann, der etwas zu verstehen schien, schüttelte sehr entschieden den Kopf. »Nein, zwischen den beiden hat es ganz entschieden keinen Kampf gegeben. Wenigstens nicht in dem Augenblick, als sie hier herunter kamen. Denn als der Sergeant zu Tode kam, war der andere unbedingt schon eine hübsche Weile tot. Wie lange, werde ich Ihnen nach der Obduktion ziemlich genau sagen können. — Und vielleicht auch noch einiges andere...«

Es lag etwas in dieser Andeutung, was Perkins aufhorchen ließ.

»Vermuten Sie etwas Besonderes?«

Der Arzt zuckte mit den Achseln.

»Wenn Sie mit Vermutungen zufrieden sind, kann ich ja davon sprechen. Schließlich steht die Sache in dem einen Fall für mich bereits unzweifelhaft fest: Der unbekannte Mann ist erst geraume Zeit nach Eintritt seines Todes herabgestürzt worden. Nur bei dem Sergeanten bin ich mir noch nicht recht sicher. Jedenfalls sehen aber auch bei ihm die äußeren Verletzungen, die von dem Fall herrühren, ganz sonderbar aus.«

Perkins biß die Zähne zusammen und suchte endlich festen Boden zu gewinnen. Zum soundsovielten Mal fing er wieder von vorn an, bei der Sache mit Dan Kaye. Dieser hatte irgend etwas mit dem Buschhaus zu tun gehabt und war dann beim Schwarzen Meilenstein verunglückt. Und der Sergeant, der den Auftrag hatte, sich ein bißchen in dieser verdammten Hütte umzusehen, war nun auch erledigt worden. Ebenso ein Dritter, der sich offenbar hier ebenfalls etwas zu schaffen gemacht hatte.

Da mußte doch, zum Teufel, hier herum wenigstens eine winzige Spur zu finden sein.

Aber es war nichts zu finden. Unterinspektor Hunter kletterte mit affenartiger Behendigkeit sogar bis aufs Dach und guckte in den Kamin, und Sergeant Bell krempelte die morschen Dielen wie Bananenschalen auf, aber die einzige Ausbeute war ein kleiner Fetzen Papier von der Vorderseite eines Briefumschlags, und als der Chefinspektor einen Namen darauf sah, blitzte es in seinen Augen auf. Aber seine Hoffnung war nur von kurzer Dauer. Nach dem deutlichen Stempelabdruck auf der Marke war der Wisch bereits über zwei Jahre alt, und dieser »Marwel« mochte wohl ein Angestellter des Unternehmens gewesen sein. Darauf deutete auch die mit Zahlen bedeckte Rückseite des Zettels hin.

»Gott soll mich schützen«, lachte der Arzt, der Perkins neugierig über die Schulter gesehen hatte. »Differentialrechnungen oder irgendwelche schreckliche Formeln. — Ich hatte gehofft, daß ich so etwas nie mehr im Leben zu Gesicht bekäme.«

»Wie lange ist der Steinbruch überhaupt schon außer Betrieb?« erkundigte sich der Chefinspektor ohne sonderliches Interesse, und der Coroner wußte zufällig genau Bescheid.

»Seit eineinhalb Jahren. Die Leute sind in Konkurs gegangen, und die Masse ist bisher unverkäuflich geblieben. Für Steine ist augenblicklich keine Konjunktur. Der Makler Webb in Aylesbary, der sie verwaltet, hat mir gesagt, daß alles in Bausch und Bogen für zweihundert Pfund zu haben ist.«

»Viel zu viel für so einen Schotterhaufen«, knurrte Perkins und winkte dem Unterinspektor Hunter mit den Augen. »Merken Sie sich für alle Fälle vor: Webb in Aylesbury.«

Ajax der Rasende machte mit seinem Vogelkopfe eine rasche Bewegung wie ein würgender Hahn, wobei seine ansehnliche Nase in leichte Schwingung geriet. Dann zog er mit großer Wichtigkeit ein Notizbuch hervor und gab seinerseits Ajax dem Anderen einen Wink mit den Augen. Mr. Bell bückte sich sofort gehorsam, worauf Mr. Hunter auf dieses Schreibpult sein Notizbuch auflegte.

Perkins rannte noch eine weitere Stunde um das Buschhaus herum und auch einige Male den steilen Pfad hinauf bis zu jener Stelle, von der der Absturz erfolgt sein mußte, und die Ajaxe suchten hier jeden Zollbreit Boden ab. Der kleine Mr. Hunter kroch sogar verwegen bis dicht an den Rand des Abgrunds und blickte neugierig in die Tiefe, während ihn Mr. Bell vorsorglich rückwärts an den Hosen hielt.

»Lotrecht so — Leichen da — unmöglich — Kleider richtig«, ließ sich Hunter plötzlich abgehackt vernehmen, und es klang wie das Quaken eines gereizten Frosches. Er sprach immer so, aber da er nur sprach, wenn er wirklich etwas zu sagen hatte, horchte Perkins auf.

»Reden Sie deutlicher«, schnauzte er ungeduldig, aber das machte keinen Eindruck auf Ajax den Rasenden. Er schlängelte sich nur noch etwas weiter vor, und der besorgte Bell hielt ihn rasch auch mit der zweiten Hand fest.

»Lotrecht so — Leichen« da — unmöglich — Kleider richtig«, quakte Hunter noch einmal und wedelte dabei mit den kurzen Armen in der Luft herum.

Dem Chefinspektor blieb nichts anderes übrig, als es dem kleinen Mann gleichzutun, um zu sehen, was dieser eigentlich meinte. Wenn Hunter seine Gedanken einmal in eine so bündige Form gebracht hatte, war er nicht mehr davon abzubringen.

Perkins ging etwas weniger tollkühn zu Werke, aber kaum hatte er einen Blick hinuntergetan, als er auch schon wußte, was der andere meinte. «

Die Sache war wirklich auffallend. Man hatte die Stellen, an denen die beiden Körper und die Kleidungsstücke aufgefunden worden waren, genau markiert. Wenn man jedoch nun von hier oben senkrecht hinunterblickte, waren nur der Hut und der Überrock zu sehen. Die beiden anderen Stellen lagen näher zur Wand. Da aber ein schwerer Körper beim Fall von einer Kante immer lotrecht oder etwas darüber hinaus, nie aber einwärts stürzt, so war dabei irgend etwas nicht richtig.

Fünf Minuten später besahen sie sich das Bild noch einmal von unten, und dabei wurde die sonderbare Tatsache noch deutlicher. Der Steinbruch war an dieser Stelle etwa bis zu zwei Dritteln seiner Höhe tiefer eingetrieben als im obersten Teil, der sich daher wie ein Kuppelansatz ausnahm. Und die Toten hatten nicht senkrecht unter dem Kuppelrand oder außerhalb, sondern einige Schritte innerhalb desselben gelegen.

»Das kann also nur heißen, daß sie irgendwo anders heruntergestürzt und erst dann hierher geschafft wurden«, versuchte Perkins dieses neue Rätsel zu erklären, aber der Arzt widersprach ihm sofort.

»Nein, sie sind nicht hierher geschafft worden, sondern hier aus beträchtlicher Höhe aufgefallen. Ich habe Ihnen ja die deutlichen Spuren gezeigt. Allerdings wären diese noch deutlicher gewesen, wenn... Nun, Sie wissen ja, was ich vermute.«

»Hier aufgefallen«, echote der Chefinspektor grimmig, indem er in die Höhe starrte. »Sagen Sie mir gefälligst woher? Etwa von dem Plafond über uns? Glauben Sie etwa, daß die beiden dort oben spazieren geklettert sind?«

Er deutete auf die fast senkrechte Wand, die von einem Netz von Bohrlöchern und Sprengrissen überzogen war, aber der junge Arzt lächelte etwas maliziös.

»Das müssen Sie herausbringen. Mein Geschäft habe ich erledigt.«

Diese Abfertigung war nicht danach angetan, die Laune des Chefinspektors zu heben. Er begann wieder herumzurasen, und die Ajaxe rasten hinter ihm drein.

Dann erinnerte er sich plötzlich an den zweiten Mann und wurde wieder etwas zuversichtlicher. Man hatte bei diesem zwar nichts gefunden, was seine Persönlichkeit sofort mit Sicherheit feststellen ließ, aber der gewisse unausstehliche Gentleman schien wirklich wieder das Richtige getroffen zu haben. Die Wäsche war tatsächlich mit Ch. B. gezeichnet, und auch das Hutfutter wies ein Monogramm mit diesen beiden Buchstaben auf.

Wenn es aber wirklich Charles Barres war, dann mußte eben nun Miss Reid heran, und dann würde vielleicht die Situation im Handumdrehen ein anderes Gesicht bekommen. Und am Ende war dann sogar die Spazierfahrt mit Mr. Alf Duncan nicht mehr notwendig. Sie ging ihm ohnehin sehr wider den Strich, wie ihn überhaupt die Rolle, die er seit seiner Ankunft in Blackfield spielte, höllisch wurmte.

Das war nun schon das dritte Mal, daß er so einen Ring in der Nase hatte und daran herumgeführt wurde. Und das alles nur deshalb, weil er Oxford und Cambridge nicht auseinanderhalten konnte und einmal die Ansicht geäußert hatte, daß...

Mr. Perkins starrte plötzlich mit offenem Munde nach dem halsbrecherischen Pfad oben an der Wand und glaubte, daß ihn ein Spuk äffe, weil er eben an den Teufel gedacht hatte. Aber die Ajaxe starrten mit, und dann schielte der Rasende aus dem linken Augenwinkel nach oben, der andere aber aus dem rechten nach unten, worauf sie wieder geradeaus starrten.

Alf Duncan kam den Weg in großer Eile herab, und auf einmal begann auch der Chefinspektor mit gewaltigen Sprüngen über das Geröll zu setzen. Mr. Hunter und Mr. Bell aber wechselten rasch wieder einen Blick aus den Augenwinkeln, und dann wurden sie so steif und starr wie die Steinblöcke ringsherum.

Perkins stürzte dem eiligen Gentleman entgegen, und in seinen Augen stand eine unruhige Frage.

»Ja«, sagte Duncan ernst, »ich habe einen verhängnisvollen Fehler begangen, daß ich Miss Reid aus den Augen ließ. Erst als ich nach meiner Rückkehr hörte, daß sie seit dem Morgen nicht mehr Zurückgekommen war, habe ich mich nach ihr umgesehen. — Und ich habe sie gefunden. — Wenn Sie hinüber auf den Hang kommen, werden Sie einen weißen Stein auf dem Wege sehen. Zwanzig Schritte nach rechts liegt Miss Reid im Gestrüpp. — Sie ist erwürgt worden. Wie es vermutlich schon gestern nacht geschehen sollte...«

Der Chefinspektor bewegte krampfhaft die Lippen, aber es währte eine ziemliche Weile, bevor sich die heiseren Laute hervorrangen.

»Erwürgt — Hölle und Teufel! — Förmlich unter meinen Augen...«

»Sozusagen ja«, stimmte ihm Alf Duncan höflich bei und blickte dann nachdenklich auf die Uhr. »Ich fürchte, Sie werden sich nun sehr beeilen müssen, um pünktlich an Ort und Stelle zu sein.«


39. Kapitel

Mr. Guy Fielder konnte seine Sekretärin doch nicht so leicht entbehren, wie er angenommen hatte. Wenn sich sein Geschäftsverkehr auch in sehr bescheidenem Umfang hielt, gab es zuweilen doch eine Sache, in der er Miss Reid mit ihrem fabelhaften Gedächtnis zu Rate ziehen mußte. Die heutige Post hatte ihm sogar einige solche Fälle gebracht, und da er nichts versäumte, fuhr er gleich nach dem Lunch nach Blackfield. Die Briefe schleppte er in einer Aktentasche mit, und vielleicht fand sich im Golfhaus auch eine Schreibmaschine, um die Kleinigkeiten gleich zu erledigen.

Es war wirklich ein ganz besonderer Zufall, daß er bereits auf dem Parkplatz dem Chefinspektor in den Weg lief, denn Perkins war erst vor wenigen Minuten endlich wieder aus dem Zimmer aufgetaucht, in das man die tote Miss Reid gebracht hatte. Weit über eine Stunde war dort hinter verschlossener Tür beraten worden, und es war mit solcher Heimlichkeit geschehen, daß nicht einmal der Geschäftsführer William, der immer wieder dicht vorbeigestrichen war, etwas davon hatte auffangen können.

Mittlerweile standen draußen die Neugierigen, die zum Schwarzen Meilenstein gekommen waren, in scheu flüsternden Gruppen und genossen weit mehr an Schauer, als sie erhofft hatten. Selbst die kräftige Mrs. Hingley hatten die letzten Ereignisse glatt auf den nächsten Stuhl geworfen. Da saß sie nun im verstecktesten und sichersten Winkel der Küche, und während ihre Linke krampfhaft, die Medaillons umklammerte, tastete ihre Rechte immer wieder nach dem schweren Bügeleisen und den haarscharfen Tranchiermessern, die sie für alle Fälle vor sich zurecht gelegt hatte.

Als Mr. Perkins erschien, steckte die Menge noch erregter die Köpfe zusammen. Er sah wie ein aufs äußerste gereizter Bullenbeißer aus. Aber als er Mr. Fielder gewahrte, bekam sein Gesicht etwas geradezu Geisterhaftes.

»Mensch«, stieß er hervor, »wo kommen Sie her? Ich habe Sie vor einer halben Stunde anrufen lassen, Sie waren aber nicht zu erreichen.«

»Wie Sie sehen...«, erklärte Fielder kühl, indem er mit einer großen Geste nach seinem Wagen wies. »Selbstverständlich konnten Sie mich also nicht erreichen. Ich brauche über zwei Stunden heraus, denn ich bin nicht für Raserei. Ich lasse meinen Wagen unter keinen Umständen mehr als zwanzig Meilen laufen.« »

Der Chefinspektor hörte ihm offenbar gar nicht zu, sondern rang noch immer mit der Überraschung, in die ihn diese Begegnung versetzt hatte.

»Und was wollen Sie hier?« fragte er endlich.

Fielder überhörte den seltsam lauernden Ton und warf den Kopf noch mehr in den Nacken.

»Es ist zwar meine Privatangelegenheit«, erklärte er abweisend, »aber ich habe keinen Grund, ein Geheimnis daraus zu machen. Ich bin heraus gekommen, um mit Miss Reid einige geschäftliche Angelegenheiten zu besprechen.«

Er klopfte sehr nachdenklich auf seine Aktentasche, und Perkins starrte ihn wiederum mit einem sonderbaren Ausdruck an.

»Mit Miss Reid... So...« murmelte er. »Na, dann kommen Sie mit«, fügte er plötzlich barsch hinzu, und der kleine Mr. Fielder hatte für diese unerhörte Art einem freien und friedlichen Bürger gegenüber nur ein protestierendes Achselzucken. Er hatte in den verflossenen Sekunden blitzschnell alle Möglichkeiten überdacht und war zu dem beruhigenden Schluß gekommen, daß keine ernste Gefahr bestehen konnte.

Auch als er von dem Chefinspektor ohne weitere Förmlichkeit in ein Zimmer geschoben wurde und sich Gesichtern gegenübersah, die ihm zum Teil bekannt waren, vermochte er sich nicht zu erklären, was dies alles bedeuten sollte. Und er war so ahnungslos, daß er neugierig den Kopf vorstieß und die starren Fischaugen noch mehr weitete, als Perkins plötzlich mit raschem Griff ein Linnen von der Ottomane riß und stumm auf die reglose Gestalt deutete.

Und auch dann währte es noch lange Sekunden, bis Mr. Fielder begriff, und man konnte verstehen, daß ihn das unerwartete Schreckliche derart erschütterte. Sein Gesicht war grau wie Schiefer, und sein bläulicher Mund hatte etwas Leichenhaftes. Nur sein Blick war ebenso leer und kalt wie sonst.

»Jawohl«, sagte der Chefinspektor, indem er die Hülle wieder überbreitete, »eine niederträchtige Geschichte. — Vielleicht können Sie uns etwas darüber sagen.«

Fielder schüttelte automatenhaft den Kopf und sah sich nach einem Stuhl um. Und als er saß, wiederholte er das Kopfschütteln. Es galt aber offenbar nur dem Unfaßbaren und nicht der Frage.

Perkins ließ ihm einige Augenblicke Zeit, bevor er unvermittelt herausplatzte.

»Haben Sie Miss Reid näher gekannt? Das heißt, haben Sie davon gewußt, daß sie sich nur Stellungen aussuchte, in denen es etwas zu holen gab? So viel mir bekannt ist, hat sie dreimal Erpressungen an ihren Chefs versucht. Das waren aber nur die Fälle, bei denen es, nicht durch ihre Schuld, schiefging. Dreimal so oft ist es ihr wahrscheinlich geglückt, denn sie hat sich ihre Leute sehr sorgfältig ausgesucht. — Und bei Ihnen ist sie über ein halbes Jahr gewesen. — Was hat sie dort gewollt?«

Der kleine fahle Mann war allmählich ruhiger geworden und begann bereits leise mit den Fingern zu trommeln.

»Von dieser Vergangenheit habe ich gewußt«, gab er ohne weiteres zu, »und ich habe sogar Miss Reid eben deshalb aufgenommen. Es entspricht nun einmal meinem sozialen Pflichtbewußtsein, solchen Leuten Gelegenheiten zu bieten, sich wieder ehrlich fortzubringen.«

»Richtig«, höhnte Perkins, »Sie sind ja der Mann, der aus Krähen Turteltauben und aus reißenden Wölfen Schoßhündchen machen will.«

Aber an Mr. Fielders innerlicher Befriedigung glitt dieser Spott wirkungslos ab.

»Ich habe auch Miss Reid nie ahnen lassen, daß ich von ihren Verfehlungen wußte«, fuhr er unbeirrt fort, »und hatte keine Veranlassung, dies zu bedauern. Sie war mir eine sehr fleißige und gewissenhafte Mitarbeiterin.«

»Schön«, bemerkte der Chef Inspektor mit einem tückischen Grinsen. »Worauf hatte sie es also bei Ihnen eigentlich abgesehen?«

Fielder hob die hohen Schultern.

»Das vermag ich wirklich nicht zu erraten. In meinem Geschäft gibt es nichts, was ihr eine Handhabe zu derartigen... hm... Versuchen hätte bieten können. Ich betreibe einen ehrlichen Kunsthandel...«

»Bis vor zwei Jahren war es altes Eisen«, stellte Perkins bissig fest. »Draußen bei den Commercial Docks.«

Diesmal war es demokratischer Stolz, der Fielder zu einem kühlen Achselzucken veranlaßte.

»Es ist keine Schande, wenn man sich emporarbeitet«, sagte er würdevoll.

»Nur nicht zu hoch«, feixte der Chefinspektor und fuhr sich mit dem Zeigefinger rund um den Hals. Aber dann wurde er wieder sachlich.

»Nun, dann werden wir uns eben ein bißchen näher dafür interessieren müssen. Diese Frage ist nämlich nicht so unwichtig. — Charles Barres haben Sie natürlich auch gekannt?«

»Charles Barres...?« Fielder bemühte sich, gewissenhaft nachzudenken. »Der Name klingt mir allerdings so, als ob ich ihn schon gehört hätte, aber...« Plötzlich schnippte er mit den Fingern und hob lebhaft den Kopf. »Oh, wenn ich mich nicht irre, ist das doch der Mann, mit dem — hm — Miss Reid — hm...«

»Ein Verhältnis hatte und zusammenarbeitete, jawohl«, vollendete Perkins ungeduldig. »Was für ein zartes Gemüt Sie haben, daß Sie wegen solcher Dinge so herumquatschen. — Also, dieser Barres ist auch erledigt worden. — Warum? — Wem konnte daran gelegen sein, die beiden aus dem Wege zu räumen? Was haben sie gewußt, und wem war das unbequem?«

Der Chefinspektor bohrte seinen Blick in die verschleierten Glaskugeln, aber der kleine Mann hielt unerschüttert stand.

»Um darüber auch nur irgendeine Andeutung machen zu können, weiß ich von den Beziehungen, die Miss Reid hatte, viel zu wenig«, erklärte er unbefangen. »Ich habe mich um ihr Privatleben nie gekümmert, und...«

Perkins, der in den letzten Minuten wiederholt nervös nach der Uhr geblickt hatte, schnitt ihm mit einer kurzen Handbewegung das Wort ab:

»Überlegen Sie sich also die Sache«, sagte er, und es klang fast wie eine Drohung. »Vielleicht fällt Ihnen doch etwas ein. — Auch wegen Dan Kaye. Darüber werden wir noch sprechen. Der Mann ist nämlich bei Ihnen gewesen...«

Wenn Perkins sich von dieser nachdrücklichen Feststellung irgendwelche besondere Wirkung versprochen hatte, so wurde er enttäuscht. Der kleine Mann nahm sie sogar mit einer gewissen Befriedigung auf.

»Also doch«, sagte er. »Dann kann ich Miss...«, er warf einen scheuen Blick nach den Linnen, »... Reid wirklich nicht verstehen. Sie hatte doch ein so ausgezeichnetes Gedächtnis. Aber mir schien es schon gestern auf dem Heimweg so, als ob ich den Namen Dan Kaye bereits früher einmal gehört hatte. Ich pflegte mit den Leuten nie selbst zu verhandeln, sondern überließ dies immer Miss Reid. Nur zuweilen fing ich ein Wort davon auf, und Sie bestätigen mir nun, daß dabei wirklich auch der Name Dan Kaye gefallen sein dürfte. Es muß in der allerletzten Zeit gewesen sein, und ich wollte eben heute mit Miss Reid noch einmal darüber sprechen.«

»Was hat also Dan Kaye bei Ihnen gewollt? Und warum hat ihn Miss Reid nach dem Buschhaus gewiesen?« drängte der Chef Inspektor mit steigender Ungeduld, aber diese Fragen versetzten Fielder in eine so sprachlose Verwunderung, daß die Beantwortung eine Ewigkeit dauern konnte. Und Perkins hatte eben festgestellt, daß es bereits gegen drei Viertel vier ging. Schließlich war ja das hier lange nicht so wichtig wie das andere.

»Wie gesagt, denken Sie über alle diese Dinge nach«, schnauzte er grob und stand bereits an der Tür. »Gegen Abend bin ich wieder zurück, und dann sprechen wir weiter.«

Fünf Minuten später erzitterte wiederum der Boden von Blackfield, und die Luft erschütterten gewaltige Explosionen.

»Fahren Sie, was das Zeug hält«, hatte der Chefinspektor befohlen, und Ajax der Rasende war im Begriff auszuprobieren, wieviel das war.


40. Kapitel

Perkins erreichte die Straßenkreuzung heil und noch einige Minuten zu früh, denn Duncan, der von einer anderen Seite kam, stellte sich erst auf die Sekunde ein. Das war dem Chefinspektor sehr recht. Die Ajaxe mußten um diese Begegnung nicht gerade wissen.

Nicht recht aber war es ihm, daß Duncan so tat, als ob er ihn wirklich bloß mit einer Portion frischer Luft abspeisen wollte. Sie fuhren nun bereits eine ziemliche Weile, ohne daß dieses unausstehliche Produkt von Eton und Oxford oder Cambridge eine Frage getan oder sonst irgendein Wort fallen gelassen hätte.

Dabei war Perkins mit seinen Neuigkeiten und Sorgen bis oben geladen, und als auch während der nächsten Meile nichts geschah, explodierte er.

Er fing mit seinem Bericht bei der Auffindung der Taschenlampe des Sergeanten an und vergaß keine einzige der Folgerungen, die sich dann ergeben hatten. Seine Darlegungen waren so knapp und klar, daß sie ein ganz genaues Bild davon ergaben, worum es sich handelte. Aber in seiner Bedrängnis hielt es der Chefinspektor für zweckmäßig, schließlich alles noch einmal kurz zusammenzufassen.

»Also«, sagte er, indem er zunächst die Finger der Linken zu Hilfe nahm, »erstens: Welche Bewandtnis hat es mit diesem verwünschten Buschhaus? — Zweitens: Warum ist Dan Kaye von Fielder oder Miss Reid hingeschickt worden, und warum und wie hat er sich dann beim Schwarzen Meilenstein den Hals gebrochen? — Drittens: Was hat sich bei dem Erkundungsgang des Sergeanten abgespielt, und auf welche Weise ist er in den Steinbruch gestürzt? — Viertens: Was soll das bedeuten, daß der andere wahrscheinlich erst hinunter geworfen wurde, als er bereits eine ziemliche Weile tot war? — Fünftens: Wie konnten die beiden an einer Stelle liegen, auf der sie nicht auffallen konnten, und wieso sind die Kleidungsstücke richtig gefallen? — Sechstens: Warum hat man Miss Reid um die Ecke gebracht? — Sie ist mit ihrem Schal erdrosselt worden, aber es ist an ihr keine Spur eines Kampfes zu entdecken. — Und in ihrem Handtäschchen habe ich den Zettel Dans gefunden, der heute nacht aus meinem Zimmer verschwunden ist.«

Perkins war bei dem Zeigefinger der rechten Hand angelangt, zögerte aber nun einen Augenblick und schielte erwartungsvoll nach Duncan.

Was er sah, versetzte ihn in stille Wut. Der junge Mann ließ seine Blicke verträumt über die Landschaft gehen und hatte offenbar überhaupt nicht zugehört.

»... Und siebentens«, brüllte der Chefinspektor ergrimmt, indem er auf den ausgestreckten Finger hieb, daß es nur so knackte, »natürlich: Wer???«

»Ja...«, schreckte der verträumte junge Mann jäh auf, und dann sagte er plötzlich: »Donnerwetter...«, stoppte und wies mit starren Augen nach einer Waldwiese.

Perkins folgte begierig der Richtung, wurde aber arg enttäuscht.

»Ein kleiner Hirsch«, meinte er ungeduldig und etwas ungenau, weil er für vierbeiniges Wild kein Interesse hatte.

»Ein Bock«, mußte er sich von dem außer Rand und Band geratenen jungen Mann belehren lassen. »Und schon ein sehr guter. Wenn ich jetzt eine Büchse bei der Hand hätte, bei Gott, ich weiß nicht...«

»Da hätten wir eigentlich die kleine Kanone von heute nacht mitnehmen sollen«, höhnte der kochende Chefinspektor. »Vielleicht hätten Sie das Vieh damit getroffen.« Aber plötzlich fiel ihm ein, daß dies eine Gelegenheit war, um endlich zur Sache zu kommen, und er wurde etwas zahmer.

»Darüber haben Sie mir übrigens auch noch nichts gesagt«, bemerkte er so beiläufig. »Wie haben Sie die Schweinerei entdeckt? Noch zwei Minuten, und es wäre zu spät gewesen.«

»Ja, dann hätte es wohl ein feierliches Doppelbegräbnis gegeben.« Der seltsame Gentleman lachte zynisch auf. »Stellen Sie sich nur vor: Chefinspektor Perkins vom Scotland Yard und Alf Duncan. — Das wäre ein schlechter Witz gewesen, was? Die Vorsehung sträubte sich auch dagegen und hat mich bemerken lassen, wie die Zündschnur in Brand gesetzt wurde.«

»Wie die Zündschnur in Brand gesetzt wurde...? Da müssen Sie doch auch sonst noch etwas gesehen haben...«

Perkins war ganz Eifer und Spannung, aber statt einer sachlichen Antwort kam wieder einmal eine etwas alberne Frage.

»Besitzen Sie ein Feuerzeug?«

»Nein«, erklärte der Chefinspektor kurz. »Der Schwindel taugt nichts. Das Beste und Verläßlichste sind Streichhölzer.«

Duncan nickte.

»Sehen Sie, das habe ich mir von Ihnen gedacht. Womöglich noch solche, die man am Hosenboden oder an der Stiefelsohle anreibt. Sie sind etwas — nun, sagen wir konservativ, lieber Mr. Perkins. Also ich habe sonst nichts gesehen und glaube auch nicht, daß etwas zu sehen war. Die Lunte hat von selbst zu glimmen begonnen.«

»Aha, ein Zeitzünder«, platzte der Chefinspektor prompt heraus, um zu zeigen, daß er doch nicht so rückständig war.

Aber diesmal schüttelte der unverdauliche junge Mann mit dem Kopf.

»Nein, kein Zeitzünder. Ein solcher wäre wohl im Rohr eingelagert gewesen und hätte auch dem Zweck nicht entsprochen. Die freundliche Bescherung sollte ja nicht zu einer bestimmten Stunde, sondern bei einer günstigen Gelegenheit losgehen. Und eine günstigere Gelegenheit, als den Augenblick, da wir beide so hübsch beisammen hockten, konnte es kaum geben. Man wäre mit einem Schlage den Jäger und den Parasiten los geworden. — Übrigens«, sprang Duncan wieder einmal unvermittelt ab, »weiß ich nun endlich bestimmt, weshalb Miss Reid gestern abend nicht gekommen ist: Sie hat auf dem Wege zu unserem Rendezvous mit Charles Barres gesprochen.«

»Mit Charles Barres?« entfuhr es dem Chefinspektor verwundert und zweifelnd. »Der Arzt meinte doch, daß der Mann um diese Zeit bereits tot war...«

»War er auch«, lautete Duncans verblüffende Antwort. »Wahrscheinlich sogar bereits volle vierundzwanzig Stunden. — Sagen wir also besser, Miss Reid hat mich aufsitzen lassen, weil sie Charles Barres gefunden und mit ihm gesprochen zu haben glaubte.«

Perkins fieberte.

»Woraus schließen Sie das?« drängte er.

»Aus ihrem Verhalten und aus der Lage der gewissen Kleidungsstücke im Steinbruch.«

»Was haben die Kleidungsstücke damit zu tun?«

»Alles. — Ohne diese Kleidungsstücke wäre es wohl nicht so leicht gewesen, Miss Reid von ihrem Wege zu mir abzubringen und auf den Hang zu locken. Zu welchem Zweck, muß ich Ihnen gewiß nicht erst erklären. Man hätte dann eben heute noch ein drittes Opfer drüben gefunden. Das hatte ich gleich vermutet, aber Sie waren zu dicht hinter ihr her, und das hat ihr Leben um eine Nacht und einen Morgen verlängert. Man hat ihr wohl in dem undurchdringlichen Dunkel mit der Heimlichkeit, die ja geboten schien, rasch Verhaltungsmaßnahmen zugeflüstert, und sie hat sie befolgt, weil sie meinte, daß sie von Barres gekommen seien. Dazu gehörte offenbar auch, daß sie in einem günstigen Augenblick — sie war ja ziemlich lange allein im Golfhaus — den gewissen Zettel an sich nahm. Und daß sie sich heute vormittag zu einer bestimmten Stunde wieder am Hang einzufinden hatte. — Wie gesagt, es war ein unverzeihlicher Fehler von mir, daß ich sie aus den Augen ließ...«

Alf Duncan hatte eine tiefe Falte zwischen den Brauen, und der Chefinspektor zögerte eine Weile, bevor er verriet, daß er noch immer nicht ganz verstanden hatte.

»Was meinten Sie aber mit der Lage der Kleider?«

»Damit meinte ich, daß diese wirklich oben vom Rande hinunter geworfen wurden, nachdem sie dem gewissen Zweck gedient hatten. — Die beiden Leichen aber...«

»Nun?« forschte Perkins in unerträglicher Spannung, als einige Sekunden verstrichen waren.

»Das muß ich mir erst noch ein bißchen überlegen«, erwiderte Alf Duncan kurz, und der Chefinspektor gab sich wirklich zufrieden, denn das war schon etwas. Er achtete nun sogar die verträumte Schweigsamkeit, in die der junge Mann an seiner Seite plötzlich wieder verfiel, und erst nach einer langen Viertelstunde wagte er die schüchterne Frage:

»Wohin soll die Reise eigentlich gehen?«

»Nach Thame«, erhielt er zur Antwort. »Sie werden die Liebenswürdigkeit haben, mich mit Ihrem dortigen Kollegen bekanntzumachen. Es ist für unsereinen wertvoll, auch mit der Polizei auf dem Lande Beziehungen zu haben. Man wird dann doch ein bißchen rücksichtsvoller behandelt, wenn man das Pech hat, mit ihr dienstlich in Berührung zu kommen.«

Mr. Perkins Stimmung hatte sich so gebessert, daß er zum ersten Mal an diesem kritischen Tage sein breites Feixen wiederfand.


41. Kapitel

Chefinspektor Perkins hatte zwar auf dem Lande nichts zu sagen, aber sein Auftauchen wurde nirgends als besonderes Vergnügen empfunden. Wenn er irgendwo erschien, roch es nach Arbeit und saurem Schweiß, und der Polizeichef von Thame warf einen wehmütigen Blick auf seine zerlegten Forellenangeln, die er nach den Strapazen der Saison eben wieder gründlich instandsetzen wollte.

Die Sache fing wirklich so bedenklich an, daß sich der arme Mann bereits in der ersten Minute verzweifelt an den Kopf fuhr.

»Mr. Duncan möchte sich über einen Vorfall erkundigen, der sich vor einigen Tagen in Ihrem Bezirk ereignet hat«, hatte Perkins harmlos bemerkt, und sein Begleiter hatte eigentlich noch gar nicht so recht begonnen, als der kleine Polizeichef schon völlig aus dem Häuschen geriet.

»Diese Sache...«, stöhnte er. »Diese schreckliche Sache. Wenn Sie wüßten, was mir die zu schaffen gibt. Meine Frau hat nämlich auch davon gehört und interessiert sich nun furchtbar dafür. Morgens beim Frühstück, beim Mittagessen, beim Abendessen und im Bett vor dem Einschlafen will sie wissen, was eigentlich los war, und zwischendurch kommt sie auch noch einige Male hierher, um sich zu erkundigen. — Und ich kann ihr nichts sagen«, lispelte er jammervoll. »Stellen Sie sich das vor. Dabei bin ich selbst schon zweimal an Ort und Stelle gewesen. Und meine Frau ist auch mit dort gewesen und hat gesagt, daß ich die verruchten Mörder unbedingt fangen müßte. Aber was soll ich tun? Was ist überhaupt geschehen? Ich kann es wahrhaftig nicht herausbekommen. Es soll ein Baby in einem Kinderwagen überfahren worden sein. Aber wo ist das Baby? Und wo ist sonst etwas? — Meine Frau hat leicht reden. Gewiß, sie ist eine kluge und sehr energische Frau, aber« — der kleine Mann reckte sich selbstbewußt — »die Polizeivorschriften kennt sie nicht. Ich aber kenne sie. Ich kann nur amtlich vorgehen, wenn etwas vorliegt. Eine Leiche oder wenigstens eine Anzeige. Aber es liegt nichts vor. Ich habe bloß einen großen dunklen Fleck auf der Straße entdeckt, sonst nichts. Meine Frau hat zwar behauptet, es sei Blut, und hat einen Nervenanfall bekommen, aber nach unseren Polizeivorschriften ist das noch immer keine Grundlage. Es gibt ja so viele große dunkle Flecke auf den Straßen. Und wenn es sich vielleicht herausstellen sollte, daß der Fleck von ausgelaufenem Bier herrührt oder ähnlichem, was würde man von mir denken? — Habe ich recht?«

Er richtete seinen unsicheren Blick etwas bange auf den Chefinspektor und dann, da er hier keine Antwort fand, auf Duncan, und dieser erlöste ihn endlich von seinen peinigenden Zweifeln.

»Gewiß haben Sie recht«, erklärte er nachdrücklich, und der Polizeichef fuhr nach seiner Hand und schüttelte sie krampfhaft.

»Ich danke Ihnen«, sagte er aus tiefstem Herzen. »Ich danke Ihnen.« Und dann behielt er die Hand des jungen Mannes in der seinen und brachte bescheiden und stockend noch eine Bitte vor.

»Wenn Sie sich vielleicht noch einen Augenblick gedulden würden. Meine Frau dürfte jede Minute kommen. Es ist eben wieder ihre Stunde...«

Aber der unhöfliche Chefinspektor schützte ziemlich barsch dringende Geschäfte vor.

»So darf ich mich doch wohl wenigstens auf Sie berufen?« meinte der kleine Mann, während er die Besucher höflich bis zum Wagen geleitete. Und dann schielte er ungeduldig die Straße hinunter, die seine Frau jede Minute kommen mußte.

»Was wollten Sie eigentlich hören?« fragte Perkins, als sie bereits wieder unterwegs waren.

»Genau das, was uns der brave Mann gesagt hat«, erwiderte Duncan, aber der Chefinspektor gab sich damit nicht zufrieden.

»Hängt das irgendwie mit dem Schwarzen Meilenstein zusammen?«

»Irgendwie hängt es damit zusammen«, erhielt er zur Antwort. »Entweder hat der kluge Mann vom Schwarzen Meilenstein eine große Dummheit begangen, oder es hat ihm jemand ins Handwerk gepfuscht. Jedenfalls aber haben Sie es dieser Sache zu danken, wenn Sie sich an dem verhexten Stein nicht den Kopf einrennen. — Und nun werden wir uns ein bißchen in Aylesbury umsehen.«

Der Grundstücksmakler Webb war bereits im Begriff, sein Büro zu schließen, machte aber sofort kehrt und gab bereitwillig Auskunft. Die Kunde von den geheimnisvollen Geschehnissen in Blackfield war bereits herüber gedrungen, und der Mann fieberte, Näheres darüber zu erfahren. Der wortkarge Perkins enttäuschte ihn zwar, aber einiges fiel schließlich doch ab.

Dafür war Mr. Webb in seinen Mitteilungen um so ausführlicher und genauer. Er begann bei der Gründung des Steinbruchunternehmens, von dem man sofort nicht viel gehalten hatte, weil gleich bei der ersten Sprengung ein schweres Unglück geschehen war. Und nachdem er gewissenhaft die Leute aufgezählt hatte, die bei der aussichtslosen Sache um ihr gutes Geld gekommen waren, beschloß Mr. Webb seine Geschichte mit einer gleich tragischen Episode, wie jene es gewesen war, mit der sie begonnen hatte. Der Vormeister und Aufseher, der die ganzen Jahre den Betrieb eigentlich geleitet hatte, war einige Wochen nach dem Zusammenbruch im Buschhaus erhängt aufgefunden worden.

Seitdem hatte er, Mr. Webb, die Sache auf dem Halse, und sie machte ihm, wie er offen gestand, keine Freude. Er hatte darauf schon so viele Spesen gehabt, daß von einem Verdienst keine Rede mehr sein konnte. Und wenn das Buschhaus von der Polizei ein bißchen übel zugerichtet worden sei, so habe das weiter nichts zu sagen. Erstens sei die Bude ja ohnehin nichts wert, und zweitens sollte man Häuser, auf denen so offenkundig ein Fluch lastet, überhaupt in die Luft sprengen.

Der Makler hätte noch einiges zu sagen gehabt, aber der Chefinspektor unterbrach ihn durch eine andere Frage.

»Ist Ihnen vielleicht zufällig bekannt, ob bei dem Unternehmen jemals ein Mann namens Marwel angestellt war?«

»Nein«, erklärte Mr. Webb, »darüber kann ich Ihnen leider keine Auskunft geben. Aber gerade an der Straße nach Blackfield wohnt im vorletzten Haus rechts ein alter Gewerkschaftler, der sich an alle Leute erinnert, die in den letzten zwanzig Jahren hier herum beschäftigt waren.«

Perkins war fertig und wollte bereits gehen, als zu seiner Überraschung auch Duncan noch etwas zu fragen hatte.

»Haben Sie vielleicht auch mit Alderscourt etwas zu tun, Mr. Webb?«

»Mit Alderscourt?« Der Makler blickte etwas betroffen drein. »Gewiß, das verwalte ich ebenfalls. — Ist etwa damit auch etwas los? — Das täte mir leid, denn ich habe den Hof erst vor ein paar Monaten endlich verpachtet und bekomme sehr anständige Prozente. Die Familie, der er gehört, wohnt schon seit langem in Schottland.«

»Das Anwesen ist mir nur aufgefallen, weil es so abgeschieden liegt«, erklärte Duncan unbefangen, und Mr. Webb fühlte sich so erleichtert, daß er sogar verschmitzt schmunzelte.

»Ja, seine Ruhe hat man dort«, gab er zu. »Und wahrscheinlich braucht das eben die alte Dame, für die man gemietet hat.«

»Eine alte Dame, so...«

Es klang mehr höflich als interessiert, aber der redselige Makler glaubte ein neues ergiebiges Thema gefunden zu haben.

»Ja — ich nehme es wenigstens an. Gesehen habe ich die Frau allerdings noch nicht, aber eine junge würde sich doch nicht so vergraben. Vielleicht ist sie auch nicht ganz richtig im Kopf, weil alles durch einen Sachwalter gegangen ist. Von diesem bekomme ich auch zu jedem Termin pünktlich mein Geld, und das ist schließlich die Hauptsache.«

Ebenso bereitwillig und mitteilsam zeigte sich eine Viertelstunde später der alte Gewerkschaftler.

Gewiß, einen Marwel habe er gekannt. Aber dieser James Marwel sei nicht beim Steinbruch beschäftigt gewesen, sondern im Elektrizitätswerk. Er war auch kein gewöhnlicher Arbeiter, sondern ein studierter Ingenieur, der sein Fach verstanden habe, wie nicht so bald ein zweiter. In der großen Überlandzentrale habe er Dinge ausgeführt, daß alle seine Kollegen einfach kopf gestanden hätten. Auf solche Versuche sei er überhaupt wie versessen gewesen...

Der Alte nahm plötzlich die Pfeife aus dem Munde und machte ein sehr wichtiges Gesicht.

»Übrigens erinnere ich mich dabei, daß Marwel sich eine Zeit lang wirklich auch in dem Steinbruch zu schaffen gemacht hat, obwohl er dort nichts zu suchen hatte. Aber wahrscheinlich hatte es ihm Sipple, der Aufseher, erlaubt. — Ich glaube, es ging dabei auch um eine Erfindung. Wenigstens hat Marwel im Wirtshaus öfter davon gesprochen. Er hatte es nämlich arg mit dem Trinken zu tun, und dann hat er entweder mit stieren Augen in einer Ecke gesessen und hat spekuliert, oder er hat alles mögliche unsinnige Zeug durcheinander geredet. Einmal habe ich selbst gehört, wie er sagte, daß das schöne, neue Elektrizitätswerk ein lumpiges Kinderspielzeug wäre, das ihm gestohlen werden könne. In einem Jahr werde er vom Biertisch aus ganz andere Kunststücke fertigbringen. Der Biertisch war ihm nämlich immer die Hauptsache, und das hat ihn schließlich auch die Stellung gekostet. Es ging nicht mehr mit ihm, weil er unzuverlässig wurde. Er ist dann in London als Leiter eines Installationsgeschäftes untergekommen, aber auch da hat er sich nicht lange gehalten. Er soll Gelder unterschlagen haben und deshalb ein paar Monate eingesperrt gewesen sein. Erst in diesem Frühjahr habe ich ihn wiedergesehen. Er ist eines späten Abends in einem kleinen Auto hier vorübergekommen. Vielleicht hat er sich also doch wieder hochgearbeitet oder...«

Der biedere Mann hob vielsagend die Schultern, und Perkins warf seinem Begleiter einen ratlosen Blick zu. Er wußte nicht recht, was mit dieser erschöpfenden Auskunft anzufangen war.

»Und wie sah er eigentlich aus?« fragte Duncan.

»Oh, nach gar nichts. Er war ein mittelgroßer, schmächtiger Mann, der nicht viel auf sich hielt. Nicht einmal zum Rasieren hat er sich Zeit genommen, sondern ist mit einem zerzausten kurzen Bart herumgerannt. Und dazu hat er auch noch ein bißchen gehinkt, weil ihm einmal bei seinen gefährlichen Basteleien etwas passiert sein soll.«

»Danke«, sagte der junge Mann sehr herzlich und brachte aus einer seiner Taschen eine Büchse Capstan zum Vorschein, was den beglückten Alten wortlos mit dem eingefallenen Munde klappern ließ.

»Wohin?« fragte der Chefinspektor überrascht, als Duncan den Wagen vor dem Haus wendete und wieder den Weg zurück nahm.

»Zum Telefonamt«, erklärte der junge Mann. »Wir sind vorhin daran vorbeigekommen. Rufen Sie also einmal Exeter an, und fragen Sie, ob James Marwel dort bekannt ist. — Ich vermute ja. — Und wenn meine Vermutung zutrifft...« Alf Duncan blickte wieder einmal so träumerisch ins Leere, daß der aufgeregte Perkins fürchtete, dieser Teufelsjunge aus Oxford oder Cambridge phantasiere, »und wenn Sie es geschickt anstellen, wird es morgen oder übermorgen kein Geheimnis des Schwarzen Meilensteins mehr geben. — Und Miss Isabel Longden wird ihre gerechte Strafe erleiden«, fügte er ganz überflüssigerweise noch hinzu, da der Chefinspektor ohnehin bereits völlig verstört war.


42. Kapitel

Mr. Fielder war noch fahler als sonst, und der große Künstler Mr. Gwynne gebärdete sich noch furchtsamer und zappeliger.

Sie hatten einander kurz nach der lärmenden Abfahrt des Chefinspektors wieder in aller Heimlichkeit am Rande des Golfplatzes getroffen, und in den rollenden Augen des Mimen lag eine verzweifelte Anklage.

»Was habe ich Ihnen gesagt?« stöhnte er pathetisch. »Man ist hier seines Lebens nicht mehr sicher. Und Sie haben mich trotzdem gezwungen, auf diesem gefährlichen Posten auszuharren. Aber nun werden Sie mir wohl glauben. Dieser Marwel ist ein Teufel. Er wird uns noch alle umbringen.« Er zog plötzlich scheu den Kopf ein und ging in ein gehetztes Wispern über. »Ich habe ihn endlich wieder gesehen. Heute nacht — er strich um das Golfhaus herum. Und ich bin nun überzeugt, daß er mit dem Geschäftsführer irgendwie in Verbindung steht...«

Mr. Gwynne atmete tief und schwer auf, und auch der kleine Mr. Fielder war diesmal kleinlauter als bei ihrer letzten Unterredung.

»Sie haben ihn gesehen?« wisperte er zurück. »Weshalb sind Sie ihm nicht gefolgt?«

»Ich bin ihm gefolgt«, erklärte der Künstler stolz.

»Und ich habe dabei sogar den Hals riskiert, denn ich mußte auf der Strickleiter hinunter. Man kommt ja sonst nicht mehr unbemerkt aus dem Haus. Überall sind jetzt neugierige und gefährliche Augen. Leider war das Wagnis umsonst, denn als ich unten ankam, war von dem hinkenden Mann mit dem Bart nichts mehr zu sehen. Nur auf William bin ich gestoßen, der mit seinem verstauchten Fuß doch eigentlich im Bett liegen sollte. — Was sagen Sie dazu? Der Bursche ist mir aber schon längst verdächtig gewesen, und ich wollte mir endlich Gewißheit verschaffen. Da erfolgte jedoch plötzlich der schreckliche Knall, und ich mußte sehen, rasch wieder in mein Zimmer zu kommen. Ich war noch nicht ganz beim Fenster, als Perkins bereits an meine Tür trommelte. Es war ein furchtbarer Augenblick...«

Er mußte dies nicht erst ausdrücklich bemerken, denn man sah es ihm an, wie ihn selbst die Erinnerung noch mitnahm. Fielder nagte an den bläulichen Lippen,, daß sie ganz weiß wurden, und schüttelte den Kopf.

»Ich hoffe, daß Sie darüber nicht reden werden«, sagte er endlich. »Wenn die Polizei Marwel fängt, bevor wir uns mit ihm geeinigt haben, ist nicht nur mein Geld verloren, sondern alles. Wie es mit dem anderen Geschäft steht, wissen Sie ja. Ich habe bereits mehrere Telegramme erhalten, daß die Leute mit den Dollarscheinen plötzlich herausrücken, und da dürfte es vielleicht schon in den allernächsten Tagen großen Lärm geben. — Es schlägt auf einmal alles fehl«, schloß der bekümmerte Mann seine unerfreulichen Mitteilungen und heftete dann wieder einmal die ausdruckslosen Augen starr auf den schlotternden Komödianten. »Wenn mir die Sache mit Miss Longden gelungen wäre, hätten wir uns für eine Weile irgendwohin zurückziehen können.«

Gwynne räusperte sich und hielt sehr angelegentlich nach allen Seiten Umschau.

»Was hatten Sie mit ihr vor?«

»Ein Geschäft«, erklärte Fielder etwas allgemein. »Nicht in Dollar, sondern in Pfunden. Ich hatte mit ihr bereits darüber gesprochen, und sie war nicht abgeneigt. Aber dann ist sie ganz plötzlich abgereist. — Seltsam, sehr seltsam...«

Alle diese Dinge beschäftigten Mr. Fielder so, daß er auch auf dem Rückweg zum Golfhaus aus dem Kopfschütteln nicht herauskam. Und als er auf dem Parkplatz einen Blick auf seinen Wagen warf, hatte er neuerlich Veranlassung, den Köpf zu schütteln, denn die Bereifung eines Hinterrades war völlig, platt. Er konnte sich das nicht erklären, da er doch ohne Defekt angekommen war, aber jedenfalls mußte der Schaden sofort behoben werden. Er gedachte unbedingt noch vor Eintritt der Dunkelheit die Heimfahrt anzutreten. Selbst Perkins konnte ihm ja nicht zumuten, in der Nacht den schrecklichen Meilenstein zu passieren. Und hier bleiben konnte er auch nicht, da er ja nicht darauf vorbereitet war und außerdem früh im Geschäft sein mußte, in dem er nun keine Hilfe mehr hatte.

William tauchte wie gerufen in der Küchentür« auf, und Fielder winkte ihn heran. Der Geschäftsführer hatte heute seinen ruhigsten Tag im »Reitenden Postillon« gehabt, denn Mrs. Hingley hatte ihn seit dem letzten Schreck nicht mehr von ihrer Seite gelassen. Nun aber war sie endlich unter sicherer Bedeckung nach ihren Zimmern gewankt, um sich etwas zu erholen, und der kräftige Hausdiener mit der bläulichen Nase mußte vor ihrer Tür Wache halten.

Das dringende Ersuchen Fielders, seinen Wagen raschestem wieder instand zu setzen, begegnete daher einigen Schwierigkeiten, aber nachdem William sich die Sache besehen hatte, zeigte er sich bereitwilliger.

»Wenn es sich nur darum handelt, das Rad auszuwechseln«, meinte er mit einem bescheidenen Lächeln, »werde ich schon allein fertig. Das ist nämlich das einzige, was ich vom Auto verstehe.«

Er machte sich auch gleich an die Arbeit, aber sie ging ihm so langsam von der Hand, daß Fielder es vorzog, mittlerweile einen kleinen Spaziergang zu machen. Er mußte sich verschiedenes zurechtlegen und sah daher recht nachdenklich drein, als er mit dem Kopf im Nacken und den Händen auf dem Rücken würdevoll davonschritt.

Da William zwischendurch im Golfhaus einiges zu schaffen hatte, was ihn eine ziemliche Weile in Anspruch nahm, verging über eine Stunde, bevor das heue Rad endlich saß. Mr. Fielder sah bereits längst wieder mit sichtlicher Ungeduld zu, aber nun war es so weit, daß nur mehr der Heber entfernt werden mußte.

In diesem Augenblick tauchte der Wagen Alf Duncans auf der Straße vom Schwarzen Meilenstein her auf, und das verwirrte William so, daß er blitzschnell aufsprang und sich hastig die Flecke von den Knien putzte. Er schien sich zu schämen, daß ihn einer der Gäste bei einer so gewöhnlichen Arbeit betroffen hatte, und der verwunderte Fielder mußte sich schließlich dazu verstehen, das Letzte selbst zu besorgen.

Dafür kam aber für ihn eine Viertelstunde später eine vielraschere Erlösung, als er sie zu hoffen gewagt hatte.

Chefinspektor Perkins war kaum aus dem glühenden und gefährlich brummenden Ungetüm gesprungen, als er überrascht die Brauen hochzog und fast so etwas wie eine entschuldigende Grimasse schnitt.

»Sie haben doch hoffentlich nicht eigens auf mich gewartet, Mr. Fielder?« fragte er mit ungewohnter Höflichkeit. »Das täte mir leid, denn schließlich ist ja das, was ich von Ihnen noch wissen möchte, nicht so wichtig, daß es nicht noch bis morgen Zeit hätte. Wenn Sie also in der Stadt dringend zu tun haben, so fahren Sie ruhig heim.«

Der Vorschlag klang dem kleinen Manne sehr angenehm, und er griff ihn mit der gleichen Höflichkeit auf, mit der er gemacht worden war.

»Gewiß hätte ich dringend zu tun«, sagte er. »Sie können sich ja denken, daß mich das gewisse... hm... traurige Ereignis — von allem anderen abgesehen — in die größte Verlegenheit gebracht hat. Ich werde nun das Geschäft ganz allein leiten müssen. — Und außerdem« — Mr. Fielder zögerte etwas verlegen, aber dann hob er den Kopf und blinzelte unruhig mit den glasigen Augen — »möchte ich wirklich nicht gern allzu spät von hier wegfahren. Ich gestehe ganz offen, daß es mir unheimlich wäre, bei Nacht an der gewissen Stelle vorüber zu müssen. Es ist gewiß lächerlich, aber ich bin nun einmal nicht das, was man einen mutigen Mann nennt.«

Diese Offenheit stand Mr. Fielder sehr gut, und Perkins feixte beruhigend.

»Nun«, sagte er, indem er unwillkürlich nach der Uhr blickte, »wir haben ja erst Viertel acht und noch halbwegs Licht. Da wird es bei dem verhexten Stein wohl kaum spuken.«

Trotz dieses Zuspruchs war der kleine Mr. Fielder recht grau und unruhig, als er einige Minuten später mit seinem Wagen in langsamer Fahrt vom Parkplatz auf die Chaussee rollte.

Alf Duncan saß in einem Winkel der Terrasse und blickte dem Auto nach, bis es der Wald aufnahm. Dann zog er die Uhr und schien aus lauter Langeweile die Sekunden zu zählen.

Erst als vom Vorderhaus ein eiliger Schatten gegen die Bäume glitt, klappte der Gentleman den Deckel geräuschvoll zu und wartete...


43. Kapitel

Mr. Fielder fuhr nicht höchstens zwanzig Meilen, wie er behauptet hatte, sondern höchstens fünfzehn, und vor der Straßenbiegung wurde sein Tempo noch zaghafter. Er hatte wirklich eine gewaltige Scheu vor dem Schwarzen Meilenstein. Als er seiner ansichtig wurde, verlor sogar die Hand am Lenkrad ihre Ruhe und brachte den Wagen sekundenlang bedenklich ins Schlingern.

Aber der kleine Mann, der sich hinter der Glasscheibe wie eine leblose Wachsfigur ausnahm, fing ihn noch rechtzeitig wieder ein und erst dann geschah es...

Die Vorderräder klappten mit einem jähen Ruck nach links, der Wagen schnitt die Straße in der Diagonale, schaukelte über den seichten Graben und polterte unter einigem Lärm zwischen die Strünke und Stämme...

Es war dank dem langsamen Tempo nicht viel geschehen, aber den Mann am Steuer schien der Schreck völlig gelähmt zu haben, da sich lange Zeit nichts regte. Aber dann flog endlich die Tür auf, und Mr. Fielder plumpste wie ein Sack aus dem schiefstehenden Fahrzeug und blieb regungslos liegen. Nach wieder einer halben Minute aber richtete er sich halb auf und stierte völlig verloren um sich.

Ein halbwüchsiger Junge, der nach einer Weile auf seinem Rad vorbeifuhr, entsetzte sich über den Anblick des verunglückten Autos und der leichenhaften Gestalt derart, daß er leise aufschrie und in wahnsinniger Eile die Pedale zu treten begann.

Als er, verstört gestikulierend, beim »Reitenden Postillon« absprang, setzte sich auf dem Parkplatz plötzlich der Wagen Alf Duncans in Bewegung und flog in der Richtung des Schwarzen Meilensteins davon. Zwei Minuten später erdröhnte auch die Maschine Ajax' des Rasenden.

Duncan war der erste an der Unfallstelle, aber Fielder erkannte ihn nicht, und es war fraglich, ob er ihn überhaupt sah. Er ließ mit sich herumhantieren wie eine Gliederpuppe und gab dabei nicht den geringsten Laut von sich. Irgendwelche schwerere Verletzungen schien er wohl nicht davongetragen zu haben, aber einen ganz gewaltigen Schock.

Chefinspektor Perkins erschien mit einem Gesicht voll grimmiger Wut und einem Blick voll verzweifelter Ratlosigkeit, der vor allem Duncan suchte. Aber der junge Gentleman wollte wieder einmal nicht verstehen.

»Ich glaube, Mr. Fielder ist nichts Ernstliches geschehen«, sagte er naiv. »Und dem Wagen auch nicht. Für alle Fälle könnte man aber doch das Lenkgestänge nachsehen.«

Das war eine Arbeit für die Ajaxe, und einen Augenblick hatte es den Anschein, als ob sie das Auto in aller Eile in seine kleinsten Bestandteile zerlegen wollten. Aber dann quakte Unterinspektor Hunter plötzlich ein scharfes »All right« und wiederholte es noch einmal, nachdem er sich mit der Geschmeidigkeit eines Aals unter das Gestell gezwängt hatte.

»All right«, sagte auch Duncan mit einem kurzen Nicken und hatte so wenig Interesse mehr an der Sache, daß er sich gemächlich an den Straßenrand setzte.

Mittlerweile hatte sich der arme Fielder doch einigermaßen erholt und begann, bewußte Lebenszeichen von sich zu geben. Seinen Gesten war es nur zu entnehmen, daß er von dem Ort seines schrecklichen Erlebnisses weg wollte, und sogar der Chefinspektor fand diesen Wunsch verständlich.

»Wir werden Sie ins Krankenhaus schaffen«, schrie er dem Hilflosen wohlwollend ins Ohr, und das schien Fielder noch weiter in die Wirklichkeit zurückzuführen, denn er schüttelte lebhaft mit dem Kopf und deutete in der Richtung zur Stadt.

»Er will wohl nach Hause«, murmelte Perkins und wandte sich an Hunter. »Da wird nichts anderes übrig bleiben, als daß Sie mit ihm losfahren.«

Ajax der Rasende würgte lebhaft, zum Zeichen, daß er schon bereit war, aber dann fügte es sich doch bequemer. Ein vorüberkommender Automobilist erbot sich, den Verunglückten mitzunehmen, und der bedauernswerte Mr. Fielder, der sich kaum auf den Beinen halten konnte, wurde fürsorglich in den Wagen verstaut.

Als er abfuhr, machten sich auch die aufgeregten Dienstboten des Golfhauses, die die neue Schreckensnachricht hergesprengt hatte, wieder auf den Heimweg. Der Geschäftsführer William, der wegen seines Fußes als letzter gekommen war, ließ sie ein Stück voraus. Aber als er sich dann in aller Stille auch zurückziehen wollte, klopfte ihm jemand auf die Schulter. Er fuhr erschreckt herum, und das freundliche Lächeln, dem er begegnete, brachte ihn noch mehr aus der Fassung.

»Stellen Sie sich einmal vor«, sagte Alf Duncan eindringlich, »wie das nun wäre, wenn Sie weniger gute Arbeit geleistet hätten und der arme Mr. Fielder sich wirklich den Hals gebrochen hätte...«

Diese Vorstellung mußte für William etwas Furchtbares haben, weil er plötzlich so verzweifelt um sich blickte. Der elegante Gentleman aber fand sie so erheiternd, daß er alle seine tadellosen Zähne zeigte.

Dem Chefinspektor gelang es erst bei der Garage, Duncans endlich habhaft zu werden und ihn unbemerkt beiseite zu ziehen.

»Was soll man nun von dieser Sache wieder halten?« tuschelte er aufgeregt. »Das war doch einfach zu toll. — Glauben Sie, daß das auch wieder mit dem Meilenstein zusammenhängt?«

»Natürlich hängt es damit zusammen«, erklärte Alf etwas gelangweilt. »Ich habe sogar achtundzwanzig Minuten darauf gewartet, und wenn es nicht eingetreten wäre, hätten meine schönen Kombinationen einen argen Riß bekommen. — Aber nun, da der Schwarze Meilenstein auch Mr. Fielder einen so üblen Streich gespielt hat, bin ich beruhigt.«

Perkins wußte mit dieser Antwort wieder einmal nichts anzufangen, hatte sich aber seit dem Nachmittag in den gewissen Ring in der Nase ergeben. Die Hauptsache war, daß dieser verteufelte Fall rasch eine Lösung fand. Der Bursche, der hinter dem Schwarzen Meilenstein steckte, wütete ja mit der kaltblütigen Mordgier und der Verschlagenheit eines gefährlichen Irren, und der Chefinspektor dachte mit argem Unbehagen an den Spektakel, den es im Scotland Yard und in der Presse bereits geben mochte. Dabei tappte er noch immer völlig im dunkeln. Dieser rätselhafte James Marwel, der nach den Mitteilungen der Verwaltung von Exeter mit Dan Kaye sogar einer Arbeitspartie angehört hatte, war ja gewiß eine wichtige Spur — aber worum ging es bei der Sache von Anbeginn an? Der Mann schien nach allem ein bißchen verrückt gewesen zu sein. War er vielleicht gänzlich übergeschnappt, und bedeutete der blutige Spuk beim Schwarzen Meilenstein nichts anderes als den zwecklosen Vernichtungstrieb eines kranken Hirns?

Der Chefinspektor fluchte in sich hinein, aber es hörte sich an wie ein schwerer Seufzer.

»Wir werden also heute nacht das Buschhaus im Auge behalten«, sagte er. »Hoffentlich bekommen wir diesen Marwel zu Gesicht.«

»Den hinkenden Mann mit dem Bart, meinen Sie?« erwiderte Duncan zerstreut. »Hoffentlich. Jedenfalls aber um so wahrscheinlicher, je unvorsichtiger Sie es anstellen. Am besten wäre es, Sie ließen Ihre Absicht in Blackfield und Umgebung austrommeln. Es ist noch genügend Zeit dazu, denn vor drei Stunden kann sich nichts ereignen. — Im übrigen verspüre ich gewaltigen Appetit und gedenke nun den gemächlichen Mr. William etwas in Schwung zu bringen.«

»Was ist mit dem Mann?« platzte Perkins heraus. »Er will mir nicht gefallen.«

Duncan nickte.

»Sie haben einen wunderbaren Instinkt, Perkins. Bei dem ganzen Fall kann Ihnen nämlich nichts so gefährlich werden, wie dieser William mit seinen drei A.«

Der Gentleman aus Cambridge nickte nochmals und ließ den Chefinspektor mit grimmig verbissenen Zähnen stehen.

Aber wie vor einigen Tagen vor dem Hotel am Strand, machte er auch jetzt plötzlich wieder kehrt und tippte dem übel gelaunten Mann wohlwollend auf die Schulter. Und dann sagte er etwas, was er in ähnlicher Form heute schon bei anderer Gelegenheit einmal gesagt hatte.

»Wenn die Geschichte hier glücklich zu Ende ist, verehrter Gönner, werde ich Ihnen eine so große Freude bereiten, wie Sie sie höchstens noch bei meiner Beerdigung empfinden könnten...«

Perkins verstand ihn zwar auch diesmal nicht, sagte sich aber, daß dies schon eine ganz gewaltige Freude sein müßte.


44. Kapitel

Dieser Abend verlief im Golfhaus noch bedrückender als der vorhergegangene, an dem das Unheil mit Williams Fuß seinen Anfang genommen hatte.

Der leere Platz von Miss Reid hielt im Speisesaal die düsteren Geschehnisse doppelt lebendig, und Mrs. Hingley wäre um nichts in der Welt dazu zu bewegen gewesen, ihren Fuß in den Raum zu setzen. Außerdem war der Weg vom Vorderhaus bis hierher bei den schrecklichen Zuständen zu gefährlich, besonders am Abend. Sie blieb daher lieber in ihrem halbwegs sicheren Winkel in der Küche, und nur ihre Gedanken huschten zuweilen zu dem gewissen Tisch im Golfhaus. Aber auch nur mehr zuweilen, denn Mrs. Hingley war eine vernünftige und willensstarke Frau, und überdies hatten die furchtbaren Heimsuchungen, die über den »Reitenden Postillon« hereingebrochen waren, sie sozusagen geläutert. So etwas war nichts für eine ehrbare Witwe von drei ehrsamen Männern, denn es konnte ja zu nichts Ernsthaftem führen. Zu ihr gehörte jemand, den sie, wenn es wieder so kommen sollte, genau so in Ehren an ihrem Halse tragen durfte, wie die drei anderen. Dagegen würden wohl die drei anderen auch nichts haben, denn ein Mann gehörte nun einmal ins Haus. Sie konnte nicht ewig William an der Hand erwischen, wenn sie eines Schutzes bedurfte oder so furchtbar schreckhaft war wie heute.

Diese Schreckhaftigkeit seiner Herrin brachte es mit sich, daß der Geschäftsführer sich an diesem Abend seinen Dienst noch etwas bequemer machte als sonst. Er erschien nur, um die Bestellungen entgegenzunehmen, und blieb dann lange Zeit unsichtbar. Das Servieren besorgte ein herausgeputztes Küchenmädchen, das die Augen verzweifelt verdrehte, aber glücklicherweise nicht viel zu tun fand. Zunächst war nur Alf Duncan zu bedienen, der sich die Zeit damit vertrieb, daß er mit großem Ernst auf einer Autokarte herumzirkelte, und dann erschien der Chefinspektor mit den Ajaxen.

Es ging sehr schweigsam zu, bis plötzlich Mr. Gwynne auftauchte. Das war ein so außergewöhnliches Ereignis, daß das verwirrte Mädchen bei seinem Anblick einige Messer und Gabeln auf den Teppich ablud. Der Lärm war nicht gerade groß, aber der nervöse Künstler fuhr sich verzweifelt an die Ohren, und das Mädchen hätte um ein Haar das ganze Tablett dem Besteck nachgeschickt.

Dann begrüßte Mr. Gwynne den Chefinspektor mit der gebührenden Förmlichkeit. Es lag keine Devotion in dieser abgerundeten Begrüßung, sondern lediglich die Achtung, die ein braver Bürger der staatlichen Autorität entgegenbringt.

Mr. Perkins war weniger förmlich und beschränkte sich auf ein kurzes Nicken und einen tückischen Blick. Der Künstler räusperte sich würdevoll und bestand nun darauf, den Geschäftsführer zu sprechen. Und als der etwas echauffierte William mit der gebotenen Eile angehumpelt kam, setzte ihm Mr. Gwynne seine Wünsche mit großer Umständlichkeit und sehr eindringlich auseinander.

Er wurde mitten drin durch den unmanierlichen Chefinspektor gestört, der plötzlich auf die Uhr sah und dann mit beiden Handflächen auf den Tisch schlug.

»So«; sagte er, indem er seinen Stuhl zurückstieß und sich erhob, »nun dürfte es wohl an der Zeit sein. — Wir gehen den unterer Weg, aber einer nach dem andern, damit es nicht so auffällt. Der hinkende Mann mit dem Bart darf nicht ahnen, daß wir im Haus stecken.«

Ajax der Rasende würgte und ließ ein entschlossenes »Quak« hören, und Ajax der Andere zog unternehmend die Hosen über den wuchtigen Leib. William aber stützte sich schwer auf den Tisch, ohne daß Mr. Gwynne für diese arge Ungehörigkeit ein Auge gehabt hätte.

Es ging alles genau so vor sich, wie der Chefinspektor es angeordnet hatte. Über dem Kessel um das Buschhaus lag so tiefe Dunkelheit, daß von den drei Gestalten, die eine halbe Stunde später über die Schwelle huschten, auch nicht ein Schatten wahrzunehmen war.

Dann aber wurde in der Diele offenbar eine Taschenlampe angeknipst, denn an den rissigen Türen zeichneten sich plötzlich matte Lichtfäden ab. Sie verschwanden zwar bald, zeigten sich aber dann in Pausen von etwa einer Viertelstunde immer wieder für eine Weile.

So wurde es allmählich Mitternacht — und dann verstrich noch eine lange Stunde — und noch eine zweite.


45. Kapitel

Auch in Alderscourt gab es nach einem gewitterschwülen Nachmittag einen bedrückten, ungemütlichen Abend. Da die erboste Molly zu einem ehrlichen offenen Krieg nicht zu haben war, mußte sich die arme Mrs. Drew in Anspielungen Luft machen.

»Das hätte man ersäufen sollen, wie eine nichtsnutzige Katze«, äußerte sie giftig. »Man hat nur Schande davon und schrecklichen Undank. Verrät für zehn Schillinge — oder vielleicht waren es noch ein paar mehr«, der stechende Blick der entrüsteten Frau streifte die verstockt maulende Tochter, »die leibliche Mutter. Genau so, wie der gemeine Kerl in der Bibel, der Judas. Man sollte nicht glauben, daß so etwas von Schlechtigkeit in der Welt herumläuft...«

Molly hieb zum soundsovielten Male an diesem kritischen Tage wortlos die Tür hinter sich zu, und Mrs. Drew holte in ihrer Wut so temperamentvoll mit der Rechten aus, daß sie fast ins Wanken geraten wäre.

Der Teufel mochte wissen, was in das Mädel auf einmal gefahren war. Sonst hatte sie doch das Mundwerk auf dem rechten Fleck, und es gab gleich Feuer am Dach, aber heute konnte man herumzündeln, so viel man wollte, es wurde nichts daraus. Und man konnte sich nicht so aussprechen, wie es sich zwischen Mutter und Tochter doch eigentlich gehörte.

Die schwer gekränkte Molly hielt eine solche Aussprache für zwecklos, denn sie hatte sich in aller Stille und Heimlichkeit reisefertig gemacht. Seit der unliebsamen Begegnung im Garten brannte ihr der Boden von Alderscourt unter den Füßen. Wenn sie sich nicht einmal hier mehr sicher fühlen durfte, konnte ihr dieses langweilige Rattenloch gestohlen werden. Und sie fühlte sich gar nicht mehr sicher. Sie wußte nicht, was sie aus dem feinen Herrn, der so gemein mit ihr umgesprungen war, machen sollte, aber was er angedeutet hatte, war ihr arg in die Glieder gefahren. Falls er davon anderwärts sprach, war es gleich für ein paar Jahre Schluß mit der Herrlichkeit. Vorläufig schien er heute nur der Alten etwas von dieser dummen Geschichte gesteckt zu haben. Anders konnte sie sich den Krach und das Geraunze über Undankbarkeit und die zehn Schillinge nicht erklären. Wenn die Alte erst erfahren würde, daß es fast ebenso viele Pfunde gewesen waren...

Mollys Entschluß stand also unwiderruflich fest, und sie paßte nur auf eine günstige Gelegenheit, um ihn auszuführen. Wo die mütterlichen Ersparnisse ruhten, die sie ja doch einmal erben würde, wußte sie bereits, und auch oben bei der fremden Miss hatte sie sich schon gründlich umgesehen. Wenn sie nur zehn Minuten Zeit hatte...

In späteren Tagen, als ihr Leben durch dicke Mauern gegen alle Wechselfälle gesichert war und, wenn auch nicht angenehm, so doch wenigstens ohne aufregende Überraschungen verlief, dachte Mrs. Drew oft und oft darüber nach, wann und wie diese schreckliche Nacht auf Alderscourt eigentlich begonnen hatte und was wohl vorgegangen sein mochte. Aber nie kam sie zu einem Ergebnis, das ihre lebhafte Wißbegierde völlig befriedigt hätte.

Begonnen hatte es jedenfalls wieder mit dem verdammten Biest, dem Hund...

Es mochte so gegen elf Uhr sein, als er wieder einmal einen Höllenspektakel schlug und Mrs. Drew aus ihrem geräuschvollen Schlummer aufschreckte. Sie war noch völlig angekleidet, denn bis Mitternacht hatte sie immer auf den Herrn zu warten. Zunächst lauschte sie, weil sie fürchtete, vielleicht das Klingelzeichen überhört zu haben, als aber die Glocke still blieb, verwünschte sie Molly, die an allem schuld war. Das faule Ding wälzte sich drüben in ihrer Schlafstube bereits im Bett, die arme alte Mutter aber kam nicht dazu, auch nur für fünf Minuten ein Auge zuzumachen.

Mrs. Drew schmerzte der Kopf, da sie wegen des schrecklichen Ärgers den ganzen Nachmittag und Abend immer wieder von ihrem Beruhigungsmittel hatte nehmen müssen. Da würde ein bißchen frische Nachtluft ganz gut tun, und dabei konnte auch der verdammte Köter eins über die Schnauze bekommen, daß er sie die ganze Nacht nicht mehr aufbrächte.

Der Hund ahnte so etwas, als er seine Herrin mit einem kräftigen Besenstiel auftauchen sah, und er wußte auch, daß er da nicht einmal in seiner Hütte vor empfindlichen Püffen sicher war. Er zerrte daher mit einem schauerlichen Geheul voll Wut und Furcht verzweifelt an der Kette, und eben, als der Besenstiel ausholte, gelang es dem Köter, loszukommen. Mrs. Drew sandte ihm zwar den schweren Knüppel nach, kam aber beträchtlich zu spät, und das war nicht danach angetan, ihre Laune zu verbessern. Es war ein ganz verhexter Tag, an dem alles schiefging. Aber wenigstens würde das Biest sich jetzt nicht gerade vor ihren Fenstern austoben.

Mrs. Drew wollte sich's nach diesem neuerlichen Ärger und nach dieser Anstrengung ein wenig auf der Hausbank bequem machen, kam aber nicht dazu. Die Klingel in der Wohnstube ratterte nun wirklich plötzlich Sturm, daß man es bis auf den Hof hinaus hörte. Das war noch nie vorgekommen, und es fuhr Mrs. Drew so in die empfindlichen Beine, daß sie einen Augenblick nicht vom Fleck konnte. Aber dann raffte sie sich auf und schnaufte ins Haus. Der Zwist mit Molly war völlig vergessen, und sie klopfte hastig an deren Tür.

»Komm rüber und hilf mir«, flüsterte sie aufgeregt. »Der Herr ist da und scheint es schrecklich eilig zu haben.«

Aber Molly gab eine so unartige Antwort, daß die gekränkte Mutter ein verzweifeltes Fauchen hören ließ und vor Empörung mit der Laterne nicht zurechtkommen konnte. Mittlerweile gellte die Klingel ununterbrochen weiter, und im gleichen Tempo schepperten auch die Knie der armen Mrs. Drew.

Endlich war es aber doch soweit, und die alte Treppe ächzte wehleidig, als die eilige Frau ihre zweihundert Pfund Stufe um Stufe hinaufstemmte.

Molly hatte ihr Ohr an der Tür und begleitete im Geiste die Mutter auf ihrem Gang. Sowie die Alte auf dem ersten Absatz angelangt war, schlüpfte sie blitzschnell in die Wohnstube hinüber und fuhr mit sicherem Griff in den Strohsack der mütterlichen Lagerstatt.

Als sie die Hand leer herauszog, schnitt sie eine wütende Grimasse und drohte mit der Faust grimmig nach oben, hielt sich aber nicht weiter auf. Wenn ihr die Sache bei der Miss gelang, konnte sie auf die paar lumpigen Pfund pfeifen. Das Wertvollste schleppte dieser alberne Goldfisch zwar mit sich herum, aber in dem großen Koffer gab es ein Bündel Geld, mit dem ein bescheidener Mensch eine ganze Ewigkeit auskommen konnte. Und verschiedene andere Dinge, zu denen man nicht alle Tage kam, waren auch noch da...

Mrs. Drew langte so atemlos oben an, daß sie sich ehrlich auf ihren Sessel freute, aber daraus wurde nichts. Sie hatte kaum das Zimmer betreten, als hinter dem Vorhang bereits die krächzende Stimme des Herrn erscholl.

»Zum Teufel, wo stecken Sie denn so lange? — Die Miss — aber rasch.«

Noch mehr als die Worte, jagte Mrs. Drew der Ton über den Gang zurück. So aufgeregt hatte sie den Herrn noch nie sprechen hören.

Isabel Longden wartete bereits an der Tür. Die Unruhe im Haus hatte sie aus ihren Träumen aufgestört, und sie ahnte, daß eine Entscheidung bevorstand. Der Unbekannte, von dem ihre Gedanken nicht loskamen, schien also wieder einmal recht zu behalten. Einen Augenblick wollte sie so etwas wie Furcht beschleichen, aber dann fühlte sie nach der Waffe in ihrer Handtasche und ließ sich von der keuchenden Mrs. Drew widerstandslos fortschleifen.

Auch Isabel fiel die ängstliche Hast auf, mit der der Mann hinter dem Vorhang sich heute gebärdete.

»Gehen Sie hinunter und rühren Sie sich nicht aus der Stube, bis ich läute«, befahl er der Frau, aber deren schlürfende Schritte waren noch zu hören, als er sich bereits in derselben ungeduldigen Art an Isabel wandte.

»Nun, was ist's? Haben Sie das Papier? Ist es richtig ausgestellt? Sind es fünfzehntausend Dollar?«

»Es lautet auf fünfzehntausend Dollar und ist richtig ausgestellt«, erwiderte Isabel etwas eingeschüchtert und öffnete ihre Handtasche.

»Gut«, kam es etwas liebenswürdiger zurück, »reichen Sie es durch den Vorhang. Und dann machen Sie sich sofort fertig, denn Sie müssen noch heute nacht von hier weg. Die gewisse Sache ist zwar in Ordnung, aber hier können Sie nicht länger bleiben. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich keine Scherereien haben will. Also tummeln Sie sich...«

Isabel horchte betroffen auf, denn sie verstand das nicht. Wenn man das Geld nahm und alles in Ordnung war, weshalb sollte sie dann in solcher Eile mitten in der Nacht fort? Welche Scherereien konnte es dann noch geben?

»Wohin soll ich?« fragte sie ratlos.

»Woher Sie gekommen sind.« Die Stimme klang wieder ungeduldig und fast gereizt. »Ich habe Ihnen ja gesagt, daß keine Gefahr mehr besteht.«

Der Vorhang teilte sich, und in seinen Falten erschien eine Hand.

Aber Isabel Longden, die bereits das Papier aus dem Täschchen geholt und einen Schritt vorwärts getan hatte, zögerte mit einem Mal, und ihre Finger nestelten erregt an dem Verschluß, unter dem sich die Waffe barg. So harmlos die letzten Worte geklungen hatten, es war ihr dabei plötzlich die Warnung ihres geheimnisvollen Freundes eingefallen.

»Ich soll denselben Weg zurück, den ich gekommen bin«, fragte sie, indem sie den kalten Stahl krampfhaft umklammerte. »An dem Schwarzen Meilenstein vorüber?«

Die Hand verschwand mit einem jähen Ruck, und aus dem Nebenraum war sekundenlang nicht der leiseste Laut zu vernehmen. Nur auf dem Korridor knarrten die alten Dielen, aber Isabel achtete nicht darauf. Ihre Augen hafteten starr auf dem Vorhang, und ihr Finger lag auf dem Abzug des Brownings.

»Was reden Sie da für dummes Zeug?« ließ sich die krächzende Stimme endlich wieder vernehmen. »An dem Schwarzen Meilenstein vorüber... Wer hat Ihnen davon etwas ins Ohr gesetzt? Sie sind doch dort schon einmal nachts vorbeigefahren. Und Sie werden —«

»Ich werde —«, fiel Isabel Longden entschlossen ein...

Und dann vernahm sie noch das Klirren der Laterne, die jäh vom Tisch polterte, und verspürte noch die stickende Wolke, die aus der Finsternis in ihr Gesicht stob und sie verzweifelt nach Atem ringen ließ.

Den Schuß, den ihr Finger auslöste, als sie niedersank, nahmen ihre schwindenden Sinne nicht mehr wahr und auch den zweiten nicht, der ihm noch in der gleichen Sekunde folgte. Sie hörte nicht den kurzen Tumult im Nebenraum, nicht das Schlagen einer schweren Tür und nicht das eilige Poltern auf der Treppe und die wütenden Jagdlaute des Hundes auf dem Hof.

Von all dem merkte Isabel nichts mehr. Sie fühlte auch nicht, wie zwei kräftige Arme sie aufnahmen, und sie wußte nichts davon, als zehn Minuten später ihr Wagen sie in wilder Fahrt in der Richtung des Schwarzen Meilensteins entführte.

Nur die arme Mrs. Drew, die folgsam in ihrer Wohnstube saß, hörte den ganzen wilden Spektakel, und er klang ihr wie die Posaunen des Jüngsten Gerichts. Sie vermochte vor Schreck kein Glied zu rühren und erwartete mit stieren Augen und klappernden Zähnen irgendein furchtbares Ende. Wenn sie wenigstens Molly an ihrer Seite gehabt hätte...

Aber Molly war bereits unterwegs. Es war alles leichter und glatter gegangen, als sie zu hoffen gewagt hatte, und sie stolperte nun mit ihrem schweren Handkoffer frohen Mutes dem Fahrweg zu.

Nun tauchte schon die alte Scheune auf, die dicht am Weg lag, und Molly mäßigte ihre Flucht, um Atem zu schöpfen. Sie hatte jetzt wohl genügend Vorsprung.

Aber im nächsten Augenblick fuhr sie jäh herum, denn hinter ihr kam etwas mit lautem Keuchen angeschnellt.

Molly unterschied nur eine Gestalt in einem langen Mantel und wußte nicht, ob die wilde Jagd wirklich ihr galt, aber sie begann plötzlich zu rennen, als ob es ums Leben ginge.

Aber der Mann hinter ihr war schneller. Es nützte nichts, daß sie den schweren Koffer opferte, und es hatte keinen Zweck, daß sie zu einem verzweifelten Schrei ansetzte, als sie den fliegenden Atem in ihrem Nacken verspürte.

Ihr Schrei erstickte in einem dumpfen Röcheln, und Molly Drew schlug mit krampfhaft gereckten Armen zu Boden.

Dann flogen die Tore des alten Schuppens auf, und ein Wagen mit abgeblendeten Lichtern schoß fast geräuschlos irgendwohin in die Nacht.


46. Kapitel

Es geschah, als sich unten im Buschhaus wieder einmal der verräterische Lichtschein durch die rissigen Türen stahl.

Er war noch nicht erloschen, als plötzlich ein dumpfer Schlag, in die Stille der Nacht fuhr und sich grollend an den Hängen des Kessels brach. Viel weiter kam er nicht.

Durch die Luft ging ein Sausen und Pfeifen, und dann prasselte es wohl eine halbe Minute lang gegen die steinigen Hänge und auf den weichen Wiesenboden.

Der Wunsch des Maklers war in Erfüllung gegangen: von der alten Unglückshütte standen nur mehr ein paar winzige Mauerreste, und selbst das dichte Buschwerk ringsherum war vollständig wegrasiert.

Nach geraumer Zeit fiel auf einen der Felsblöcke an der steilen Wand ein Schatten und schob sich dann langsam den umfriedeten Hang herunter.

In den drei Männern, die seit vielen Stunden reglos, aber sprungbereit um das Buschbaus lagen, spannte sich jeder Muskel, denn ihre Ausdauer war nicht vergeblich gewesen. Chefinspektor Perkins zweifelte nicht einen Augenblick, daß er in der Gestalt in dem langen Mantel und mit der breitschirmigen Mütze den Mann vor sich hatte, den er brauchte. Wenn auch in den nächsten Minuten alles klappte, würde wohl das Rätsel vom Schwarten Meilenstein und alles, was damit zusammenhing, endlich seine Lösung finden.

Dieser James Marwel schien aber ein verdammt scheuer und gerissener Bursche zu sein, denn er tat nur Schritt für Schritt vorwärts und sicherte dabei wie ein arg vergrämtes Stück Wild. Und als er etwa in die Mitte des Hofes gekommen war, machte er überhaupt halt. Es genügte ihm offenbar, sich von hier aus anzusehen, was vom Buschhaus übrig geblieben war.

Plötzlich schnellte der Chefinspektor auf, denn der Mann hatte eine blitzartige Wendung gemacht und sich auch schon zur Flucht gewandt.

Ajax der Rasende war in seiner Ungeduld beim Anschleichen auf einen Ast getreten und suchte nun seine Ungeschicklichkeit dadurch wieder gutzumachen, daß er mit geradezu halsbrecherischen Sätzen von links heranstürmte. Die geheimnisvolle Gestalt hatte sich wieder hangaufwärts geschlagen, und vielleicht gelang es ihm wirklich, ihr den Weg abzuschneiden. Da Bell auch schon von der anderen Seite heranstapfte, hatten sie dann den Flüchtenden glücklich in der Mitte.

Perkins stolperte geradeaus durch die Büsche und über die Geröllhaufen und mußte dabei so auf den Weg achten, daß er den Verlauf der Jagd nicht verfolgen konnte. Er vernahm nur das Brechen von Zweigen und das Kollern von Steinen, und erst als er bereits ziemlich hoch oben mit Bell zusammenstieß, sah er sich endlich suchend um.

Und dann heftete er den bestürzten Blick auf Ajax den Andern, der ihn mit offenem Munde ebenso betroffen angaffte.

»Wohin, zum Teufel, können sie denn verschwunden sein?« murmelte der Chefinspektor, indem er angestrengt in die Nacht lauschte. »Man müßte sie doch wenigstens hören.«

Aber man hörte gar nichts, und Bell schüttelte ratlos den mächtigen Schädel.

»Als ich dort hinter dem Strauch war« — er wies etwa zehn Schritte zur Seite — »habe ich sie noch gesehen. Mr. Hunter hatte den Mann fast schon eingeholt.«

»Vielleicht sind sie den Pfad beim Steinbruch hinauf.«

»Nein«, erklärte Bell entschieden, »da hätten sie ja bei mir vorbeikommen müssen. Sie sind direkt auf die Wand hier vor uns zugerannt.«

Perkins warf einen raschen Blick nach den drei mannshohen wuchtigen Blöcken, die dort lehnten, und setzte sich plötzlich wieder in Bewegung.

Aber er kam nicht weit. Etwa zehn Schritte vor den Steinen lag Ajax der Rasende mit grauem Gesicht und verglasten Augen auf dem Rücken, und es schien kein Funken Leben mehr in ihm zu sein.

Aber dann fühlte der Chefinspektor doch noch einen schwachen Pulsschlag, und das war die Rettung.

»Fassen Sie an«, stieß er zwischen den verbissenen Zähnen hervor, »und dann los, so rasch es geht. Vielleicht ist doch noch etwas zu machen.«

Er packte auch schon zu, aber Ajax der Andere wehrte mit seiner großen Hand leicht ab und nahm den temperamentvollen kleinen Mr. Hunter wieder einmal wie ein Wickelkind in seine fürsorglichen Arme.

Und dann rannten sie den Hang hinunter, über die Trümmerstätte des Buschhauses, über den Wiesengrund und dann vorn die Lehne hinauf.

Plötzlich wankte der Boden unter ihren Füßen, und vom Steinbruch her kam ein donnerndes Getöse, als ob die ganze Felsenmasse in sich zusammenstürzte.

Trotzdem stürmten sie ohne Aufenthalt weiter, aber sie kamen doch einige Minuten zu spät, um den Radfahrer zu bemerken, der auf der Chaussee dem Golfhaus zuraste.

»Und jetzt den Arzt«, befahl Perkins, als sie Hunter in sein Zimmer gebracht hatten. »Wenn Sie ordentlich loslegen, können Sie in einer halben Stunde mit ihm zurück sein. — Und wecken Sie die Leute, denn wir werden sie brauchen.«

Sergeant Bell nickte, und gleich darauf scholl auch schon seine gewaltige Stimme durch das Golfhaus.

Der ewig gehetzte William hatte eben noch Zeit gehabt, den Overall abzustreifen, aber für eine Behandlung seines übel zugerichteten Beines reichte es nicht mehr. Er mußte sich damit begnügen, hastig die dicke Blutkruste von den bedenklich aussehenden Wunden zu waschen und ein Handtuch darum zu schlingen. Dann säuberte er eilig das Becken und barg verschiedene Dinge, die man nicht auf den ersten Blick sehen mußte, in der Polsterung des alten Sofas, auf dem Mrs. Hingley wahrscheinlich ihre verschiedenen Flitterwochen verbracht hatte.

Seitdem dieser verwünschte Mr. Alf Duncan die Andeutung von »den drei A« gemacht hatte, wußte er, daß er äußerst vorsichtig sein mußte, wenn sein hohes Spiel nicht verloren sein sollte.

Als der Geschäftsführer im nächsten Augenblick aus dem Zimmer stürzte, um nach dem Lärm zu sehen, bot er mit seinem abgespannten, fahlen Gesicht und den tief umränderten Augen einen so bedauernswerten Anblick, daß ihn der Chefinspektor fast wieder ins Bett geschickt hätte. Aber dann überlegte er sich's und jagte den müden Mann nach einer großen Kanne starken schwarzen Kaffees.


47. Kapitel

»Nun«, meinte der sympathische junge Arzt, nachdem er Ajax den Rasenden eine Viertelstunde in der Arbeit gehabt und nun unter der Obhut Bells zurückgelassen hatte, »es war eine gehörige Attacke, aber umbringen wird es ihn nicht. Zunächst dachte ich, daß es sich bei dem Pulver vielleicht um etwas Besonderes handelt, doch scheint dies nicht der Fall zu sein. Ich glaube, der Schweinehund hat bloß verschiedene narkotische Drogen zusammengemengt, um einen möglichst: raschen und nachhaltigen Schock zu erzielen. So etwa, wie ein Gemisch von Bier, Wein, Whisky, Genever und Brennspiritus — pfui Teufel — kaum, daß man es unten hat, den gewaltigsten Rausch ergibt. — Jedenfalls werde ich das Zeug aber noch genau untersuchen lassen.«

Perkins nickte.

Der andere wühlte eine Weile bedächtig in seiner Zigarettendose, dann klappte er sie plötzlich lebhaft zu.

»Ihrem Mann wird die Geschichte zwar ein paar Tage gehörig in den Gliedern liegen«, sagte er unvermittelt, »aber ich bin froh, daß ich das sehen konnte. Nun bin ich mir nämlich über alles, was meine Befunde angeht, und vielleicht über noch etwas mehr im klaren. Der eine Mann ist mit diesem niederträchtigen Mittel so lange bearbeitet worden, bis sein Herz versagt hat. Wahrscheinlich war genügend Zeit dazu. Dann hat man ihn in der folgenden Nacht in den Steinbruch geworfen und den auf die gleiche Weise betäubten Sergeanten ihm nach. Vielleicht um den Anschein zu erwecken, als ob sie zusammen abgestürzt wären. — Und die Frau ist in der Narkose erdrosselt worden, weil es sonst nicht rasch genug gegangen wäre.«

»Ja«, stimmte der Chefinspektor zerstreut bei und tat dann plötzlich eine ganz fernliegende und nebensächliche Frage.

»Sie sind wohl auch in Oxford oder Cambridge gewesen?«

»In Cambridge.«

»In Cambridge...« Perkins schlug sich vergnügt auf die Schenkel und feixte wieder einmal in seiner boshaften Art. »Warten Sie einen Augenblick...«

Er stürmte in großer Eile hinaus und hätte dabei fast William umgerannt, der sich für alle Fälle an der Schwelle bereithielt.

Schon nach kaum einer Minute erschien er wieder,

»Mr. Duncan ist nicht zu Hause«, knarrte er den Geschäftsführer an. »Haben Sie vielleicht bemerkt, wann er weggegangen ist?«

»Nicht zu Hause?« William war sichtlich sehr überrascht. »Ich habe doch bis spät abends Licht bei ihm gesehen. Und auch noch vor einer Weile, als ich von vorn mit dem Kaffee herüberkam.«

»Ist sein Wagen in der Garage?«

»Jawohl«, stotterte der betroffene Geschäftsführer. »Als Mr. Bell zurückkam, stand er noch dort.«

»Tja«, sagte Perkins, und ebenso einsilbig und unklar beantwortete er den fragenden Blick, mit dem ihn der Arzt empfing.

»Nichts.«

Er war von der Entdeckung, die er eben gemacht hatte, höchst unangenehm berührt, obwohl er darauf hätte vorbereitet sein müssen. Dieser Alf Duncan war nicht der Mann, der ahnungslos in seinen vier Wänden saß, wenn solche Dinge geschahen. Aber wo trieb er sich herum, und was mochte er wieder Neues erfahren haben?

Mitten in diese quälenden Fragen knallte ein Schuß.

Es ließ sich nicht bestimmen, woher er gekommen war, aber er mußte in allernächster Nähe abgefeuert worden sein. Und draußen auf dem Gang hatte es einen kurzen harten Aufschlag gegeben.

Der Chefinspektor und der Arzt waren mit einem Sprung aus dem Zimmer, aber der Korridor lag verlassen und still. Nicht einmal William war mehr zu sehen. Erst nach einer halben Minute wurde rückwärts im Seitengang eilig eine Tür zugeschlagen, und der Geschäftsführer kam verstört angehumpelt. Sein Fuß schien wieder bedeutend schlechter geworden zu sein.

Perkins lief zur Stiege und lauschte in die Halle, aber auch dort rührte sich nichts. Er kam mit einem ratlosen Kopf schütteln zurück; vor der Tür Mr. Gwynnes gab es ihm jedoch plötzlich einen Ruck, und er blieb lauschend stehen.

Dann warf er sich mit einem gewaltigen Anlauf gegen das Holz, und der Arzt, der sofort begriff, unterstützte ihn.

Das Ächzen und Stöhnen im Zimmer war nun deutlich zu hören, und als die Tür aufsprang, wand sich der Künstler in einer großen Sterbeszene auf seinem arg zerwühlten Bette. Er war diesmal nicht mit seinem pompösen Schlafanzug angetan, sondern mit einem ganz gewöhnlichen Seidenhemd, von dessen rechter Schulter sich ein großer schauriger Blutfleck abhob. Mr. Gwynne lag bleich und mit geschlossenen Lidern in den Polstern und ließ kraftlose, aber ergreifende Schmerzenslaute hören.

Der junge Arzt besann sich nicht lange, sondern riß ihm das Hemd herunter, und an Mr. Gwynnes Oberarm zeigte sich eine Wunde, in die man gut einen Finger legen konnte.

Aber kaum hatte der Arzt sie besehen, als er die flachsblonden Brauen in dem gesunden Gesicht hochzog und die Lippen spitzte. Und dann begann er den tiefen Fleischriß mit seinem Besteck so gründlich zu sondieren und zu reinigen, daß der Mime die dramatischen Töne sein ließ und wie ein ganz gewöhnlicher Komparse zu wimmern und zu schreien anfing.

»Führen Sie wegen dieses lächerlichen Kratzers nicht so ein Theater auf«, polterte Perkins los. »Was ist also geschehen?«

Der große Künstler erwachte mit einem erschreckten, verlorenen Blick, schien aber endlich doch verstanden zu haben, denn er richtete sich halb auf und deutete mit einer großen Geste erst nach dem Fenster, dann auf seinen Arm und schließlich nach der Tür.

Perkins folgte der abgerundeten Pantomime und betrachtete sich dann die zersplitterte Fensterscheibe und das runde Loch im Türstock. Das Geschoß war ziemlich tief eingedrungen, und davon war wohl der Aufschlag gekommen, den man draußen im Gang gehört hatte.

»Sie haben also die Jalousien nicht unten gehabt?« fragte er, indem er Platz nahm und sich sichtlich zu einem längeren Verhör einrichtete. »Und wo haben Sie gestanden? — Zeigen Sie mir die Stelle, aber ganz genau!«

Mr. Gwynne schnappte so verzweifelt nach Luft, daß der Arzt sich ins Mittel legte.

»Ich wäre dafür, Mr. Perkins«, sagte er sehr nachdrücklich, »dem Patienten vorläufig eine Weile Ruhe zu gönnen. Er ist durch den Blutverlust bedenklich geschwächt.«

Der Patient lohnte dem Arzt diese Fürsorge durch einen unendlich dankbaren Blick, der Chef Inspektor aber brummte etwas und schien bockbeinig werden zu wollen. Erst als er die wieder einmal hochgezogenen flachsblonden Brauen bemerkte, räumte er verdrießlich das Feld.

Draußen nahm ihn der Arzt unter den Arm und spazierte mit ihm an dem völlig erschöpften William vorbei nach vorn bis ans Ende des Korridors.

»Bevor Sie den Mann ins Gebet nehmen«, flüsterte er dort fast unhörbar, »möchte ich Ihnen einen Wink geben. Auch bei dieser Sache stimmt nämlich etwas nicht. Der Schuß ist allerdings gefallen, denn wir haben ihn ja gehört und seine Spuren auch gesehen — aber die Wunde da drinnen rührt sicher nicht davon her. Die ist mindestens schon eine Stunde alt. Sie begann bereits leicht zu verkrusten, ist aber dann durch irgend welche Reizung wieder zum Bluten gebracht worden.«

»Hi...«, stieß Perkins unartikuliert hervor und fuhr sich verzweifelt an den wirbelnden Kopf. Und dann sperrte er noch den Mund auf und starrte auf die Gestalt, die lautlos über die Treppe heraufgekommen war.

Der Arzt aber hatte die flachsblonden Brauen plötzlich mitten in der Stirn und sagte nur: »Hallo...«

Alf Duncan empfand diese Aufmerksamkeit nicht sehr angenehm, denn er sah recht zerknüllt, verschmutzt und ungepflegt aus.

Deshalb hatte der Chefinspektor auch kein Glück, als er ihn krampfhaft an der Brust faßte und lossprudeln wollte.

»Ich mache Sie darauf aufmerksam, Mr. Perkins«, sagte der Gentleman, indem er sich freimachte, »daß ich nie zu sprechen bin, bevor ich nicht gebadet habe und rasiert bin. Und dann muß ich auch noch gefrühstückt haben. — Wollen Sie sich also vielleicht darum bemühen...«

Damit verschwand er in seinen Zimmern; der Chefinspektor aber bemühte sich mit solchem Eifer, daß er den schlotternden William fast die Treppe hinunterwarf, damit es mit dem Frühstück nur ja so rasch wie möglich ginge.


48. Kapitel

»Sagen Sie mir offen und ehrlich, hatte ich nicht recht?« tuschelte Mr. Perkins und wischte sich die nasse Stirn. »Paßt sich das? Ist das etwas für jemanden, der in Oxford oder Cambridge war und Premierminister oder Lord Oberrichter hätte werden können? — Sie haben ja vorhin selbst gesehen, wie er zugerichtet war. Weiß der Teufel, was er wieder ausgeführt haben mag...«

Der Chefinspektor tat einen verzweifelten Schluck aus der Kaffeetasse und schielte dabei so angelegentlich nach der Tür, daß er sich bekleckerte. Er saß nun mit dem Arzt bereits seit einer halben Stunde unten am Frühstückstisch und benützte die Gelegenheit, endlich jemand sein Herz über die gewisse Sache auszuschütten, die ihm bereits so manche schwere Stunde bereitet hatte.

Der Arzt strahlte über das ganze frische Gesicht.

»Ja«, sagte er, »das sieht ihm ähnlich. Er behauptete schon in Cambridge immer, das Leben sei eine höchst langweilige Angelegenheit. Und deshalb hat er bereits damals begonnen, etwas Romantik hineinzubringen. Es fing, wenn ich mich recht erinnere, zunächst damit an, daß er grundsätzlich den Weg in seine Stube nie über die Treppe und durch die Tür, sondern über die Fassade und durch das Fenster nahm. Und dann kam eine tolle Sache nach der andern. Einmal hat er sogar drei Giftschlangen dressiert, bis wir diese gefährlichen Hausgenossen einfach erschlagen haben. Er war aber gar nicht ungehalten darüber, denn er hatte die Gesellschaft schon satt, weil sie ihm nicht mehr unheimlich genug war. Lange macht ihm nämlich nichts Spaß. Und so wird es vielleicht auch diesmal wieder sein.«

»Das treibt er nun schon an die vier Jahre«, knurrte Perkins wenig hoffnungsvoll, »und es sieht nicht so aus, als ob es ihm keinen Spaß mehr machte. Schließlich ist das auch kein Wunder, wenn einem alles und jedes gelingt und man von den großen Herren oben und den Maulaffen unten fortwährend angestaunt wird wie so eine Art Hexenmeister. Das hat aber so ein Mann doch wirklich nicht notwendig. Bei unsereinem ist das etwas anderes, aber unsereiner hat nicht so ein niederträchtiges Schwein. Er zieht sich einfach ein paarmal am Tag um, fährt ein bißchen spazieren, luncht im Ritz und speist in irgendeiner schmierigen Spelunke draußen in Poplar, verdreht die Augen — und schon klappt es. Besonders das Augenverdrehen ist sein Trick. Da halten selbst die gerissensten Frauenzimmer nicht länger als eine Viertelstunde dicht. Und unsereiner kann oft tagelang auf so eine störrische Seele losdonnern, bevor man auch nur ein Wort herauskriegt.«

Der Chefinspektor fand das so gemein, daß er in seiner Empörung seiner Pfeife fast den Hals abgedreht hätte. Dann tat er neuerlich einen aufgeregten Schluck und bekleckerte sich wiederum.

»Gut«, gab er mit schöner Offenheit zu, »mit dem Oxford oder Cambridge habe ich mich geirrt. Es kann einer auch zu der gewissen Sache taugen, wenn er von dort her kommt. Das weiß ich jetzt, und deshalb ist es wirklich nicht notwendig, daß man mir das bei jeder Gelegenheit immer wieder unter die Nase reibt.« Er wurde noch vertraulicher und elegischer. »Sie wissen nicht, Doktor, wie nachtragend er ist. So oft er kann, läßt er mich zappeln. Auch jetzt wieder. Er weiß eine Menge von dieser verteufelten Geschichte, sage ich Ihnen, aber er redet nicht. — Wenn Sie da vielleicht ein bißchen nachdem Sie doch mit ihm so gut bekannt sind...«

Er brach jäh ab und räusperte sich mit Nachdruck, denn Alf Duncan tauchte eben in der Tür auf. Frisch, geschmeidig und so sorgfältig gekleidet, als ob er im Begriffe wäre, den Strand von Torquai auf den Kopf zu stellen. Und er schien, was für den Chefinspektor die Hauptsache war, auch guter Laune zu sein.

»Siehst du, mein Junge«, sagte er, indem er dem Arzt herzlich die Hand schüttelte, »das ist aus unseren Illusionen geworden. Man entbindet kräftige Landfrauen, die das ganz gut selbst besorgen könnten, zieht ihren Männern den letzten Backenzahn, um zwei Schillinge zu verdienen, und kuriert die verdorbenen Mägen ihrer gefräßigen Kinder mit einer übel schmeckenden Medizin. — Oder man bewegt sich in der erlesenen Gesellschaft von Dieben, Hochstaplern, Mördern und Polizeibeamten, was auf die Dauer wahrhaftig auch nicht kurzweiliger ist.«

Damit machte sich der Gentleman schweigend an sein Frühstück. Aber kaum hatte er ein Ei ausgelöffelt und eine Tasse Tee geleert, als dies dem ungeduldigen Chefinspektor schon genug schien.

»Also«, platzte er los, »ich sage Ihnen, das war heute eine geradezu tolle...«

»Mr. William«, wandte sich Alf freundlich an den aufmerksamen Geschäftsführer, »melden Sie mir ein Ferngespräch mit Wellingborough-Stratfort an. Nummer 302. Wir haben zwar erst halb sechs, aber vielleicht ist der Beamte an diesem herrlichen Morgen etwas früher aufgestanden. Jedenfalls warten Sie, bitte, solange, bis Sie die Verbindung bekommen.«

»Ja«, meinte Perkins, indem er William einen wütenden Blick nachsandte, »der Bursche spitzt fortwährend die Ohren. Also —«

Aber er kam auch diesmal nicht weiter, denn Duncan nahm ihm das Wort aus dem Munde.

»Also, die Sache beim Buschhaus ist schiefgegangen, und der hinkende Mann mit dem Bart ist Ihnen entwischt. Und dann hat er für alle Fälle sein Unternehmen etwas plötzlich und gewaltsam liquidiert. Dabei wären Sie um ein Haar um das Vergnügen gekommen, jetzt mit mir zu frühstücken.«

Der Chefinspektor warf dem Arzt einen verzweifelten Blick zu, bevor er seine stockende Frage tat.

»Was meinen Sie mit dem Unternehmen?«

»Das werden wir uns im Lauf des Tages etwas näher ansehen«, fertigte ihn Duncan. kurz ab, aber Perkins war schon damit zufrieden.

»Gut, sagen Sie mir nur, wann es Ihnen paßt«, erwiderte er eifrig und brachte dann endlich wenigstens seine letzte Neuigkeit an.

»Und dieser Hanswurst vom Theater ist angeschossen worden. Oben in seinem Zimmer. Der Doktor meint allerdings, daß hierbei etwas nicht stimmt, aber —«

»Wenn der Doktor das meint, so wird es wohl so sein. Sie wissen, die Leute aus Cambridge...«

»Ja«, stotterte Perkins unter dem Blick, der ihn traf, und Duncan nickte befriedigt. Dann brachte er eine Repetierpistole zum Vorschein und legte sie vor sich auf den Tisch.

»Die Kugel, die Mr. Gwynne das garstige Loch in seine zarte Haut gerissen hat, ist vor ungefähr sechs Stunden hier herausgefahren«, erklärte er. »Es war ein kleines Mißverständnis, denn sie hat eigentlich einem andern gegolten. Und da wir eben davon sprechen, möchte ich Ihnen empfehlen, sich gleich nach dem Frühstück ein bißchen in Alderscourt umzusehen. Sie finden es auf der Karte, und es ist nicht weit von hier. Ihre alte Freundin, Mrs. Drew, dürfte sich etwas vereinsamt fühlen, und ihrer lieblichen Tochter können Sie sich auch annehmen. Fahren Sie den Seitenweg vorn von der Waldspitze, er ist bequemer und interessanter. Besonders wenn Sie genau feststellen, wie lange man zu der Scheune bei Alderscourt braucht. Aber natürlich müssen Sie ein flotteres Tempo einschlagen, als der vorsichtige Mr. Fielder. Und — «

»Wellingborough«, meldete in diesem Augenblick William atemlos, und Duncan schoß so aufgeregt davon, daß ihm der Chefinspektor ganz verblüfft nachstarrte.

»Nun, jetzt haben Sie es ja selbst gehört«, raunte er dann dem Arzt zu. »Entweder ist gar nichts aus ihm herauszubringen, oder er wirft einem alle möglichen Brocken zu, mit denen man nichts anfangen kann. — Aber ich werde natürlich alles tun, was er gesagt hat«, fügte er mit einem ergebenen Seufzer hinzu und begann wieder seine Pfeife zu malträtieren.

Alf blieb eine gute Viertelstunde aus. Als er zurückkehrte, sah er genau so verträumt drein, wie bei der gestrigen Ausfahrt, und das bedeutete für Perkins schlechte Aussichten. Aber er war entschlossen, diesmal nicht locker zu lassen.

»Wenn der rasende Windhund die Sache nicht verdorben hätte«, begann er mit einiger Vorsicht von neuem, »könnte jetzt alles im besten Gange sein. Ich gönne es ihm, daß er dabei die Nase voll bekommen hat. So schön ist uns dieser Marwel in die Falle gelaufen — und nun können wir nach ihm wer weiß wo und wie lange herumstöbern. Er drückt sich ja wie ein Gespenst.«

»Gespenst ist richtig«, sagte Duncan, indem er schon wieder ungeduldig auf die Uhr blickte. »Vielleicht kann es Ihnen der Doktor sogar ganz zuverlässig bestätigen.«


49. Kapitel

Diesmal war selbst der Arzt überrascht, aber der andere Gentleman aus Cambridge kümmerte sich nicht darum, sondern strahlte den geschäftig herumhantierenden William liebenswürdig an.

»Wenn Sie die Güte hätten, sich nochmals zum Telefon zu bemühen; wieder Wellingborough 302. Es wird diesmal vielleicht etwas länger dauern, aber rühren Sie sich nicht vom Apparat. Jede halbe Minute ist für mich kostbar.«

»Also«, fragte der Arzt und blinzelte dem Chefinspektor aufmunternd zu, »wo soll ich beginnen?«

»Bei dem ersten Opfer des Schwarzen Meilensteins. — Ich nehme an, daß der Mann oder wenigstens das, was von ihm übriggeblieben war, durch deine Hände gegangen ist, und daß du dabei vielleicht etwas Besonderes gefunden hast.«

»Der erste?« Der Arzt dachte nach. »Gewiß, ich habe sie alle gesehen. Es war keine angenehme Arbeit — Ja, jetzt erinnere ich mich. Der erste war besonders übel zugerichtet. Der Oberleib fast bis zur Unkenntlichkeit verkohlt und«, die strohblonden Brauen standen plötzlich wieder in der Stirn, »Verdickung einer Sehne im rechten Kniegelenk, von irgendeiner Verletzung herrührend...«

Alf Duncan nickte, und der Chefinspektor hatte wieder einmal einen wenig schmeichelhaften Blick auszuhalten.

»Sehen Sie, das ist Cambridge, Mr. Perkins. — Und da haben Sie also Ihren James Marwel, dem Sie nachlaufen wollen.«

»Aber der hinkende Mann mit dem Bart...?« murmelte der Detektiv völlig verständnislos und bemerkte mit stiller Verzweiflung, daß der andere schon wieder die Uhr in der Hand hatte. Aber die Gefahr ging vorüber.

»Also«, begann Duncan plötzlich unvermittelt, knapp und sachlich, »es war einmal ein verbummeltes Genie, das sich mit allerlei Experimenten auf dem Gebiete der drahtlosen Stromübertragung beschäftigte. Dabei hat dieser Marwel ein Feuerzeug erfunden, das man nicht an der Hose anreiben muß, Mr. Perkins, sondern man schaltet einfach einen kleinen Radiosender ein, und eine Meile oder noch ein Stück weiter gibt es den wundervollsten Brand. Oder so eine ungemütliche Explosion, wie Sie sie gestern nacht vor Ihrem Fenster und vor ein paar Stunden beim Buschhaus und im Steinbruch erlebt haben. Es gehört nur ein genau abgestimmter Empfänger dazu, und alles zusammen können Sie so bequem in einer kleinen Handtasche mit sich schleppen, wie unser Doktor seine Instrumente, wenn er zu seinen Patientinnen fährt. Man nennt das Fernzündung, lieber Perkins. Außerdem hat sich Marwel sehr eingehend mit Elektromagnetismus und dem Problem der Fernlenkung befaßt. Das alles ist in der Theorie und auch in der Anwendung nichts Neues, aber er scheint auch da einige sehr wesentliche Fortschritte gemacht zu haben. Und als er aus dem Gefängnis kam, wollte er Geld daraus schlagen. Dabei ist er aber einem gerissenen Mann in die Hände gefallen, der die Sache sofort begriff, und es dürfte sich folgendes abgespielt haben: Marwel kam mit seinem bereits entsprechend montierten Wagen, um dem andern seine Erfindung irgendwie praktisch vorzuführen. Dieser andere aber, der wahrscheinlich den Kurzwellensender zur Auslösung der automatischen Steuerung als Pfand in Händen hatte, machte sofort den ersten Versuch auf eigene Faust, und der ahnungslose Erfinder raste gegen die Bäume. — Und dann hat man wahrscheinlich noch ein bißchen nachgeholfen, um seine Identifizierung völlig unmöglich zu machen. Es war dies um so leichter, als der Mann sich wie ein menschenscheuer Einsiedler im Buschhaus verkrochen hatte...«

Der Chefinspektor saß mit steifen Ohren und starren Augen, und als er sprach, klang seine Stimme vor Aufregung ganz heiser.

»Das Geheimnis des Schwarzen Meilensteins...«

»Jawohl. Die Sache dämmerte mir, als ich mir den Wagen des verunglückten Dan Kaye gleich in den ersten Morgenstunden etwas näher besah. Da ist die kleine Montage am Lenkgestänge wohl nicht so sorgfältig beseitigt worden, wie bei den früheren Fällen. Oder man hat damals solchen unauffälligen Dingen keine Aufmerksamkeit geschenkt. Ich habe auch bloß ein winziges Stückchen Spulendraht am Lenkschenkel entdeckt. Wahrscheinlich hat an dieser Stelle ein Elektromagnet gewirkt, dem die Kraft durch ein mit der Startbatterie in Verbindung stehendes Relais zugeführt wurde. Daß mit einer so kleinen Apparatur ein so starker Strom ausgelöst werden konnte, war das Neue und Wesentliche an der Erfindung Marwels. Dem Fahrer wurde das Lenkrad geradezu aus der Hand geschlagen, und es war wohl schon geschehen, bevor er hätte bremsen können.

»Donnerwetter«, sagte der Arzt, indem er sich schüttelte. »Ich werde jetzt immer ein verdammt kribbeliges Gefühl in den Fingern haben, wenn ich am Steuer sitze. — Und der Zweck der ganzen Teufelei?«

Duncan sah schon wieder nach der Uhr und lauschte dann nach dem Gang.

»Da müssen wir wieder woanders anfangen«, fuhr er endlich etwas hastig und zerstreut fort. »Es gab eine Zeit, da das Pfund faul, der Dollar aber todsicheres Geld war. Und da man zu allen zu haben war, wenn man unter der Hand seine Pfund gegen Dollar loswerden konnte. Und es war ein Mann, der hatte solche Dollar. Er bezog sie in unscheinbaren Kistchen aus Paris, aber für englische Augen hatten sie einige kleine Schönheitsfehler. Sie waren mehr für Gegenden bestimmt, wo man nicht so genau hinsieht. Anbieten konnte man sie jedoch schließlich — «

Perkins schnellte jäh auf.

»Der Mann mit den Dollars — «

»Warten Sie doch«, wies ihn Duncan zurecht. »Sie sind ebenso hitzig, wie Ihr rasender Ajax. — Also, die Leute kamen nach Blackfield, wie es ihnen geheißen worden war, stellten hier ein paar Stunden ihre Wagen ein und fuhren dann nachts nach London, um dort das diskrete Geschäft abzuschließen. Unterwegs verunglückten sie aber, und soviel ich weiß, hat man bei keinem von ihnen einen größeren Geldbetrag gefunden. Und es ist auch in keinem Falle ein solcher reklamiert worden, weil die Pfunde wahrscheinlich in aller Heimlichkeit flüssig gemacht worden sind. Da müssen Sie also Nachforschungen vornehmen, Mr. Perkins. — Und dann denken Sie gründlich darüber nach, wer der hinkende Mann mit dem Bart sein könnte. Ich mache Sie jedoch darauf aufmerksam, daß es bei dieser Sache betrogene Betrüger zu geben scheint. Ebenso wie bei —«

Er war bereits bei der Tür draußen, bevor der atemlose William seine Meldung vorbringen konnte, aber diesmal merkte Perkins die Unterbrechung nicht. Seine Gedanken arbeiteten ruhig und zähe nur mehr in einer Richtung: Wer war der hinkende Mann mit dem Bart?

Er ließ alle Geschehnisse der letzten zwei Tage noch einmal an sich vorüberziehen und war davon so in Anspruch genommen, daß der hünenhafte Sergeant Bell, der schüchtern aufgetaucht war, noch einmal ansetzen mußte.

Der Chefinspektor war über das, was der Mann vorbrachte, sehr ärgerlich.

»Was? Eine Verhandlung vor dem Polizeirichter haben Sie? Gerade heute, wo ich Sie so dringend brauche? Diese Leute vom Gericht machen einem doch ewig nur Scherereien. Ist denn die Sache so wichtig?«

Bell hob die breiten Schultern und machte ein ungemein ernstes Gesicht.

»Tja, Sir«, erklärte er bedächtig, »eigentlich war es nur eine Sauferei. Der rote Tim, den Sie ja kennen, und seine Braut, die ›Schiefe Fregatte‹, haben vor ein paar Tagen in einer Kneipe bei der Euston Station zuerst gehörig getrunken und dann fürchterlich gerauft. Er. hat ihr fortwährend zugetrunken: ›Auf dein Wohl, du verdammte Kindesmörderin‹, und sie hat darauf immer geschrien: ›Auf dein Wohl, du blutiger Rabenvater‹. Und dann haben sie zuerst schrecklich geheult und dann so furchtbar gelacht, daß die ›Schiefe Fregatte‹ sich sogar einmal verschluckt hat, und der Wirt ihr gehörig auf den Rücken klopfen mußte. Aber auf einmal hat die Frau die Sache übel genommen und dem Tim eine hineingehauen, und dann ist es losgegangen. — Man hat neun Pfund bei ihnen gefunden, und wer weiß, was hinter der Geschichte steckt...«


50. Kapitel

So sehr die arme Mrs. Drew sich auch bemühte, durch ausgiebige Schlucke die Schrecken der verflossenen Nacht loszuwerden, sie konnte mit ihren Gedanken nicht zu Rande kommen. Das flog und purzelte nur so durcheinander, und sogar die ganze niederträchtige Welt drehte sich um sie.

Sie hatte bis zum Morgen wahrhaftig kein Auge zugetan, und auch jetzt, da sie mit der Flasche auf der Hausbank saß, wagte sie es nicht, weil dann das brummende Ringelspiel in ihrem Kopf noch ärger wurde. Sie wußte nur eins: Molly, dieser ungeratene Balg, war weg. Und diese alberne Miss war auch weg. Und sogar das verdammte Biest, der Hund, war weg...

Mrs. Drew schluckte gewaltig, als sie sich dieser ihrer schrecklichen Verlassenheit bewußt wurde, und dann hatte sie plötzlich eine Vision, die sie völlig erstarren ließ...

Der Spuk am Hoftor war auch wirklich zu viel. Wenn dieser Teufel, der Perkins, vor ihr aus der Hölle heraufgefahren wäre, wohin er gehörte, schön. Aber jetzt stand er dort gleich doppelt.

»Da wären wir also wieder einmal, Mutter Drew. Machen Sie sich rasch fertig. Viel brauchen Sie ja nicht, wie Sie wissen.«

Mrs. Drew verstand zwar nicht so recht, aber sie hatte ihre Erfahrungen und ahnte, worum es sich handelte. Und wenn sie der scheußlichen Fratze am liebsten eine geschmiert hätte, wußte sie doch, was sich in solchen Augenblicken der Polizei gegenüber gehörte. Sie hätte auch gewiß einen Knicks gemacht und etwas Artiges gesagt, wenn ihre Beine und ihre Zunge nicht so verdammt schwer gewesen wären.

»Bitte, nach Ihnen, liebe Mrs. Drew«, sagte der Chefinspektor höflich, als sie nach einer Viertelstunde am Hoftor waren. »Molly ist schon im Wagen. Wir haben sie unterwegs aufgeklaubt. Sie werden zwar von ihrer Gesellschaft nicht viel haben, denn sie schläft, aber in Telesbury werden Sie sie ja von Zeit zu Zeit sehen.«

Diese Aussicht gab Mrs. Drew die Sprache wieder.

»Euer Gnaden«, lallte sie schwer gekränkt, »lieber ein Jahr mehr — aber woanders hin. So etwas darf mir nicht mehr unter die Augen. Zehn Schillinge... Oder vielleicht sogar noch mehr...«

*

Auch der große Künstler Mr. Gwynne beschäftigte sich mit verschiedenen bedenklichen Ereignissen der letzten Nacht und packte etwas eilig seine Koffer. Dieses Blackfield war zuviel für seine empfindsamen Nerven.

Er erschrak geradezu tödlich, als plötzlich die Tür knackte, aber Alf Duncan stand bereits im Zimmer, drehte den Schlüssel um und steckte ihn zu sich. Dabei lächelte er jedoch so harmlos und liebenswürdig, daß die verstörte und wenig freundliche Miene des Mimen gar nicht am Platze war. Sogar die gewisse alte Geschichte regelte der junge Gentleman mit größtem Takt.

»Ich sehe, daß Sie mir wegen des kleinen Scherzes im Klub noch immer etwas gram sind, Mr. Gwynne, und das tut mir aufrichtig leid. Im übrigen waren die Karten wirklich wunderbar gezeichnet, und ich habe dabei sehr viel gelernt. Aber deshalb bin ich natürlich, nicht gekommen, sondern ich wollte Sie zu dem idyllischen Landsitz beglückwünschen, den Sie sich beigelegt haben. Schön ist dieses Alderscourt zwar nicht, aber es ist das, wonach man sich in unseren Kreisen zuweilen sehnt. Auslandsreisen lassen sich nicht immer so rasch bewerkstelligen, wie dies notwendig wäre, hier aber ist man im Handumdrehen geradezu völlig aus der Welt. Sie haben eine ausgezeichnete Wahl getroffen, Mr. Gwynne.«

Alf nickte anerkennend und setzte sich behaglich zurecht, der Komödiant aber zitterte mit den Lippen, Und sein schwammiges Gesicht war eine eindrucksvolle Maske von Bestürzung und grimmiger Wut. Er war auf irgendeine unliebsame Überraschung vorbereitet gewesen, aber daß es sich um Alderscourt handeln könnte, hätte er doch nicht erwartet. Es waren zwar dort in der verflossenen Nacht kritische Dinge vorgegangen, über die auch er sich nicht klar werden konnte, aber er hatte gehofft, der Gefahr, wenn auch nicht ganz heil, so doch wenigstens unerkannt entronnen zu sein. Als die Laterne zu Boden gepoltert und der erste Schuß gefallen war, hatte ihn plötzlich jemand im Dunkel hinter dem Vorhang angesprungen. Dann folgte der zweite Schuß, der ihm in den Arm fuhr und seinen Angreifer veranlaßte, loszulassen. Im nächsten Augenblick hatte er den Zugang zu der kleinen Treppe erreicht und hinter sich abgeriegelt und war auf seinem gewöhnlichen Wege durch die Wirtschaftsgebäude geflüchtet. Und nun kam dieser gefährliche Erpresser und begann von Alderscourt. Das mußte eine sehr schlimme Bedeutung haben.

»Sie gemeiner Schurke...«, zischte der entrüstete Mr. Gwynne, und der andere Gentleman stimmte ihm höflich bei.

»Ja, es ist kein besonders sauberes Geschäft und auch nicht allzu einträglich, aber man riskiert dabei wenigstens nicht viel. Der Fuchs lebt gewiß üppiger, als seine Flöhe, aber dafür bekommt er meist eins auf den Pelz gebrannt, das Ungeziefer aber springt gesund und munter ab. — Doch auch davon wollte ich nicht mit Ihnen sprechen, sondern, ich wollte Ihnen als guter Freund sagen, daß es vielleicht böse Unannehmlichkeiten geben wird. Wegen des Besuches, den Sie in Alderscourt hatten. Was ist mit der Dame geschehen?«

Die unvermittelte Frage traf Mr. Gwynne schwer, denn der Schurke wußte offenbar sehr viel. Aber nun war es wenigstens klar, worum es ging, und der bedrängte Mime sah einen Ausweg.

»Darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben«, erklärte er bieder. »Ich habe der Dame Alderscourt auf Ersuchen eines Bekannten zur Verfügung gestellt und mich weiter nicht um sie gekümmert.«

»Und wer war dieser Bekannte?«

»Mr. Barres«, erklärte Gwynne ohne jeden Rückhalt, und Alf Duncan blies den Rauch seiner Zigarette in einer langen dünnen Säule zur Decke.

»Also Barres«, sagte er endlich. »Nun ist mir alles klar. Sie haben Ihrem Freunde, Mr. Fielder, der Sie doch bei dem einträglichen Dollargeschäft mitnahm, ein Schnippchen geschlagen und sich mit Mr. Barres assoziiert. Und auch Mr. Barres gedachte einmal ein Geschäft ohne die kluge Miss Reid zu machen. — Ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken, lieber Gwynne...«

Mr. Gwynne klang manches in diesen Worten bedrohlich, und er geriet noch mehr außer Fassung.

»Ich verstehe Sie nicht«, versicherte er. »Aber ich hoffe, daß Sie mir keine Unannehmlichkeiten bereiten werden. Es wäre mir peinlich... Sie begreifen... Und falls...«

Er begann hastig nach seiner Brieftasche herumzutasten, aber Duncan wehrte mit einer vornehmen Geste ab.

»Das können wir im Laufe des Tages irgendwie regeln«, sagte er und verschwand mit dem »gleichen liebenswürdigen Lächeln, mit dem er gekommen war.

Auch beim Lunch, den sie nur zu zweien einnahmen, lächelte der junge Gentleman, aber so verträumt, daß der Arzt ihm plötzlich den Puls fühlte.

»Stimmt«, erwiderte Duncan ebenso lakonisch, was den andern Mann aus Cambridge veranlaßte, sich kräftig auf die Schenkel zu schlagen und in ein unbändiges höhnisches Gelächter auszubrechen.

»Hm...«, äußerte er bedenklich und hatte die strohblonden Brauen wieder einmal mitten in der Stirn.

Im übrigen verlief das Mahl sehr einsilbig. Perkins ließ vergeblich auf sich warten, und auch von Mrs. Hingley und dem Geschäftsführer war nichts zu sehen.

Die so schwer heimgesuchte Wirtin saß in ihrem halbwegs sicheren Winkel in der Küche und war nun schon so schreckhaft, daß sie Williams Hand überhaupt nicht mehr losließ. Und da der abgehetzte Mann, der furchtbar blaß und elend aussah, das sonst auf die Dauer nicht ausgehalten hätte, durfte er neben Mrs. Hingley sitzen.

So überraschte sie Alf, als er nach dem Essen den Kopf in die Küche steckte, um sich nach dem Befinden der Hausfrau zu erkundigen.

Mrs. Hingley wußte diese Artigkeit zu schätzen, und ihr Busen wogte äußerst stürmisch, als sie aufsprang und dabei William etwas unzart ihre Hand entriß.

»Oh, danke«, stammelte sie verwirrt — einmal wegen der Hand, und dann, weil sie sich erinnerte, daß ihre Frisur nicht so aussah, wie sie aussehen sollte, und daß ihre Fingernägel nicht frisch lackiert waren, da dies alles wegen William ja nicht notwendig war — »es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, Mr. Duncan. — Ja, ich habe sehr viel durchgemacht in den letzten Tagen. Der Baumeister, der sich alles angesehen hat, meint, daß die Sache mindestens neun Pfund kosten wird, und was an den Möbeln verdorben wurde, macht sicher auch so viel. — Und dann sind jetzt auch noch das Fenster und der Türstock bei Mr. Gwynne dazu gekommen«, fügte sie mit einem tiefen Seufzer hinzu, und der Gedanke an diesen Riesenschaden ließ in ihr blitzartig einen heroischen Entschluß aufkommen.

»Ja«, fuhr sie mit krampfhaft gesenkten Augen tapfer fort und tastete nach der stützenden Schulter Williams, »in so einen Betrieb gehört eben ein Mann... Ein einfacher, braver Mann, wenn er auch von dem Geschäft nicht gerade viel versteht. Das lernt sich schon mit der Zeit. Die Hauptsache ist, daß man einen Schutz hat...«

Mrs. Hingley hatte sich doch etwas zuviel zugemutet, und ihre tiefe Stimme begann bedenklich zu zittern, aber der liebenswürdige junge Gentleman sprang ihr artig wie immer bei.

»Gewiß, liebe Mrs. Hingley«, sagte er in seiner lustigen Art, wenn ihm dabei vielleicht auch anders zumute war, »dasselbe wollte ich Ihnen auch schon raten. Hoffentlich verständigen Sie mich, wenn es so weit ist. — Bis dahin aber würde ich mir an Ihrer Stelle einen Hund anschaffen. Einen scharfen Köter, der jedem in die Beine fährt, der hier nichts zu suchen hat.«

Die Witwe nickte dankbar und gerührt und fand es sehr nett, daß auch der totenblasse William am ganzen Leibe zitterte.

So gegen halb drei Uhr kehrte Chefinspektor Perkins endlich von seiner langen Autofahrt zurück, und das Feixen um seinen breiten Mund verriet, daß die Dinge sich geändert hatten. Er war sogar beim Essen, das er mit großem Appetit verschlang, sehr gesprächig.

»Dieses Alderscourt habe ich also ausgeräumt«, erzählte er. »Das Mädel fand ich gleich bei der Scheune, und ein paar Schritte weiter lag ihr Koffer. Ich habe nur einen Blick hineingetan, aber es sind einige recht, hübsche Sachen drin. Jedenfalls ist sie auch mit dem Mann mit dem Bart zusammengeraten, denn sie sah genau so aus wie Hunter. — Scheren Sie sich irgendwohin, sonst mache ich Ihnen Beine...«

Diese etwas unvermittelte und wenig höfliche Aufforderung galt William, der sich vom Frauendienst in der Küche freigemacht hatte, um rasch doch einmal im Speisesaal nach dem Rechten zu sehen. Als ihm sein Eifer so übel gelohnt wurde, schlich er mit einem gekränkten Achselzucken wieder ab.

»Wenn der Mann nicht irgend etwas mit dem Meilenstein zu tun hat, will ich mich selber hängen lassen«, murmelte Perkins, war aber doch überrascht, als Duncan gar so nachdenklich nickte.

»Gewiß hat er das. Sehr viel sogar. — Aber wenn Sie den hinkenden Mann mit dem Bart fangen und überführen wollen, sollten Sie vor allem auf Mr. Gwynne aufpassen.«

»An den habe ich natürlich auch schon gedacht«, erklärte der Chefinspektor. »Und wenn dieser Fielder nicht so ein käsiger Jammerlappen wäre und nicht gestern selbst das Malheur gehabt hätte...«

»Wollen Sie sich nicht nach seinem Befinden erkundigen?« meinte der höfliche Gentleman, und bevor sie zum Steinbruch aufbrachen, tat es der Chefinspektor auch wirklich. Er kam mit einem launigen Grinsen vom Telefon.

»Den hat die Geschichte so platt geschlagen, daß ihm noch heute die Zähne klappern«, teilte er mit, und Alf fand dies verständlich.

»Nun, es war ja auch ein aufregendes Erlebnis, und Mr. Fielder ist gerade kein Held.«

Die Schlucht beim Buschhaus hatte über Nacht ein völlig verändertes Aussehen bekommen. Nicht nur, weil anstelle der Hütte nun ein öder Schutthaufen lag, sondern auch dadurch, daß in der Wand, dort, wo die großen Blöcke gelehnt hatten, ein gewaltiges Loch gähnte.

Alf Duncan kletterte behend darauf zu, und kaum hatte er sich mit einem raschen Blick umgesehen, als er auch schon auf ein verbogenes Eisenstück wies, das aus dem Fels ragte.

»Also, hier haben Sie die Schiene, in der einer der Blöcke gelaufen, ist, und hier in der abgerissenen Wand scheint der Hebel gewesen zu sein. Damit ließ sich der Verschluß sehr leicht handhaben, und der Mann konnte rasch und spurlos verschwinden, nachdem er sich Hunter vom Hals geschafft hatte. Wahrscheinlich hätte er ihn sogar mitgeschleift, wenn Zeit dazu gewesen wäre. Mit dem Sergeanten und Barres hat er es so gemacht, und deshalb wurden sie an einer Stelle gefunden, an die sie von oben unmöglich abgestürzt sein konnten. Sie sind nämlich aus der Wand dort rechts hinausgeworfen worden. Das große Loch, durch das man jetzt in den Steinbruch sieht, hatte offenbar einen ähnlichen Verschluß.«

Der Chefinspektor blickte neugierig in den gewölbeartigen Raum, den sie vor sich hatten und in den von zwei Seiten das Tageslicht fiel. Es schien gefährlich, ihn zu betreten, denn stellenweise haftete das arg zerrissene Gestein bedenklich lose. Trotzdem wagte sich Perkins in das Geröll und begann an einem Stück Draht zu ziehen.

Duncan wehrte ihm ab.

»Das hat gar keinen Zweck. Sie werden, kaum mehr etwas Brauchbares finden. Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß der Mann sein Unternehmen liquidiert hat. Da man ihm so dicht auf den Fersen war, hatte es keinen rechten Zweck mehr für ihn. Allerdings dürfte er gehofft haben, Sie und Ihre Leute dabei mit zu erledigen, und wenn Sie sich auch nur noch eine kleine Weile mit Ihren Nachforschungen aufgehalten hätten, wäre ihm dies wohl auch gelungen. Die Explosion hat ja auch hier draußen schrecklich gehaust. Der Raum wurde wahrscheinlich seinerzeit von dem Werkmeister des Steinbruchs als Magazin für seine Sprengstoffe angelegt, und dann hat sich ihn Marwel für seine verschiedenen Experimente eingerichtet. Dabei lernte den Schlupfwinkel später wohl auch der andere kennen und hat ihn für seine Zwecke besonders günstig gefunden. Er konnte in wenigen Minuten überm Hang drüben sein und ebenso rasch wieder untertauchen. Auch dürften hier die gewissen Empfänger für die Fernzündung und die Relais aufbewahrt gewesen sein, die Marwel offenbar in Vorrat hergestellt hatte. Ich zweifle nämlich, daß der hinkende Mann mit dem Bart von der Sache mehr versteht als die bloße Handhabung.«

Der Chefinspektor erwachte aus seiner tiefen Nachdenklichkeit; die anscheinend anderen Dingen gegolten hatte.

»Ich bin vormittags herumgefahren und habe mich wegen der verunglückten Leute erkundigt«, sagte er. »Dabei habe ich erfahren, daß zwei von ihnen tatsächlich unmittelbar vorher größere Geldbeträge flüssig gemacht hatten.«

»Alle«, erklärte Duncan bestimmt. »Darauf war es ja bei den Unfällen abgesehen. Es haben nur diejenigen am Schwarzen Meilenstein dranglauben müssen, die wegen der Dollars mit vollen Taschen kamen. Wenn die Sache mit den Dollars nicht gewesen wäre, hätte es wahrscheinlich nie einen Schwarzen Meilenstein gegeben. Jedenfalls aber wäre ich dann nicht bei der Hand gewesen, um Ihnen wieder einmal aus der Patsche zu helfen, lieber Mr. Perkins.«

Der liebe Mr. Perkins überhörte die taktlose Bemerkung, da er schon wieder tief in seine geheimnisvolle Gedankenwelt versunken war.

Zwei Stunden später aber überraschte er das Golfhaus plötzlich durch den Entschluß, mit seiner Begleitung nach London zurückzukehren, und sogar der noch immer arg benommene Mr. Hunter wurde aufgeladen. Ajax der Rasende sträubte sich zwar, wo anders als am Steuer Platz zu nehmen, aber auf einen energischen Wink des Chefinspektors faßte ihn Sergeant Bell an den Hosen und am Kragen und setzte ihn behutsam nach rückwärts.

Auch Alf Duncan, der wieder einmal das Telefon nach Wellingborough in Bewegung gesetzt hatte, brachte seinen Wagen aus der Garage, und Mrs. Hingley verfolgte von ihrem sicheren Winkel in der Küche alle diese Vorbereitungen mit tränenschweren Augen. Sie wäre um ihr Leben gerne noch hinausgegangen, um von dem einzigen vielleicht ein bißchen sündhaften Traum ihres Lebens Abschied zu nehmen, aber erstens wußte man nicht, was im letzten Augenblick noch Schreckliches geschehen konnte, und zweitens war sie eine Frau von Grundsätzen und starkem Willen. — Wenn aber wenigstens William zugegen gewesen wäre, damit sie an seiner Hand eine Stütze hätte finden können...

Aber William war nicht zugegen, weil er den abreisenden Gästen noch mit allerlei an die Hand gehen mußte. Er tat dies so willig und flink, wie ihn Mrs. Hingley noch nie gesehen hatte, und ihr Herz richtete sich an diesem Anblick auf.

Sehr überrascht war Mr. Fielder, der fahl und gebrochen im letzten Augenblick in einem Taxi langsam angeschaukelt kam.

»Ich wollte mich Ihnen trotz meines Zustandes doch zur Verfügung stellen«, erklärte er dem erstaunten Chefinspektor. »Ich dachte, daß es sich vielleicht um etwas Wichtiges handeln könnte, weil Sie mich angerufen hatten...«

Als er vernahm, daß er nicht gebraucht würde, wußte er sich über seine vergebliche Bemühung zu trösten.

»Dann werde ich nur einen kleinen Imbiß nehmen und gleich wieder zurückfahren. Die frische Luft hat mir ja ganz gut getan aber es ist ein furchtbares Gefühl nach so einer Sache zum ersten Mal wieder in einem Wagen zu sitzen. Dabei fahren diese Taxichauffeure so schrecklich schnell und unvorsichtig. Und an der gewissen Stelle mußte ich die Augen schließen...«

Zehn Minuten später saß er völlig verlassen auf der Terrasse, und William durfte es sich nun gestatten, müßig herumzulungern.

Mr. Gwynne aber schickte sich an, einen Spaziergang zu machen. Auch seine Koffer standen zwar bereits gepackt, doch hatte er es nun nicht mehr gar so eilig wegzukommen.

Es war mit einem Mal still und friedlich im Golfhaus, und der Mann vom Schwarzen Meilenstein ahnte nicht, daß seine Stunden gezählt waren.


51. Kapitel

Der Schlag kam aus einem lautlosen Dunkel, und in Minuten war alles vorbei.

Es war kurz vor Mitternacht, als vom Golfhaus her ein Schatten gegen den Hang glitt und dort mit dem Buschwerk verschwamm. In diesem Augenblick folgte aus der gleichen Richtung ebenso flüchtig ein zweiter.

Und nach einer Weile gab es oben gegen den Kamm zu, wo das Gestrüpp etwas lichter wurde, ein lebhaftes Schattenspiel: In verschwommenen Umrissen zeichneten sich zwei Gestalten ab. Plötzlich fiel die eine in sich zusammen, und dann schien auch die andere langsam in den Boden zu versinken. Aber auf einmal wuchs sie ebenso langsam wieder empor und war nun seltsam breit und unförmig.

Der Mann, der mit der schweren Last auf der Schulter das letzte Stück aufwärts keuchte, mußte Riesenkräfte haben. Er kletterte sicheren Fußes und machte auch nicht die kleinste Atempause. Erst bei der Felsplatte ließ er den leblosen Körper zu Boden gleiten. Die Explosion der verflossenen Nacht hatte auch hier gehaust und den schmalen Saum, der zum Buschhaus hinunterführte weggerissen. Es ging nun von hier direkt auf den Grund des Steinbruchs hinunter.

Der Mann faßte wieder an, um das Letzte zu vollbringen, und es konnte über seine Absicht keinen Zweifel mehr geben.

Deshalb sprang Chefinspektor Perkins mit einem gewaltigen Satz endlich zu, aber der andere besaß nicht nur erstaunliche Kräfte, sondern auch eine unheimliche Geschmeidigkeit. So überraschend ihm der Angriff gekommen sein mußte, er wich ihm in der gleichen Sekunde geschickt aus und entglitt den zugreifenden Armen.

Perkins knallte fluchend zweimal in die Luft, und in dem gleichen Augenblick war es, als ob auf dem ganzen Hang ungezählte Rudel starken Wildes aufgestört worden wären.

»Er kann nicht durch, und wenn er mit dem Teufel im Bunde ist«, sagte Perkins zuversichtlich, indem er sich die nasse Stirn wischte und hinunter in das brechende und tobende Gestrüpp lauschte.

Und dann leuchtete er mit seiner starken Taschenlampe nach dem Körper am Boden. Was er sah, ließ ihn betroffen auf Duncan und den Arzt starren, die an seiner Seite standen.

»Der Mann mit dem Bart...«

Der Arzt beugte sich rasch nieder, und dann klang auch in seiner Stimme lebhafte Überraschung.

»Der Komödiant...«

Auf Alf Duncan aber machte diese Entdeckung keinen Eindruck.

»Ich hatte Ihnen doch gesagt, daß Sie auf Gwynne aufpassen sollten. Darauf war doch alles aufgebaut, und das war das letzte Glied, das noch fehlte. Alle, die von James Marwel etwas wußten oder ahnten, waren bereits denselben Weg gegangen, nur der große Künstler fehlte noch. Und außerdem hatte er auch noch eine andere Sache auf dem Kerbholz. — Bloß das mit dem Bart hatte ich nicht erwartet, aber es war kein schlechter Einfall. Denken Sie doch einmal ein bißchen darüber nach, Perkins, welch ein friedliches Ende des ganzen Rummels es gegeben hätte, wenn der so lange gesuchte Mann morgen dort unten gefunden worden wäre...«

Der Chefinspektor war nicht in der Verfassung, nachzudenken, sondern horchte immer besorgter auf den Lärm, der von allen Seiten heraufschallte. Wenn der Bursche ihm wirklich abermals entwischt war.

Aber plötzlich brach sich etwas besonders laut und gewaltsam Bahn, und Perkins sprang der auftauchenden Gruppe entgegen.

Vier starke Männer hatten einen fünften in ihrer Mitte, und es gab für diesen kein Entrinnen, so verzweifelt auch seine unsteten Augen nach einem Ausweg zu suchen schienen.

Wieder ließ Perkins seine Lampe spielen, aber diesmal war er mehr befriedigt als überrascht.

»Oh, William...«, sagte er, und um seinen Mund zeigte sich sein bösartiges Feixen. »Das ist etwas anderes. Diesmal sind Sie mir zur unrechten Stunde in den Weg gelaufen.«

Der Geschäftsführer erwiderte nur mit einem finsteren Blick. Er hatte offenbar alle seine Kräfte ausgegeben. Sein Gesicht war von leichenhafter Blässe, sein Atem ging keuchend, und er vermochte sich kaum auf den Beinen zu halten.

Trotzdem war Alf Duncan so mitleidlos, ihn freundlich anzulächeln.

»Nun, sehen Sie, das kommt davon. Ich hatte Sie doch gewarnt...«

In diesem Augenblick waren von unten irgendwo zur Rechten schrille Pfiffe zu hören, und der Chefinspektor wurde sehr lebendig.

»Das ist Bell, den wir drüben hinter dem Golfplatz gelassen haben, wie Sie es wünschten«, sagte er zu Duncan. »Er weiß natürlich nicht, was los ist, und wird ungeduldig. — Also, den andern ins Krankenhaus und dem da Handschellen«, wandte er sich an seine Leute, die mittlerweile zu einem Aufgebot von vierzig Mann angewachsen waren. »Und scharf auf ihn aufgepaßt, denn der Bursche ist kostbar.«

»Ja«, stimmte der junge Gentleman in seiner meist unverständlichen Art bei, »gut für tausend Dollar und fünfhundert Pfund.«

Aber Mr. Perkins hörte nicht darauf, denn sein endlicher Erfolg machte ihm den Kopf wirbeln.

Sie stiegen bei dem Schein der zahlreichen Lichter nicht in der Richtung zum Golfhaus ab, sondern mehr nach rechts, dem Golfplatz zu. Dann wandten sie sich noch mehr nach rechts, bis sie auf einen Waldstreifen stießen, und dann auf einen Feldweg, der zwischen Hecken verlief.

Hier kam ihnen Bell mit langen Schritten entgegen und deutete mit seinem gewaltigen Daumen über die Schulter.

»Wir haben ihn, Sir«, meldete er. »Zehn Minuten nachdem oben die Schüsse gefallen waren, kam er angesprengt und flog auf die Bäume dort drüben zu. Er hatte seinen Wagen dort gehabt und saß auch schon drinnen, aber wir haben ihn wieder herausgeholt. Es war eine wilde Sache, und Owen hat drei Zähne dabei verloren. Aber dann war ich schon dazwischen« — Ajax der Andere lächelte kindlich — »und habe ihn zur Ruhe gebracht.«

Der Chefinspektor stand mit offenem Mund, und seine Augen hingen geradezu verstört an Alf Duncan. Aber der junge Gentleman stäubte an seinem Mantel herum, und Perkins machte verzweifelt wieder einmal »Hi...« und stürzte vorwärts.

Mr. Guy Fielder, der so sorgfältig verschnürt wie ein Oberseeballen am Wegrand lag, glich nun völlig einem toten Fisch. Sein Gesicht war von einem stumpfen Grau, seine hervorgequollenen Augen schienen aus trübem Glas, und nur um seine bläulichen Lippen, auf denen noch der Schaum des schweren Kampfes stand, zuckte es zuweilen.

»Also«, sagte Alf Duncan plötzlich, »hier haben Sie den Mann vom Schwarzen Meilenstein — und den Hauptagenten der langgesuchten Dollarfälscher. Das Nest ist in Paris vor ein paar Stunden ausgehoben worden. Aber das gehört nicht zu Ihrer Sache. Zu Ihrer Sache gehört bloß das, was ich Ihnen schon angedeutet habe. Es war dieser kleine verschlagene Mr. Fielder, an den Marwel bei dem Versuch, seine Erfindungen zu Geld zu machen, geraten war. Ob es sich bei dem Ergebnis der ersten praktischen Erprobung bereits um ein beabsichtigtes Verbrechen oder um einen Zufall handelte, kann ich nicht sagen, aber jedenfalls kam der Tod Marwels dem andern sehr zu statten. Er war nun im Besitz der Apparate, und wenn er auch zu wenig wußte, um die wertvollen Erfindungen weitergeben zu können, so verstand er doch, sie zu handhaben. Und das erste Unglück beim Schwarzen Meilenstein hatte ihm auch einen Weg zu ihrer praktischen Verwertung gewiesen. In einem augenblicklichen Instinkt hat er zunächst die Identifizierung der Leiche Marwels unmöglich gemacht, und dann ist er auf die Idee mit dem Dollarhandel verfallen. Er war zu schlau, um daran zu denken, die Scheine in England wirklich in Umlauf zu setzen, sondern sie sollten ihm nur als Lockmittel dienen. Und während die Leute auf dem Golfplatz mit dem ahnungslosen Gwynne verhandelten, hat sich Fielder in der Garage mit ihren Autos beschäftigt. Es war dies kein sonderliches Wagnis, denn man kann von der rückwärtigen Front völlig unbemerkt in den Raum gelangen. So folgte Unfall auf Unfall, bis der Posten aufgestellt wurde. Und dann nahte mit Dan Kaye das Verhängnis. Der Mann, der von James Marwel wußte, war eine Gefahr. Für Fielder — und für Miss Reid, die hinter den Geheimnissen ihres Chefs her war und wahrscheinlich auch von dieser Sache etwas ahnte. Der Mann konnte alles verderben, und deshalb kam wohl Barres heraus. Aber auch Fielder war zur Stelle und hat ihn und Kaye aus dem Weg geräumt. Der kleine graue Schurke hat in den letzten Tagen ganz Unglaubliches geleistet. Er ist mit seinem ›Zwanzigmeilentempo‹ einer der wildesten Fahrer, die ich je kennengelernt habe. Während Sie ihn noch auf dem Heimweg wähnten, war er immer schon längst wieder zurück und lag um das Golfhaus auf der Lauer. Gestern nacht kam er allerdings zunächst nach Alderscourt, um dort eine Abrechnung zu halten, und dabei hätte ich ihn Ihnen fast lädiert, weil ich mir über seine Absichten nicht ganz im klaren war. Aber es gibt eine gerechte Vorsehung, und die Kugel hat Mr. Gwynne erwischt. Im übrigen ist der Bursche zwar verschlagen, aber nicht intelligent. Die Art, wie er Dan Kaye erledigt hat, war ein arger Fehler, denn sie lieferte mir die erste Spur zum Geheimnis des Schwarzen Meilensteins. Und der Autounfall, den er vortäuschte, war geradezu albern. Aber ich hatte von unserem lieben Mr. Fielder so etwas Ähnliches erwartet.«

»Ja«, stimmte der aufgeregte Perkins lebhaft bei und war schon wieder so auf der Höhe, daß er das Bündel am Boden höhnisch anfeixen konnte. »Habe ich Ihnen nicht gesagt: ›Nur nicht zu hoch hinaus‹? — Nun, in ein paar Wochen wird es so weit sein...«

Der gefesselte Mann bäumte sich mit einem tierischen Schrei auf, aber kräftige Fäuste drückten ihn wieder nieder. Und nun erinnerte sich der Chefinspektor plötzlich an etwas anderes und zog Duncan beiseite.

»Und was ist's mit dem dort?« fragte er unsicher, indem er auf die Gruppe mit William in der Mitte wies.

Der junge Gentleman zeigte seine Zähne.

»Den können Sie jetzt laufen lassen. Er bedeutet für Sie keine Gefahr mehr. — Mr. William...«, rief er hinüber.

Der Gefangene wurde vorwärts gestoßen, aber als Duncan die Hand hob, machte die Begleitung halt.

»Es tut mir leid, daß Sie solche Unannehmlichkeiten hatten«, empfing ihn Alf mit launiger Höflichkeit, »aber es war für Sie ein gefährliches Spiel, und Sie können von Glück sagen, daß Sie dabei so glimpflich weggekommen sind. — Mr. Perkins, gestatten Sie, daß ich Ihnen einen Kollegen vorstelle: Mr. William Sayer, Privatdetektiv im Dienste der American Automobile Association. Ich habe mich nach dem gewissen Schuß ein bißchen im Zimmer Mr. Williams umgesehen. Die Gesellschaft war bei den englischen Automobilversicherungen stark engagiert, und der Schwarze Meilenstein hat sie einiges Geld gekostet. Und außerdem hätte Mr. William auch die ausgesetzten Prämien unserer Klubs gern eingesteckt. Das durfte ich um Ihretwillen nicht zulassen, lieber Mr. Perkins. — Übrigens hat ja, wie ich hoffe, Mr. Sayer bei der Sache ein anderes großes Los gezogen.«

Dem Chefinspektor wirbelte noch einmal der Kopf, aber das hinderte ihn nicht, William persönlich die Handschellen abzunehmen. Einem so schmählich geschlagenen Konkurrenten, der dabei so schrecklich viel Geld verlor, mußte man doch einige Artigkeit erweisen.

William war so abgehetzt und müde, daß er keinen Laut hervorbrachte und nur den einen Wunsch hatte, so rasch wie möglich davonzukommen. Aber Alf Duncan hielt ihn zurück und winkte den Arzt herbei.

»Doktor«, sagte er förmlich, »nehmen Sie sich dieses Herrn ein wenig an. Ich glaube, er ist gestern in Alderscourt von einem Hund etwas übel zugerichtet worden.«

»Oh«, meinte der Arzt, indem er bedenklich die strohblonden Brauen hochzog, »eine böse Sache. Jedenfalls einige Wochen Pasteurinstitut...«

»Das wird Mrs. Hingley sehr unangenehm sein, aber Sie können sich wenigstens von den Strapazen beim Schwarzen Meilenstein erholen«, tröstete der immer liebenswürdige Mr. Duncan den erschrockenen Mann.

Die Polizeiautos hielten eine halbe Wegstunde weiter.

»Nun«, sagte Chefinspektor Perkins befriedigt, »das wäre also erledigt. Und es ist wie am Schnürchen gegangen.«

»Ja — wie wenn Sie auch in Cambridge gewesen wären«, gab der junge Gentleman zu, und diesmal faßte Mr. Perkins dies wirklich als besondere Anerkennung auf und nickte lebhaft.


52. Kapitel

An Isabel Longden waren eine qualvolle Ewigkeit lang so furchtbare Bilder vorübergezogen, daß sie sich nun nicht zu regen wagte.

Das war plötzlich etwas anderes — etwas Wunderschönes und Beruhigendes...

Nur die traumhaft geweiteten braunen Augen tasteten umher. Durch den weiten hellen, Raum in Weiß und Gold, über die kostbaren Möbel und nach den hohen Fenstern, durch die der Herbst mit seiner milden Sonne und seinen bunten Farben hereinguckte. Und dann nach der Frau in der weißen Haube, die ihr so freundlich zulächelte...

Isabel suchte sich zurechtzufinden. Das war nicht daheim — das war kein Hotel — — und das war nicht dieses schreckliche Alderscourt.

Diese Erinnerung genügte, um Isabel mit einem Schlag aus ihrer Traumwelt völlig in die Wirklichkeit zurückzuführen. Sie richtete sich jäh auf und stammelte eine Frage, die sonst nur etwas beschränkte junge Damen in geschmacklosen Romanen zu stellen pflegen.

»Wo bin ich...?«

Die freundliche Frau war so taktvoll, die banale Frage zu überhören.

»Haben Sie ordentlich ausgeschlafen, Miss Longden?« erkundigte sie sich angelegentlich. »Fühlen Sie sich wohl genug, um aufzustehen? Soll ich Ihnen ein Bad bereiten? Wünschen Sie zu frühstücken?«

Das war etwas viel auf einmal, aber Isabel nickte schwach, und es ging unter der freundlichen Beihilfe alles seinen Gang.

Nach dem erfrischenden Bade stand Isabel Longden wieder mitten im Leben, aber nun stürzten Fragen auf sie ein, auf die sie keine Antwort fand.

Was war in der letzten Stunde in Alderscourt mit ihr geschehen? Wie war sie in dieses Haus gekommen? Wußten die Leute, daß...?

Das Frühstück brachte ein frisches Mädchen, das nach rasengebleichter Wäsche und Lavendel duftete, und Isabel aß trotz aller peinigenden Ungewißheit mit großem Appetit. Dann erschien die Zofe wieder, und nachdem sie in Eile abserviert, mit flinken Händen Ordnung gemacht und die hohen Fenster geöffnet hatte, entledigte sie sich mit großer Förmlichkeit eines Auftrages.

»Lady Gilian läßt fragen, ob sie Miss Longden ihren Besuch machen darf.«

»Ich lasse Lady Gilian bitten«, erwiderte Isabel ebenso förmlich, aber mit schwacher Stimme, und bereitete sich vor.

Aber das hatte keinen Zweck. Der Besuch von Lady Gilian vollzog sich mit einem Temperament, das jedes Konzept umstoßen mußte.

Zunächst flog einmal die Tür ziemlich lebhaft auf, und dann flog »Lady« Gilian ebenso lebhaft herein.

Sogar Isabel sagte sich, daß sie noch sehr jung sein müsse, aber das kam wohl bloß von dem zierlichen Figürchen, dem etwas eigenwilligen Näschen und den treuherzigen Augen. Und es war etwas an diesen Augen...

Aber Isabel kam nicht einmal dazu, über irgend etwas nachzudenken, denn Lady Gilian nahm sie vollständig in Anspruch.

Zunächst mit einer stürmischen Umarmung und dann mit ihrer übersprudelnden Beredsamkeit.

»Guten Tag, liebste Miss Longden. Ich freue mich, daß Sie wieder auf dem Damm sind. Ich habe mir schon große Sorgen gemacht, denn schließlich hatte ich ja die Verantwortung. Tante Ally hat eben ihre Woche für die armen Negerkinder, aber ich habe ihr depeschiert, und sie wird nachmittag hier sein. Sie ist eine gute Seele, nur etwas unmodern. Man muß sie erziehen. Aber wir werden uns auch ohne sie die Zeit vertreiben. — Haben Sie Lust auszufahren? Der Arzt hat recht viel frische Luft für Sie verordnet, und die können Sie haben. Außerdem ist das Fahren mein Lieblingssport. Das heißt, nach dem Reiten. Das ziehe ich doch vor. Aber die Geschwindigkeit hat auch ihre Reize. Ich fahre grundsätzlich nur fünfundfünfzig, lieber aber noch sechzig. Das ist erst das Richtige. Und ich kann es mir gestatten, denn mein Packard ist zuverlässig, und eine Schrecksekunde gibt es bei mir nicht. Vielleicht eine Viertelsekunde, dann habe ich alles wieder in der Hand. Höchstens, daß sich der Wagen dabei einmal auf den Kopf stellt aber da kann man nichts machen...«

Isabel Longden sah sie mit so erschreckten Augen an, daß Lady Gilian etwas unvermittelt stoppte.

»Mir scheint«, fuhr sie entgegenkommend fort »dafür sind Sie nicht. — Nun, dann machen wir also lieber ein kleines Hindernisrennen. Sie kommen ja von dort her, wo die Cowboys zu Hause sind. Ich gebe Ihnen den ›Blitz‹. Er ist ein lammfrommes Tier, nur ein bißchen bodenscheu. Wenn er eine Maus sieht, geht er todsicher durch. Auch Schmetterlinge mag er nicht. Dann müssen Sie sich fest aufs Leder setzen und ihn langsam aufwickeln. Sie können auch ›Lizzie‹ haben. Die ist aber sehr nervös und steigt gern. Ich habe eine Bahn mit wundervollen Hindernissen. Alles natürlich. Zuerst eine Hecke, fünfeinhalb Fuß hoch, dann eine Steinmauer, vier Fuß, dann einen tiefen Wassergraben von fünf Yards, und dann eine richtige Schlucht, ungefähr vier Yards breit...«

Lady Gilian hätte noch mehrere solche verlockende Vorschläge bereit gehabt, wurde aber durch die duftende Zofe unterbrochen.

»Drei Herren von der Polizei«, meldete diese mit derselben ruhigen Feierlichkeit, als ob es sich um irgendwelche Mitglieder der Peerage gehandelt hätte, und Lady Gilian nickte auch so hoheitsvoll.

»Ja«, wandte sie sich an Isabel, »das gilt wohl Ihnen. Man hat sich schon einige Male telefonisch erkundigt.«

Für Isabel Longden zerstob damit auch der schöne Traum der letzten Stunde, und sie sah sich nun wieder der schrecklichen Wirklichkeit gegenüber. Aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen, und in ihren Augen flackerte ratlose Verzweiflung.

»Verzeihen Sie...«, stammelte sie mit zuckenden Lippen. »Ich bereite Ihnen große Unannehmlichkeiten, aber...«

Aber die jugendliche Dame des Hauses hatte über solche Dinge anscheinend ganz besondere Ansichten. «

»So etwas kommt in den besten Familien vor«, sagte sie leichthin, indem sie ihren Arm stützend um Isabel legte. »Wir haben auch so ein schwarzes Schaf, das ewig mit der Polizei zu tun hat. Und schielen kann der Junge...«

Isabel Longden hörte nichts mehr und sah nichts mehr und wußte nicht, wieso sie auf einmal in der geräumigen Hall stand.

Aber dann wußte sie, daß es wirklich um die gewisse Sache ging und daß nun alles aus war. Die drei steifen Männer kannte sie zwar nicht, aber die Frau in ihrer Mitte und den Mann mit dem roten Haar hatte sie schon einmal gesehen. Nur einen winzigen Augenblick — aber diese Gesichter würde sie nie mehr vergessen.

Und dann kam der furchtbarste Schlag.

Aus dem Hintergrunde tauchte ein sehr eleganter junger Mann mit einem bestrickenden Lächeln und einem treuherzigen Blick auf — und Isabel mußte an Lady Gilian eine Stütze suchen. Aber selbst die junge Dame des Hauses wand und krümmte sich aus irgendeinem Grunde.

Also das war es. Der Unbekannte, dem sie so vertraut hatte, hatte sie verraten...

Es war ein großer Schmerz für Isabel Longden, aber er ließ sie wenigstens das andere leichter tragen. Nun war ihr alles gleichgültig. Nur dem Manne wollte sie zeigen, wie sehr sie ihn verachtete. Sie blickte mit einem harten Zug um den hübschen Mund starr geradeaus, und auch als er sogar die Kühnheit hatte, zu sprechen, war er für sie überhaupt nicht auf der Welt.

»Liebe Miss Longden«, sagte Alf Duncan in seiner schamlosen Verkommenheit, »gestatten Sie, daß ich Ihnen Chefinspektor Perkins von Scotland Yard vorstelle. Die beiden anderen Herren sind Unterinspektor Hunter und Sergeant Bell. — Ja, und das nette Paar in ihrer Mitte sind die gramgebeugten Eltern. — Und nun wird Sie Mr. Perkins einen Augenblick bemühen.«

Damit wurde Alf Duncan wieder zum Gentleman und schob Isabel höflich einen bequemen Sessel zurecht, aber auch das sah das erschütterte junge Mädchen nicht.

Mr. Perkins hatte einen feierlichen schwarzen Rock an, eine Krawatte in den Nationalfarben umgebunden und schwitzte jammervoll. Die beiden Ajaxe aber standen unbeweglich wie Statuen und schielten nur aus den Augenwinkeln auf das gramgebeugte Elternpaar. Bell auf den roten Tim hinunter, Hunter zur »Schiefen Fregatte« hinauf.

Endlich nahm der Chefinspektor einen verzweifelten Anlauf.

»Sie haben da vor einigen Tagen bei Thame eine Sache mit Ihrem Auto gehabt, Miss Longden. Es ist Ihnen ein Kinderwagen in den Weg gekommen, und Sie haben ihn zusammengefahren...«

»Und sie hat nicht einmal angehalten«, warf der schurkische junge Gentleman ein, aber Isabel konnte nichts mehr treffen.

»Ja«, sagte Perkins und zerrte an seiner blauroten Krawatte. »Wir werden also darüber ein kurzes Protokoll aufnehmen müssen, Miss Longden. Aber zunächst möchte ich Sie fragen, ob Sie die Leute dort mit Bestimmtheit wiedererkennen.«

Er deutete auf die »Eltern«, die plötzlich sehr schmerzergriffen zu Boden blickten, aber Isabel mußte nicht erst nochmals hinsehen.

»Ja«, erklärte sie mit leiser, stockender Stimme. »Besonders den Mann. Das rote Haar...«

»Kunststück — so einen verdammten Brandschädel«, ließ sich in diesem Augenblick die »Schiefe Fregatte« in höchstem Grimm vernehmen, und gleichzeitig flog ihre Rechte von der hohen Hüfte in das Gesicht des roten Tim.

Da sich das Brautpaar so ungezogen benahm, wurde es von den beiden Ajaxen abgeführt, und Perkins sagte wieder »Ja...« und blickte immer hilfloser nach dem verkommenen jungen Gentleman.

»Ja«, nahm dieser ihm endlich das Wort ab. »Sie wollten sich die Geschichte etwas kosten lassen, liebe Miss Longden. Darüber können wir nun sprechen. Aber zuerst will ich mein Wort halten.«

Er holte aus einer Ecke neben dem Kamin eine große Schachtel hervor und begann eifrig darin herumzukramen. Aber Isabel hätte um nichts in der Welt hingesehen.

»Wie Sie wissen«, fuhr Alf Duncan mit lebhafter Gesprächigkeit fort, »habe ich Ihnen ein Geschenk versprochen, das Sie sehr erfreuen sollte. Und sogar noch Ihre Kinder und Kindeskinder. — Gestatten Sie, daß ich es Ihnen nun überreiche...«

Bevor Isabel Longden noch abzuwehren vermochte, wurde ihr etwas in die Arme gedrückt, und sie konnte dieses Etwas nur krampfhaft festhalten und mit verständnislosen Augen anstarren. Dabei sprach der junge Gentleman ruhig weiter, aber es dauerte noch eine lange Weile, bevor sie begriff.

»Es gleicht dem armen, von Ihnen zu Tode gefahrenen Baby auf ein Haar, liebe Miss Longden, denn es ist dieselbe Fabrikmarke, Serie und Nummer. Ich habe sie unter den Scherben im Straßengraben gefunden. Nur den Himbeersaft habe ich weggelassen, denn der klebt zu sehr...«

Isabel Longden sah mit zuckenden Lidern auf das große nackte Puppenbaby in ihren Armen, auf Lady Gilian, die mit verzerrtem Gesicht dasaß und mit den Beinen strampelte, auf den Mann in dem schwarzen Rock und mit der blauroten Krawatte, der sich ununterbrochen den Schweiß wischte, und dann wandte sich ihr Blick langsam und schüchtern nach dem jungen Gentleman, der sie mit seinen treuherzigen Augen anlächelte...

Und dann tat Isabel Longden aus Shoshone, Idaho, USA., plötzlich ganz das gleiche, was jedes kleine Mädchen zu tun pflegt, wenn es eine schöne Puppe geschenkt bekommt: sie küßte sie stürmisch ab, und dann fiel sie dem Spender um den Hals...

Lady Gilian gefiel dies so gut, daß sie einen wilden Indianertanz aufführte, und auch Chefinspektor Perkins hatte plötzlich wieder ein Feixen in dem breiten Gesicht.

Aber Alf Duncan benahm sich wie ein wirklicher Gentleman. Er legte zunächst seinen Arm um die schluchzende Isabel, und dann sagte er:

»Schwesterlein, guck aufmerksam zu, denn auch an dich wird einmal die Reihe kommen. Sie, lieber Perkins, aber haben gar keinen Grund, so hämisch zu grinsen, denn ich habe Ihnen doch damals vor dem Hotel ganz deutlich gesagt, daß es diesmal für mich, vielleicht um ›lebenslänglich‹ geht. — Ja, und dann habe ich Ihnen auch eine große Freude in Aussicht gestellt...«

Er brachte einen versiegelten Brief zum Vorschein, und der Chefinspektor machte gewaltig gespannte Augen.

»Bestellen Sie also, bitte, dieses dienstliche Schreiben an den Chef des Konstablerwesens. Es enthält das Abschiedsgesuch seines Kommissars für besondere Verwendungen.«

»Ich werde es persönlich übergeben«, versicherte Mr. Perkins hastig und faßte mit beiden Händen zu.

Dem netten Boy des vornehmen Hotels am Strand blieb die Hand in der Luft, als er nach der Flügeltür griff.

Dann aber verzog sich sein Mund von einem Ohr bis zum andern, wie es immer geschah, wenn er den freundlichen jungen Gentleman erblickte, und gleichzeitig verneigte er sich so tief, wie er dies bei Miss Isabel Longden zu tun gewohnt war.

Und obwohl die Lunchstunde war und die Hall von Gästen wimmelte, gestattete sich sogar auch der würdige Mann in der Portierloge ein ehrerbietiges Lächeln, das seine freudige Überraschung verriet.

»Also, lieber Mr. Brown«, sagte Alf Duncan, »Miss Longden hat noch einiges zu erledigen.«

»Allerdings, Sir. Das große Gepäck, die Post — und zweihundert Dollar.«

»Das große Gepäck und die Post«, wiederholte Alf Duncan so nachdrücklich, daß der verständnisvolle Mr. Brown sich mit ganz besonders dankbarer Ergebenheit verbeugte. »Und dann ein Kabel, lieber Mr. Brown. Miss Longden ist vor einigen Tagen bei der Abfassung durch dringende Geschäfte unterbrochen worden. Schreiben Sie, bitte...«

Mr. Brown war schon bereit, aber als der junge Gentleman ein zerknittertes Briefblatt aus der Tasche zog, fühlte er sich gar nicht behaglich.

»Ich finde, liebste Isabel«, sagte mittlerweile Alf, indem er das Papier überflog, »daß du die Sache doch etwas allzu tragisch genommen hast. Wir wollen den Text ein klein wenig abändern. —

Also, lieber Mr. Brown...«

Und er diktierte dem aufhorchenden würdevollen Manne langsam in die Feder:

Mrs. Symington, Shoshone, Idaho, USA. Liebste Mrs. Symington, oh, warum habe ich nicht auf Ihre Warnungen gehört. Welch ein schreckliches Ende. Ich vermag es nicht auszudenken. Ich habe mich mit Alf Duncan auf Sandford Manor verlobt. Aber ich bin sehr glücklich.

»Ist es gut so, mein Liebling?« fragte Alf Duncan-Sandford.

Isabel Longden nickte mit strahlenden Augen und spitzte die Lippen.

Und dem erfahrenen Mr. Brown schien es, als ob das diesmal etwas ganz anderes bedeuten sollte, als daß sie pfeifen wollte.


ENDE


Roy Glashan's Library
Non sibi sed omnibus
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