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Oskar Hoffmann: "Bezwinger der Natur"
(Champion-Romane. Bd. 3). Berlin/Leipzig:
Verlag von Hermann Seemann Nachfolger o.J. [1908f.].
Einbanddeckel der gebundenen Ausgabe.
Oskar Hoffmann: Bezwinger der Natur
(Champion-Romane. Bd. 3). Berlin/Leipzig: Verlag
von Hermann Seemann Nachfolger, 5. Aufl., o.J.
[1908], Umschlagseite 1 der broschierten Ausgabe.
Oskar Hoffmann: Bezwinger der Natur
(Champion-Romane. Bd. 3). Berlin/Leipzig:
Verlag von Hermann Seemann Nachfolger,
5. Aufl. o. J. [1908], Titelseite (S. 3, unpaginiert)
Über die imposanten Steintreppen, welche von dem berühmten Hindutempel in Benares zu dem Ufer des Ganges hinabführen, ergoß sich ein gewaltiger Menschenstrom. Zahllose Hindus, untermischt mit fast nackten Fakiren wogten hier durcheinander. Dem höchsten Gotte Wischnu in seiner Gestalt als Krischna waren seine Anhänger wieder einmal im heiligen Tempel näher getreten. Es hatte eine öffentliche Vorlesung jenes uralten großen Nationalepos, genannt Mahabharata, stattgefunden.
Diese altindische Dichtung galt schon im 4. Jahrhundert n. Chr. als Gesetzbuch und umfaßt gegen 100 000 Clokas oder Doppelverse. Als der Verfasser des Riesenepos wird eine mythische Persönlichkeit namens Viasa angegeben. Das umfangreiche Werk schildert den Kampf der Kurus oder Bharatas und der Pandavas, sowie den Untergang der ersteren. Auf der Seite der Kurus waren die Haupthelden Durjodhana, der Sohn des blinden Königs Dhrlarashtra, Drona, Karna und Calja, auf der Seite der Gegner die fünf Söhne des Pandu, vor allem Ardschuna, Judhishthira und Bhima, und ihr Ratgeber Krischna, der Fürst der Jadava, der Anstifter aller Ränke und Listen.
Alles, was in Indien im Laufe langer Zeiträume an Sagen, Legenden und Liedern umlief, hat im Mahabharata Aufnahme gefunden. 18 Bücher oder Parvans, zu denen noch als 19. der Harivamca hinzukommt, repräsentieren den Umfang dieses Nationalepos. Unter den genannten Helden war es Ardschuna, einer der Söhne des Pandu, welcher für uns hier etwas in den Vordergrund tritt, denn sein Name figurierte in einem seltsamen Dokument, welches ein englischer Sanskritforscher durch Zufall aufgefunden hatte, und das den Kern aller nachfolgenden Geschehnisse bildet.
Unter dem dichten Menschenknäuel auf der Tempeltreppe zu Benares fiel besonders ein Englishman auf, welcher mit einem Hindu, der einer höheren Kaste anzugehören schien, eifrig im Gespräch begriffen war.
Die Unterredung wurde in hindostanischer Sprache geführt, welche der Europäer fließend beherrschte.
Beide Männer sah man kurz darauf eines der zahllosen kleinen Fahrzeuge des Ganges besteigen und den Fluß abwärts fahren.
»Wenn Ihr es fertig bringt, mich bei Nacht unbemerkt in den Tempel zu bringen, so sind hundert Goldrupien Euer,« sagte der Englishman zu dem Hindu.
Der Angeredete erwiderte: »Laßt mich einmal nachdenken.«
Eine Weile Schweigens folgte nun, währenddessen das Boot von den zwei chinesischen Kulis, die es bedienten, emsig fortbewegt wurde.
Betrachten wir jetzt einmal den Engländer, welcher, der Antwort des Hindu harrend, seinen Blick über den belebten Gangesstrom sinnend gleiten ließ.
Mr. George Robinson war ein Mann von etwas gedrungener Gestalt und stand in Mitte der Fünfziger. Was besonders jedem an ihm auffallen mußte, war das scharfblickende Auge, welches auf hohe geistige Fähigkeiten schließen ließ, aber andererseits, weil es so durchdringend zu blicken vermochte, auch manchem fast unheimlich erschien. Die freie Stirn umgrenzte bereits stark ergrautes Haar, und die etwas scharf gebogene Nase gab dem Gesicht einen Ausdruck von Entschlossenheit und persönlichem Mut. Die wohlgepflegten Hände zierte ein höchst eigenartig geformter Ring, der ein Geschenk eines indischen Radschas darstellte und sich als eine um den Finger windende Goldschlange, dicht besetzt mit prächtigen Diamanten, repräsentierte.
Mr. Robinson hatte die Angewohnheit, bei eifrigem Nachdenken die Stirne kraus zu ziehen; dies zeigte sich besonders deutlich, wenn er über verwickelte Dinge nachzugrübeln hatte. In solchem Falle pflegte er auch mit dem an seiner linken Hand steckenden Ringe fortgesetzt zu spielen. Er hatte sich letzteres mit der Zeit so angewöhnt, daß er beim Sinnen über eine Sache keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen konnte, wenn er nicht die Goldschlange um den Finger in Bewegung setzen konnte. Wer Robinson und seine Eigenheiten näher kannte, vermochte dem Gedankengange dieses Mannes zu folgen, das heißt man konnte stets dadurch kontrollieren, in welchem Stadium der sich beim Nachgrübeln befand.
Mr. Robinson drehte also auch jetzt wieder einmal gewohnheitsgemäß den Schlangenring und zog seine Stirne kraus, während sein Auge über die Fluten des Ganges schweifte.
»Seit die Tür auf der Sonnenseite des Tempels vermauert worden ist,« ließ sich der Hindu vernehmen, »ist der Eingang in den Tempel nur durch die Hauptpforte möglich.«
»Fatal — — —« murmelte Mr. Robinson.
»Es bleibt uns nichts anderes übrig,« fuhr der Hindu in so gedämpftem Tone fort, daß die am Ende des Bootes sitzenden Kulis nichts zu verstehen vermochten, »als mit Hilfe eines unterirdischen Ganges in den Tempel zu dringen.«
»Ich lasse kein Mittel unversucht,« versetzte Robinson. »Halten wir darum den Gedanken, den Ihr soeben gefaßt habt, fest.«
»Dann gebt mir zunächst 50 Rupien... Kulis wollen gut bezahlt sein, wenn sie schweigsam sein sollen wie das Grab.«
Diese Worte hatte der Hindu dem Engländer noch leiser ins Ohr geflüstert.
»Kulis? — — — was sollen die Kerle?« frug Robinson.
»Glaubt Ihr, daß wir beide mit unseren Fingernägeln einen Gang unter der Erde graben können, der so lang wie der Ganges breit ist?«
Wieder spielte der Engländer mit seinem Fingerring. — — —
»Es ist eine gefährliche Sache, Kulis in unser Geheimnis einzuweihen,« meinte Robinson und schielte zu den beiden Chinesen, welche in seiner Nähe saßen.
»Für fünfundzwanzig Goldrupien läßt sich ein Kuli hängen,« erwiderte der Indier, »warum soll er nicht auch für die gleiche Summe zu schweigen verstehen.«
»Ihr glaubt?«
»So sicher wie Wischnu als Krischna unsere Seelen dereinst begehrt.«
»Gut — — Ihr erhaltet die fünfzig Goldrupien heute noch. Aber die Bedingung mache ich, daß Ihr noch diese Nacht mit der Arbeit beginnt.«
»Gebt her das Geld.«
Die braune Rechte des Hindu streckte sich jetzt Robinson entgegen, um die gewünschte klingende Münze in Empfang zu nehmen. Gleichzeitig verriet ein leises Blitzen in den Augen des Indiers, daß er die Geldsumme mit Begier erwartete.
Wenige Augenblicke später ließ der Brahmane die Goldmünzen in eine Tasche seines Gewandes gleiten.
»Hinter dem Tempel ist ein Minaret, von welchem aus wir uns einen Weg bahnen können, ohne gestört zu werden.«
Robinson war mit dem Plane einverstanden und wollte nun die weiteren Details wissen.
Der Hindu schätzte die zu unternehmende Arbeit auf einige Tage und Nächte, und gab an, daß er zwei chinesische Kulis in Allahabad bekommen werde. Während die beiden Männer sich noch weiter über die Sache unterhielten, gelangte die Dschonke, in welcher sie saßen, am Ziele an, die Kulis wurden entlohnt, und Robinson und sein Begleiter stiegen ans Land.
Nachdem sich noch beide weiterhin verständigt hatten, trennten sie sich, und Mr. Robinson begab sich, indem er das schmutzige Häuserlabyrinth des Hinduviertels quer durchschritt, nach dem Sanskritkollegium, welches sich zur Zeit unserer Erzählung im nördlichen Teile der Stadt befand.
Am Abend desselben Tages konnte man in einem Zimmer des vorerwähnten Gelehrteninstitutes Robinson über einige alte Handschriften vertieft sitzen sehen. Die Schriften, die vor ihm lagen, waren in der Sanskritsprache abgefaßt, dem Idiom der alten arischen Indier. Die Nagarischriftzeichen bedeckten eine Anzahl Manuskripte und überlieferten Aufzeichnungen aus dem 7. Jahrhundert n. Chr. Es waren Dokumente großer Gelehrsamkeit aus der Glanzzeit des Mahratenreiches.
Robinson, welcher als eifriger Sanskritforscher seine Heimat verlassen hatte, um in Indien direkt aus den Quellen zu schöpfen, hatte bei der Durchstöberung alter Schriften und Papiere jene hochwichtigen Dokumente entdeckt, Dokumente, die über wissenschaftliche Arbeiten alter Indier berichteten. Unter anderem war ihm auch ein Manuskript zu Händen gekommen, welches von dem Augenblicke an, wo er es in der indischen Ursprache gelesen hatte, sein ganzes Denken unausgesetzt beherrschte. Und es war kein Wunder, wenn man bedenkt, daß in dem alten vergilbten Manuskript mit den seltsamen Schriftschnörkeln eine für die Menschheit ungeheuer wichtige Entdeckung wissenschaftlicher Natur verborgen lag. Zum wenigsten bildete das Dokument den Schlüssel zu der Pforte eines Geheimnisses, dessen Offenbarung die ganze Welt sozusagen in ihren Angeln umdrehen mußte. In sauberen Nagarizeichen war in dem Manuskript niedergelegt worden, daß zur Zeit Ardschunas ein Hindugelehrter Feuer, Wasser und Luft der Erde zu verändern vermochte. Mr. Robinson hatte anfänglich diesen Aufzeichnungen wenig Bedeutung beigemessen. Einige andere Dokumente machten ihn später aber stutzig. Er brachte aus den alten Manuskripten in Erfahrung, daß es schon vor etwa 1000 Jahren gelungen war, Wasser zu zersetzen, Luft in eine seltsame Flüssigkeit zu verwandeln und kaltes Feuer zu erzeugen. Ein Hinweis eines Sanskritmanuskriptes aus dem 8. Jahrhundert verriet dann noch des weiteren, daß der gelehrte Entdecker während kriegerischer Unruhen im Lande seine Aufzeichnungen dem Ardschuna zur Verwahrung eingehändigt hatte, und daß dieser die wichtigen Schriftstücke im alten Hindutempel am Ganges vergraben hatte. Ferner berichtete jenes Dokument, daß kurz darauf der Gelehrte und Ardschuna mit dem Tode abgegangen waren, und seitdem sich niemand mehr um die im Tempel versteckten Aufzeichnungen gekümmert habe.
Zersetztes Wasser, flüssige Luft und kaltes Feuer — — — In diesen drei neuen Materien lag für Mr. Robinson der Schlüssel zu einer völligen Umgestaltung alles Organischen des Erdballes. Und als er jetzt über diese altindischen Geheimnisse nachgrübelte, ergoß sich eine wahre Flut von Gedanken in sein Hirn.
Welche Umwälzung konnte doch auf der Erde hervorgerufen werden, wenn er es zuwege brachte, nach dem Rezept des altindischen Gelehrten die Ozeane auszutrocknen, einen Teil des Luftmeeres zu verflüssigen und kaltes Feuer zu erzeugen? Der Gedanke war an und für sich kaum auszudenken. Die Perspektiven, welche in dieser Hinsicht gezogen werden konnten, schienen sich für Robinson ins Unendliche zu erstrecken.
Tag und Nacht wichen diese Gedanken nicht von ihm. Und so mitteilsam er sonst war, und sich gern mit jemand über seltsame und verwickelte Dinge aussprach, so vermied er es diesmal schlauerweise, irgend jemand von der Entdeckung Mitteilung zu machen. Überdies war er selbst ja nicht einmal im Besitze des eigentlichen Geheimnisses, ruhte doch das Dokument unter den Steinfliesen des alten Hindutempels, zu dem er als Europäer niemals Zutritt erlangen konnte.
Jetzt, wo er einen Hindu bestochen hatte, und die Aussicht bestand, das kostbare Schriftstück in die Hände zu bekommen, da fieberte es wieder in ihm, und seine Gedanken schienen sich in Anbetracht der welterschütternden Vorgänge, die hervorzurufen er voraussichtlich nun bald imstande war, schier zu überstürzen.
Nachdem er noch die halbe Nacht über den Sanskritmanuskripten gebrütet hatte, machte er sich auf den Weg zu seiner Behausung, welche nicht weit von dem großen Palast des Radschas von Nepal lag.
Dort angekommen, weckte er seinen braunen Diener, einen arabischen Mohammedaner.
Der Bursche erhob sich verschlafen von seiner Lagerstatt und blickte seinen Herrn wegen der nächtlichen Ruhestörung, die er gar nicht gewohnt war, sehr verwundert an.
»Gib mir deine Kleider,« befahl der Herr seinem Diener.
Hassan, der über das Verlangen maßlos verblüfft war, starrte erst eine Weile seinen Herrn an, ehe er der Aufforderung Folge leistete.
»Mr. Robinson...«
»Mach schnell. In fünf Minuten bringst du mir die Sachen.«
»Alles — — auch den Burnus?«
»Alles... Beinkleid, Burnus und Schuhe.«
Hassan ging schlürfenden Schrittes in seine Kammer. Er wußte offenbar nicht, was seinem Herrn mitten in der Nacht eingefallen war.
Unterdessen entkleidete sich Robinson.
Als nach einer kleinen Weile der Diener mit dem Verlangten noch immer nicht erschienen war, rief er dem Saumseligen etwas energischer zu, er solle sich beeilen.
»Allah il Allah!« hörte man den Sohn des Islams sagen, als er kurz darauf über die Schwelle trat und seine Kleider Robinson übergab.
»Ich werde einige Stunden in dieser Nacht nicht zu Hause sein,« sagte Mr. Robinson, indem er sich die Gewänder seines Dieners hastig umwarf.
»Herr! Soll ich die Tür verschließen?« frug Hassan, dessen Mienen noch immer Verwunderung und Erstaunen ausdrückten.
»Selbstverständlich!« lautete die Antwort. »Soll uns vielleicht irgend ein diebischer Kuli bestehlen?«
»So werde ich alles verschließen,« versetzte Hassan.
»So lange ich fortbleibe, unterstehst du dich nicht zu schlafen.«
»Allah il Allah und Mohammed ist sein Prophet! Ich werde wachen und aufpassen,« beteuerte Hassan.
»Geh in deine Kammer!« sagte Robinson.
Der Diener trottete fort, nicht aber ohne sich noch einmal nach seinem Herrn umzuschauen. Mit einem Kopfschütteln verschwand er dann hinter der Tür.
Als Robinson seine Verkleidung beendet hatte, warf er noch einen Blick in den Spiegel, nickte befriedigt mit dem Kopfe und entfernte sich dann aus seinem Hause.
Der Weg, den er jetzt verfolgte, führte wieder zu dem Hinduviertel. Den schlürfenden Schritt seines Dieners etwas nachahmend, gelangte er nach einer reichlichen Viertelstunde ans Ziel. Er stand vor einem vierstöckigen, mit Balkonen, Geländern und pyramidalischen Domen versehenen Gebäude, dessen Fassade mit allerlei Menschen- und Göttergestalten sowie Blumen bunt bemalt war.
Der Mond warf sein helles Licht auf das Haus, und eine gespenstische Stille herrschte in der Umgebung.
Mr. Robinson klopfte dreimal stark an die Pforte und harrte dann einige Augenblicke auf die Öffnung derselben. Als sich nach einer Weile nichts im Hause regte, wiederholte er sein Klopfen. Abermals harrte er einige Minuten.
Endlich knarrte die Tür in ihren Angeln, und ein Kopf lugte durch die Öffnung.
»Seid Ihr's, Bhamaha?« flüsterte Robinson.
Als Antwort folgte ein Kopfnicken, und die Pforte öffnete sich um Mannesbreite.
»Kommt...« tönte es von drinnen heraus.
Der Engländer betrat gerade das Haus, als in der Nachbarschaft ein langgezogenes Hundegeheul die Stille der Nacht unterbrach.
»Mr. Robinson, Ihr findet mich bereit,« sagte die braune Gestalt, welche vor Robinson stand, und in der wir den Hindu wiedererkennen, mit dem der Gelehrte am Nachmittage jene heimliche Unterredung gehabt hatte.
»Ist's weit zum Minaret?« frug Robinson.
»Gegen tausend Guz Wegs,« versetzte der Hindu, indem er seinen Dolch von der Wand nahm und in den Gürtel steckte.
»Eine Laterne habe ich mitgenommen,« sagte Mr. Robinson.
»Wir werden sie brauchen können,« gab der andere zur Antwort und rüstete sich zum Fortgehen, indem er seine Babuschen, an der Spitze gekrümmte Fußbekleidungen, anlegte und eine Art Burnus um den Kopf rollte.
»Werden uns nicht etwa Aufpasser in den Weg laufen?« frug der Gelehrte.
Der Hindu zuckte die Achseln.
»Wir dürfen auf keinen Fall irgend welchen Verdacht erwecken,« meinte Robinson.
»Gesindel läuft immer herum, aber ich denke wir können unbemerkt zum Minaret gelangen,« antwortete Bhamaha.
»Gehen wir...« sagte Mr. Robinson.
Der Hindu nickte und öffnete die Pforte, trat hinaus und sah sich nach allen Seiten um. Robinson folgte ihm auf dem Fuße.
Die beiden Männer schlenderten, als wenn sie nichts Besonderes vor hätten, durch die Straßen des schmutzigen Hinduviertels, von Zeit zu Zeit entgegenkommenden Gestalten unauffällig ausweichend.
Der Weg führte durch ein halbes Dutzend winkeliger, enger Gassen, wobei man auch gezwungen war, das Quartier der Parias zu berühren. An dem Basar vorbei, ging's direkt auf die Moschee von Aurangseb zu, ein Gebäude, welches unweit des Ganges auf der Stelle eines niedergerissenen Hindutempels erbaut ist.
Die Kuppeln und Minarets dieser Moschee glänzten im hellen Mondenscheine und boten angesichts des herrlichen, sternbesäten Nachthimmels für das Auge jedes Fremden ein entzückendes Bild. In einiger Entfernung davon strebten noch andere schlanke Minarets und Tempelkuppeln empor und warfen den silbernen Schein des Mondes unseren beiden Wanderern zu.
Trotzdem Robinsons Geist sich so sehr mit den wichtigen Dingen beschäftigte, die seit einigen Tagen sein ganzes Sinnen und Denken ausmachten, war er von dem Zauber der indischen Nacht entzückt. Die ganze Poesie heiliger Stille und wundersamer Umgebung wirkten auf sein Gemüt ein. Wohingegen der Hindu gleichmütig dahinschritt, völlig unberührt von den Schönheiten der Nacht und dem überwältigenden Anblicke der grotesken, lichtbestrahlten Bauwerke, wie denn überhaupt zwischen Orientalen und Okzidentalen in bezug auf ästhetisches Gefühl eine weite Kluft besteht.
»Noch wenige Schritte, und wir sind beim Minaret,« sagte halblaut Bhamaha.
»Es wird uns doch niemand folgen?«
Der Hindu blickte sich um und verneinte.
»Wie weit schätzt Ihr die Entfernung des Minarets vom Tempel?«
»Auf etwa 70 Guz,« lautete die Antwort des Hindu.
»Hm...« murmelte Mr. Robinson. »Das wären also ungefähr 65 Yards. — — — Eine lange Strecke — —«
»Die Kulis schaffen's bald. Sie wühlen wie die Ratten.«
Während solcher Gespräche kamen die beiden Männer ans Ziel. Zwischen all dem von Unkraut bewucherten Gemäuer erhob sich ein halbverfallenes Minaret, einer jener schlanken Türme, welche die Moscheen zu zieren pflegen und die im oberen Teile eine Galerie besitzen, von welcher herab der Muezzin fünfmal täglich das Asân, die Aufforderung zum Gebet, absingt.
Soeben vernahmen die beiden Männer von einer benachbarten Moschee her den eintönigen Singsang eines solchen Moscheebeamten.
»Glaubt Ihr, daß sich einige Eurer Stammesgenossen, welche vielleicht der Aufforderung zur Andachtsübung Folge leisten, bis hierher verlaufen können?« frug ängstlich der Gelehrte und ließ seinen Blick in der Umgebung umherschweifen.
»Der Zugang zur Moschee liegt nach Norden, darum wird keiner unseren Weg hier kreuzen,« lautete die Antwort.
Der Hindu trat jetzt hinter eine zerbröckelte Mauer und winkte seinem Begleiter ihm zu folgen.
»Gebt acht, daß Ihr nicht stolpert... hier ist eine kleine Treppe, welche in ein Gemach führt, dessen Decke sich eben unter unseren Füßen befand.«
Robinson schritt vorsichtig dem Hindu nach.
»Soll ich die Laterne anzünden?« frug er mit gedämpfter Stimme.
»Bei Leibe! noch nicht!«
Etwa zehn Stufen tief hinab führte die Treppe. Unten angekommen, blieb der Hindu stehen und bedeutete dann seinem Begleiter, daß man am Ziele sei.
»Jetzt können wir die Laterne anbrennen,« sagte der Hindu und tastete sich mit den Händen vorwärts.
Robinson drückte auf den Knopf seiner Lampe und diese erstrahlte gleich darauf im hellen Lichte.
»Seht Ihr diese Nische hier?«
Robinson bejahte.
»Sie liegt in der Richtung zum Tempel. Von hier aus können wir mit dem Gange beginnen,« meinte der Hindu und prüfte das Gemäuer auf seine Festigkeit.
»Wie schaffen wir aber das Arbeitsmaterial hierher, ohne daß jemand etwas merkt... wir brauchen doch auch Holzpfähle zum Stützen der Wände und Decke.«
»Laßt dies meine Sorge sein,« versetzte der Hindu.
»Und Ihr glaubt, daß unser Unternehmen gelingen wird?« frug Mr. Robinson.
Der Gefragte nickte und bedeutete dem Gelehrten nochmals, daß er schon schwierigere Aufgaben gelöst hätte.
Nach einer viertelstündigen weiteren Untersuchung der Mauerreste des Minarets begaben sich beide Männer, nachdem sie eine Weile gelauscht hatten, wieder nach oben und sondierten die Umgebung, in der Richtung auf den Tempel zuschreitend.
Die Stille der Nacht wurde nur hin und wieder durch Geräusch aus der Ferne unterbrochen. Belauscht zu werden, war keine Gefahr vorhanden. Deshalb betrachteten der Hindu und sein Begleiter das gewaltige Tempelquadrat von allen Seiten.
Plötzlich ließ der Hindu einen leisen Ausruf der Überraschung ertönen.
»Was habt Ihr?« frug Mr. Robinson ängstlich.
»Ich habe eine Pforte entdeckt, von deren Vorhandensein ich bisher keine Ahnung hatte... Nun können wir uns das Graben des Ganges ersparen.«
Mr. Robinson sah in der von dem Hindu angedeuteten Richtung tatsächlich eine niedrige Tür im Mauerwerk des Tempels. Schwere verrostete Eisenspanten überquerten die Pforte und gewährten den Eindruck, daß gegen diese Tür mit Gewalt nicht viel auszurichten sei.
»Ein Schloß ist nirgends sichtbar,« meinte der Hindu, indem er die Pforte prüfend betastete.
»Die Eisenbeschalung zu beseitigen, wird nicht schwer fallen,« sagte Mr. Robinson, »ein wenig Thermitpulver und das bißchen Metall ist durchgeschmolzen.«
»Der Hindu schaute den Gelehrten verwundert an.
»Was meint Ihr?«
»Ah so... Ihr versteht das nicht,« erwiderte Mr. Robinson, »ich meine, es wird mir nicht schwer fallen, die eisenbeschlagene Tür mit Leichtigkeit zu öffnen.«
Da der Hindu sich die Sache noch immer nicht zu erklären vermochte, so wurde er nun mit wenigen Worten belehrt, daß man mit einer gewissen Aluminiumpulvermischung im Augenblick das härteste Metall zu schmelzen vermöge.
»Da bleibt uns ja viel Arbeit erspart,« versetzte erfreut der Hindu.
Nachdem man die Pforte noch einmal gründlich auf ihre Stärke hin untersucht hatte, wurde zwischen beiden Männern beschlossen, daß sie noch die selbe Nacht ans Werk gehen wollten. Mr. Robinson war in betreff der Erlangung des unschätzbaren Dokumentes so ungeduldig, daß er jede Stunde für ungeheuer wichtig hielt.
In diesem Augenblick durchschrillte die tiefe Stille ein langgezogener Pfiff. Die beiden Männer blickten etwas erschrocken um sich, vermochten aber niemand zu gewahren. Um kein Aufsehen zu erregen, brachen Mr. Robinson und sein Begleiter sofort auf, um anscheinend gleichmütig der Richtung zuzuschlendern, von woher der Pfiff gekommen war.
Der Hindu ließ seine Augen bald hierhin, bald dorthin schweifen. Auch Mr. Robinson strengte sich vergeblich an, irgend etwas Verdächtiges zu sichtigen.
Unter im Flüsterton gehaltenem Gespräch gelangten die beiden Männer wieder zu dem verfallenen Minaret und sahen hier zu ihrer größten Verwunderung einen zerlumpten Kuli sitzen, der durch seltsame Gebärden und Bewegungen sich recht absonderlich ausnahm.
»Hallo! Guter Freund, was macht Ihr hier?« frug Mr. Robinson den schlitzäugigen Gesellen.
Der Kuli gab keine Antwort und wies dafür mehrere Male mit den Fingern auf seinen Mund, hierbei wiederum die seltsamsten Gestikulationen machend.
»Ist der Kerl verrückt?« frug Robinson seinen Begleiter.
Der Hindu trat an die zerlumpte Gestalt heran, packte sie an den Schultern und zwang sie zum Aufstehen.
»Was treibst du hier?« herrschte er den Kuli an.
Der Gefragte machte wieder wortlos Gestikulationen.
Robinson und der Hindu sahen einander verdutzt an, sie wußten nicht, wie sie über den stummen Gesellen denken sollten.
Als der Kuli sah, daß der Hindu ihn wieder beim Schopfe packen wollte, wich er geschickt aus, schnitt eine gräßliche Fratze und lief wie ein Wiesel davon.
»Kerl, wirst uns doch nicht etwa einen Strich durch die Rechnung machen,« meinte Mr. Robinson, indem er dem Flüchtling mit gemischten Gefühlen nachsah.
»Jedenfalls müssen wir auf unserer Hut sein,« antwortete der Hindu.
Nachdem der Flüchtling verschwunden war, machten sich die beiden Männer eiligst auf den Weg, um Robinsons Behausung zu erreichen.
Ohne weiteren Zwischenfall erreichten sie auch das Ziel, und der Engländer veranstaltete sogleich vor den Augen des Hindus Schmelzproben mit dem Thermit.
Bhamaha machte Augen so groß wie eine Silberrupie. Mit offenem Munde stand er da und starrte das brodelnde Gemisch an, welches Robinson auf einer Eisenplatte zur Entzündung gebracht hatte. Wenige Augenblicke später vermochte der Gelehrte seinem Besucher ein umfangreiches, durchbranntes Loch in der Eisenplatte vorzuzeigen.
Bhamaha hätte sich jetzt bekreuzigt, wäre er ein gläubiger Katholik gewesen; da er aber Brahmane war, so gab er seinem Entsetzen und seiner Verwunderung über das seltsame Experiment dadurch Ausdruck, daß er zwischen den Lippen den Namen eines Götzen murmelte, der in Indien als Beherrscher des Feuers gilt.
Nachdem sich Robinson mit den nötigen Materialien zur Zerstörung der Tempelpforte versehen hatte, machten sich beide Männer wieder auf den Weg, um noch in derselben Nacht ihre Zwecke zu erreichen.
Noch stand der Mond hoch am sternbesäten Himmel. Seine silberne Lichtflut übergoß die zahllosen Moscheekuppeln und Minarets von Benares. Hie und da schossen gespenstisch Fledermäuse aus verfallenen Gemäuern hervor, und von Zeit zu Zeit ließ sich auch wieder eintöniger Singsang eines Muezzins von ferne her vernehmen. Ein lauwarmer Wind strich über die Stadt dahin, verbliebene Reste der vorangegangenen Tageshitze verscheuchend.
Vor dem Hinterpförtchen des Hindutempels sah man eine Gestalt eifrig beschäftigt, während man einige fünfzig Schritte seitwärts eine zweite erblickte, welche sich als Aufpasser dorthin plaziert zu haben schien. Es war Robinson und sein Begleiter. Ersterer ließ nach etwa zehn Minuten unausgesetzter Tätigkeit einen halblauten Ruf ertönen, welcher Bhamaha in seine Nähe lockte.
»Es ist gelungen, die Eisenbänder sind beseitigt. Nun wollen wir einmal versuchen, die Tür herauszuheben.«
Der Hindu trat auf diese Worte des Gelehrten hastig näher, und den Bemühungen beider gelang es dann, den Eingang zu öffnen.
Bhamaha warf jetzt schnell noch einige Blicke in der Umgebung umher, und als er keinen unberufenen Lauscher zu entdecken vermochte, kroch er in gebückter Stellung durch die dunkle Pforte des Tempels hinein.
»Macht noch kein Licht,« sagte der Hindu, »der Schein könnte uns verraten.«
Robinson folgte Bhamaha auf dem Fuße nach, war aber umsichtig genug, hinter sich die ausgehobene Tür wieder in ihre alte Lage zu bringen, so daß von draußen niemand etwas von der erbrochenen Pforte bemerken konnte.
Die beiden Männer mochten sich einige Schritte vorwärts getastet haben, als Robinson seine Laterne anzündete. Beim Schein derselben gewahrte man einen langen schmalen Gang und am Ende desselben eine steinerne Treppe.
Hastig bewegten sich die Männer vorwärts und stiegen die Stufen empor.
»Wo werden wir hinkommen?« frug Robinson.
Der Hindu zuckte mit den Achseln. Er mochte in den unteren Räumen des Tempels wenig Bescheid wissen.
»Hoffentlich gelangen wir nicht wieder vor eine verschlossene Tür,« meinte der Gelehrte.
Nachdem die Männer die Treppe überschritten hatten, betraten sie ein geräumiges Gemach, welches von Bhamaha als der Raum bezeichnet wurde, in welchen sich einstmals ein Götze vor der Ungnade Wischnus geflüchtet hatte. Der Hindu erkannte dies an einigen Inschriften an den Wänden.
Jetzt wußte er Bescheid und vermochte seinen Begleiter nun in die eigentliche Tempelhalle zu führen. Durch mehrere Gänge und Pforten ging der Weg. Schließlich gelangten beide in den gewaltigen Betraum.
Zum ersten Male in seinem Leben stand Robinson in dem Allerheiligsten des Hindutempels.
»Kommt!« sagte Bhamaha und ging schlürfenden Schrittes über die ausgelegten Teppiche auf eine Stelle zu, wo sich ein steinernes Postament erhob, auf dem eine Götzenfigur stand, deren Augen im Schein der Laterne im buntesten Farbenspiel erglänzten. Die Gottheit stellte Civa dar, und seine funkelnden Augen waren Edelsteine von seltener Pracht und Größe.
»Seht Ihr diesen Stein hier?« frug Bhamaha und wies mit der Hand auf einen Quader hinter dem Postament.
Mr. Robinson nickte und sah eifrig nach der bezeichneten Stelle hin.
»Hier drunter soll jenes Dokuemnt ruhen, wonach Ihr forscht.«
»So müssen wir also die Steinplatte zu heben versuchen,« sagte der Gelehrte und verriet im Sprechen eine außerordentliche Aufgeregtheit.
Der Indier nickte, mochte aber nicht recht darüber im Klaren sein, wie man den festangefügten Quader von seinem Platze entfernen könnte.
Robinson hatte sich jedoch vorher auf Derartiges gefaßt gemacht und sich mit einem Meißel versehen. Ohne ein Wort zu erwidern, ging er darum sofort an die Arbeit und schob den Meißel in eine Ritze. Die Steinplatte rührte sich aber trotz aller Anstrengung nicht, und erst als auch der Hindu sich mit ganzer Kraft beteiligte, gelang es, den Stein etwas zu lockern.
Die fieberhafte Hast, mit welcher Mr. Robinson arbeitete, spiegelte so recht die ihn beherrschende innere Erregung wider. Schon perlten ihm die Schweißtropfen von der Stirn ob der ungewohnten, anstrengenden Tätigkeit.
»Wißt Ihr bestimmt, daß dies die rechte Stelle ist?« frug der Engländer.
»Seht Ihr in der Ecke der Platte nicht einige Nagarizeichen?« frug Bhamaha und wischte mit der Hand einen Teil der bestaubten Platte ab.
Tatsächlich konnte man jetzt auch einige eingemeißelte Schriftschnörkel des DevanagariAlphabets bemerken. Für einen Sanskritforscher wie Robinson, war es nicht schwer, die Schriftzeichen zu enträtseln, und mit größter Befriedigung erkannte er, daß dies wohl der rechte Ort sei, wo einstmals Ardschuna jene gesuchten, wichtigen Dokumente in Sicherheit gebracht hatte.
Einer erneuten Anstrengung beider Männer gab jetzt unerwartet die Steinplatte nach. Die Fugen lockerten sich, und mit nervöser Hast hob Robinson den Quader heraus, welcher aber dabei seinen Händen entglitt und dröhnend auf den Steinboden aufschlug.
Erschrocken richteten sich beide Männer in die Höhe, befürchtend, daß jemand das große Geräusch vernommen haben könne. Zwar hatte man innerhalb des Tempels niemand außer den Muezzin und seinen Gehilfen zu befürchten, aber diese genügten, ihr Vorhaben zu vereiteln, sobald sie von dem Raubzuge Kenntnis erhielten.
Vorsichtshalber schlich jetzt Bhamaha zu dem Eingang hin, welcher dem Minaret zulag, wo der Muezzin sich nachts über aufhielt. Die Tür war verschlossen und nichts regte sich hinter derselben. Das befriedigte den Hindu. Trotzdem aber bewachte er den Eingang, die Hand unausgesetzt am Griff seiner im Gürtel steckenden Waffe haltend.
Unterdessen wühlte der Gelehrte in der freigelegten Öffnung des Bodens und zog dann eine kleine Holztruhe heraus. Mit blitzenden Augen betrachtete er den reichgeschnitzten Kasten. Derselbe mußte die wichtigen Dokumente enthalten. Er bildete für den Gelehrten die Quelle eines neuen Lebens für die Menschheit. Es war der Born, aus welchem er zu schöpfen gedachte, um die Daseinsbedingungen auf dem Erdball zu verändern. Mit zitternder Hand versuchte er, die Truhe zu öffnen, doch diese widerstand seinen Bemühungen. Nirgends entdeckte er ein Schloß an dem Kasten und auch sonst verriet ihm nichts, wie dieser zu öffnen sei.
Robinson faßte jetzt schnell den Entschluß, die ganze Truhe mit sich fortzunehmen und daheim ihren Inhalt zu plündern. Noch einmal untersuchte er gründlich die freigelegte Öffnung am Boden des Tempels, ohne jedoch noch irgend etwas anderes entdecken zu können. Die Truhe war der einzige Gegenstand gewesen, den er darin aufgefunden.
Behutsam ließ er den Quaderstein wieder an seine alte Stelle ein, sich hierbei im Schweiße seines Angesichts bemühend, kein Geräusch zu machen. Es war jedoch nicht zu vermeiden, daß er den Stein, um ihn wieder in die alte Lage zu bringen, loslassen mußte, was wiederum ein im Tempelraum stark widerhallendes Aufschlagen hervorrief.
Erschrocken blickte Robinson auf, und gleichfalls erschrocken sprang der Hindu einige Schritte beiseite, glaubte er doch, außerhalb des Tempelraumes in diesem Augenblicke jemand sprechen zu hören.
Er lauschte mit angehaltenem Atem.... Dann stürzte er mit Hast auf den Gelehrten zu und bedeutete ihm im Flüsterton, sich zu beeilen, da er Gefahr wittere.
Robinson ließ sich das nicht zweimal sagen, und, mit der Truhe unter dem Arm, folgte er hastig dem vorausschreitenden Bhamaha.
Die Laterne warf ihre Strahlen an die nackten Wände des Raumes und gerade auch dorthin, wo sich eine Nische befand, welche eine Verbindung mit dem anstoßenden Minaret darstellte.
Der Hindu bemerkte diese und beschwor Robinson, die Lampe zu verlöschen, da er befürchtete, daß deren Lichtschein sie noch im letzten Augenblick verraten könne.
Der Rückweg wurde also nun im Dunkeln angetreten. Unter der kundigen Führung des Hindu gelangte Robinson schnell an die erbrochene Pforte, welche ins Freie führte. Behutsam wurde die Öffnung wieder freigelegt und Bhamaha lugte zunächst vorsichtig mit dem Kopfe heraus, um zu sondieren, ob niemand in der Nähe sei.
Im selben Augenblick prallte er förmlich zurück, sah er doch draußen unweit der Pforte jenen zerlumpten Kuli wieder hocken, den er in derselben Nacht schon einmal gesehen hatte.
Jetzt schoß Bhamaha wie ein Tiger aus der Pforte heraus und auf die in gleichem Augenblick emporschnellende Gestalt zu, sie am Saum des Gewandes packend. Doch der Kuli war noch schneller gewesen. Wie der Blitz riß er sich los und eilte davon, einige Fetzen seines Gewandes in der Hand des Hindu zurücklassend. Bhamaha murmelte etwas Grimmiges zwischen den Lippen, und Robinson wäre fast in Ohnmacht gefallen.
»Jetzt heißt es schnell handeln,« sagte Bhamaha und preßte die eisenbeschlagene Tür wieder in ihren Rahmen. »Gebt mir den Kasten, ich kann ihn besser unter meinem Gewand bergen,« raunte er dem Gelehrten zu.
Dieser aber wollte die kostbare Truhe um keinen Preis wieder aus den Händen geben.
Als der Hindu sah, daß Robinson den Kasten nicht hergab, bedeutete er ihm, daß er für etwaige Folgen nicht einstände. Dann drängte er zum sofortigen Aufbruch, nicht aber ohne noch einmal nach der Richtung, wohin der Kuli verschwunden war, Ausschau zu halten.
»Habt Ihr keine Ahnung, welche Bewandtnis es mit dem Manne hat, den wir diese Nacht nun schon zweimal zu Gesicht bekommen haben?« frug Robinson, nicht ohne Angst und Furcht um seinen kostbaren Fund.
»Jedenfalls weiß jetzt ein Dritter,« erwiderte der Hindu, »daß wir in den Tempel eingebrochen sind, und das kann uns beiden das Leben kosten.«
Die beiden Männer traten den Rückweg mit überaus großer Eile an, um so schnell als möglich aus dem Bereich des Tempels zu gelangen. Zum Glück vertrat ihnen auch niemand den Weg, und sie konnten unbehelligt in jenen Stadtteil gelangen, wo sich das Hindukollegium und Robinsons Wohnung befanden.
Schon dämmerte der Morgen, und ein schwacher Lichtschein im fernen Osten gemahnte die Männer, so schnell als möglich ihr Ziel zu erreichen.
Der Weg führte an Bhamahas Haus vorbei. An der Tür blieb der Hindu stehen, und, wie versprochen, händigte Robinson ihm jetzt die vereinbarte Summe für den Raubzug in Goldrupien aus.
Ohne eine Miene zu verziehen, ließ der Hindu die Münzen in eine Tasche seines Gewandes gleiten, sah sich noch einmal nach allen Seiten um und verschwand hinter der Tür seines Hauses.
Als Robinson dann kurz darauf seine Behausung erreicht hatte, begab er sich sofort in sein Arbeitszimmer hinauf, wo er Hassan rief.
Der schlaftrunkene Diener erschien und grinste seinen Herrn ob der ungewohnten Störung nicht gerade vergnügt an.
»Mach mir Tee!« herrschte Mr. Robinson jenen an und stellte die Truhe auf den Tisch.
Hassan warf beim Herausgehen einen Blick auf den merkwürdig aussehenden Kasten, den sein Herr mitten in der Nacht mit in die Wohnung gebracht hatte.
Der Gelehrte betrachtete jetzt die Truhe von allen Seiten und versuchte eifrig die eingeschnitzte Inschrift zu entziffern. Hierbei machte er die Entdeckung, daß sein Sanskritwortschatz für die Enträtselung nicht ausreichte. Kopfschüttelnd sann er hin und her, welches der Inhalt der Inschrift wohl sein könne. Hierbei fiel sein Auge auf ein knöchernes Knöpfchen dicht unter dem Deckel. Er faßte auf dasselbe. Dieses gab einem leichten Druck nach und der Deckel der Truhe sprang unerwartet in die Höhe. Jetzt lag der Inhalt des Kastens vor den erstaunten Blicken des Gelehrten da.
Alte vergilbte Papyrusrollen, welche beim näheren Hinsehen sich als beschriebenes chinesisches Reispapier entpuppten, breiteten sich vor seinen Blicken aus; etwa sechs Röllchen bildeten den Inhalt des Kastens. Als Robinson nach einem derselben griff, machte er zu seinem Erschrecken die Wahrnehmung, daß er in der Berührung der Dokumente etwas vorsichtiger sein müsse, da das hohe Alter diese fast zum Modern gebracht hatte.
Mit größter Behutsamkeit versuchte er mit zitternder Hand eine der so wichtige Geheimnisse enthaltenden Rollen auszubreiten.
Buntfarbige, zum Teil schwer noch erkennbare Schriftzeichen bedeckten die vergilbten Blätter. Beim näheren Hinschauen erkannte Robinson, daß er imstande war, den Inhalt des vor ihm liegenden Dokuments zu ergründen.
Fieberhaft durchflog er den Inhalt des Papieres und je weiter er las, desto seltsamer fingen seine Augen an zu glänzen, und er wurde förmlich von einem Freudentaumel ergriffen.
Inzwischen brachte Hassan den Tee.
Robinson war so in die Dokumente vertieft, daß er gar nicht den Eintritt seines Dieners gewahrte.
»Den Tee... Herr!«
Der Gelehrte gab keine Antwort.
Hassan wiederholte seine Worte.
Erst jetzt beim zweiten Male blickte Robinson auf.
»Es ist gut!... geh wieder schlafen,« gab er dem Diener zur Antwort.
Hassan mochte wohl etwas verwundert über das Benehmen seines Herrn sein. Mit einem komischen Blick begab er sich wieder hinaus, Robinson allein lassend.
Mehr und mehr stieg die Erregung des Mannes, je weiter er sich in die vor ihm liegenden Dokumente vertiefte. Seine Augen glänzten und seine Hände zitterten, als er alle Papierrollen flüchtig durchstudiert hatte. Den Tee hatte er völlig über dieser hochwichtigen Lektüre vergessen, und erst als er mit dem Lesen am Schlusse des letzten Dokumentes angekommen war, schenkte er wieder der Außenwelt ein wenig Beachtung, indem er sich seines inzwischen kalt gewordenen Tees erinnerte.
Er fing an das goldfarbige Getränk zu schlürfen, setzte aber sogleich die Tasse wieder nieder, als er gewahr wurde, daß der Tee völlig kalt war.
»Hassan!« rief Mr. Robinson mit Stentorstimme.
Der Gerufene kam nicht sogleich, weshalb der Gelehrte nochmals nach ihm rief.
Endlich tauchte der schlaftrunkene Bursche auf und grinste seinen Herrn über die neue Störung komischen Blickes an.
»Hassan! der Tee ist ja eiskalt,« herrschte er den Araber an.
Hassan schüttelte verwundert den Kopf und sagte: »Herr, ich habe den Tee vor einer Stunde schon gebracht...«
Mr. Robinson blickte jetzt vom Lesen auf und erwiderte: »So —. Dann freilich ist er kalt — Du kannst wieder gehen! Bring mir aus dem Nebenzimmer das dicke Lexikon mit dem Schweinsledereinband — hast du mich verstanden?«
Der Diener nickte und verschwand eiligst, um gleich darauf mit dem gewünschten Buch, einem stattlichen Folianten, zurückzukehren.
»Nun mache unter dem kleinen Ofen drüben Feuer,« befahl Mr. Robinson weiter.
Hassan wischte sich die letzte Schläfrigkeit aus den Augen und kam dem Befehl seines Herrn nach.
Als Robinson wieder allein war, fing er an, Aufzeichnungen aus den Dokumenten in ein Buch zu übertragen. Dem Gelehrten fiel es nahezu schwer, die maßlose Freude und Erregung, welche er empfand, zu unterdrücken. Der Gedanke, daß die Dokumente, welche in seine Hände gelangt waren, eine Quelle neuen Lebens für die Menschheit bedeuteten, sprengte ihm fast den Kopf.
Unruhig rutschte er auf seinem Sitze hin und her, die grandiose Entdeckung hatte den sonst so phlegmatischen Gelehrten völlig umgewandelt.
Sehen wir jetzt einmal zu, welcher Art und Natur die seltsamen Offenbarungen waren, die Mr. Robinson durch die Dokumente erhalten hatte.
Die größte der Papierrollen, mit roten Nagarischriftzeichen bedeckt, war das erste Dokument, dessen Inhalt Robinson bis jetzt entziffert hatte. Im Sanskrit, der heiligen Schriftsprache der alten Inder, waren folgende Aufzeichnungen gemacht worden:
»Der große Civaist Cankaracarja, der geistvolle Erklärer des Brahmasutra des Badarajana, hat von einem altindischen Gelehrten folgende Naturweisheiten zur Niederschrift gebracht:
Anleitung, so man anfertigt das heilige Feuer des Brahma, Wischnu und Civa. — Auf der Bergebene in Tschutia-Nagpur findet man in einigen Guz Tiefe ein braunschwarzes Mineral, von den Sikhsleuten Vakoktilo genannt. Wer dieses Erzgestein zerpulvert und mit dem gleichen Gewicht Saft von dem Baum Sattasari vermischt, selbiges Gemenge dann dem Sonnenlicht aussetzt, wird erzeugen ein eigentümliches Feuer, dessen sich die brahmanischen Götter der Menschheit gegenüber bedienen, um diese allezeit an das ewige Nirvana zu erinnern. Wer das Feuer berührt, wird sich daran nicht verbrennen, wer Wasser in dasselbe schüttet, wird es noch mehr anfachen, wer es verlöschen will, dem wird es nur gelingen, so er benutzt die neue Flüssigkeit, welche genannt wird Mudrakshi. Dieses heilige Feuer vermag den Menschen, der es beherrscht, zu Macht und Größe sondersgleichen verhelfen.«
Als Mr. Robinson die Übersetzung aus der Sanskritsprache ins Englische vollendet hatte, machte er sich unverzüglich daran, auch das nächste Dokument seinem Wortlaut nach zu entziffern. Die Feder in seiner Hand glitt ob der ungewohnten Erregung, welche den Mann infolge der aufgedeckten Geheimnisse beherrschte, mit nervöser Hast über das Papier. Das Gehirn Robinsons arbeitete unausgesetzt, und während der Niederschrift jagten sich die Gedanken hintereinander, den Geist des Schreibenden fast verwirrend.
Mehr als einmal strich sich der Gelehrte mit der Hand über die brennende Stirn, als suche er die sich in tausend Richtungen zerstreuenden Gedanken wieder zu sammeln.
Draußen rumorte Hassan, daß man es deutlich bis in das Gemach herein zu hören vermochte. Der braune Bursche schien über die allzufrühe Morgenarbeit wohl nicht sehr erbaut zu sein.
Robinson hörte aber von alledem nichts, so vertieft war er in seine Sache. Nach einer geraumen Weile brachte er auch die Übersetzung des zweiten Dokumentes zuwege. Seine Erregung hatte sich noch um einige Potenzen gesteigert.
Kein Wunder auch, war ihm doch eine neue grandiose Entdeckung offenbart worden. Eine Entdeckung, die wohl weit größer und bedeutungsvoller für die Menschheit sein mußte als die vorangegangene, welche das brahmanische Feuer betraf.
Sehen wir zu, was Mr. Robinson des weiteren zu Papier gebracht hatte:
»Das wundersamste, dem menschlichen Geiste zu ergründen vorbehalten gewesene Geheimnis hat Subandhu, ein Fürst unter den Denkern und Forschern, ersonnen. Er vermag Wasser fest zu machen wie Stein
und Wasser zu erzeugen, das da hat der seltsamsten Eigenschaften viele. Wer es genießt, wird seine Lebenszeit auf das Doppelte erhöhen, wer darin badet, wird nie ertrinken können, wer krank ist, wird durch dasselbe geheilt werden. Das kostbare Wasser schäumt wie flüssiges Silber und strahlt das Licht der Sonne in siebenfarbiger Pracht zurück. Somit kann der Mensch auch in diesem Wasser leben gleichwie ein Fisch oder wie er lebt auf dem Lande. Ewig würde sich über der Erde ein blauer Himmelwölben, kein Regentropfen würde jemals wieder fallen, wer es unternähme, die Ozeane nach diesem Rezept auszutrocknen und ihre Betten mit dem seltsamen Fluidum zu füllen. Subandhu gibt dazu folgende Anleitung. Das Anarg und das Ragna, die zwei Stoffe des Wassers, kann man trennen und fest an die Gesteine der Erde binden, so man...«
Von dieser Stelle an blieb das Manuskript für den Gelehrten dem Sinne nach unleserlich. Alle nachfolgenden Zeilen, welche gerade die Quintessenz der hochwichtigen Entdeckung enthielten, bildeten ein Konglomerat von bekannten und unbekannten Wörtern und Silben in der Sanskritsprache. Es wurde Robinson bald klar, daß dieser Teil des Dokumentes absichtlich in einer Art Chiffreschrift niedergeschrieben war, um eben dieses Wichtigste möglichst geheim zu halten, sofern das Dokument einmal in unrechte Hände geriete. Diese Absicht des Verfassers war für den Gelehrten geradezu ein Strich durch die Rechnung. Wo sollte er den Schlüssel zu der Chiffreschrift herbekommen, wenn er denselben nicht in der Truhe fand?
Die rätselhaften sanskritischen Schriftgebilde waren völlig unentzifferbar, wenn er nach bekannten Mustern in das Gewirr der Chiffrewörter Sinn bringen wollte.
Während er noch hin und hergrübelte und sich schier den Kopf zerbrach, kehrte Hassan in das Gemach zurück und teilte seinem Herrn mit, daß unten vor der Tür ein zerlumpter Kuli säße, welcher nicht von der Schwelle zu bringen sei.
»Was! der Kerl ist auch hier?« entfuhr es heftig den Lippen Robinsons. Er wußte nicht, was er von der sonderbaren Gestalt, die nun zum drittenmal in dieser Nacht in seine Nähe gekommen, denken sollte; denn daß jener Kuli derselbe war, welcher ihn und Bhamaha im Tempel belauscht hatte, das schien für ihn im voraus festzustehen.
Hastig eilte er zum Fenster und warf einen Blick auf die Gasse hinab.
Richtig! da stand jener Kuli, der schon zweimal wie ein Schemen in seiner Nähe aufgetaucht war. Den Gelehrten überkam eine stille Angst. Er wähnte die Gestalt mit dem Dokument in irgend einer Beziehung stehend.
»Hassan! schaff mir den Kerl herauf! — sofort! Läßt du ihn entwischen, so gnade dir Gott.«
Hassan stand verdutzt da.
»Zum Teufel! so spute dich doch!«
»Den Kuli...« sagte Hassan und wies mit dem Finger nach unten.
»Ich werde dir Beine machen! Hole ihn!«
Hassan verschwand im nächsten Augenblick durch die Tür, um sich vor einem Fußtritt seines Herrn zu sichern.
Robinson ergriff jetzt die wertvollen Dokumente, tat sie wieder in die Truhe und verbarg diese ängstlich in einem Schrankfache. Dann eilte er nach unten, um den sonderbaren Gesellen, der ihm nächtlicherweise auf Schritt und Tritt gefolgt war, im Flur in Empfang zu nehmen.
Hassan zog die Gestalt eben ins Haus herein, als Mr. Robinson die Treppe hinabgestiegen war.
Kein Zweifel. Der vor ihm Stehende war der Kuli, welcher in der Nacht zweimal sein und Bhamahas Tun belauscht hatte.
»Was hast du hier wieder zu schaffen?« herrschte er jenen in hindostanischer Sprache an.
Wieder erfolgte wie in vergangenen Stunden eine stumme Gebärde des Kuli und seine Hand zeigte auf den Mund.
Der Gelehrte konnte sich das Schweigen des Menschen nicht erklären und nahm an, daß dieser vielleicht das Hindostanische nicht verstand.
»So antwortest du mir vielleicht auf chinesisch —« frug Robinson und faßte den seltsamen Kuli am Arm, während er Hassan bedeutete, die Tür zu schließen.
Die zerlumpte Gestalt wies wieder mit der Hand nach ihrem Mund.
Mr. Robinson kam die Sache äußerst merkwürdig vor.
Plötzlich tauchte der Gedanke in ihm auf, daß der Mann möglicherweise stumm sein könne. Und ein zufälliger Blick in dessen geöffneten Mund machte ihn erschrecken und bestätigte seine Annahme. Er sah etwas Grauenhaftes. Dem Menschen war die Zunge bis über die Hälfte abgeschnitten. Diese Wahrnehmung bestärkte in dem Gelehrten die Vermutung, daß der Kuli in irgend einem Zusammenhange mit den Dingen stehen könne, um derentwillen er jenen nächtlichen Raubzug im Tempel unternommen hatte.
Hassan stand wohl ebenso verwundert wie sein Herr da und glotzte bald diesen, bald den Kuli an.
Auf weiteres Befragen hin erkannte Robinson, daß der Fremde wohl alles hören konnte, aber nichts darauf zu antworten vermochte.
Des Rätsels Lösung mußte gefunden werden. Umsonst war der Schlitzäugige ihm nicht heimlich gefolgt. Er mußte irgend etwas vorhaben, was ihn, den Gelehrten, anging.
Da Robinson nicht gleich wußte, wie er sich dem Kuli verständlich machen sollte und andererseits sehr darauf brannte, die Dokumente weiter zu studieren, so befahl er Hassan, den Kuli in einen besonderen Raum zu führen und denselben dort mit Nahrung zu versehen.
»Du läßt ihn nicht wieder aus dem Haus heraus, bevor ich es dir sage,« raunte Mr. Robinson seinem Diener englisch zu.
»Ich werde aufpassen,« versetzte Hassan.
»Wenn die Sonne aufgegangen ist, werde ich wieder herunterkommen und dann zusehen, was aus dem Mann herauszubringen ist,« sagte Robinson und ließ seinen Blick noch einmal über die zerlumpte Gestalt gleiten. Darauf begab er sich kopfschüttelnd nach oben.
Er holte jetzt wieder die Truhe hervor und begann abermals sich in die Dokumente zu vertiefen. Die eine nicht entzifferte Papierrolle mußte er vorläufig beiseite legen. Dafür ging er desto eifriger an die Durchstudierung des dritten Dokumentes, welches er sehr vorsichtig handhaben mußte, weil dessen arg vergilbter Papierstoff nahezu unter seinen Händen zu zerbröckeln anfing. Waren doch die Papiere weit über tausend Jahre alt und vertrugen nur noch die allersubtilste Behandlung.
Die Übersetzung des dritten Dokumentes ergab für Robinson etwa folgendes:
»Geschöpfe, die ihre Lungensäcke füllen mit Luft, sind allzeit Gefährnissen in bezug auf ihre Lebensfähigkeit ausgesetzt. Cankaracarja zeichnete auf das Schöpferwerk eines Menschen, der es vermochte, Luft, die wir atmen, in flüssige Form zu bringen, daß man sie ausschütten kann wie Wasser aus einem Gefäße in das andere. Diese flüssige Luft vermag die wundertätigsten Erscheinungen zutage treten zu lassen. In ihr erstarrt jedweder Krankheitsstoff und nichts widersteht ihrer schreckhaften Kälte. In wessen Hand die verflüssigte Luft ein Werkzeug bildet, der wird zerstören und wieder aufbauen können, entgegen der Tätigkeit der allmächtigen Natur...«
Hier wurde ein Teil der Sanskritschrift unleserlich, das Alter hatte in das Manuskript Löcher gefressen. Die weitere Entzifferung der folgenden intakt gebliebenen Zeilen offenbarte dem unermüdlichen Gelehrten noch vieles unendlich Wichtige und erschloß dem innerlich jubelnden Manne die feste Gewißheit, daß er die Quelle neuer Lebensbedingungen für die Menschheit gefunden habe.
Längst war die Sonne über den Horizont gestiegen, als Robinson vor Übermüdung über der Arbeit einschlummerte. — Im Traum zauberte seine Phantasie ihm Bilder vor Augen, in denen er sich als irdischer Schöpfer hoch über alle Lebewesen gestellt sah. Zu seinen Füßen lag die bezwungene Natur in persona.
Herr — — Herr — — —« hörte man um die Mittagsstunde Hassan dem über den alten Dokumenten schlafenden Robinson halblaut zurufen.
Erschrocken und verwirrt richtete sich jetzt der Gelehrte auf, noch von den wüsten Träumen, die sein Hirn umgaukelt hatten, befangen.
»Was — — was ist?« kam es über die Lippen Robinsons, welcher sich die Augen rieb.
»Herr, es ist Mittagsstunde und ich wagte Euch zu wecken,« versetzte Hassan, einige Schritte zurücktretend.
»Ja — und — — —« kam es weiter über die Lippen Robinsons.
»Was soll ich mit dem Kuli anfangen, er läuft unten im Raum herum und will heraus,« frug Hassan.
»Der Kuli — — — —«
Jetzt mit einem Male erinnerte sich Robinson alles Vorangegangenen, und wie der Blitz schoß er in die Höhe, einen Blick auf den Tisch werfend.
»Gott sei Dank! Die Dokumente sind noch da!« Mit diesen Worten ergriff er hastig die Papierrollen und verschloß sie in der Truhe.
Hassan fand das Benehmen seines Herrn immer noch so rätselhaft wie in der Nacht zuvor und schüttelte wiederum den Kopf. Mit dem Holzkasten und den Papieren mußte es eine große Bewandtnis haben, das war dem braunen Burschen längst klar geworden. Und als Mr. Robinson jetzt die Truhe mit großer Hast in einem Schrank verschloß, da sagte sich Hassan, daß sein Herr über Nacht ein Geheimniskrämer geworden sei, der sicher viel zu verbergen habe.
»Der Kuli ist also noch unten?« bemerkte Mr. Robinson.
»Jawohl, Herr, aber er rumort mächtig und will fort.«
»Bring' ihn herauf!«
»Hierher?«
»Hierher!« lautete die in energischem Ton gegebene Antwort Robinsons.
Sobald sein Herr einen bestimmten energischen Ton anschlug, hielt es Hassan in der Regel für geraten, sich aus dem Staube zu machen, weshalb er blitzschnell hinter der Tür verschwand, um dem ihm gewordenen Auftrag gerecht zu werden.
Wenige Minuten später schlich mit katzenartiger Bewegung der Kuli durch die Tür, postierte sich mit einer eigentümlichen Gebärde in die Nähe des Gelehrten und harrte nun dessen, was man von ihm begehrte.
Mr. Robinson begab sich an seinen Schreibtisch und brachte einige Worte in chinesischer Sprache zu Papier. Diese gab er dann dem Kuli zu lesen, in der Annahme, daß er sich so eher mit diesem Menschen verständigen konnte.
Und so gelang es auch. Konnte der Chinese nicht sprechen, so verstand er doch das Schreiben.
»Was treibt Ihr hier und wer seid Ihr?« hatte Robinson als erste Frage niedergeschrieben.
»Ich möchte Euch warnen vor einem gewissen Bana,« lautete die seitens des Schlitzäugigen niedergeschriebene Antwort.
Bana — — — diesen Namen hatte er schon einmal in seiner Umgebung nennen hören. Der Gelehrte strengte sein Hirn an, wo und zu welcher Zeit das wohl gewesen sein mochte.
»Was hat es mit Bana zu schaffen?« frug Robinson in seinem schriftlichen Verkehr weiter.
»Er trachtet nach Eurem Leben, weil Ihr einen seiner Hausgötzen im Besitze habt.«
Verwundert schüttelte der Gelehrte den Kopf und konnte sich mit dem besten Willen nicht erinnern, von jenem Bana einen Hausgötzen zu besitzen.
Trotz einer dahin an den Kuli gegebenen Erklärung, blieb dieser dabei, daß Mr. Robinson vor jenem Bana auf der Hut sein müsse.
Nachdem Robinson den Chinesen weiterhin befragt hatte, wer jener Bana sei und wo er hause, gab er Hassan den Auftrag, den Kuli wieder zur Straße hinab zu bringen. Zuvor jedoch drückte er ihm eine Silberrupie für seine Mitteilungen in die Hand, welchen Bakhschisch der Gelbe mit einem Grinsen quittierte.
Nachdem Robinson seinen unliebsamen Besucher los war, beschäftigte er sich eiligst wieder mit der Truhe und ihrem kostbaren Inhalt.
Abermals nahm er das Dokument zur Hand, welches über die Herstellung des kalten Feuers Auskunft gab.
Schon brannte er vor Verlangen, experimentelle Versuche nach dieser Richtung hin anzustellen, zu welchem Zwecke er sich zunächst jenes braunschwarze Mineral Vakoktilo und eine Quantität des Saftes des Sattasaribaumes beschaffen mußte.
»Hassan!« rief der Gelehrte.
Der gerufene Diener erschien auf der Stelle.
»Packe meine Handtasche und mache dich ebenfalls zur Reise fertig.«
Der Araber schaute verwundert drein.
»Pack dich! In zehn Minuten bist du wieder zur Stelle.« Der energische Ton, mit dem dies gesprochen war, belehrte Hassan, daß er sich aus dem Staube zu machen habe.
Eine Viertelstunde später trabten Herr und Diener in der Frühsonne durch die Straßen von Benares, um sich bei einem ihnen bekannten Chinesen mit Pferden zu versehen. Unterwegs machte man hinreichend Einkäufe, um für einige Tage mit Lebensmitteln versehen zu sein.
Hassan war vollbepackt, als man zu Pferde stieg, um die Reise ins südliche Gebiet von Bengalen anzutreten.
Zum Glück war die zu durchreitende Gegend wenig gebirgig, darüber hatte sich Robinson ausreichend orientiert.
Im letzten Augenblick entschloß sich der Gelehrte, einige Hindus und Kulis zu engagieren, welche ihm auf der Reise nicht nur zum Schutz, sondern auch als kundige Führer dienen sollten. Da er mit Goldrupien nicht sparte, so fand er bald einige Leute bereit, die ihn nach TschutiaNagpur begleiten wollten. Hassan war über diese Gefolgschaft am meisten erfreut, brauchte er sich doch nun nicht mehr mit dem Gepäck zu schleppen, denn er konnte es den Kulis aufhalsen, gegen die er sich auch weit mehr als sein Herr als Gebieter aufspielte.
So reisefertig, trabte die kleine Gesellschaft auf der langen hölzernen Brücke über den Ganges, und bald lag ihnen die heilige Stadt, das Rom der Hindu, im Rücken. Die Kuppeln und Minarets der zahllosen Moscheen waren die letzten Wahrzeichen von Benares, die für den kleinen Trupp in der Ferne noch sichtbar geblieben. Doch dann verschwanden auch sie, und bald an Dschungeln vorbei, aus denen von Zeit zu Zeit das Gebrüll eines Tigers vernehmbar war, bald durch dichten Urwald oder durch baumlose Flußniederungen führte der Weg nach dem südlichen Bengalen hinüber.
Als sich die schwarzen Schatten der Nacht herabsenkten, ruhte der kleine Trupp inmitten einer Ebene, in der Nähe eines von den Kulis angebrannten Holzfeuers und gab sich der ersten Nachruhe hin.
Zehn Tage später finden wir Mr. Robinson und Hassan wieder daheim in Benares.
Der Gelehrte war überglücklich, denn seine Expedition nach Bengalen war von dem gewünschten Erfolg begleitet gewesen. In seinem Besitz befand sich eine beträchtliche Menge jenes unschätzbaren Minerals Vakoktilo und ein Gefäß voll Sattasarisaftes.
Auf dem ganzen Rückwege bis Benares hatte sich Robinson unausgesetzt mit dem Gedanken beschäftigt, welche chemische Zusammensetzung wohl der Sattasarisaft haben könne, um im Verein mit dem Vakoktilo eine Feuererscheinung hervorrufen zu können. Leider war er zu wenig mit chemischen und physikalischen Gesetzen vertraut, um der Natur beider kostbaren Substanzen wissenschaftlich auf den Grund zu gehen. Auch das Dokument gab über die Art und Weise, wie der Sattasarisaft auf das Vakoktilmineral einwirke, keine Auskunft.
Robinson brannte jetzt vor Verlangen, einen ersten Versuch anzustellen. Zu diesem Zwecke begab er sich vorsichtshalber in einen leeren Raum des Hauses, welcher keine Fenster besaß. Beim Schein einer Lampe zerrieb er eine kleine Portion des Minerals und schüttete auf das Pulver anfänglich nur einige Tropfen von dem geheimnisvollen Baumsaft.
Schon nach wenigen Sekunden vermochte er einen schwachen phosphoreszierten Lichtschein auf der Oberfläche des Gemenges wahrzunehmen. Dieser trat noch deutlicher in Erscheinung, als er das Licht der Lampe verlöschte und im Dunkeln die Wirkung beobachtete.
So wenig er auch von dem Sattasarisaft verwendet hatte, so zeigte sich doch schon ein merkwürdiges Verhalten des mineralischen Pulvers. Zahllose grünliche Lichtpünktchen zuckten in dem Pulvergemisch auf, um gleich darauf wieder zu verschwinden und neuen gleichen Lichterscheinungen Platz zu machen.
Wieder goß Robinson einige Tropfen Sattasari auf das Gemenge.
Die Phosphoreszenzerscheinung nahm erheblich zu, und es verbreitete sich ein geisterhafter, grüner Lichtschimmer im Raum, der fortgesetzt an Stärke zunahm.
Wenn Robinson bei seinem Experiment etwas ängstlich gewesen war, daß vielleicht irgend eine Explosion stattfinden oder sich sonst etwas Unliebsames ereignen könne, so überzeugte er sich doch bald, daß hier wohl kaum etwas Derartiges zu befürchten war.
Darum goß er mutig noch mehr von der Sattasariflüssigkeit auf das Pulvergemisch.
Unmittelbar darauf trat die Reaktion ein. Das Licht entfachte sich zu einem Feuer, welches von der Steinplatte, auf der das Pulver lag, grünrot aufloderte, aber nicht die geringste Wärme zu verbreiten schien.
Robinson war bei der plötzlichen Entfachung der Flamme erschrocken zurückgewichen, als er aber sah, daß keine Gefahr vorhanden war, erfüllte ihn eine maßlose Freude, daß es ihm gelungen war, das wundertätige Kaltfeuer zu erzeugen.
Furchtlos näherte er jetzt versuchsweise die Hand den zuckenden Flammen. Keine Spur von zunehmender Wärme empfand er. Jetzt streckte er kühn die Faust in das Feuer, und wie das Dokument verraten hatte, vermochten die Flammen nicht seine Haut zu verbrennen. Wie Lichtstrahlen umspielten diese seine Finger.
Mit tiefer Bewunderung starrte der Gelehrte in das Flammenspiel, welches ihn lebhaft an das bengalische Buntfeuer erinnerte, wie solches bekanntlich bei Illuminationen auf Festlichkeiten angebrannt wird.
Das Flammenspiel währte ununterbrochen, und nach einer halben Stunde zeigte sich noch keine Zunahme in bezug auf die Intensität des Feuers.
Vergeblich grübelte der Gelehrte darüber nach, unter welchen physikalischen und chemischen Bedingungen solch merkwürdiges Feuer wohl zustande kommen könne.
Während er noch emsig darüber nachsann, dabei unausgesetzt in das Flammengebilde schauend, klopfte es vernehmlich an der Tür des Raumes.
Aus seinem Sinnen aufgeschreckt, rief er Hassans Namen.
»Herr! der Kuli ist wieder da und will Euch sprechen,« hörte man draußen Hassans Stimme ertönen.
Mr. Robinson war über diese Störung recht unwillig, öffnete die Tür und beauftragte seinen Diener damit, den Chinesen wegen seines neuen Anliegens vorzulassen.
Kaum hatte sich die Tür geöffnet, als Hassan beim Anblick der seltsamen Feuererscheinung in die Knie sank und ein Allah il Allah! ausstieß.
Der Gelehrte lächelte über die Furcht seines Dieners und machte sich den Spaß ihn dicht bis an das Feuer heranzuziehen und ihm zu befehlen, seinen Kopf hineinzustecken.
»Allah il Allah! — — Herr! soll ich sterben?« tönte es aus dem Munde des geängstigten Mohammedaners, der zur Abwehr die Hand gegen seinen Herrn streckte.
»Wirst du gleich meinem Befehl gehorchen!« herrschte Mr. Robinson Hassan an.
Doch dieser war nicht dazu zu bewegen, der Forderung seines Herrn nachzukommen.
»Gut, so werde ich an deiner Stelle den Kopf in das Feuer halten,« versetzte Robinson und trat an das Flammengebilde heran.
»Tut das nicht, Herr!« rief der geängstigte Diener.
Schon aber hatte Robinson getan, was er gesagt. Und zu seinem maßlosen Erstaunen starrte Hassan bald das Feuer, bald seinen durch dasselbe unverletzt gebliebenen Herrn an, dann glitt wieder ein Allah il Allah! über seine Lippen und er kreuzte die Arme über die Brust.
Der Feuerzauber hatte bei dem Mohammedaner seine Wirkung nicht verfehlt. Hassan blickte von diesem Augenblicke seinen Herrn ehrfurchtsvoll wie einen Gott an.
Robinson wartete nicht, bis sich das Staunen seines Dieners legte. Er befahl ihm, den Kuli hereinzuführen.
Hassan ging mit einer heiligen Scheu hinaus und brachte wenige Augenblicke später den Schlitzäugigen vor sich her geschoben. Als der Chinese des seltsamen Flammenspiels im dunklen Raume ansichtig wurde, mochte es ihm wohl etwas unheimlich zumute werden, denn er war nicht über die Schwelle des Gemachs zu bringen.
»Weshalb suchst du mich wieder auf?« frug Mr. Robinson im leidlichen Chinesisch den Kuli, indem er ihm diese Worte rasch auf einem Stück Papier niedergeschrieben.
Wollte der Chinese die Zeilen lesen, so war er gezwungen, an das leuchtende Feuer zu treten oder draußen auf dem Flur das Geschreibsel zu lesen.
Er zog selbstredend das letztere vor.
Als Antwort empfing der Gelehrte folgende Zeilen:
»Wenn Ihr morgen noch hier seid, wird Euch Bana ermorden, flieht!«
Robinson war über diese Mitteilung wenig erbaut. Was sollte er tun, um dem Anschlag auf sein Leben zu entgehen? An der Wahrheit dessen, was der Kuli ihm verraten, zweifelte er nicht, weil er wußte, daß die Hindu zuweilen arge Fanatiker waren, die, wenn ihre religiösen Gefühle verletzt wurden, recht gefährlich werden konnten.
Auf weiteres Befragen hin schilderte der Chinese die Lage Robinsons als eine recht gefährliche, da Bana rachsüchtig sei und immer Helfershelfer zur Hand habe.
Robinson war ratlos, wie er sich zu der Sache stellen sollte. Blieb er in Benares, so konnte er möglicherweise jenem rachsüchtigen Menschen zum Opfer fallen. Ging er weg, so mußte er in Benares mancherlei im Stich lassen, was ihm lieb und teuer war. Vor allem mußte er seine ihm förmlich zum Steckenpferd gewordene Sanskritforschung im Hindukollegium ein für allemal aufgeben.
Der Kuli bat am Ende flehentlich, daß man seine Warnung nicht in den Wind schlagen solle, er sei nur zu gut unterrichtet über den Mordanschlag.
Robinson fand seine Lage wirklich recht bedenklich. Sollte er es auf einen Mordanschlag ankommen lassen? Nein! — So weit durfte er es jetzt, wo er der Menschheit die wunderbarsten Offenbarungen wissenschaftlicher Natur zu machen hatte, nicht kommen lassen. Darum beschloß er, Benares bei Nacht und Nebel zu verlassen. Gleichzeitig überlegte er, ob er nicht nach Europa zurückkehren solle, wo er vielleicht besser in der Lage wäre, die indischen Geheimnisse zu seinem und der Menschheit Nutzen zu verwerten. Nach kurzer Überlegung kam Robinson zu einem Entschluß. Er gab dem Kuli einige Silberstücke als Bakhschisch und ließ ihn wieder seine Wege gehen. Er bedeutete ihm, daß er Banas Pläne vereiteln wolle indem er noch am selben Tage Indien zu verlassen gedenke.
Kaum war der Kuli aus dem Hause, als Hassan den Auftrag erhielt, sämtliche Koffer zu packen und einige Lastträger zur Fortschaffung derselben zu bestellen.
Während dieser Vorbereitungen kam die seltsame Feuererscheinung zum Verlöschen, nachdem sie mehrere Stunden hindurch mit gleicher Leuchtkraft den Raum erhellt hatte.
Robinson fiel es jetzt ein, daß er vor allem die Schriftstücke in der Truhe schützen müsse, weshalb er die Dokumente sorgfältig zusammenrollte und sie unter seiner Kleidung in sichere Verwahrung brachte.
Einige Stunden später trat Mr. Robinson mit Hassan, der wie immer, auch diesmal wieder arg verwundert war, seine Reise nach Europa an. Der Gelehrte tat recht, den Worten des Schlitzäugigen zu folgen, denn in der darauf folgenden Nacht wurde Robinsons Behausung von drei braunen, mordlustigen Gesellen heimgesucht. Als dieselben das Nest leer fanden, schien namentlich einer von ihnen, ein baumlanger Hindu, sehr erbittert zu sein. — — Es war Bana, der jetzt, als er den Räuber seines Hausgötzen nicht mehr vorfand, nach der Steinfigur in der Wohnung forschte.
Und er fand diesen Götzen auch, eine verwitterte Steinfigur, die in einem Winkel halbvergessen dastand.
Robinson hatte diese Figur vor längerer Zeit einmal aus einem verfallenen Minaret mitgenommen, ohne zu ahnen, daß der Besitzer dieses Steingötzen nach dem Entwender desselben wutentbrannt forschte und ihm den Tod auf den Hals schwur, sobald er seiner habhaft würde. Die Zeit hatte es auch gefügt, daß Bana den Entwender ausfindig machte. Und jener Kuli, welcher seine Pläne vereitelte, indem er Robinson von dem Mordanschlag in Kenntnis setzte, nahm seinerseits an dem Hindu Rache, weil dieser ihm einmal durch Verstümmlung der Zunge die Sprache geraubt hatte.
So kam es, daß der Menschheit jener Mann erhalten blieb, welcher noch so wichtige Entdeckungen zu offenbaren hatte.
In einer Seitenstraße der Kalverstraat, der Hauptverkehrsader Amsterdams, befand sich zur Zeit in der unsere Erzählung spielt, ein von den übrigen Gebäuden abstechendes Haus. Nr. 62 war in verblichenen Ziffern über der Hauspforte zu lesen. Darunter befand sich eine Inschrift in holländischer Sprache. Diese und einige Figuren zu beiden Seiten der Tür gaben jedem, der das Haus zum erstenmale betrachtete, zu denken.
Seit einiger Zeit war es den Nachbarn in der Gasse bekannt geworden, daß ein fremder Gelehrter das alte Gebäude von den Erben des verstorbenen Besitzers angekauft habe.
Wie weiter verlautete, hauste der neue Besitzer nur mit einem braunen Gesellen allein in dem Gebäude, dessen zu unterst liegende Fenster gerade zu dieser Zeit mit Eisengittern und neuen Läden versehen wurden.
Kopfschüttelnd gingen die Nachbarn an dem Hause vorbei. Das Anbringen der Eisengitter hatte sie, wie ja zu erwarten war, erst recht stutzig gemacht.
Bald darauf verbreitete sich auch die Nachricht, daß der Inhaber des Hauses aus fernen Landen zugereist und ein rechter Sonderling sei, der mit niemand in Verkehr zu treten geneigt schien.
Der braune Diener mußte wohl strengsten Auftrag von seinem Herrn erhalten haben, die Tür allzeit verschlossen zu halten. So kam es denn, daß manche Mär über Nr. 62 in der Gasse zirkulierte.
Da sich aber wochenlang nichts Absonderliches weiter in dem genannten Hause bemerkbar machte, so lenkte sich die Aufmerksamkeit der Nachbarn von dem stillen Gebäude nach und nach ab und wurde nur dann wieder einmal erregt, wenn der braune Diener oder gar der Besitzer des Hauses auf der Straße sichtbar wurde.
Der Leser wird unschwer schon erraten haben, daß sich Mr. Robinson mit Hassan hier einquartiert hatte. Mit Anbruch des Winters hatte er sein Reiseziel, die alte Hafenstadt Amsterdam, erreicht und trug sich zu dieser Zeit mit der festen Absicht, sich hier niederzulassen.
Von Amsterdam aus sollten also jene welterschütternden Entdeckungen ihren Weg in die Welt hinaus nehmen. Amsterdam sollte für eine Zeit die Stadt werden, deren Namen am meisten auf dem Erdball genannt wurde.
Mr. Robinson hatte es für geraten gehalten, die Fenster seines Hauses vergittern zu lassen, wußte er doch nicht, was die nächste Zeit ihm vielleicht für Unannehmlichkeiten bringen konnte, wenn er mit seinen Entdeckungen vor die Öffentlichkeit trat.
Jeder Tag brachte Robinson in bezug auf sein Vorhaben um ein Beträchtliches weiter. Er experimentierte und studierte die Eigenschaften und Wirkungen der neuen Stoffe, mit denen er die Weltumkrempelung vorzunehmen gedachte.
Hassan hatte zu dieser Zeit schwere Tage, denn sein Herr befand sich in einem Zustande ewiger Ungeduld und Aufregung, so daß er, wenn Hassan nicht gleich etwas schnell von der Hand ging, diesen mit Fußtritten regalierte. Diese rabiate Behandlung seines Dieners hatte Robinson angesehenen Indern abgelernt. Überdies ist auch ein Araber immer träge und faul und aus diesem Zustande nicht nur durch bloße Worte zur Tätigkeit anzuregen.
Hassan rieb sich gerade wieder einmal den Revers seines Körpers, er hatte sich nämlich das Zerbrechen einer Phiole zu schulden kommen lassen.
»Hassan, daß du dich nicht unterstehst, irgend jemand, wer es auch sei, anzugeben, was ich hier treibe,« sagte eines Abends Mr. Robinson, wie er es schon oft getan, zu seinem Diener.
Dieser schwor bei Allah, daß er nie etwas verraten würde und fügte in der Regel dann immer noch hinzu, daß er doch auch keines Wortes Holländisch mächtig sei.
»Du sollst mir helfen,« sagte Robinson und begab sich in ein Gemach, in welchem auf einem Tische allerlei wissenschaftliche Geräte umherstanden. Es war der Arbeitsraum Robinsons. Hier machte er jene seltsamen Experimente, mit denen er die Welt überraschen wollte.
»Gib mir die Retorte — —«
Hassan kam der Aufforderung nach.
»Fülle diese Wanne voll Wasser!«
Wieder beeilte sich Hassan, dem Befehle Folge zu leisten.
»Nimm dort den Vorhang weg!«
Der Hindu schob einen braunen, gefransten Vorhang, welcher eine Ecke des Zimmers bedeckte, beiseite.
Nunmehr wurde ein mächtiger Apparat sichtbar, von dem aus starke, kupferne Drähte unter einen der Arbeitstische des Zimmers mündeten.
Es war die Elektrizitätsquelle, mit der Robinson seine Versuche im kleinen anstellte, um später dieselben in praxi zu übertragen und den Erdball seiner Wassermengen zu berauben.
Also schon den ältesten Indern war es bekannt gewesen, daß das Wasser kein Element war, als welches es wie Feuer, Luft und Erde im Abendland bis in die jüngste Zeit hinein betrachtet wurde. Aus weiteren Angaben in dem Dokument hatte Robinson entnommen, daß es schon kurz nach Christi Zeiten einem Mann bekannt war, daß Wasser sich aus zwei Gasen zusammensetzte, von denen das eine gleichzeitig auch einen Hauptbestandteil der Luft bildete. Jener indische Forscher hatte diese beiden Gase, denen die Neuzeit die Namen Sauerstoff und Wasserstoff gegeben hatte, Anarg Ragna getauft und es verstanden, dieselben im Wasser voneinander zu trennen, somit also das Wasser zu vernichten.
Die heutige Chemie ist sich über die Natur des Wassers völlig im klaren. Sie sagt, Wasser besteht aus Wasserstoff und Sauerstoff, und zwar stehen diese beiden Gase in einem Verhältnis zueinander, welches die Formel HO ausdrückt, d. h. ein Gewichtsteil Wasser enthält 2 Raumteile Wasserstoff oder Hydrogenium und einen Teil Sauerstoff oder Oxygenium, und weiter lehrt die moderne Chemie, daß beide Gase im Wasser voneinander getrennt werden können und zwar mit Hilfe des elektrischen Stromes.
Anschließend an diese Belehrung müssen wir hier auch noch die Ansichten der Mikroskopiker, Bakteriologen und anderer im Gebiete des Mikrokosmos sich wissenschaftlich beschäftigenden Forschern dartun, soweit sich dieselben auf die Lebewelt im Wassertropfen beschränken.
Wie die Welt, in der wir Menschen leben, also der Makrokosmos, einen großen Herd von Lebewesen darstellt, so ist dies auch mit dem Wassertropfen im kleinen der Fall. Der Mikrokosmos wurde dem Blicke der Menschheit aber erst spät enthüllt. Die Erfindung des Mikroskopes erschloß uns erst die Welt der Infusorien und Bakterien. Der allerjüngsten Zeit war es dann vorbehalten, durch Erfindung des Ultramikroskopes noch tiefer in das Gebiet des Mikrokosmos dringen zu können, nahezu bis an die Grenze, wo sich die Atome zu Molekülen ballen.
Jenes indische Dokument besagte nach seiner Entzifferung noch weiter, daß man nicht nur das Wasser in seine Bestandteile zerlegen könne, sondern letztere auch zu beseitigen vermöge, indem man die beiden Gase fest an das Gestein der Erde binden könne. Somit wäre es möglich, durch Anwendung gewaltiger Mittel sämtliches Wasser von der Erde zu vertilgen.
Dieser eine Gedanke schon eröffnete dem Gelehrten eine so ins Ungeheuerliche verlaufende Perspektive, daß es Robinson im geistigen Verfolgen derselben ganz wirr um die Sinne wurde.
Der Gedanke war gar nicht auszudenken!
Man stelle sich einmal vor, daß tatsächlich alles Wasser von der Erde verschwände, daß also eine Wassermenge von vielen Trillionen Kubikmetern an die Gesteinsmassen chemisch gebunden würde. Das ganze Antlitz des Erdballes würde sich dadurch völlig verändern. Aber nicht nur das. Die erste Lebensbedingung für die organischen Geschöpfe, von den einzelligen Lebewesen bis hinauf zu dem vollkommenen Zellenstaat, dem Menschen, würde mit dem Verschwinden des Wassers verloren gehen. Das würde also gleichbedeutend sein mit dem Tode der ganzen Lebewelt, sofern nicht ein passender Ersatz für das Wasser in Gestalt einer anderen chemischen Flüssigkeit gefunden würde.
Robinson verlor sich mit seinem Denken hierbei nahezu ins Unendliche. Wenn es ihm gelang, das Wasser der Welt zu vernichten, so pfuschte er in einer Weise in das Handwerk des göttlichen Schöpfers, die ihn geradezu als einen Widersacher gegen den Jehova der christlichen Religion, gegen Buddha, Allah und wie man noch anderwärts auf dem Erdball die schaffende und regierende Macht der Welt tituliert, erscheinen ließ.
Die Vernichtung des Wassers, sofern sie einem Menschen gelänge, würde auch gleichzeitig die Selbstvernichtung jenes Frevlers am Schöpfungswerk der Allmacht bedeuten.
Diese Konsequenz war an sich unbestreitbar. Sie erinnerte Robinson daran, daß er, wenn er sich in dieser Beziehung als irdischer Schöpfer gerierte, doch tief unter der schaffenden Allmacht stand, weil das Frevlerwerk ihn zur Strafe dafür selbst vernichtete.
Folgen wir dem Gedankengang des über dem gelösten Problem der Wasservernichtung hier so im Grübeln versunkenen Gelehrten noch weiter.
Die Welt ohne Wasser! Mußte sie dann nicht schon unfehlbar deswegen zugrunde gehen, weil jedwede Fruchtbarkeit des Erdbodens durch Versiegung der Regenquellen aufhörte?
Mußte nicht alles austrocknen und erstarren bis aufs Mark, was lebte und webte, was atmete und einer Bewegung fähig war?
Die eine wie die andere der gezogenen Konsequenzen allein schon konnte Robinsons Denkvermögen verwirren. Vermöchte man für die einzelnen Gedanken, welche menschlichen Hirnen entspringen, psychische Formeln analog chemischen Formeln aufstellen, so würden hier Begriffssubstitute geschaffen werden, die hinsichtlich ihrer Zusammenstellung wie eine mathematische Hyperbelfigur ins Unendliche verliefen.
Sollte und konnte er eine ganze Welt vernichten?
Bei dieser sich selbst vorgelegten Frage scheiterte nahezu das Denken Robinsons.
In diesem Augenblick erinnerte er sich aber dessen, daß in dem Dokument noch weitere Angaben darüber gemacht waren, daß man mit Hilfe einer neuen Flüssigkeit an Stelle des an das Gestein gebundenen Erdwassers neue Lebensbedingungen für die Menschheit und die Tier- und Pflanzenwelt zu schaffen vermöge.
Da es dem Gelehrten noch nicht möglich gewesen war, alles hierauf Bezügliche aus dem Sanskritdokument zu übersetzen, so beschäftigte sich sein Geist zunächst mit dem sogenannten festen Wasser.
Je weiter er grübelte und dabei zu hunderten von Malen gewohnheitsgemäß seine diamantenbesetzte Goldschlange am Finger drehte und ebensooft die Stirne kraus in Falten zog, desto mehr rang sich die Überzeugung bei ihm durch, daß er ohne einen Helfershelfer die gewaltige Aufgabe, welche er sich gestellt hatte, nicht restlos durchzuführen vermöge. Er fühlte, daß er mit einer Persönlichkeit in Kontakt treten mußte, die ebenso wissenschaftlich geschult als verschwiegen war.
Diese nach reiflicher Überlegung gewonnene Ansicht bestimmte ihn nunmehr, auf die Suche nach einem Manne zu gehen, den er des Vertrauens für wert hielt, die großen Geheimnisse mit ihm zu teilen und mit ihm vereint jene welterschütternden Entdeckungen auszunützen.
Hierüber vergingen Tage. Robinson vermochte niemand so recht zu trauen. Da kam ihm der Zufall zu Hilfe. In dem Schaufenster einer Buchhandlung an der Kalverstraat sah er ein neues Werk über die modernen Errungenschaften der Chemie und Physik angekündigt, dessen Verfasser in Amsterdam leben sollte.
Das Buch interessierte ihn, er kaufte es. Nach der Lektüre desselben gewann er die Überzeugung, daß er in dem Verfasser, einem geistvollen Menschen, der sich streng auf wissenschaftlichem Boden bewegte, ohne allzu trockener Theoretiker zu sein, vielleicht die Persönlichkeit finden konnte, welche ihm als Hilfskraft vorschwebte.
Um zu sondieren, wer der Verfasser sei und wie er sich als Mensch präsentiere, holte er sich geeigneten Ortes genauere Information ein. Schließlich machte er jenem Autor auch einen Besuch und war nach dem Fortgang von dem in mittleren Jahren stehenden Mann entzückt.
Nach einer weiteren reiflichen Überlegung faßte er den Entschluß, jenem Mann näher zu treten. Nicht mit einem Male wollte er ihm seine Geheimnisse sämtlich preisgeben. Nein, dazu war er zu vorsichtig. Deshalb beschloß er vorläufig nur, einiges über die Wasserzersetzung im großen Maßstabe zu verraten.
Mynheer Butkens, wie sich jener Mann nannte, in dem Robinson die geeignete Persönlichkeit gefunden zu haben glaubte, mochte wohl kaum die Mitte Vierzig überschritten haben. Seinem Äußeren nach war er der Typus eines echten Holländers. Im Wesen ernst, lachte er selten, nicht daß er etwa ein Pessimist oder sonst durch Schicksalsschläge verbittert worden war. Er lebte ganz seiner Wissenschaft und war als Chemiker nicht bloß theoretisch, sondern auch praktisch eifrig tätig. Seine Mittel von Hause aus waren ausreichend genug, um ihn nicht von dem Ertrag seiner Hände Arbeit abhängig zu machen. Mit Vorliebe bewegte sich Butkens auf wissenschaftlichen, noch nicht genügend erforschten Gebieten und versuchte gern neue Anschauungen auf Grund exakter Forschungen der wissenschaftlichen Welt aufzutischen, ohne daß man ihn vielleicht einen Hypothesenschmied oder einen kecken Phantasten nennen konnte.
Nach einer ersten Unterredung fand Robinson heraus, daß Butkens der rechte Mann für seine Bestrebungen war. Darum hielt er auch mit dem, was er wollte, nicht lange zurück und vertraute sich von Fall zu Fall seinem neuen Mitarbeiter an.
Butkens hatte das Hochwichtige, welches in der ihm angetragenen Sache lag, scharfen Sinnes erkannt.
Robinson war innerlich hocherfreut, einen wissenschaftlichen Mitarbeiter mit solchem Verständnis gefunden zu haben, weshalb er bald vertrauensseliger wurde.
Von diesem Zeitpunkte ab erhielt Hassan von seinem Herrn den Auftrag, Mynheer Butkens jederzeit einzulassen, sobald er bei ihm vorspräche.
Butkens war sehr interessiert, hielt jedoch Mr. Robinson für einen Phantasten. Trotzdem aber hatte er beschlossen, einmal zuzusehen, was an der Sache sei, zu deren Beteiligung er aufgefordert worden war.
Die erste Zusammenkunft, welche abends im Hause Nr. 62 stattfand, führte die beiden Männer einander etwas näher. Jeder erkannte nun, wes Geistes Kind der andere war. Schätzte Butkens bald die Gelehrsamkeit des Sanskritforschers, so wußte dieser seinerseits die exakte wissenschaftliche Durchbildung seines Besuchers zu würdigen.
»Es ist eine seltsame Sache, für die ich Sie gewinnen möchte,« sagte Mr. Robinson, als er Butkens in seinem Arbeitszimmer empfangen hatte.
»Danke... Ihr Vertrauen ehrt mich,« versetzte dieser, und seine Augen ruhten forschend auf dem bewegten Mienenspiel seines Gegenübers.
»Die Zersetzung des Wassers in seine Bestandteile ist ja, wie Ihnen sicher bekannt ist, längst eine restlos gelöste Aufgabe,« fuhr Robinson fort und auch seine Augen suchten in dem Antlitz des neuen Vertrauten zu forschen.
»Alte Sache,« ließ sich Butkens vernehmen.
»Soviel mir aber bekannt, ist es bis jetzt nur gelungen kleinere Mengen Wasser zu zersetzen,« hörte man den Sanskritforscher weitersprechen.
»Hm — — freilich nur kleine Mengen.«
»Wenn es aber jemandem gelänge, große Quantitäten Wasser, sagen wir beispielsweise einen ganzen See voll, mit Leichtigkeit in seine Bestandteile zu zersetzen...«
»Der würde Reichtümer sammeln,« fiel Butkens dem Sprecher in die Rede.
»Sehen Sie, und so etwas gelingt mir,« erwiderte Robinson und lauerte auf den Augenblick, wo sein Nachbar Mund und Augen aufsperren würde.
»Wa—a—s— —,« entfuhr es in langgezogenem Tone dem Munde Butkens', und sein verwundert dreinschauendes Gesicht legte ein beredtes Zeugnis für sein Erstaunen und seine Überraschung ab.
»Ja, Mynheer Butkens, so ist es. In meiner Hand und Macht liegt es, einem ganzen Meer sein Wasser zu rauben.«
Butkens starrte sein Gegenüber an. Hatte er es hier mit einem Phantasten oder gar einem Übergeschnappten zu tun?... Aber nein. Dazu sprach der Gelehrte zu sachlich und machte auch sonst nicht den Eindruck eines Menschen, der seine fünf Sinne nicht beisammen hat.
»Sie werden es begreiflich finden, daß ich bis aufs maßloseste erstaunt bin,« sagte Butkens.
»Das habe ich nicht anders erwartet,« antwortete Robinson lächelnd.
»Sie vermögen wirklich so ungewöhnlich große Mengen Wasser zu vernichten?«
»Noch mehr...« sagte im halblauten Tone Robinson und fügte dann leiser hinzu: »wenn ich wollte, könnte ich alles Wasser der Erde vernichten.«
Diese neue Versicherung übte auf den Besucher eine mehr als seltsame Wirkung aus. Wieder starrte Butkens Robinson an, und jetzt war deutlich in seinem Mienenspiel zu lesen, daß er seinem Gegenüber hinsichtlich dessen Zurechnungsfähigkeit nicht recht traute. Was der Sanskritforscher gesagt hatte, alle Gewässer der Erde könne er vernichten, mußte Butkens wohl oder übel für eine fixe, hirnverbrannte Idee halten. In der Nähe dieses Mannes wurde es ihm daher plötzlich recht ungemütlich. Robinson hatte aber von vornherein so etwas erwartet und sich darauf vorbereitet.
»Ehe ich noch ein Wort weiter über die ganze Sache verliere,« begann Robinson wieder, »muß ich Sie dringend bitten, meine Zurechnungsfähigkeit nicht in Zweifel zu ziehen. Sie können sich wirklich darauf verlassen, ich bin völlig bei Sinnen. Was Sie eben aus meinem Munde vernommen haben, klingt ja natürlich für Uneingeweihte völlig unausführbar und könnte mit Fug und Recht als die verrückte Idee eines Phantasten gehalten werden, wenn nicht Beweisfaktoren vorhanden wären.«
Butkens hatte sich immer noch nicht von seiner Erstarrung erholt.
»Bevor ich diese Beweisfaktoren für mein Können hier ins Feld führe, um Sie völlig zu überzeugen, muß ich Ihnen unbedingt erst das Versprechen abnehmen, daß Sie keiner Menschenseele mein Geheimnis verraten... Wollen Sie mir das Versprechen geben?«
Mynheer Butkens streckte unsicher seine Hand Robinson entgegen. Er fand noch immer keine Worte.
»Ich nehme den Druck Ihrer Hand an Eides Statt an,« sagte Robinson. »Nun hören Sie. Bei meinem Aufenthalt in Ostindien ist mir in Benares eine alte Handschrift aus der Zeit des siebenten Jahrhunderts n. Chr. in die Hände geraten, woraus ich ersehen habe, daß es einem Naturforscher damaliger Zeit gelungen war, Wasser in großen Mengen zu zersetzen und dessen gasige Bestandteile fest an das Gestein der Erde zu binden.«
Hier hielt Robinson mit seiner Rede inne und holte aus der Truhe eins der Dokumente heraus.
Mynheer Butkens' Erstarren löste sich allmählich in große Neugier und Begeisterung auf.
»Hier ist das tausendjährige Manuskript,« begann Robinson und rollte das Papier vor den Augen Butkens' auf. »Ein unumstößliches Dokument für die Wahrheit des von mir Gesagten.«
Butkens warf einen Blick auf die buntfarbigen Schriftschnörkel des Dokumentes, für die er kein anderes Verständnis hatte, als daß er erkannte, daß dieselben einer ihm wildfremden Sprache entstammten.
Robinson schien die Gedanken seines Gegenüber zu erraten.
»Sie werden es nicht zu lesen vermögen. Das Manuskript ist in der Sanskritsprache geschrieben, und die Nagarizeichen sind noch dazu wenig leserlich.«
»Und das Dokument ist echt?«
Mr. Robinson blickte erstaunt auf. »Selbstverständlich ist es echt.«
»Wer bürgt uns aber dafür, daß der Inhalt desselben nicht von einem Phantasten niedergeschrieben wurde?«
Die Skrupelhaftigkeit Butkens' schien nicht ganz nach dem Geschmack Robinsons zu sein. »Ich versichere Ihnen, daß wir es hier mit der Hinterlassenschaft eines wirklich genialen Hindugelehrten aus grauer Vorzeit zu tun haben. Und ich bitte Sie, erst dann zu urteilen und zu richten, sobald ich Ihnen die Beweisfaktoren vorgeführt habe.«
»Ich kann den Augenblick nicht erwarten,« versetzte Butkens und schielte fortgesetzt nach dem vergilbten Dokument. »Sie haben die Handschrift selbst übersetzt?« fragte er dann.
»Ich beherrsche das Sanskrit wie meine Muttersprache und kenne auch alle seine indischen Dialekte, sowohl das Pali wie auch die Prakritidiome. Nach meinem Dafürhalten ist das Sanskrit dieses Dokumentes ein Dialekt vom Brahmavarta. Der Schreiber dieses Dokumentes war geistig unzweifelhaft der größte Mann seiner Zeit.«
»Wie sind Sie aber auf das Dokument aufmerksam geworden?« frug Butkens.
»Beim Studium des Nationalepos Mhahabaharata bin ich auf ein in einem Tempel vergrabenes Dokument, dieses hier, gestoßen.«
»Wie Sie sehen, Mr. Robinson, vermag ich es noch immer nicht, mich ganz von allen Zweifeln zu befreien. Es ist dies auch recht entschuldbar, wenn man in Betracht zieht, welche Ungeheuerlichkeit die an sich problematische Wasserzersetzung für mich, den Chemiker von Fach, darstellt.«
»Das finde ich recht begreiflich, und ich sehe ein, daß ich ihre Skrupel nur durch Beweisführung beseitigen kann. Ich will versuchen, Sie heute noch zu einem Gläubigen zu stempeln.«
Bei diesen Worten erhob sich Robinson und rief seinen Diener herein.
»Hassan, geleite diesen Herrn in mein Laboratorium. Ich komme sofort nach.«
Mynheer Butkens folgte dem voranschreitenden Diener in ein, ein Stockwerk höher liegendes Gemach.
Robinson verschloß inzwischen sorgfältig wieder die Truhe und begab sich dann mit dem Dokument hinauf, wo seiner Butkens harrte.
Dieser hatte sich inzwischen in dem Arbeitsraum des Gelehrten umgesehen, die verschiedenen Gerätschaften und vor allem den elektrischen Apparat eingehend besichtigt.
»Nun wollen wir einmal mit dem Experimentieren beginnen und Sie sollen dann Ihr Urteil abgeben, ob die Sache Phantasterei ist oder wirklich jene Ungeheuerlichkeit darstellt, als die Sie selbige bezeichnet haben,« begann Robinson und führte in eine große gläserne Wanne, welche etwa einen Kubikmeter Wasser zu fassen vermochte, einen Gummischlauch ein, welcher an eine Wasserleitung angeschlossen war. Die Glaswanne selbst war durch einen gläsernen Deckel hermetisch verschlossen, und stand durch zwei elektrische Drähte größten Querschnitts mit dem elektrischen Apparat in der Ecke in Verbindung. Die Polenden der Drähte bildeten breite und lange Metallbleche, von denen sich das eine am Boden der Wanne und das andere an der Decke derselben befand.
Mit einem Blick überschaute der Chemiker die Sachlage.
»Wasserzersetzung im gewöhnlichen Sinn,« ließ er sich halblaut vernehmen.
»Dem äußeren Anscheine nach ja,« versetzte Robinson, »aber ich arbeite mit intensiveren Mitteln als die Herren Physiker und Chemiker in ihren Laboratorien.«
»Sie benützen den elektrischen Strom...«
»Ganz recht,« erwiderte Robinson, »meine Elektrizitätsquelle bildet der Erdball, und was die Drähte hier passiert, ist hochgespannte Erdelektrizität. Welche Wirkung diese hat, werden Sie gleich ermessen können, wenn Sie sehen, wie fabelhaft schnell ein Kubikmeter Wasser in seine gasigen Bestandteile aufgelöst wird. Passen Sie bitte auf.«
Mr. Robinson ließ jetzt den Apparat in der Ecke funktionieren und ein leises Knistern und Prasseln verrieten seine Tätigkeit.
Starr richtete sich Butkens' Auge auf die Glaswanne und ihren Inhalt. Hatte er sie zu Beginn des Experimentes bis an den Rand vollgefüllt gesehen, so war nach Verlauf von fünf Sekunden kein Tropfen Wasser darin mehr sichtbar.
»Sie staunen, nicht wahr?«
»Es ist fabelhaft — — diese ungeheure Schnelligkeit der Zersetzung — — nun sagen Sie mir bloß, wo bleibt der Sauerstoff und der Wasserstoff, die doch als Resultat sich erübrigen?«
»Die Gase werden durch das Rohr, welches von einer Ecke der Wand hinaus ins Freie verläuft, abgeleitet,« antwortete Mr. Robinson.
»Ich finde es rätselhaft, daß dabei nicht einmal eine Explosion zustande kommt,« versetzte kopfschüttelnd Butkens.
»Eine Explosion? — — Halten Sie eine solche bei der Zersetzung des Wassers für möglich?« frug Robinson, und der Ton, mit dem er dieses sagte, verriet deutlich Anzeichen von großer Ängstlichkeit.
»Aber natürlich, eine Explosion kann sehr leicht dabei stattfinden, wenn man unvorsichtig verfährt. Sauerstoff und Wasserstoff können explodieren, wenn sich sogenanntes Knallgas entwickelt.«
»Knallgas?« frug Robinson erschrocken.
»Sobald sich zwei Volumen Wasserstoffgas mit einem Volumen Sauerstoff vermengen, so kann beim Hinzutreten von Feuer oder durch sonstige Wärmeentwicklung eine gewaltige Explosion eintreten.«
Der Gelehrte erschrak wiederum.
»Eine solche Tatsache könnte mir einen gewaltigen Strich durch die Rechnung machen.«
»Das ist nicht ausgeschlossen. Immerhin läßt sich aber der Vorgang der Wasserzersetzung so regeln, daß man das Eintreten einer explosiven Wirkung verhindern kann.«
»Sie müssen mich darüber eingehend unterrichten. Denn die Sache, mit welcher wir uns beschäftigen wollen, ist wirklich für die Menschheit von unermeßlicher Bedeutung.«
»Was ich jetzt von dem Versuche bereits gesehen habe, genügt mir, um Ihnen Glauben schenken zu können,« antwortete der Chemiker.
»Das freut mich sehr,« versetzte Robinson.
»Die fabelhafte Geschwindigkeit, mit welcher Sie ein solches Quantum Wasser nach Ihrer Methode vernichteten, hat mich wirklich staunend gemacht.«
»Und ich sage Ihnen, Verehrtester, es läßt sich auf solche Weise die ganze Welt ihres Wassers berauben — notabene, wenn wir Explosionen aus dem Wege gehen können.«
»Zu der Vernichtung von vielen Billionen Liter Wasser würde aber doch eine derartige Menge Elektrizität benötigt, die Menschenhand zu beschaffen gar nicht in der Lage wäre.«
»Aber, haben Sie schon wieder Skrupel?« versetzte der Sanskritforscher.
»Je nun — — Sie sprechen ein so gewaltiges Vorhaben so gelassen aus, daß man den Kopf schütteln muß, ob man will oder nicht, sofern man nicht annehmen will, daß Sie bloß ein Phantast sind.«
»Ich glaube Ihnen schon einmal angedeutet zu haben, daß ich zur Vernichtung so gewaltiger Wassermengen keine selbsterzeugte Elektrizität benütze, sondern diese Arbeit durch die Erdelektrizität besorgen lasse. Ich habe mich in letzter Zeit eingehend mit dieser wissenschaftlich beschäftigt und festgestellt, daß, wie das indische Dokument angibt, der ganze Erdball tatsächlich ein großes Reservoir elektrischer, beziehungsweise magnetischer Energie darstellt. Und aus dieser unerschöpflichen Quelle strömt die Kraft, welche die gewaltige Zersetzungsarbeit bewältigen kann.«
»Das alles klingt ungeheuerlich,« erwiderte Butkens, »man kann es mit einem Male gar nicht fassen.«
»Es gilt nun ein Experiment nach den Angaben des Dokumentes im großen vorzunehmen,« fuhr Mr. Robinson fort. »Dieses anzustellen, fühlte ich mich allein außerstande, weshalb ich mich nach einer Hilfe umsah, und der Zufall führte Sie als solche mir zu.«
»Ihr Vertrauen ehrt mich wirklich sehr, Mr. Robinson, und ich werde es zu würdigen wissen.«
»Sie sind also bereit, mit mir die Entdeckung weiter zu verfolgen?«
»Sie können sich vorstellen, daß ich nur noch Auge und Ohr für dieselbe bin,« versetzte Butkens und ein eigentümliches Leuchten seiner Augen verriet, daß er der Robinsonschen Sache bereits einen ungeheuern Wert beimaß. »Wenn ich auch jetzt an das Gelingen der Sache glaube, so will es mir doch nicht in den Kopf, wo die freiwerdenden gewaltigen Mengen Sauerstoff und Wasserstoff dann bleiben sollen. Beide Gase würden doch die ganze Atmosphäre des Erdballes zum Atmen untauglich machen. Ganz abgesehen von den anderen Folgen, welche das Freiwerden von Riesenquanten Sauerstoff und Wasserstoff nach sich ziehen würden.«
»Ich erwähnte schon einmal. daß diese gasigen Elemente an das Gestein der Erde gebunden werden könnten,« ließ sich Robinson vernehmen.
Butkens wiegte den Kopf hin und her, wie es jemand tut, dem eine Sache nicht recht einleuchten will.
»Die Art und Weise, wie der freigewordene Wasserstoff und Sauerstoff wieder gebunden werden soll, habe ich selbst noch nicht genügend studiert,« meinte Robinson. »Wir müssen uns dieser Aufgabe gemeinschaftlich widmen. Sind Sie bereit, einige Tage mit mir zu arbeiten und zu experimentieren? — Wir würden dann die Angaben, welche das indische Dokument macht, durchberaten und nach den Anweisungen experimentell verfahren.«
Mynheer Butkens bejahte eifrig und konnte kaum die Zeit erwarten, wo ihm Robinson den Inhalt des Manuskriptes aus dem Urtext übersetzte.
Die nächsten Stunden bereits fanden die beiden Forscher tief in gemeinschaftlicher Arbeit vereint.
In dem kleinen Gemach wurde die ganze folgende Nacht dann disputiert und experimentiert, bis die kommende Morgenröte die beiden Männer überraschte.
Was hier nächtlicherweise von zwei Menschen ausgeheckt wurde, war dazu angetan, die unausführbarsten Gedankengebilde noch so phantastischer Hirne weit in den Schatten zu stellen.
Die nächsten Wochen sollten dies zur Genüge beweisen.
Die guten friedlichen Bürger von Amsterdam wurden eines schönen Tages durch ein eigentümliches Vorkommnis aus ihrer Ruhe aufgeschreckt.
Die Ursache bildete ein plötzlich aufgetretenes und unausgesetzt anhaltendes, zischendes Geräusch längs des Zuidersees, jenem Meerbusen der Nordsee, der sich bis Amsterdam erstreckt.
In den Zeitungen tauchten über diese seltsame Erscheinung allerlei wissenschaftliche und unwissenschaftliche Versionen auf. So schrieb zum Beispiel die Zeitung »Het Nieuws van den Dag« folgendes:
»Seit dem ersten Morgengrauen wurde heute am Strande des Zuidesees fortgesetzt ein eigentümliches Prasseln wahrgenommen, über dessenEntstehung niemand Auskunft zu geben vermag. Wie als eine Folgeerscheinung blieb heute die Ebbe aus und ein fortwährendes Anfluten von der Nordsee her konnte beobachtet werden, was seit Menschengedenken noch nicht dagewesen ist. Und die Fluterscheinung scheint von Stunde zu Stunde zuzunehmen. Betrug dieselbe täglich im Durchschnitt immer nur 30 Zentimeter, so haben wir heute eine solche von über einem Meter zu verzeichnen, und es macht den Eindruck, als wenn dieses Maß noch zur Überschreitung käme. Wie die meteorologische Warte feststellt, kann es sich keinesfalls um eine Sturmflut handeln, da der Isobarenverlauf über Holland und dem Atlantischen Ozean ein durchaus regelmäßiger ist und verhältnismäßig hohe Barometerstände anzeigt. Die Professoren unserer Universität haben sich sofort an Ort und Stelle begeben, um die rätselhaf te Naturerscheinung zu studieren. Findet eine Zunahme derselben statt, so ist ernstlich mit einer Überschwemmung Amsterdams zu rechnen. Die Behörden treffen bereits die erforderlichen Maßnahmen. Welchen weiteren Verlauf die Erscheinung nehmen wird, steht gänzlich außer jeder Berechnung. Wie verlautet, ist allen meteorologischen Stationen der Erde telegraphisch Nachricht zugegangen und bleibt weiteres abzuwarten.«
Bald liefen auch in Amsterdam telegraphische Mitteilungen ein, welche besagten, daß längs der ganzen holländischen Küste die Fluterscheinung in mehr oder geringerem Maße zu beobachten wäre. Von England herüber wurde gleichfalls gemeldet, daß dort ähnliche Störungen wahrgenommen worden waren.
Alle Welt schüttelte den Kopf und wußte sich die Sache nicht zu erklären.
Inzwischen traf man ernstliche Maßregeln, um einer Überschwemmung Amsterdams und seiner Umgebung nach Möglichkeit vorzubeugen. Der für gewöhnlich nur 2—3 Meter betragende Tiefstand des Zuidersees war nach schnell vorgenommenen Lotungen auf fast das Doppelte gewachsen. Auch die Amstel zeigte einen bedeutend höheren Wasserstand als sonst, was nicht zu verwundern war, da sie sich in das Y der benachbarten Bucht des Zuidersees ergießt.
Fast alle Augenblicke liefen Telegramme, bald von hier, bald von dort ein. Es hieß, die Yssel und noch andere mit dem Zuidersee in Verbindung stehende Flüsse seien plötzlich beträchtlich angeschwollen.
Die Physiker und Meteorologen des Landes zerbrachen sich fast die Köpfe ob der eigentümlichen Naturerscheinung.
Sie standen vor einem gewaltigen Rätsel, das sie nach keiner Richtung hin zu lösen vermochten. Die Erscheinung sprach allen physikalischen Gesetzen Hohn und ließ auch die völlige Unzulänglichkeit meteorologischer Kenntnisse jedem zur Gewißheit werden.
Der Direktor der Sternwarte, welche die wissenschaftliche Gesellschaft Felix meritis unterhielt, setzte sich sofort nach Bekanntwerden der seltenen Vorkommnisse am Strand des Zuidersees mit der astronomischen Zentralstelle in Kiel in Verbindung, um von dieser Auskunft zu erlangen, welche Beobachtungen in den letzten Tagen betreffs solarer Erscheinungen von den verschiedenen Sternwarten des Erdballs gemacht worden seien, ob vielleicht das plötzliche Auftauchen gewaltiger Sonnenflecke schuld an dem sei, was augenblicklich die Welt in Erregung und Staunen versetze.
Die hierauf eingehende Antwort lautete dahin, daß ein Auftreten größerer Sonnenflecke, welche möglicherweise die Ursache für den rätselhaften maritimen Vorfall hätten bieten können, nicht beobachtet worden seien.
Nun standen die Gelehrten Amsterdams und auch anderer Städte des Kontinents erst recht vor einem Rätsel, da sie die Erscheinung sich einzig und allein nur durch plötzliches Auftreten großer Sonnenflecke hätten erklären können.
Die Amsterdamer Bürgerschaft geriet nunmehr, nachdem auch die berufensten Forscher ratlos dastanden, in Bestürzung und Aufregung, und Tausende von Menschen umlagerten die Stelle des Strandes, wo das Prasseln und Zischen besonders vernehmbar war.
Im Verlaufe des Tages zeigte sich dann noch eine neue Erscheinung, welche im Zusammenhang mit den anderen Vorgängen zu stehen schien. Dieselbe bestand darin, daß Hunderte von Männern und Frauen, welche sich in der Nähe des Strandes aufhielten oder dort wohnten, von eigentümlichen Brustbeklemmungen befallen wurden. Vielen wurde das Atmen schwer und wieder andere überkam so eine Art Taumelzustand. Alle aber verspürten ein Gefühl, welches ganz dem glich, das man hat, wenn man Sauerstoff zu atmen bekommt. Es wurde jedermann so leicht um die Sinne, und ein Reiz ungebundener Freudigkeit schaffte sich bei jenen Menschen Platz.
Die Physiker und anderen Gelehrten, welche ebenfalls von diesem Zustande befallen worden waren, fingen an dunkel zu ahnen, daß die Ursache dieses physischen Taumels wohl in einer allzusehr mit Sauerstoff geschwängerten Luft zu suchen sei. Der erste, welcher auf diesen Gedanken kam, war ein Zahnarzt namens van den Hoff, dem es aus seiner Praxis, wo er häufig genug mit Sauerstoff operierte, bekannt war, daß dieses Gas bei seinen Patienten ähnliche Erscheinungen hervorrief. Als diese Ansicht publik wurde, zweifelte auch niemand mehr daran, daß die Atmosphäre der Umgebung Amsterdams durch irgend welche Umstände stark mit Sauerstoff durchsetzt worden war.
Infolge dieser neuen Erscheinung mußten all die neugierigen Menschen, welche sich am Strande drängten, sich bald aus der Nähe des letzteren begeben. Einzelne, welche jedoch auf ihrem Beobachtungspunkt verblieben, wären beinahe Opfer von Erstickungsanfällen geworden, so daß auch diese sich gezwungen sahen, den Strand zu meiden.
Als gegen Abend die Sachlage noch die gleiche war, wurden von dem Bürgermeister Amsterdams alle Vertreter der Stadtbehörden, sowie die Dozenten der Universität und anderer hervorragender Lehranstalten zu einer schleunigst anberaumten Sitzung einberufen. Dieselbe wurde, wie es seit langem üblich war, in dem ehemaligen Admiralitätshof am Oudezijds Voorburgwal abgehalten.
In dem geräumigen Sitzungssaale wogten die Menschen hocherregt durcheinander. Viele von ihnen schienen noch von den Wirkungen der Sauerstoffatmosphäre beherrscht zu sein. Man sah stark gerötete Gesichter und stieß allenthalben auf hüstelnde Menschen. Unter sämtlichen Anwesenden gab es bald keinen mehr, welcher behaupten konnte, von den Belästigungen durch Sauerstoff bis jetzt nichts zu verspüren.
Die Sitzung wurde unter Anzeichen großer körperlicher und seelischer Erregung seitens des Bürgermeisters eröffnet.
»Meine hochverehrten Anwesenden! In Anbetracht der Ihnen allen bekannten Ereignisse war es am Platze...«
Der Sprecher mußte hier stocken, weil ihn ein leichter Hustenreiz überkam. Des Bürgermeisters Hüsteln fand ein vielseitiges Echo.
»Die eingetretenen Verhältnisse,« fuhr das Stadtoberhaupt in seiner Rede fort, »gaben dringende Veranlassung zur Beratung der Sachlage. Die Vertreter der Wissenschaft...«
Wieder hüstelte der Stadtvater.
»Die Vertreter der Wissenschaft stehen den Naturereignissen, die sich hier soeben abspielen, völlig ratlos gegenüber. Da sie also die Sache in ihrem Zusammenhange nicht zu erklären vermögen, so macht sich auch eine Diskussion darüber überflüssig. Wir sind hier vielmehr zusammengekommen, um die Frage zu erörtern, werden die Erscheinungen, unter denen wir augenblicklich zu leiden haben, noch zunehmen, und welche Maßregeln können wir gegen sie ergreifen, um uns gegen dieselben zu schützen? — Meine Herren...«
Ein Hüsteln von allen Seiten ließ jetzt seine Worte unverstanden verklingen, weshalb das Stadtoberhaupt einige Augenblicke schwieg oder vielmehr sich auch an dem Hustenkonzert beteiligte.
Es schien jedermann, als wenn hier im Saale die Atmosphäre gleichwie am Strande für ihre Lungen wenig zum Atmen geeignet war. Alles schüttelte besorgt und angstvoll die Köpfe, und manchem mochte wohl schon um sein bißchen Leben bangen.
Trieb denn der Teufel sein Spiel in Amsterdam oder war die Welt dem Untergang nahe? — Die Antwort hierauf konnte sich jeder formen wie er wollte.
Wenn die Sauerstoffverbreitung in der Atmosphäre noch größere Dimensionen annahm, mußten sich da nicht schließlich die lieben Bürger von Amsterdam bequemen, Hals über Kopf aus der Stadt zu fliehen? Riskierte nicht jeder sein Leben, wenn er die Nacht über noch in der unseligen Gegend, die unter einer wahrhaft stiefmütterlichen Behandlung seitens der Natur zu leiden hatte, verblieb?
Die Stadtväter und Gelehrten standen den Dingen ratlos gegenüber und litten selbst wie alle anderen. Infolge der allgemeinen Aufregung und des fortgesetzten Hüstelns vieler Anwesenden konnte die Versammlung zu keinem Ende geführt werden. Das einzige Ergebnis, das dabei erzielt wurde, war eine Maßnahme seitens der Behörden, jedermann eindringlichst zu warnen, sich in die Nähe des Zuidersees zu begeben. Ferner hatten es die Stadtväter für geraten gehalten anzuordnen, daß Extrazüge auf den Bahnhöfen bereit gehalten würden, um, wenn sich die Sachlage noch schlimmer gestaltete, den Bürgern Gelegenheit zu geben, Stadt und Gegend einstweilig zu verlassen.
Zum Glück verschlimmerte sich die Sache jedoch nicht in dem Maße, wie mancher vielleicht erwartet hatte; aber bessern taten sich die Dinge auch nicht. Die Hustenepidemie und die Taumelerscheinungen hielten an, und besonders alte Leute und kleine Kinder litten arg darunter. Die einzigsten Menschen in und bei Amsterdam, welche weniger klagten, sich im Gegenteil sogar wohler fühlten als sonst und somit Veranlassung zu großer Verwunderung gaben, waren sämtlich schwer lungenkranke Personen. Ihnen mußte wohl die unnatürliche Sauerstoffzufuhr zu der Luft, die sie atmeten, weniger schaden.
Seltsam flackerten in jener Nacht die Gaslaternen der Stadt. Sie leuchteten mit ungewöhnlicher Helligkeit. Wieder ein Zeichen dafür, daß die Luft mit Sauerstoff reichlich geschwängert war. Das Bett suchte wohl niemand zum Schlafen auf. Allerorten sah man spät noch in den Häusern Licht, und die Straßen nahmen sich daher fast wie illuminiert aus.
Wer Feuer in dem Ofen hatte, der sah es zu seiner Verwunderung ungewöhnlich lebhaft brennen und war genötigt, oft frisches Brennmaterial aufzuschütten, denn allzuschnell schienen Holz und Kohle gleich wie Zunder zu verbrennen.
Wo man ging und stand wurde die nächtliche Stille durch hustende Personen unterbrochen. Die guten Bürger von Amsterdam hatten berechtigten Grund, diese Nacht als die seltsamste und furchtbarste in den Annalen der Stadtchronik zu verzeichnen.
Die Ärzte hatten alle Hände voll zu tun und überdies auch mit sich selbst zu schaffen; ihre Mittel zur Bekämpfung der katarrhalischen Erscheinungen blieben jedoch völlig wirkungslos. Gegen den augenblicklich dominierenden Matador der Luft, den Sauerstoff, konnte man nicht ankämpfen. Die Atmosphäre war durch ihn geradezu verpestet.
Während dieser Vorgänge ahnte niemand, daß der Urheber derselben mitten unter ihnen weilte und selbst ein Opfer seiner Machenschaften geworden war.
Mr. Robinson und sein Verbündeter saßen in dem Hause Nr. 62 an der Kalverstraat, höchstlich erschrocken über das, was sie angerichtet hatten, und konferierten miteinander.
Nachdem Mr. Robinson eben einen kleinen Hustenanfall überwunden hatte, fing er eifrig an, die gefährliche Sachlage mit Butkens zu erörtern.
»Wir haben da nette Zustände heraufbeschworen,« meinte Robinson und sah besorgten Blickes die heute besonders hell flackernde Petroleumlampe auf seinem Arbeitstische an.
»Und das schlimmste ist, wir sind nicht Herr der Lage,« versetzte Butkens. »Ich glaube, wenn man in der Stadt gewahr würde, daß wir an allem schuld sind, man würde uns auf der Stelle lynchen.«
Diesen Gedanken, der sich vielleicht bewahrheiten konnte, falls die Nachbarn ihrem Treiben auf die Spur kamen, empfand Robinson nicht gerade angenehm.
»Die Angaben des indischen Dokuments sind zu ungenau gewesen. Wir sind nicht genügend orientiert darüber, unter welchen Bedingungen die Gase des vernichteten Wassers an den Erdboden zu binden sind. Nun strömt eine Unmenge Sauerstoff und Wasserstoff in die Atmosphäre und wenn ganz Amsterdam morgen nicht erstickt ist, so soll es mich wundernehmen.«
»Das indische Dokument,« versetzte Butkens, »wird auf der Welt schönen Schaden anrichten. Es ist die Hinterlassenschaft eines Satans!«
»Aber, lieber Butkens, was sollen wir nun tun?«
»Jetzt, nachdem der elektrische Erdstrom ins Meer geleitet worden ist, sind wir völlig außerstande, die Vorgänge einzudämmen —«
»Dann wird ja die ganze Welt ersticken!« rief Robinson verzweifelt aus.
»Auch daran wird sich nichts mehr ändern lassen — — ja, ja, lieber Mr. Robinson, so kommt es. Wir wollten die Natur bezwingen und sie bezwingt uns.«
Ein heftiger Hustenanfall überkam jetzt den Sanskritforscher und wirkte auch ansteckend auf Butkens.
»Das unselige Dokument...« entrang es sich Robinsons Lippen.
»Wir haben ein chemischphysikalisches Meisterwerk vollbracht, das steht außer Zweifel. Ob wir es aber werden zu Ende führen können, das hängt von den Umständen ab. Das Binden der freigewordenen Gase an den Erdboden erfolgt, wie ich übrigens erwartet hatte, in so ungenügender Weise, daß weitaus die größte Menge Sauerstoff und Wasserstoff sich der Atmosphäre beimengte. Diese Übersättigung der Luft kann leichthin zur Vernichtung alles Organischen auf der Erde führen.«
»Furchtbar...,« stieß Robinson hervor und starrte, die Goldschlange an seinem Finger mit nervöser Unruhe drehend, zu Boden.
»Die Vernichtung des Wassers schreitet unaufhaltsam vorwärts,« erwiderte Butkens, »und es steht außer unserer Macht, ihr Einhalt zu tun.«
»Dann wird der Ozean bald trocken gelegt sein,« versetzte hüstelnd Robinson und wischte sich den hervorbrechenden Angstschweiß von der Stirn.
»Ein trockener Ozean... Wie seltsam mich dieser Gedanke anmutet,« versetzte Butkens.
»Schrecklich! Wenn man bedenkt,« sagte Robinson, »daß wir den Tod für die ganze Menschheit heraufbeschworen haben können! Findet ein allgemeines Absterben nicht durch die Sauerstoffüberlastung der Luft statt, so wird die Wasservernichtung die Welt noch mit hundert anderen Toden bedrohen.«
Butkens nickte und sein Mienenspiel verriet, daß auch ihn eine verzweifelte Stimmung beherrschte. »Abgesehen davon, daß durch großen Wassermangel ein allgemeines Sterben eintreten kann, würde auch allein schon durch die in dem trocken gelegten Ozean krepierten Fische der Tod in einer neuen Gestalt an Mensch und Tier herantreten. Die Verwesung von ungezählten Fischkadavern würde die Luft zweifellos derart verpesten, daß, wer bis dahin noch nicht durch den Sauerstoff erstickt oder aus Wassermangel zugrunde gegangen ist, sicherlich dann der Welt Valet sagen muß.«
Diese von Butkens soeben aufgerollten Perspektiven waren keineswegs dazu angetan, Robinsons Stimmung zu bessern.
»Es wäre vielleicht besser,« sagte er in gedrücktem Tone, »wenn ich mich als den Urheber der Schreckensvorgänge bezichtige?«
»Das würde die Sache nicht bessern. Darum wollen wir lieber schweigen.«
Während die beiden Männer nächtlicherweile über die Folgen ihres Tuns hin und her berieten, durcheilte die Stadt die Kunde, daß eine Überflutung nicht mehr zu befürchten sei, da unerwartet eine ungeheure Ebbe eingetreten wäre. Es hieß weiter, daß die Wasser des Atlantischen Ozeans plötzlich viele Meilen weit nach Westen zurückgegangen seien und große Flächen Meeresboden nun trocken dalägen.
Trotz der allgemein herrschenden Atemnot, welche die veränderte Atmosphäre allerorten hervorrief, strömten zahllose Neugierige aus Amsterdam und anderen Orten Hollands an die Küste der Nordsee, und wirklich, niemand wollte seinen Augen trauen, die Nachricht von der Zurückweichung des Strandes bestätigte sich.
Der Zuidersee lag längst trocken, und die am Ausgange desselben in der Nordsee liegenden holländischen Inseln, wie Texel, Vlieland, Terschelling und noch andere erhoben sich auf dem trockenen Meeresboden wie langgezogene Bergplateaus. Städte, welche bisher unmittelbar am Meere gelegen hatten, befanden sich mit einem Male inmitten einer gewaltigen Ebene.
Wagehalsige Männer, welche durchaus sehen wollten, wie weit das Meer zurückgewichen war, hatten lange Märsche zu machen, bis sie zu der mehr und mehr zurückweichenden Strandlinie gelangten. Und was sahen die Leute unterwegs nicht alles!
Zahllose Reste von Schiffstrümmern aus allen Jahrhunderten, zwischen denen zerfallene Menschenskelette lagen, bedeckten den Meerboden. Je weiter ab von der ehemaligen Strandlinie, desto interessanter wurde das Bild. Zahllose Mengen der verschiedenartigsten Muscheln und Schalen abgestorbener Seetiere überlagerten das gewaltige, trockengelegte Terrain.
Große überseeische Kabel lagen bereits mehr als hundert Kilometer frei auf dem Sandboden da und glichen dem Aussehen nach gewaltigen Seeschlangen.
Des Rätsels Lösung hinsichtlich der anormalen Naturerscheinung war auch am dritten Tage nach dem Auftreten derselben von der Menschheit noch nicht gefunden worden. Nur zwei Männer wußten darum, und die hielten wohlweislich ihren Mund. Zum Glück hatte die Versauerstoffung der Luft nicht weiter zugenommen, was für Eingeweihte, wie Robinson und Butkens, auch erklärlich war, weil die Wasserzersetzung nicht mehr in unmittelbarer Nähe, sondern mehrere hundert Kilometer weit sich vollzog.
Während noch die beiden Urheber der Geschehnisse sich die Köpfe zerbrachen, wie sie den Dingen wieder Einhalt tun konnten, verbreitete sich die Nachricht durch das Land, daß man festgestellt habe, daß innerhalb der letzten Stunden ein weiteres Zurückweichen der Strandlinie nicht mehr beobachtet worden sei.
Als Robinson die Kunde vernahm, fiel es ihm wie ein Stein vom Herzen.
»Gott sei Dank!« rief er Butkens zu, »daß die Sache von selbst zum Stillstand kommt.«
»Ich bin darüber eigentlich erstaunt,« meinte der Chemiker.
»Der elektrische Erdstrom scheint seine Wirkung auf das Meerwasser wohl nicht mehr zu äußern,« versetzte Robinson, und man konnte es ihm ansehen, daß er wieder etwas Mut gefaßt hatte.
»Wenn die Geschichte nur nicht von neuem losgeht.«
»Das möchte ich bezweifeln, nachdem einmal ein Stillstand eingetreten ist,« antwortete Robinson.
»Ich traue den Dingen noch nicht recht.«
»Wie ich heute in der Zeitung las, hat sich der Strand bis gestern Nacht drei Uhr, wo ein Stillstand zum ersten Male bemerkbar wurde, um rund zweihundertfünfzig Kilometer seeinwärts verschoben.«
»Das bedeutet einen großen Gewinn an Land für alle am Meere liegenden Staaten.«
»Somit wäre Holland jetzt doppelt so groß,« bemerkte Robinson.
»Das gleiche Resultat haben auch Belgien und alle anderen längs der Küste des Atlantischen Ozeans und der Nordsee liegenden Länder zu verzeichnen.«
Beim hastigen Durchlesen der soeben von Hassan überbrachten neuen Ausgabe von Extrablättern entnahm Robinson verschiedene interessante Tatsachen.
Das eine Extrablatt lautete:
»London. — Gestern nacht um ein Uhr konnte festgestellt werden, daß der Kanal zwischen England und Frankreich, sowie fast das halbe Nordseebett bis zur Doggerbank ausgetrocknet war. Damit hat sich eine der ungeheuerlichsten Naturumwälzungen auf der Erde vollzogen: England ist dem Kontinent wiedergegeben.«
Eine zweite Depesche lautete wie folgt:
»Calais. — Der Kanal La Manche ist bis auf die Höhe von Cherbourg durch die eigentümlichen Naturvorgänge der letzten Zeit trockengelegt. Die nächsten Tage, vielleicht schon die nächsten Stunden werden Gewißheit bringen, ob diese Erscheinung dauernd bleiben wird, oder ob eine eintretende Flutbewegung des Meeres alles wieder in die normale Lage zurückversetzen wird.«
Eine dritte Depesche besagte folgendes:
»Hamburg. — Nach eingehendsten Beobachtungen und Untersuchungen des hiesigen Seeamtes handelt es sich bei der abnormen Zurückweichung des Meeres um eine Ebbeerscheinung von noch nicht dagewesener Ausprägung. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die gestörte Flut- undEbbebewegung ihre Ursache in gewaltigen lunarischen Störungen hat. Möglicherweise findet aus irgend welchen Anlässen eine verstärkte Anziehungskraft des Mondes auf die Erde statt. Es steht zu erwarten, daß, wenn es sich um eine solche handelt, diese wohl nicht von längerer Dauer sein wird und sich voraussichtlich schon gegen den nächsten Phasenwechsel hin wieder abschwächen wird.«
Die von so berufener Seite abgegebene Erklärung über die unnatürlichen Vorgänge an den europäischen Meeresküsten entlockte Robinson und Butkens, den beiden Eingeweihten, ein Lächeln. Sie wußten es besser.
»Ich wäre seelensfroh,« sagte Robinson, »wenn alles wieder ins alte Geleise käme und werde mich hüten, das Experiment nochmals zu unternehmen.«
»Aber technisch wollen wir es doch ausbeuten,« meinte Butkens. »Freilich müßte die Wasserzersetzung sich nur auf geschlossene Binnenseen ausdehnen, welche man gern trocken gelegt haben möchte, um Land zu gewinnen.«
»Die Holländer sollten sich doch jetzt dazuhalten,« meinte Robinson, »ihren langgehegten Lieblingsplan, die Austrocknung des Zuidersees zu verwirklichen. Der See liegt augenblicklich trocken da und es bedarf nur eines schnell zu erbauenden Dammes, um die etwa wieder hereinbrechenden Wasser des Meeres aufzuhalten.«
»Ich bin wirklich neugierig, ob das Meer wieder in sein altes Bett zurückkehrt, oder ob die trockengelegten Stellen ein für allemal für den Kontinent gewonnen sind,« meinte Butkens und betrachtete eine Landkarte, auf welcher die europäische Küstenlinie in ihrem ganzen Verlauf zu sehen war.
»Wird sich der freigewordene Wasserstoff und Sauerstoff nicht wieder zu Wasser verbinden?« frug Robinson.
Butkens zuckte die Achseln. Die Frage ging über seinen Wissenshorizont. »Möglich...« ließ er sich nachdenklich vernehmen.
»Es war ein frevelhaftes Spiel, mit den gewaltigen Kräften der Natur aus der Daseinswelt eine andere machen zu wollen,« sagte Robinson.
»Wir sind zum Glück noch mit einem blauen Auge davongekommen,« versetzte Butkens mit leichter Ironie.
»Nun, mir wird es nicht wieder in den Sinn kommen, einen Ozean trocken legen zu wollen,« erwiderte Robinson, indem er einen scherzhaften Ton anzuschlagen versuchte.
Über die stattgehabten Ereignisse hatte der Sanskritforscher fast ganz die anderen Geheimnisse der indischen Dokumente vergessen. Sein Denken und Sinnen war noch immer auf die augenblickliche Schreckenslage gerichtet. Erst die folgenden Tage mit ihren beruhigenden Nachrichten weckten wieder die Erinnerung in ihm, daß er noch weitere Geheimnisse der indischen Dokumente zu verwerten vorhatte.
An die Segnungen oder das Unheil, welche das indische kalte Feuer und die verflüssigte Luft für die Erdenmenschheit heraufbeschwören konnten, hatte er bis zur Stunde nicht wieder gedacht.
Noch wußte und ahnte Butkens nicht, daß sein Verbündeter noch über weitere Geheimnisse verfügte, die bei ungeschickter Verwertung gleichfalls Schreckenszeiten auf dem Erdball hervorzurufen geeignet waren.
Er und seine Mitmenschen sollten dies auch nur zu bald gewahr werden, indem sie durch neue welterschütternde Ereignisse überrascht wurden.
Wochen waren seit jenen Vorgängen, welche alle Gemüter Europas in Schach gehalten hatten, ins Land gerauscht. Vor neuen Folgen war die Menschheit bewahrt geblieben. Die Mutter Natur hatte ihre Verhältnisse wieder rangiert, und das einzigste Merkmal jenes von Robinson und Butkens unternommenen Versuches, die Welt umzukrempeln, war und blieb die Strandverschiebung nach Westen. Freilich hatte sich der Ozean den weitaus größten Teil seines ihm damals entrissenen Terrains wieder zurückerobert, sodaß nach wie vor die britischen Inseln vom Festland durch den vom Wasser wieder durchfluteten Kanal getrennt blieben.
Auch die Störungen im Luftozean hatten sich gelegt, der Sauerstoffüberschuß und der Wasserstoffgehalt waren längst durch den Ausgleich der Luftschichten wieder beseitigt worden. Die holländische Hustenepidemie mit ihren Taumelerscheinungen war infolgedessen auch vorübergezogen und hinterließ zum Glück nur wenig Spuren.
Während sich also die liebe Welt wieder im alten Geleise bewegte, waren es nur noch die Vertreter der Wissenschaft, welche sich mit den vor Wochen aufgetretenen Erscheinungen weiter beschäftigten, ohne der Sache jedoch auf den Grund kommen zu können. Was geschehen, war und blieb ein rätselhaftes Naturereignis, das in den Annalen der Erdgeschichte eine allzeit denkwürdige Begebenheit bilden sollte.
Robinson führte seit jenem Tage, wo er angefangen die Menschheit mit seinen indischen Geheimnissen zu beglücken, ein Tagebuch, in welches er alles Wichtige und Interessante seines Tuns und Treibens gewissenhaft eintrug, in der Absicht, daß die Tagebuchblätter nach seinem Tode der Menschheit des Rätsels Lösung jener denkwürdigen Tage verraten sollten. In diesem Manuskript war unter anderem folgendes zu lesen:
»Wer der Natur ins Handwerk pfuscht, wird die Folgen stets am eigenen Leibe erfahren. So auch ich, der es gewagt, ein Meer trocken zu legen. Der im Luftozean vagabundierende Sauerstoff und Wasserstoff hat auch meinen Lungen arg zugesetzt, und danke ich dem göttlichen Schöpfer, daß ich und meine Mitmenschen der von mir heraufbeschworenen Gefahr entronnen sind.« —
Eine andere Stelle des Tagebuchs hatte folgenden Wortlaut:
»Die größte Arbeit, um die Austrocknung des Ozeanes in Szene zusetzen, war für uns das Abfangen des den Erdball in einiger Bodentiefe umkreisenden Magnetstromes und dessen Umformung in elektrische Energie. Zu diesem Zwecke vollzogen wir die Anzapfung des elektrischen Erdstromes, welcher die Wasser des Ozeans zersetzen sollte, an einer geeigneten Stelle der Westküste der Insel Texel vermittels einer mechanischen Vorrichtung. Durch das Eintreiben eines stählernen Doppelkabels in den Meeresboden gelang es, den magnetelektrischen Strom abzufangen und ihn durch eine geeignete Armatur in elektrische Wellen umzuwandeln, welche dann in das Meerwasser austraten und durch eine ähnliche Armatur am Strande des Zuiderseebusens Y wieder aufgefangen wurden, zwischen beiden Stationen eine intensive Wasserzersetzung hervorrufend.«
Der Leser hat nun aus diesen Zeilen das Geheimnis Robinsons in seinen wichtigsten Punkten erfahren. Hätten sich Technik und Wissenschaft des gelösten Problems bemächtigen können, so wäre das indische Geheimnis sicher noch einmal zum Segen der Menschheit gereicht.
Die Nachbarn des Hauses Nr. 62 in jener Seitengasse der Kalverstraat raunten sich in den letzten Tagen allerlei zu, wonach Mr. Robinson als ein Sonderling deklariert wurde, der sicherlich etwas auf dem Kerbholz oder irgend ein Geheimnis zu verbergen habe. Anlaß zu solchem Getuschel mochte wohl Hassan gegeben haben, welcher einem städtischen Beamten, der das Haus zwecks vorzunehmender Enteignung besichtigen wollte, den Eintritt kategorisch verwehrt und diesem die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte.
Da nächtlicherweile auch häufig im Hause Nr. 62 ein seltsamer Lichtschein von den Nachbarn bemerkt worden war, so hieß es, daß es bei Mr. Robinson nicht mit rechten Dingen zugehe.
Um all dieses Gerede kümmerte sich aber der, den es eigentlich betraf, nicht. Mr. Robinson war viel zu sehr mit seinen Versuchen beschäftigt, und das besonders augenblicklich wieder, da er das dritte indische Geheimnis experimentell erprobte.
Wie damals, so war auch jetzt Butkens sein Vertrauter. Freilich hatte Robinson, ehe er hinsichtlich der neuen Entdeckung Farbe bekannte, eine Zeit geschwankt, ob er seinen alten Verbündeten nochmals zum Mitwisser von Dingen machen sollte, die wiederum eine Revolution in der Natur hervorzurufen nur zu geeignet erschienen. Seine Bedenken aber waren doch geschwunden, als er erwogen hatte, daß eine wissenschaftliche Hilfe ihm nur von Nutzen sein könne, weil er den chemischen und physikalischen Kräften, über deren Wesen er nicht genügend unterrichtet war, als Laie gegenüberstand.
»Nun, lieber Butkens, was sagen Sie zu der neuen Sache?« frug Mr. Robinson und steckte ein zufriedenes Lächeln auf.
»Die Sache ist ein würdiges Pendant zu dem Wasserzersetzungsproblem.«
»Wenn wir unvorsichtig zu Werke gehen, könnte es uns wieder passieren, daß wir Fiasko erleiden.«
»Daran möchte ich auch nicht zweifeln.«
»Wie beugen wir dem vor?«
Butkens zuckte die Achseln und trommelte mit den Fingern auf dem Tisch, vor dem er saß.
»Den Erdball seiner Atmosphäre berauben, wäre ja für uns gleichbedeutend mit Selbstmord,« meinte Robinson.
»Soweit wollen wir auch gar nicht gehen,« antwortete Butkens.
»Richtig! Wir wollen ja nur die Luft verflüssigen, um sie dann wieder zum gasigen Zustande verdampfen zu lassen.«
»Wenn es uns gelänge, die ganze Atmosphäre der Erde sozusagen nach und nach zu destillieren, würde das gleichbedeutend sein mit der Vernichtung aller darin enthaltenen Bakterien und sonstigen Krankheitskeime.«
Robinson nickte.
»Damit würden wir eine Unzahl Krankheiten aus der Welt schaffen, denn wenn ihre Erreger fehlen, werden sie auch nicht aufzutreten vermögen.«
Robinson nickte wieder. Ihm schien die Perspektive, welche Butkens hinsichtlich der Verwirklichung der neuen Idee entrollte, von ebenso überaus wichtiger Bedeutung als auch ungefährlich zu sein.
»Glauben Sie wirklich, daß wir bei der Verflüssigung im großen Maßstabe keine Gefahr laufen, daß uns durch irgend etwas wieder ein Strich durch die Rechnung gemacht wird?« frug Robinson.
»Je nun,« antwortete Butkens. »Man hat mit allerlei Faktoren zu rechnen. Die hierbei möglichen habe ich mir freilich alle schon durchs Hirn gehen lassen und glaube nicht, daß wir wieder so in Verlegenheit kommen werden, wie damals mit dem Wasserexperiment.«
»So — so — —« sagte nachdenklich Robinson und drehte gewohnheitsgemäß wieder einmal seine diamantenbesetzte Goldschlange am Finger.
Man sieht, daß die beiden Männer diesmal, gewitzigt durch die früheren Vorfälle, mit allen etwa auftretenden Faktoren rechneten, die ihnen einen Strich durch die Rechnung machen konnten. Wenngleich beide durch die bisherigen Erfahrungen nicht gerade zu Optimisten gestempelt worden waren, so sahen sie doch jetzt auch nicht schwarz in schwarz. Sie nahmen in gutem Glauben auf ihre Sache an, daß sie bei einiger Vorsicht diesmal doch besser fahren würden als das letzte Mal.
Aber die nächsten Tage schon sollten sie eines Besseren belehren. Wieder war es ein unbeachteter Hauptfaktor, welcher die gesamte Lebewesenwelt mit Untergang bedrohte, und der nicht wegzubannen war.
»Machen wir jetzt noch ein letztes Experiment im Kleinen,« sagte Butkens.
»Ich bin einverstanden,« erwiderte Robinson, »und werde sofort die nötigen Vorkehrungen dazu treffen. — — Hassan!«
Bei dem letzten Rufe hatte der Sanskritforscher eine Klingel ergriffen und in Bewegung gesetzt.
Wenige Augenblicke später erschien der Araber auf der Schwelle der Tür.
»Du sollst uns helfen!« befahl der Herr seinem Diener.
Hassan nickte und wartete nun der weiteren Aufträge.
»Es ist doch ein sehr einfaches Verfahren,« sagte Robinson. »Luft durch sich selbst so abzukühlen, daß sie schließlich tropfbar flüssig wird.«
»Die moderne Chemie hat das Problem auch bereits gelöst,« erwiderte Butkens. »Die Verflüssigung gelingt freilich nur in kleinem Maßstabe.«
»Das Grandiose der Entdeckung des altindischen Forschers liegt aber eben darin, daß nach dieser Methode mit Leichtigkeit das ganze Luftmeer verflüssigt werden kann.«
Während dieses Gespräches hatte Robinson zu dem zu machenden Experiment die erforderlichen Gerätschaften durch Hassan bereit stellen lassen.
Nach den Angaben des indischen Dokumentes hatte sich Robinson einen eigenartig geformten, metallenen Kessel herstellen lassen, in welchem durch Einwirkung elektrischer Energie Luft in größeren Quantitäten verflüssigt werden konnte.
Für den Leser dürfte es von Interesse sein, einiges wenige Wissenschaftliche über verflüssigte Luft und ihre Herstellung an dieser Stelle zu erfahren, weshalb nachstehend kurz das Notwenigste darüber gesagt sei.
Bekanntlich besteht die atmosphärische Luft aus Stickstoff und Sauerstoff, genauer aus 79 Teilen Stickstoff und 21 Teilen Sauerstoff. Außerdem enthält die Luft noch außerordentlich winzige Beimengungen von Gasen, wie Neon, Krypton, Xenon und Argon. Lange Zeit hindurch widerstanden die Hauptbestandteile der Atmosphäre den Bemühungen der Forscher, sie zu verflüssigen. Erst als es gelang, die Luft durch sich selbst auf eine Kälte von 200° C. abzukühlen, wurde sie tropfbar flüssig. Schon bei 140° Kälte läßt sich Luft flüssig machen, hierbei ist jedoch ein Druck von 50 Atmosphären erforderlich. Die Abkühlung der Luft durch sich selbst bis zu jenem furchtbaren Kältegrad wird von der modernen Chemie in einem besonderen Apparat vorgenommen. Die Selbstabkühlung erfolgt durch mehrmalige Zusammenpressung und plötzliche Wiederausdehnung der im Apparate befindlichen Luft, wobei sich letztere von Etappe zu Etappe mehr abkühlt, bis der kritische Punkt erreicht wird, wo man sie als eine stahlblaue, etwas milchig getrübte Flüssigkeit erhält. Flüssige Luft muß, soll sie nicht wieder sofort verdampfen, in besondere Glasgefäße mit doppelten Wänden, zwischen denen ein luftleerer Raum vorhanden ist, gebracht werden. Die innere Wand solcher Flaschen muß zudem noch mit einem Quecksilberbelag versehen sein, um eine Wärmestrahlung zu verhindern. Flüssige Luft siedet bei 200° Kälte. Das klingt paradox. Die Siedepunkte der festen und flüssigen Stoffe der Erde sind bekanntlich untereinander grundverschieden. So siedet Zink bei über 1000° Wärme, Wasser bei 100° Wärme und Äther bei 35° Wärme, gerechnet nach Celsius. Der Siedepunkt der flüssigen Luft liegt jedoch, wie schon erwähnt, bei 200° Kälte.
Die hier eben angeführten wissenschaftlichen Fakten waren natürlich dem Chemiker Butkens bekannt, aber auch Robinson, denn er hatte es nicht unterlassen, aus Lehrbüchern das Wissenswerteste über die Verflüssigung der Luft zu studieren. Die Angaben des indischen Dokumentes reichten aber noch bedeutend weiter und zeigten dem Sanskritforscher den Weg, den er zu wandeln habe, wenn er eine Luftverflüssigung in größerem Maßstabe vornehmen wolle.
»Haben Sie sich schon einmal mit der Erzeugung flüssiger Luft befaßt?« fragte Robinson Butkens, indem er eine kleine Luftpumpe in Bewegung setzte, welche Luft in dem Kessel komprimieren sollte.
Butkens mußte verneinen. — »So ist Ihnen das Wenige, was man darüber weiß, nur theoretisch bekannt?« — Butkens bejahte.
»Dann werden Ihnen einige kleine Experimente, welche ich mit flüssiger Luft schon mehrfach angestellt habe, sicherlich rechtes Vergnügen bereiten,« meinte Mr. Robinson und prüfte den Manometer seines Kessels.
»Ich hörte allerlei darüber, hatte aber noch keine Gelegenheit, mit meinen Augen die direkte Einwirkung flüssiger Luft auf ihre Umgebung zu beobachten,« versetzte Butkens.
Robinson erzählte nun, wie seine bisherigen Versuche mit flüssiger Luft verlaufen waren und welche interessante Resultate er damit erzielt hatte.
Während dieser Darlegungen hatte Robinson den Apparat in Funktion gesetzt und zapfte eben aus einem Hahn des Kessels eine Probe verflüssigter Luft in ein weitbauchiges Gefäß.
»Sehen Sie, lieber Kollege,« sagte er dann zu Butkens, »hier haben wir etwas von dem eisigen Fluidum.«
Das kleine Gefäß entsandte deutlich sichtbare Rauchwolken.
»Ich möchte nicht den Finger in die Flüssigkeit halten,« meinte Robinson scherzhaft.
»Er würde so sicher erfrieren, wie zweimal zwei vier und nicht fünf ist,« versetzte Butkens.
»Schon der Dampf hat mir unlängst einmal Brandblasen an den Händen erzeugt,« sagte Robinson.
In einer Ecke stand Hassan und schaute mit weitgeöffneten Mund und Augen den Dingen zu, die sein Herr trieb. Seit der Araber das kalte Feuer gesehen hatte, hegte er einen heiligen Respekt vor Mr. Robinson und hatte ihn im stillen in Verdacht, daß er mit dem Bösen in Verbindung stehe. Jetzt wo er hörte, daß sein Herr Luft in Wasser verwandelt hatte, packte ihn ebenso Entsetzen wie Erstaunen.
»Nun wollen wir einmal etwas von dem Fluidum auf den Boden schütten,« sagte Robinson und schien über die Fratze, welche sein Diener schnitt, belustigt zu sein.
Auf den Dielen des Zimmers entwickelte sich jetzt eine gewaltige schneeweiße Dampfwolke, und gleichzeitig entstand eine Kälte im Raum, welche Hassan die Zähne klappern machte. Dann bildete sich an den Fensterscheiben mit außerordentlicher Schnelligkeit ein dicker Eispelz. Die Zimmerwärme war nämlich von der flüssigen Luft bei deren Verdampfung aufgesaugt worden, und der in der umgebenden Luft enthaltene Wasserdampf setzte sich deshalb gefrierend an den Scheiben ab.
Butkens, welcher gerade rauchte, wollte nun chemisch einmal erproben, was aus dem Dampf seiner Zigarre werde, wenn er denselben mit flüssiger Luft in Berührung brachte. Er blies einige Rauchwolken über das bauchige Gefäß mit dem eisigen Fluidum, und sofort schlug sich der Zigarrendampf als eine schneeartige Masse auf den Tisch nieder. Man hatte gefrorene Kohlensäure erhalten.
»Nun wollen wir einmal die Wirkung auf Metalle erproben,« sagte Robinson und nahm eine Bleiglocke zur Hand, dieselbe in die flüssige Luft tauchend. Als er sie wieder herauszog und mit einer Messerklinge anschlug, klang sie wie ein reinsilbernes Glöcklein.
»Diese Klangveränderung ist doch ein eigentümliches Phänomen,« meinte Robinson.
»Aber wohl sehr einfach zu erklären,« antwortete Butkens. »Die Struktur des Metalls hat sich eben durch die Einwirkung der ungeheuren Kälte verändert, die Moleküle mögen einander nähergerückt sein.«
»Sie werden wohl das Richtige getroffen haben,« meinte hierzu Robinson und pflückte von einem in der Ecke befindlichen Blumenstock eine rote Geranienblüte ab.
»Jetzt bin ich neugierig, was aus einer solchen Blume wird.«
»Sie wird erstarren — ohne Zweifel.«
Als Robinson die in den Behälter getauchte Blüte vermittels einer Zange wieder herauszog, sie auf den Tisch legte und dann berührte, mußte er bemerken, daß die Blume so hart und spröde wie Glas geworden war.
Butkens ergriff einen Mörserkolben und schlug damit auf die gefrorene Blume. Es war ein leichtes, dieselbe zu Pulver zu zerstoßen, zu einem Pulver, welches gemahlenem Glas sehr ähnelte.
Hassan hatte es gewagt, einige Schritte näher zu treten, um all das Fabelhafte, was er hier zu sehen bekam, deutlicher in Augenschein nehmen zu können. Sein Entsetzen und sein Erstaunen wuchsen dabei natürlich von Minute zu Minute.
»Erproben wir jetzt einmal, wie sich Fett oder Butter zu unserem Fluidum verhalten,« sagte Butkens.
Robinson ließ sich von Hassan derartiges bringen und tauchte ein Stück davon in das Gefäß mit der flüssigen Luft. Das, was er kurz darauf herauszog, schien ein gelber Stein zu sein. Und tatsächlich war die Butter auch durch die Eiseskälte zu Stein geworden, kaum mit dem Hammer zertrümmerbar.
Dann nahm Robinson ein Stückchen Stahldraht zur Hand, befestigte an dessen Ende etwas Zunder, entzündete diesen und legte denselben in einen Teller mit Wasser, den er kurz zuvor über die bauchige Schale gestellt hatte. Das Wasser war inzwischen zu Eis gefroren, und der Stahldraht sprühte nun, als er zu brennen anfing, starke Funken aus. Nach Beendigung des Experimentes zeigte es sich, daß das Eis auf dem Teller nicht geschmolzen, dagegen der Stahldraht zu einem Klumpen zusammengelaufen war.
»Ich habe noch allerlei Versuche mit flüssiger Luft unternommen,« sagte Robinson. »Das Fluidum ist in seiner Wirkung sehr interessant. So habe ich zum Beispiel Quecksilber darin so gefrieren lassen, daß ich es nachher zu einer kleinen Platte aushämmern konnte. Als ich unvorsichtigerweise einmal einen Gummischlauch in das Gefäß fallen ließ und ihn aus der flüssigen Luft wieder herauszog, glaubte ich, ein Eisenrohr vor mir zu haben. So könnte ich Ihnen noch eine ganze Reihe hochinteressanter Dinge erzählen.«
»Das kann ja schöne Zustände auf der Erde hervorrufen, wenn wir einmal gewaltige Mengen Luft verflüssigt haben,« meinte Butkens.
»Meine Ziele richten sich in erster Linie dahin,« versetzte Robinson, »die Atmosphäre durch solch eine Metamorphose bakterienfrei zu machen, um die Krankheiten aus der Welt zu schaffen.«
»Fürwahr, ein hohes und herrliches Ziel, was Sie sich gesteckt haben, Mr. Robinson.«
»Ich hoffe, die Welt weiß es mir Dank.«
»Ja, wer das voraussehen könnte,« meinte hierzu Butkens achselzuckend. »Eigentlich ist immer Undank der Welt Lohn.«
Robinson nahm im Verein mit Butkens noch allerlei andere Experimente vor, um die Wirkung der flüssigen Luft auf die verschiedensten Dinge zu erproben. Die erhaltenen Resultate mochten wohl den gehegten Erwartungen vollkommen entsprochen haben, denn als sich Butkens von seinem Verbündeten verabschiedete und sich von Hassan auf die Straße geleiten ließ, da hätte ein aufmerksamer Beobachter eine stille Freude in den Mienen des Chemikers lesen können.
Als Butkens seinem Heim zutrottete, war es ihm zur Gewißheit geworden, daß für die Menschheit in Bezug auf ihre Daseinsbedingungen nunmehr eine neue Ära anbrechen würde.
Wie wunderbar ist doch die Schöpfung! Die Welt des Mikrokosmos und die Welt des Makrokosmos, wie fordern sie nicht jede für sich des Menschen größte Bewunderung heraus. Wie Unendlichkeit im großen Universum herrscht, so auch in der mikroskopischen Welt. Wer möchte da behaupten, daß die Atome der Chemiker oder die Elektronen der Physiker die Grenze des Kleinsten bilden? Kann man sich nicht das Teilbare noch weit über die Atome hinaus bis ins Unermeßliche denken? Nach unten wie nach oben gibt es keine Grenze. Und wenn der Mensch mit seinem geistig beschränkten Horizonte eine Grenze zieht, so tut er es, um sich nicht ins Haltlose zu verlieren. Jeder Wassertropfen bildet eine Welt für sich, wäre es da falsch zu denken, wenn man jedes Atom gleichfalls als eine Welt betrachtet, als eine Erdkugel en miniature ansieht? — — Können nicht die Gasatome der Luft bis ins kleinste hinunter unermeßliche Räume darstellen, in denen Staubatome wie Gestirne im großen Universum schweben?
Bei solchen Betrachtungen muß die Wassertropfenwelt schon als ein ungeheuer großes Lebewesenreich erscheinen, in dem Infusorien die Rolle von Mammuttieren spielen. — — — —
Solche Gedankengänge waren es, welche Robinson im Geiste beschäftigten, als er ruhelos den Rest der Nacht auf seinem Lager verbrachte. Als er dann über dieses tiefsinnige Grübeln eingeschlummert war, umgaukelten ihn wieder einmal Träume tollster Art. Er sah vor sich zahllose über ihre bevorstehende Vernichtung empörte Mikroben, welche aus ihrer Kleinheit heraus plötzlich zu Riesengestalten anwuchsen und ihn drohend umkreisten. Dann wieder sah er ein Heer von Infusorien auf sich zumarschieren, und den Schlußakkord seiner verworrenen Träume bildete der Augenblick, wo er sich durch die verflüssigte eisige Atmosphäre selbst zu Stein gefroren sah.
Schweißgebadet erwachte Robinson am folgenden Morgen, aber er konnte sich der wüsten Traumgebilde noch gut erinnern.
Als Hassan den Morgentee brachte, sah er seinem Herrn in das verschlafene, übernächtige Gesicht.
Butkens erschien schon in aller Frühe, auch er hatte die Nacht, ohne Ruhe zu finden, verbracht.
»Ich habe eine wertvolle Idee über Nacht bekommen,« meinte der Chemiker, als er seinem Verbündeten zum Morgengruß die Hand drückte.
»Und die wäre?« frug neugierig Robinson.
»Erproben wir doch einmal praktisch, ob verflüssigte und in ihrem gasigen Zustande zurückverdampfte Luft imstande ist, einen Schwerkranken zu heilen oder ihn zum wenigsten auf den Weg der Besserung zu bringen.«
»Aber wo wollen wir einen derartigen Versuch unternehmen?«
»Das können wir hier tun,« versetzte Butkens. »Einen Patienten hätte ich schon zur Hand.«
»Dann wollen wir aber auch damit nicht länger zögern,« erwiderte Robinson.
»In meinem Hause wohnt im vierten Stock eine lungenleidende Frau, welche ich schon von dem eben erwähnten Versuche verständigt habe. Sie ist bereit zu kommen, ja sie klammert sich an diese letzte Hoffnung.«
»Wenn ich richtig rate, so haben Sie die Absicht, die Kranke eine Zeitlang in einer Atmosphäre leben zu lassen, welche bakterienfrei ist, die also reinste Gebirgsluft darstellt?« frug Robinson.
»Ganz so liegt es in meiner Absicht. Die Hospitäler sollen demnächst ihre sämtlichen Räume mit unserer metamorphosierten Luft versehen.«
»Der Gedanke ist grandios,« versetzte Robinson, »ob er sich aber wird durchführen lassen?«
»Ja, zum Kuckuck!« rief Butkens aus. »Warum soll sich der Gedanke nicht verwirklichen lassen? Beabsichtigen Sie doch, den ganzen Luftozean nach und nach die eisige Metamorphose durchmachen zu lassen.«
»Hören Sie, lieber Butkens, mir ist es heute durch den Kopf gegangen, ob es wohl nicht am ratsamsten wäre, wenn wir mit unseren Geheimnissen an die Öffentlichkeit träten?«
Butkens zuckte die Achseln.
»Ja, ich weiß auch nicht recht, wie man uns entgegenkommen wird.«
»Vielleicht hängt man uns, vielleicht gibt man unserem Verdienst die Krone,« antwortete der Chemiker und wiegte seinen Kopf bei diesen Worten hin und her.
»Treten wir vor die Öffentlichkeit, so können uns vielleicht Millionen entgehen und man sperrt uns, wenn unsere Geheimniskrämerei der lieben Mitwelt irgendwie wieder zum Schaden gereichen sollte, sicher nolens volens ins Gefängnis oder Irrenhaus.«
»Hm — vor diese Alternative müssen wir uns stellen,« meinte hierzu Butkens. »Es bedarf reiflicher Überlegung, in welcher Weise wir die weiteren Dinge handhaben.«
»Nach meinem Dafürhalten wäre es wohl am praktischsten, wenn wir zunächst den kleinen Experimenten größere Versuche praktisch folgen ließen, um dann vielleicht mit glänzenden Ergebnissen der Mitwelt nahe zu treten.«
Butkens fand diesen Gedanken auch für den akzeptabelsten.
Dieser Entschluß wurde daher festgehalten.
Für die Zwecke weitgehendster mikroskopischer Betrachtungen hatte Butkens ein Ultramikroskop zur Stelle geschafft, welches von ihm jetzt zur Untersuchung kleinerer Quantitäten flüssiger Luft benutzt wurde.
»Halten Sie das Ultramikroskop für ausreichend, um konstatieren zu können, ob verflüssigte Luft noch Keime enthält, die Krankheiten hervorzurufen vermögen?« frug Robinson.
»Die optische Stärke des Ultramikroskopes,« versetzte Butkens, »ist eine außerordentlich große und das Auflösungsvermögen ist darin derart gesteigert, daß man Strukturelemente noch getrennt wahrzunehmen vermag, deren Abstand kleiner ist als etwa ein sechstausendstel Millimeter.«
»Ahso — —« versetzte Robinson und lauschte gespannt, was ihm Butkens noch weiter darüber sagen würde.
»Ja, ja, mit den bisherigen Mikroskopen konnte man über eine gewisse Grenze hinaus nichts mehr wahrnehmen, jetzt, wo man ultraviolettes Licht mit Wellenlängen von etwa ein viertausendstel Millimeter benutzt, ist ein mikroskopisches Sehen weit bis über die bisherigen Grenzen hinaus möglich.«
»Wie klein dürfen wohl gesonderte Teilchen in einer sonst kontinuierlichen Masse, wie z. B. Staubteilchen der Luft oder Bakterien einer Flüssigkeit sein, wenn man sie ohne Rücksicht auf ihre Gestalt, überhaupt nur als gesonderte Teilchen im Mikroskop erkennen will?« frug Robinson stark interessiert weiter.
Der Chemiker, welcher eben das Ultramikroskop zur Beobachtung einstellte, antwortete: »Die Grenze für die Kleinheit eben noch sichtbar zu machender Teilchen liegt bei etwa sechsmillionstel Millimeter Durchmesser.«
»Das dürfte wohl gar nicht mehr weit ab von der Größe der Atome sein?« fragte Robinson zurück.
»Ganz recht,« versetzte Butkens, »die Grenze des eben noch Sichtbaren liegt wirklich nicht so weit ab von der Größe mittlerer Moleküle.«
Die Untersuchungen der flüssigen Luft mit dem Ultramikroskop ergaben als Hauptresultat, daß das Fluidum tatsächlich bakterienfrei war.
Weitere Versuche, ob man möglicherweise noch andere interessante Tatsachen wahrnehmen könne, scheiterten daran, daß der eine Tropfen flüssige Luft immer zu schnell wieder von dem Objekttischchen verdampfte.
Butkens wollte deshalb die Versuche erst dann weiter fortsetzen, wenn er einen Tropfen des eisigen Fluidums zwischen zwei Glasplättchen beobachten konnte, und die Beschaffung solcher Gläser konnte nicht schwer fallen.
So brachen denn die beiden Männer ihre mikroskopischen Untersuchungen vorläufig ab und gaben sich mit dem einen Resultat, dem der Bakterienlosigkeit des Fluidums, zufrieden.
»Morgen früh werde ich sofort die kranke Frau hierher bescheiden, und ich hoffe, daß wir mit unserer medikophysikalischen Behandlung ein glänzendes Resultat haben werden,« sagte Butkens.
Robinson war damit einverstanden. »Es handelt sich jetzt noch um die Frage: an welchem Ort wollen wir unsere Experimente im großen beginnen? Wir können doch mit der Luftverflüssigung nicht wieder hier in Amsterdam die lieben Leute erschrecken! Zudem sind auch bereits die Nachbarn auf uns aufmerksam geworden, wie mir mein Diener mitgeteilt hat.«
»Befürchten Sie, daß vorzeitig etwas herauskommt?«
»Je nun,« antwortete Robinson. »Es ist doch zweifelsohne besser, wenn niemand etwas von unserem Vorhaben erfährt.«
»Selbstverständlich,« erwiderte Butkens. »Am besten wäre es, wenn wir auf irgend einer Insel unbehelligt die Sache in Szene setzen könnten.«
»Nach Texel können wir nicht wieder gehen,« meinte Robinson. »Die Verhältnisse dort eignen sich nicht für unser Vorhaben.«
»Ich schlage vor, wir wollen zunächst hier versuchsweise einmal in großem Maßstabe operieren. Wir können dazu mein Landhaus, welches draußen vor der Stadt liegt, benutzen.«
»Sind wir dort ungestört?«
»Völlig,« versetzte Butkens. »Das Haus liegt inmitten eines ausgedehnten Parkes, und außer einem Gärtner habe ich niemand auf meinem Besitztum. Der Alte ist schweigsam und kommt übrigens auch mit niemand in Berührung.«
Robinson äußerte jetzt das Verlangen, das Landhaus einmal besichtigen zu dürfen, und Butkens war damit einverstanden, seinen Verbündeten sofort dorthin zu geleiten.
Ehe die beiden sich auf den Weg machten, schärfte Robinson seinem Diener noch ein, während seiner Abwesenheit niemand zu empfangen, wer es auch sei, und daß er sich hüten solle, hier im Arbeitszimmer herumzuschnüffeln.
Hassan beteuerte, daß er genau den Anweisungen folgen würde.
Kaum waren die Männer aus dem Hause, so schlich sich der neugierige Diener wieder in den Arbeitsraum seines Herrn hinauf. Man sieht, er respektierte eigentlich recht wenig die Befehle Robinsons.
Seit der Aufstellung des seltsamen Apparates, in dem sich flüssige Luft befinden sollte, wurde Hassan von einer Neugierde geplagt, wie sie Arabern eigentlich nicht in dem Maße eigen ist. Als Hassan das erste Mal etwas von flüssiger Luft gehört hatte, glaubte er, sein Herr sei wohl übergeschnappt. Sein beschränktes Lakaiengehirn vermochte nicht auszudenken, wie etwas, was man nicht sehen, schmecken und fühlen kann, wie Wasser aus einem Glas ins andere gegossen werden könne. Die heilige Scheu, welche er anfänglich vor Robinsons Experimenten gehabt, hatte sich im Laufe der Zeit etwas gelegt, besonders seit Butkens auf der Bildfläche erschienen war.
Hassan, der wiederholt gesehen hatte, wie sein Herr dem Schlangenrohrkessel Proben flüssiger Luft abgezapft hatte, schickte sich jetzt hierzu an, selbiges ebenfalls zu tun. Er nahm ein Gefäß zur Hand, drehte den Hahn des Apparates auf, und zischend ergoß sich nun ein Dampfstrahl in den Behälter. Nachdem dieser halb gefüllt war, stellte ihn Hassan auf den Tisch. Im Begriff ein anderes Gefäß zu erfassen, stieß er unvorsichtigerweise den mit dem eisigen Fluidum gefüllten Behälter zu Boden.
Während sich sofort eine mächtige Wolke verdampfender Luft bildete, retirierte Hassan erschrocken zurück und wollte die Tür zum Flur öffnen.
Aber o weh! Das Schloß war eingeschnappt und die Tür ließ sich nicht öffnen.
Hassans Schreck war kein geringer. Eine Minute lang rüttelte er an der Tür, ohne daß dieselbe jedoch nachgab.
Inzwischen wurde das Zimmer von den Dampfwolken der verschütteten flüssigen Luft angefüllt, und eine Kälte entstand, die dem Araber fast die Finger gefrieren machte. So stand der arme Bursche da und wußte sich keines Rates.
Das Thermometer, welches in einer Ecke des Zimmers hing, mochte wohl inzwischen fortgesetzt fallen. Die Kälte nahm auch recht fühlbar überhand. Hassan stand mit schlotternden Knien, vom Frost geschüttelt da, und dem armen Burschen traten angesichts seiner furchtbaren Lage Wehmutstränen in die Augen.
Sollte er hier erfrieren? — — Aussicht war dazu vorhanden.
Verzweifelt rannte der Araber im Zimmer auf und ab, um sein Blut in Bewegung zu setzen und etwas warm zu werden. Das half aber so gut wie gar nichts. Die Wirkung der eisigen Dampfwolken ließ seine Haut blau unterlaufen und raubte ihm fast den Atem. Zuletzt flüchtete Hassan in eine Ecke des Zimmers und ergab sich in sein Schicksal.
Stöhnend vor Kälte hockte er dort und bereute tief seine Neugier.
Wenn Hassan nach Verlauf von fünf Minuten seit dem Verschütten der Luft einen Blick auf das Thermometer geworfen hätte, so hätte er eine Kälte von sage und schreibe fünfunddreißig Grad Celsius ablesen können.
Fünfunddreißig Grad Celsius! — Welches Eisbärenklima im Zimmer, hinreichend, ein Menschenleben zum Tode zu befördern.
Von Zeit zu Zeit ließ sich außer dem Stöhnen Hassans auch ein eigentümliches Knacken im Zimmer hören. Der Inhalt gefüllter Glasgefäße mochte wohl unter der Einwirkung der ungeheuren Kälte gefroren sein und die Gefäße zum Zerspringen gebracht haben.
So verging eine Viertelstunde, und bald wurde es still im Zimmer. Hassan gab keinen Laut mehr von sich.
Ob der arme Bursche erfroren war? War er ein Opfer seiner unbezähmbaren Neugier geworden? — — — —
Dies zu ergründen war nicht möglich, weil der weiße, dichte Dampf über alles im Zimmer lag. Der dickste Londoner Nebel war gegen diesen Eisnebel hier nur ein lichter Dunstschleier.
Plötzlich knackte es besonders vernehmlich und man hörte Glas klirrend zu Boden fallen. Unter der Einwirkung der Kälte waren die Scheiben der Fenster gesprungen, und dies brachte Rettung. Zwischen der Außenluft und Zimmeratmosphäre stellte sich dann im Verlaufe weniger Minuten ein Ausgleich her. Der Dampfnebel verschwand allmählich, und die Temperatur begann schnell wieder zu steigen.
Was war aber aus Hassan geworden? — —
Der braune Bursche hockte noch immer in seiner Stellung und rührte sich nicht. Sein Kopf hing schlaff auf die Knie herab, um welche sich die Hände gefaltet hatten.
In dieser Lage wurde Hassan von Robinson aufgefunden, als derselbe von seinem Ausgang zurückkehrte.
Robinson hatte bei seiner Heimkehr vergeblich nach dem Diener gerufen und ihn im ganzen Hause gesucht. Als er dann in das Arbeitszimmer treten wollte, fand er die Tür verschlossen und eine dunkle Ahnung beschlich ihn, daß hier mit Hassan irgend etwas vorgegangen sein müsse.
Nachdem er vergeblich mehrmals den Namen seines Dieners gerufen hatte, entschloß er sich, die Tür aufzubrechen, was nicht gerade ein leichtes Stück war, ihm aber schließlich doch gelang.
Beim ersten Schritt ins Zimmer fiel sein Blick auf Hassan, der noch immer in der alten Stellung regungslos verharrte. Auffallend war für Robinson die starke Kühle im Gemach. Dazu sah er die Scherben eines Gefäßes am Boden liegen und ein weiterer Blick traf die gesprungenen Fensterscheiben.
Kopfschüttelnd eilte er erschrocken auf Hassan zu, ihn an den Schultern rüttelnd.
»Hassan!«
Der Gerufene regte sich nicht, und als Robinson ihn jetzt näher anblickte, sah er zu seinem Entsetzen, daß sein Diener nicht mehr atmete und daß dessen Gesicht und Hände blau unterlaufen waren.
Wie der Blitz durchzuckte ihn der Gedanke, daß sich Hassan mit der flüssigen Luft zu schaffen gemacht habe und dabei möglicherweise erfroren sei.
Mit kräftigen Armen umfaßte er den Diener, hob ihn empor und legte den Leblosen auf einen Divan. Dann eilte er, so schnell als ihn seine Füße trugen, zum Hause hinaus, um einen Arzt zur Stelle zu schaffen. Zum Glück wohnte auch ein solcher in der Nachbarschaft und ein weiteres Glück war es, daß er ihn zu Hause antraf.
»Kommen Sie schnell, Herr Doktor!« rief Robinson geängstigt dem Arzt zu. »Mein Diener ist in meiner Wohnung erfroren — — —«
»Erfroren?« frug verwundert der Doktor zurück und machte sich eiligst zum Mitgehen fertig.
»Ja, ja — erfroren.«
»Es ist mir unbegreiflich, wie das bei der jetzigen Temperatur möglich ist?« frug der Arzt.
»Kommen Sie, kommen Sie! Es handelt sich um das Leben eines Menschen!« rief Robinson und schon war er an der Tür, ungeduldig dort harrend, daß ihm der Arzt folge.
Robinson kam eigentlich etwas sehr in Verlegenheit, die Ursache des Erfrierens seines Dieners angeben zu müssen. Tat er dies, so verriet er, daß er sich mit chemischen Versuchen beschäftige, über die andere vorläufig noch nichts erfahren sollten. Es blieb Robinson aber doch nichts anderes übrig, als den Doktor etwas aufzuklären. Er hütete sich freilich, mit Worten weiter zu gehen, als es unbedingt notwendig war.
Als Robinson mit dem Arzt das Arbeitszimmer betrat, sah er zu seinem Erstaunen, daß Hassan atmete und sich bewegte.
»Gott sei Dank! Er ist nicht tot!« rief der Sanskritforscher und eilte auf seinen Diener zu, dessen Hände erfassend.
Der Arzt trat sofort zu dem Besinnungslosen heran und prüfte vor allem dessen Puls. Dann rieb er die Glieder des Erstarrten, um das Blut wieder stärker zur Zirkulation zu bringen.
Als nun Robinson auf Wunsch des Arztes seinem Diener etwas Kognak einflößte, öffnete Hassan die Augen und blickte mit schmerzlichen Mienen verwundert um sich.
Robinson atmete tief auf.
Noch aber fürchtete er für eins. Wenn Hassan ein Glied erfroren hätte? — —
Der Arzt stellte jedoch bald fest, daß dies nicht der Fall war.
»Hassan, was hast du nur angefangen?« frug Robinson. »Weißt du nicht, daß du beinahe ein Kind des Todes gewesen wärst?«
Wehmütig schüttelte der Diener seinen Kopf. Die Erinnerung an das Voraufgegangene mochte ihm wohl alles erklären.
Als der Arzt unter Zurücklassung einiger Weisungen sich entfernt hatte, nahm Mr. Robinson Hassan gehörig ins Gebet. Als Resultat erfuhr er das, was der Leser bereits weiß.
»Geschieht dir recht, alter Bursche,« sagte Robinson. »Ein zweites Mal machst du es nicht wieder, dessen bin ich sicher.«
»Allah il Allah! Ich schwöre es Ihnen, Mr. Robinson! Niemals wieder!« rief Hassan und rieb sich die Knöchel seiner Finger.
Nachdem Hassan ihn verlassen hatte, kam Robinson der Gedanke, doch einmal den feuchten Niederschlag, der sich überall im Zimmer gebildet hatte, mikroskopisch zu untersuchen. Er wollte nämlich danach forschen, wie den Bakterien in der Zimmerluft die eisige Metamorphose bekommen sei.
Hastig brachte er eine Glasplatte, auf welcher sich ein solcher Niederschlag befand, auf das Objekttischchen des Ultramikroskopes, welchen Apparat er bereits wohl zu handhaben verstand.
Nachdem er eine elektrische Reflektorlampe in Funktion gesetzt hatte, welche einen blendenden Strahlenkegel auf den Objektträger im Mikroskop warf, begann er mit seiner Beobachtung.
Einige Augenblicke ruhte sein Auge auf der Okularlinse des Mikroskopes, dann zog über sein Gesicht ein Schein heller Freude. Die Flüssigkeitsspuren, welche er soeben betrachtete, wiesen Mengen lebloser, schwimmender Scheibchen und Stäbchen auf. Diese repräsentierten abgestorbene Mikroben. Jetzt kam Robinson auf den Gedanken, auch einmal den Mundspeichel seines Dieners zu untersuchen.
Hassan wurde sofort von ihm heraufbefohlen und wenige Augenblicke später war Mr. Robinson damit beschäftigt, einen Speicheltropfen mikroskopisch zu betrachten. Wieder erhielt er dasselbe Resultat wie vorher. Fast hätte er laut aufgejubelt, wenn ihn sein Diener nicht allzu verdutzt angeschaut hätte.
In diesem Augenblick wurde das Läuten einer Glocke vernehmbar, und Hassan erhielt von seinem Herrn den Auftrag, nachzusehen, wer Einlaß begehre.
Der Ankömmling war Butkens.
Als er Robinsons Arbeitszimmer betrat, rief ihm dieser erregt zu: »Denken Sie sich nur, wider meinen Willen hat mein Diener hier Unfug mit flüssiger Luft getrieben und hätte dies bald mit seinem Leben bezahlen müssen. Aber ein schönes Resultat habe ich dadurch erzielt. Ich habe festgestellt, daß, wenn in einem geschlossenen Raume die Luft desselben den Verflüssigungszustand durchgemacht hat, tatsächlich alle Mikroben zum Absterben kommen.«
»Damit hat die Todesstunde für die gesamte Bazillenwelt geschlagen!« versetzte in gehobenem Tone, gleichfalls erregt, Butkens und drückte seinem Verbündeten warm die Hand.
Seit den Tagen der Probeversuche mit flüssiger Luft hatten die Vorkehrungen, welche die beiden Männer trafen, um die Welt wieder einmal liebsam oder unliebsam zu überraschen, nahezu ihr Ende erreicht.
Auf dem Landgute von Mynheer Butkens waren seit Tagen eine Anzahl Handwerker beschäftigt gewesen, einen von Robinson und Butkens konstruierten Luftverflüssigungsapparat aufzustellen. Derselbe hatte gewaltige Dimensionen. Der Schlangenrohrkessel, der Hauptbestandteil, glich fast an Größe den riesenhaften Behältern in Gasanstalten. Die ganze Anlage hatte ein anständiges Kapital verschluckt. Der gewaltige Apparat war dafür aber imstande, täglich über hunderttausend Kubikmeter Luft in die flüssige Form zu überführen. Um sich von dieser Leistungsfähigkeit einen rechten Begriff machen zu können, sei hierzu angeführt, daß der gesamte Luftinhalt irgend eines großen Bauwerkes, sagen wir z. B. der Peterskirche in Rom, innerhalb einer Minute durch den Robinsonschen Apparat aus dem gasigen in den flüssigen Zustand überführt werden konnte. Den Arbeitern, welche die ganze Anlage erbauten, wurde bedeutet, daß letztere zur Fabrikation neuer chemischer Produkte benötigt werde. Damit glaubte man die Aufmerksamkeit der Leute abzulenken und dies wurde auch unauffällig erreicht.
Kein Ort konnte sich besser zu den Vorkehrungen eignen, wie Butkens' Besitztum. Hier in dem mächtigen Parke konnte man ungestört arbeiten, um der Welt dann mit vollendeten Tatsachen näher zu treten.
Nach der Methode, welche das indische Dokument angegeben hatte, mußte es im großen gelingen, umfangreiche Luftquanten schnell zu verflüssigen. Den gesamten Luftozean der Erde vermochte man freilich nicht in flüssigen Zustand zu überführen. Dazu hätte es vieler hundert Jahre bedurft. Robinsons und Butkens' Zwecke gingen vielmehr dahin, die Luft innerhalb der Räume aller bewohnten Gebäude, sowie auch die der Fabriken bakterienfrei zu machen. Freilich waren sie sich darüber noch nicht klar, wie man die dabei auftretende Kälte eindämmen konnte.
Die Robinsonsche Anlage im Butkensschen Parke funktionierte nun schon seit zwei Tagen und hatte bereits tausende von Kubikmetern Luft in den anderen Aggregatzustand gebracht. Hierbei trat aber der Kältefaktor mit erschreckender Heftigkeit in Kraft. Seine Wirkungen gingen so weit, daß die Bäume des Parkes in weitem Umkreise erfroren und zugrunde gingen. Das Laub fiel schon am ersten Tage so dicht zu Boden, daß der alte Gärtner ebenso verwundert als entsetzt den Kopf schüttelte. Auch die Nachbarn des Besitztums verspürten den eisigen Hauch, wußten aber nicht, woher dieser seit einigen Tagen kam. Selbst in Amsterdam konnten die Leute bemerken, daß jetzt unausgesetzt eine überaus kühle Temperatur herrschte. Das Thermometer stand zu jener Zeit nahe auf dem Nullpunkt, während andernorts im Lande ein derartiges meteorologisches Kälteniveau nirgends zu verzeichnen war.
Abermals beschäftigten sich die Menschen mit dieser ungewöhnlichen Naturerscheinung. Den Zeitungen war sie selbstredend ein willkommener Stoff, ihre Spalten zu füllen. Journalistische Hypothesenschmiede ließen über die neue Erscheinung wieder einmal ihrer Phantasie freien Lauf. Als klassisches Beispiel für diese Tatsache konnte wohl ein höchst origineller Artikel in einer der angesehensten Tageszeitungen von Amsterdam gelten. Darin hieß es etwa wie folgt:
»Amsterdam . — Die Welt scheint im Zeichen eigentümlicher Naturumwälzungen zu stehen. Vor Wochen konnten wir erst eine höchst eigenartige Erscheinung wahrnehmen, die wohl jedem Leser bekannte Übersättigung der Atmosphäre mit Sauerstoff, deren interessante Folgeerscheinung die eigentümlich verlaufene Hustenepidemie jener Tage war. Und wiederum treibt die Mutter Natur ein seltsames Spiel mit uns.
In Amsterdam und Umgebung macht sich seit etwa 36 Stunden eine merkwürdige Kältestrahlung bemerkbar, über deren Entstehung niemand etwas Richtiges zu sagen weiß. Ob wir vielleicht vor Beginn einer neuen Eiszeit stehen? An einen solchen Gedanken muß man sich klammern, weil alle Anzeichen dafür sprechen. Einige Zuschriften an unsere Redaktion — wahrscheinlich von Spaßvögeln — wollen die Ursache der Kältestrahlung darin suchen, daß die Erdachse eine Verschiebung erlitten habe, wodurch Amsterdam dem Nordpol bedeutend näher gerückt sein soll.
Wieder andere meinen, die Kältestrahlung käme aus dem Boden, wo in tieferen Erdschichten jahrtausend alte Eismassen zurzeit zum Schmelzen kämen und dabei Kälte nach oben hin abgeben. Wir können derartige Hypothesen weder ernst nehmen, noch auf ihre Möglichkeiten hin prüfen. Es wird sich zeigen, wie lange der Temperaturrückgang anhalten wird, erst dann können Schlüsse auf seine Entstehung gezogen werden.«
In Anbetracht dessen, daß für Amsterdam und seine Umgebung mit einem Male der Winter hereinzubrechen schien, trotzdem derartiges anderwärts im ganzen Lande nicht der Fall war, waren die guten Leutchen der holländischen Hauptstadt wieder einmal ohne Rat und grübelten hin und her, worin die Ursache der Erscheinung zu suchen sei.
Der Gedanke, daß die Kältestrahlung vielleicht mit der verflossenen Versauerstoffung und dem Zurückweichen des Ozeanspiegels in Verbindung stehen könne, beschäftigte wohl die meisten Hirne. Selbst auch die Gelehrten, welche beide abnormen Naturerscheinungen wissenschaftlich gar nicht miteinander in Einklang zu bringen vermochten, verwarfen den Gedanken nicht als unsinnig, sondern suchten vielmehr zwischen beiden Naturereignissen Berührungspunkte aufzufinden. Nicht bloß Physiker und Meteorologen beschäftigten sich mit dem neuen Phänomen, auch Mathematiker versuchten auf rechnerischem Wege der Ursache der Kältestrahlung beizukommen.
Aber wie man auch beobachtete, sann und rechnete, des Rätsels Lösung wurde nicht gefunden.
Wieder wußten nur zwei auf Gottes Erdboden um das Wesen der Erscheinung. — — Doch halt! Vieren war es diesmal bekannt. Hassan und der alte Gärtner wußten ja auch darum, von wo die Kälte ihren Ausgang nahm. Da beiden aber strengste Verschwiegenheit eingeschärft worden war, so blieb für die übrige Menschheit nach wie vor alles ein Geheimnis.
Robinson und Butkens hatten mit dem in so großer Stärke aufgetretenen Kältefaktor freilich von vornherein nicht gerechnet. Dieser war fast wieder ganz dazu angetan, ihrem Vorhaben einen Strich durch die Rechnung zu machen, denn die Wirkungen zeigten sich bereits in erschreckender Weise. Die Pflanzenwelt litt unter der unnatürlichen Kälte und ging ein. Eine Mißernte in der Nachbarschaft stand bevor. Hierzu traten auch noch schwere Unwetter, welche sich über der Gegend entluden. Die unteren kalten Luftschichten konnten nicht rasch genug mit den oberen warmen in Ausgleich kommen, woraus sich Böen, Hagelwetter und andere Witterungsunbilden entwickelten, die mit Heftigkeit über Amsterdam niedergingen.
Infolge dieser Naturereignisse bildete Amsterdam wieder einmal das Gespräch der ganzen Welt. Alles, nah und fern, beschäftigte sich mit Hollands Hauptstadt und seinem abermaligen Mißgeschick.
Unterdessen saßen die Übeltäter gemächlich auf ihrem Landsitz und hantierten auf die Gefahr ihrer Mitbürger hin unverzagt weiter.
»Jetzt ist die schöne tausendjährige Eiche auch zugrunde gegangen,« sagte eines Morgens wehmütigen Tones der alte Gärtner zu Mynheer Butkens.
Letzterer starrte eine Weile vor sich hin, denn die Nachricht betrübte ihn. »Es war mein Lieblingsbaum. — Schade, daß er zum Opfer fallen mußte.«
»Er ist nicht mehr zu retten, Mynheer, der Saft in seinen Zweigen ist gefroren,« fuhr der Gärtner fort. »Sehen Sie, hier bringe ich einen kleinen Ast mit.«
»Was Sie sagen, Schaepman! Ist es denn möglich?«
Der Gärtner nickte traurig, waren doch noch viele seiner Lieblingspflanzen eingegangen.
Butkens überzeugte sich an dem kleinen Eichenast, daß es sich tatsächlich so verhielt, wie Schaepman angegeben hatte; der kleine Zweig war erfroren.
»Ja, mein alter Schaepman,« sagte Butkens, »Sie wissen, daß wir an der Hervorrufung der Kälte Schuld sind. Was wir aber damit bezwecken, das ist etwas Großartiges und der Menschheit für alle Zeiten zu Nutzen Gereichendes, so daß wir unsere Versuche wegen der Kälteausstrahlung keineswegs einstellen wollen.«
Schaepman horchte auf und wußte nicht, was er aus dieser Antwort herauslesen sollte.
Butkens mochte dies bemerkt haben und sagte: »Lieber Alter, forschen Sie jetzt nicht weiter danach, was wir bezwecken. Sie werden es später erfahren, und auch Ihnen wird es zum Wohl und Segen gereichen.«
»Wird's auch so kommen und werden, wie Sie sich das versprechen?« fragte Schaepman, und leise Zweifel rangen sich in dem Tone durch, den er anschlug.
»Wir hoffen stark — — Übrigens kann ich mich doch wohl darauf verlassen, daß Sie gegen jedermann reinen Mund halten?«
Der alte Gärtner versicherte hoch und teuer, daß er mit niemand über die Dinge, welche auf dem Landsitze vorgingen, spräche.
Befriedigt über die Schweigsamkeit und Zuverlässigkeit seines Gärtners gab Butkens diesem jetzt den Auftrag, einmal gründlich die Bäume im Park zu untersuchen, bis auf welche Entfernung hin dieselben unter dem künstlichen Frost gelitten hätten.
Infolge der anhaltenden Kälte sahen sich sowohl Robinson als Butkens genötigt, warme Kleidung anzuziehen, und wenn sie im Freien zu hantieren hatten, so machten sich sogar die Pelze nötig.
»Wir könnten uns eigentlich als eine Art irdischer Schöpfer gerieren,« sagte Butkens lachend zu Robinson, als beide sich in ihre Mäntel hüllten, um einen Spaziergang im Park zu unternehmen. »Wir vermögen es, auf eine famose Weise unsere Gegend mit einem künstlichen Winter zu beglücken.«
»Ich glaube,« erwiderte Mr. Robinson, »daß unsere Schöpfungsgewalt sogar noch weiter gehen könnte, wenn wir Luftverflüssigungsgasometer von riesenhaften Dimensionen erbauen und solche zu Hunderten auf der ganzen Erde verstreut aufstellen könnten. Blieben diese dann unausgesetzt in Tätigkeit, so wäre alle Aussicht vorhanden, daß wir den Erdball mit einer künstlichen Eiszeit beglücken könnten.«
Butkens lachte: »Beglücken? — Ich glaube, daß niemand eine solche herbeisehnt. Höchstenfalls ein paar allzu eingefleischte Geologen, die aber vor Beginn ihres Studiums dieser künstlich herbeigerufenen Ära der Vereisung zum Opfer fallen würden.«
»Trotz unserer genialen Entdeckungen können wir die Natur also nicht bemeistern. Der Schöpfer läßt sich einmal nicht ins Handwerk pfuschen. Treiben wir die Dinge zu weit, so erfahren wir wohl in jedem Falle die bösen Wirkungen am eigenen Leibe.«
»Kein Zweifel,« versetzte Butkens. »Würden wir die Dinge bis auf die Spitze treiben, so müßten wir unser Leben quittieren.«
»Und da wir noch keine Lust zum Sterben haben,« meinte hierzu Robinson, »so müssen wir hübsch bescheiden gewisse Grenzen einhalten.«
Während die beiden Männer so plaudernd über das abgefrorene und zu Boden gefallene Laub im Park dahinschlenderten, fingen sie an zu frösteln und schlugen darum einen schnelleren Schritt an.
Seit der Inbetriebsetzung des Luftverflüssigungsgasometers herrschte fortgesetzt ein starker Wind, der zuweilen kleine Luftwirbel hier und dort erzeugte. Von Zeit zu Zeit artete dies so weit aus, daß Bäume des Parkes entwurzelt und umgeworfen wurden.
Butkens sah wohl diese Verwüstungen auf seinem herrlichen, alten Besitztum, verschmerzte aber alles in dem Gedanken, daß es sich ja um eine hochwichtige Sache handele, für deren Zustandekommen kein Opfer und kein Verlust zu groß war.
Die Unterhaltung der beiden Männer drehte sich nun um die Heilung jener schwindsüchtigen Frau, welche ihnen als Versuchsobjekt gedient hatte.
»Unsere Patientin befindet sich entschieden auf dem Wege der Besserung,« hörte man Robinson sprechen.
»Es war vorauszusehen, daß die Atmung reinster, bakterienfreier Luft die Lunge der armen Frau ausheilen mußte. Zum wenigsten ist sie so weit gebessert, daß die Hauptsymptome ihrer Krankheit geschwunden sind.«
»Wenn erst die Mediziner unser Verfahren loben werden, wird es auch nicht ausbleiben, daß wir als Wohltäter der Menschheit allerorten Denkmäler gesetzt bekommen.«
Butkens fand diese Idee köstlich. »Sie sind weitschauend, mein Lieber. Ich für meinen Teil geize nicht nach Ruhm und Ehren. Zudem gebührt Ihnen ja das Verdienst.«
Unter solchem Gedankenaustausch setzten die beiden Männer, die jedermann noch unbekannten Wohltäter der Menschheit, ihre Promenade fort, trotzdem die Witterung außerordentlich viel zu wünschen übrig ließ.
Außerhalb des Rayons, in welchem im stillen sich diese Dinge vollzogen, die von einschneidender Wirkung auf das gesamte wirtschaftliche Leben der Welt werden sollten, machten sich schon Anzeichen solcher Art bemerkbar. Im Gegensatz zu damals, wo die Luft fast kaum mehr atembar war, fand man diese jetzt überaus erfrischend und belebend. Leute, die sonst leicht ermüdeten, mußten zu ihrem Erstaunen bemerken, daß sie seit einigen Tagen der vielen Ruhe und des Schlafes wie bisher gar nicht mehr bedurften. Nach kurzer Nachtruhe fühlten sie sich wieder so vollkräftig, daß ihre Arbeitslust dadurch tatsächlich gesteigert wurde. Dies war für viele so unverkennbar, daß sie es auf den augenblicklich herrschenden unnatürlichen Witterungszustand schoben. Wer in der letzten Zeit an hartnäckigen katarrhalischen Erscheinungen gelitten hatte, sah sich plötzlich von denselben befreit.
Am meisten schüttelten hierüber die Gelehrten den Kopf. So etwas war ihnen noch nicht vorgekommen. Die heimische Atmosphäre machte innerhalb weniger Wochen verschiedene Wandlungen durch. Daß sich solche auch wirklich vollzogen, stand für sie außer Zweifel, aber der Ursache vermochten sie nicht auf die Spur zu kommen.
Der Zuzug von Fremden aus allen Teilen Europas nach Amsterdam wurde in letzter Zeit ein auffallend großer. Alle Welt war neugierig und wollte die Dinge, wie sie in Hollands Hauptstadt standen, persönlich kennen lernen. Selbst hochgestellte Persönlichkeiten lenkten ihre Schritte nach Amsterdam.
Die Hôtels waren beinahe überfüllt, und auf den Straßen herrschte mit einem Male ein ganz ungewöhnlich reger Verkehr. Besonders kamen viele leidende Menschen, welche von den guten Wirkungen der aufgetretenen abnormen Kältestrahlung auf den menschlichen Körper gehört hatten. Es hatte dadurch den Anschein, als wenn Amsterdam über Nacht ein klimatischer Kurort ersten Ranges geworden wäre.
Außerdem hatten sich aber auch zahllose Gelehrte eingefunden, welche die abnormen Zustände an Ort und Stelle studieren wollten. Ja es fand ein förmlicher Kongreß von Bakteriologen statt. Aber auch die Physiker und Geologen vieler Universitäten hielten in Amsterdam langwährende Sitzungen ab. Allmählich wurde es dann aber bekannt, daß die Kältestrahlung doch von einer gewissen Richtung herkomme. Veranlassung zu dieser Annahme bot die Tatsache, daß die Pflanzenwelt in der Umgegend Amsterdams in nordöstlicher Richtung am meisten unter der Kälte zu leiden gehabt hatte, und daß dort auch das Thermometer eine um mehrere Grade tiefere Temperatur anzeigte.
Damit hatten die Meteorologen einen gewissen Anhalt bekommen, wo die Entstehungsquelle der Kältestrahlung zu suchen sei.
So kam es, daß in der Nachbarschaft von Butkens' Landsitz weit mehr Menschen zu sehen waren als sonst. Es streiften eben die Gelehrten, welche den Dingen gar zu gern auf den Grund kommen wollten, jene Gegend gründlich ab. Diesen Streifzügen setzte aber die lange Mauer, welche sich um das Butkenssche Grundstück zog, eine Grenze. Da sich hinter dem Park des Landhauses der Strand des Zuidersees befand, so vermochten die forschungslustigen Gelehrten nicht festzustellen, ob die Kältequelle im Butkensschen Park oder dahinter auf dem Zuidersee zu suchen sei. Letzteren hatte man stark in Verdacht, da er ja schon einmal die Ursache einer Luftveränderung jener Gegend gewesen war.
Es konnte Butkens und vor allem seinem alten Gärtner auf die Dauer nicht entgehen, daß die Leute auf das Landgut besonders aufmerksam geworden waren und daß sich viele Neugierige in dessen Nähe aufhielten.
Solange aber Butkens seitens der Fremden unbehelligt blieb, befürchtete er keine vorzeitige Entdeckung.
Eines Tages jedoch klingelte es lebhaft am Gartentor.
Der alte Gärtner, welcher strengste Weisung erhalten hatte, niemand hereinzulassen, schaute von der Ferne zur Gitterpforte, um zu sehen, wer da Einlaß begehre.
Als er draußen eine Anzahl Herren gewahrte, wurde er bedenklich und eilte zu Butkens, um ihn davon zu verständigen.
Der Besitzer des Hauses war über die Nachricht nicht sonderlich erbaut und witterte in den Besuchern Spione.
In der Annahme, daß Schaepmann vielleicht einmal seinen Befehlen zuwiderhandeln und die Herren einlassen könne, begab sich Butkens persönlich an die Parktür und frug nach dem Begehr der Einlaßfordernden.
»Darf ich erfahren, was die Herren wünschen? — — Ich bin selbst der Besitzer des Hauses,« hörte man Butkens reden.
Die Herren draußen, etwa zehn an der Zahl, unverkennbar Vertreter der Gelehrsamkeit, zogen höflich ihren Hut und einer von ihnen stellte sich dann als Professor Jonckbloet von der Universität in Amsterdam vor und bat um die Erlaubnis, mit seinen Kollegen einmal einen Spaziergang durch den Park machen zu können.
»Es tut mir leid, den Herren dies abschlagen zu müssen,« sagte Butkens in bestimmtem Tone ohne überhaupt Miene zu machen, die Gartenpforte zu öffnen.
»Oh! wie bedauern wir das,« versetzte Jonckbloet, »aber wir möchten Sie doch nochmals dringend bitten, unserem Wunsche zu entsprechen, da wir, nebenbei bemerkt, wissenschaftliche Untersuchungen anstellen möchten...«
»Ach so, wegen der Kältestrahlung?« frug Butkens zurück und ein scharfer Beobachter hätte leichthin ein feines Lächeln über sein Gesicht huschen sehen können.
»Ganz recht, wegen der Kältestrahlung,« versetzte Professor Jonckbloet. »Es wird Ihnen wohl auch schon aufgefallen sein, daß die Temperatur in der Nähe Ihres Besitztums auf einem besonders tiefen Niveau steht?«
»Tiefer als sonstwo!« hörte man einen alten graubärtigen Herrn, hinter Jonckbloet stehend, ausrufen. Der Sprecher war der Direktor eines meteorologischen Instituts und nannte sich Bilderdijk. In einer Hand hielt derselbe einen Thermometer, mit dem er wohl auf jedem Quadratfuß in der Umgebung des Butkensschen Besitztums Temperaturmessungen vorgenommen haben mochte.
»Ich muß nochmals unendlich bedauern, meine Herren, Ihrem Wunsche nicht nachkommen zu können, da ich zurzeit eine Anzahl frisch eingeführter Axishirsche in meinem Park frei herumlaufen habe, in der Absicht, dieselben in der hiesigen Gegend zu akklimatisieren.«
Butkens glaubte sich mit dieser Lüge gut herausgeredet zu haben.
»Wir werden, wenn Sie es wünschen, die Teile des Parkes nicht betreten, wo sich die Tiere befinden,« versetzte Jonckbloet.
»Geht nicht, geht wirklich nicht, Herr... Herr Professor. Die Tiere sind zu scheu. — Vielleicht beehren mich die Herren in einigen Wochen einmal mit ihrem Besuch.«
Wohl oder übel mußten die Besucher auf ihre Exkursion im Park diesmal verzichten und den Rückweg antreten.
Die Abweisung der Gelehrtenkommission erregte nun bei vielen Leuten einen leisen Verdacht. Trotzdem ahnte keiner, daß Butkens mit den Naturereignissen, die zurzeit alle Köpfe beschäftigten, in so naher Verbindung stand. So weit verliefen sich die Gedankengänge selbst der hypothesenlustigsten Gelehrten nicht, einen Menschen als Urheber anormaler Naturvorgänge anzunehmen.
Gelegentlich einer abendlichen Sitzung wissenschaftlicher Kapazitäten, welcher der Bürgermeister und die Stadtverordneten beiwohnten, kam es zur Erörterung, daß die Kältequelle sehr wohl, wenn sie nicht im Zuidersee läge, innerhalb des Butkensschen Landgutes sein könne.
»Wir gehen nicht fehl,« sagte der Meteorologe Bilderdijk, »wenn wir annehmen, daß die Kältequelle im Butkensschen Parke liegt. Der Besitzer verwehrte uns aber den Einlaß. — Würde vielleicht die hohe Behörde anordnen können, daß wir in amtlicher Eigenschaft kommend, den Park durchsuchen dürfen?«
Der Bürgermeister der guten Stadt Amsterdam wiegte den Kopf hin und her, wie es jemand zu tun pflegt, der nicht recht weiß, was er sagen soll.
»Wir können Mynheer Butkens nicht zwingen,« meinte er, »es sei denn, wir konstruierten einen amtlichen Fall.«
»Und ein solcher wäre?« frug Professor Jonckbloet.
»Im Stadtrat müßte beschlossen werden,« fuhr der Bürgermeister fort, »daß zwecks Bahnbau, Enteignung oder dergleichen im Butkensschen Parke Vermessungen vorgenommen werden. Dem Herrn Feldmesser könnte sich ja dann einer der Herren hier attachieren. Auf solche Weise würde Ihnen der Park zwecks Untersuchungen erschlossen.«
Dieser Vorschlag fand allgemein Anklang, und es wurde allseitig beschlossen, in solch ähnlicher Weise vorzugehen.
Doch dieser Plan sollte eine Vereitelung sondersgleichen erfahren.
Butkens und sein Verbündeter mochten wohl ahnen, daß sie eines Tages eine Überraschung seitens Unberufener zu befürchten hätten, deshalb trafen auch sie ihre Vorkehrungen.
Unterdessen gaben die herrschenden, atmosphärischen Verhältnisse Anlaß, daß immer neue Scharen von Menschen aus allen Ländern herbeiströmten, die sich dann in Amsterdam und seiner Umgebung körperlich so unendlich wohl fühlten, daß viele beschlossen, sich hier anzusiedeln, was dem Stadtsäckel sehr zugute kam. Aber auch die Geschäfte der Einwohner hoben sich durch den plötzlichen Zuwachs der Bevölkerung, und jeder Amsterdamer Bürger schien von den neuen Zuständen außerordentlich befriedigt zu sein, abgesehen von der andauernden Kälte und den fortgesetzten Witterungsunbilden.
Jedenfalls hatten Robinsons Unternehmungen schon so eigenartige und wertvolle Erfolge gezeitigt, daß man bereits von Segnungen infolge der durch ihn hervorgerufenen Naturzustände sprechen konnte.
Wer es verstand, den Erbfeind der Menschheit für immer zu bannen, den Mikroben das Lebenslicht auszublasen, brachte der nicht seiner Mitwelt einen Schatz, den selbst Götter ihren Lieblingen nicht gewähren können?
Die Sense des Todes stumpfen! Fürwahr, das hieße für die Menschheit ein köstlicher Gewinn!
Wären wir nur erst über die verteufelten Glasscherben hinweg,« hörte man im Dunkel der Nacht eine Gestalt zu einer anderen sprechen, die im Begriff war, vermittels einer mitgebrachten Leiter über die glasgespickte Oberkante der Mauer, welche sich um Butkens' Park zog, zu steigen.
»Hm — — wir müssen es mit einem Sprung versuchen,« ließ sich brummend die andere Gestalt vernehmen und erstieg ebenfalls die Leiter.
»Die Mauer ist hoch, und ich verspüre keine Lust, einen Beinbruch zu riskieren.«
»Na, dann tu ich es,« hörte man die andere Stimme sprechen.
Einige Augenblicke später schnellte der eine der Männer mit kühnem Satze hinab in den Park. Trotz der Höhe des Sprunges kam er glücklich auf seine Beine zu stehen.
Jetzt riskierte auch der andere den Satz, was ihm jedoch nicht ganz so gelang, denn er überschlug sich mehrere Male.
»Die Sache konnten wir eigentlich bequemer haben,« hörte man den einen sprechen. »Warum sind wir nicht über das Gittertor geklettert?«
»Na, nun ist's gleich,« erwiderte der andere. »So oder so.«
Das Wetter über Nacht war regnerisch und stürmisch und lud durchaus nicht zum Spazierengehen im Parke ein.
»Wir werden bis auf die Haut durchnäßt werden.«
»Was macht's,« brummte der andere.
»Der alte Gärtner hat ein wachendes Auge und Ohr. Wir wollen doch lieber unsere Unterhaltung aufstecken.«
Der andere nickte, und lautlos schritten jetzt beide einen Seitenweg entlang, wobei sie ihre Augen wie Luchse umherschweifen ließen.
»Ob wir der Sache wohl auf die Spur kommen?«
»Jedenfalls wollen wir uns die Belohnung verdienen, welche uns in Aussicht gestellt worden ist.«
»Mynheer Butkens wird schön wettern und fluchen, wenn er erfährt, daß ich, sein ehemaliger Laboratoriumsdiener, nächtlicherweile wider seinen Willen hier herumspioniere.«
»Papperlapapp! Für hundert Gulden riskiere ich ganz andere Dinge, als das bißchen Park durchstöbern.«
»Wenn wir nun aber gar nichts finden?«
»Wir werden schon etwas finden.«
»'s ist übrigens verflucht kalt hier. Das Laub auf den Wegen ist sogar aneinander gefroren.«
Unter solchem Gespräch gelangten die beiden Gestalten in die Nähe des Landhauses. Als sie den Giebel desselben durch die Äste der Bäume erblickten, ermahnte der eine den anderen zur Vorsicht.
»Wir dürfen mit unseren Schritten keinen Lärm machen,« flüsterte er.
»Ho!« hörte man jetzt den andern rufen, der sich als Butkens' Laboratoriumsdiener bezeichnet hatte. »Was sehe ich dort? Was hat Butkens neben sein Haus hingebaut?«
»Was meint Ihr damit?«
»Da stand doch früher nichts. Seht Ihr nicht die Umrisse eines Baues? — — Und, weiß Gott, von daher kommt auch die verdammte Kälte. Jetzt haben wir es!«
Die beiden schlichen sich an das Haus heran, waren aber vorsichtig genug, sich möglichst im Dunkel der Bäume zu halten, weil sie ein erleuchtetes Fenster sahen.
»Das sieht ja ganz wie ein mächtiger Kessel aus,« raunte der Laboratoriumsdiener seinem Kumpanen zu. »Mynheer Butkens wird doch nicht etwa Ammoniakgas fabrizieren?«
»Wie kommt Ihr auf den Gedanken?« hörte man den anderen erwidern.
»Habe früher genug mit Ammoniak zu tun gehabt,« sagte der Laboratoriumsdiener. »Wenn man es nämlich verdunsten läßt, so entsteht Kälte, wodurch man Wasser zu Eis gefrieren lassen kann.«
»Meint Ihr?«
»Na, wenn man so lange mit der Chemie zu tun gehabt hat wie ich, so weiß man Bescheid,« versetzte der andere und schien sich mit seinem Wissen etwas zu brüsten. »Ich sage Euch, Butkens fabriziert hier Kunsteis im großen oder ich will nicht Alberdingh Netscher heißen. — — Glaubt's mir nur, Potgieter.«
»Na, Ihr müßt es ja wissen. Da hätten wir's also heraus — — Eisfabrik — — eigentlich gar nichts so besonderes.«
»Und da macht die Welt ein solches Geschrei davon,« meinte Netscher. »Aber ich verstehe Butkens nicht, daß er den Leuten gegenüber so heimlich damit tut.«
»So muß es also doch noch eine besondere Bewandtnis damit haben,« flüsterte der andere und fing mit einem Male heftig zu husten an, was Netscher erschrecken machte.
»Bst! bst!« raunte Netscher seinem Kumpanen zu. »Soll uns der alte Schaepman vielleicht hören?«
Die Blicke der beiden Männer hefteten sich jetzt wieder auf das erleuchtete Fenster und sie sahen, wie jemand den Vorhang beiseite schob und herausblickte.
Netscher und Potgieter duckten sich, und letzterer biß sich förmlich auf die Lippen, um einen weiteren Hustenreiz zu unterdrücken.
Die Gestalt am Fenster verschwand dann plötzlich.
»Teufel!« knurrte Netscher, »Ihr habt uns verraten. Butkens versteht keinen Spaß, und wir können nun mit den Zähnen seiner Dogge Bekanntschaft machen.«
Beide überlegten jetzt, ob es nicht ratsamer wäre, schnell den Rückzug anzutreten.
Inzwischen öffnete sich aber die Tür des Hauses und jemand trat heraus, um in der Dunkelheit nach allen Richtungen hin zu forschen. Plötzlich hatte dieser die beiden hinter den Eichenbäumen kauernden Gestalten erblickt und schritt nun ohne Zaudern auf diese los.
Mit einem Satze sprangen die beiden Spione auf und flüchteten, da ihnen jetzt mit einem Male der Weg nach rückwärts vertreten wurde, auf die Gasometeranlage zu, hinter welcher sie eiligst verschwanden.
Der alte Schaepman — dieser war es, welcher soeben aus dem Hause herausgetreten — schlug sofort Alarm und rief nach Mynheer Butkens.
Der Gerufene mußte sich wohl noch nicht zur Ruhe gelegt haben, denn er erschien unmittelbar darauf auf der Schwelle der Tür und fragte, was passiert sei.
»Es treiben sich hier Einbrecher herum,« rief der alte Schaepman atemlos.
»Wo — — wo?«
»Sie sind hinter den Gasometer geflüchtet,« rief der alte Gärtner.
Butkens mochte wohl plötzlich ein Gedanke überkommen sein.
»Die Kerle werden wir bald haben,« sagte er und begab sich hastig zu einem Anbau des Gasometers. »Kommt schnell mit herein, Schaepman!«
Der Alte folgte dem Befehl, und beide verschwanden in dem erwähnten Häuschen neben der Gasometeranlage.
Wenige Augenblicke später hörte man ein den Wind und Regen übertönendes scharfes Zischen. Butkens ließ im Umkreise des Gasometers verflüssigte Luft ausströmen. Mächtige weiße Dampfwolken hüllten bald darauf die ganze Umgebung der Anlage ein und mußten auf die beiden Flüchtlinge recht unangenehme Wirkungen ausüben, denn bald darauf hörte man ein Fluchen und Stöhnen.
Eine Weile dauerte das Zischen fort, und die Wolken verflüssigter Luft verdichteten sich immer mehr. Hätte man in diesem Augenblicke die Temperatur in ihrem Bereich messen wollen, so würde man ein Minus von rund dreißig Grad Celsius konstatiert haben können. Daß bei solcher fabelhaften Kälte selbst ein Eskimo eine gehörige Gänsehaut bekommen hätte, geschweige denn Bürger eines milden Klimas, das lag auf der Hand.
Potgieter und Netscher froren, daß ihre Glieder im Nu erstarrten und beiden fast Hören und Sehen verging.
»Wir wollen es nicht zu arg machen,« sagte drinnen im Regulatorhause Butkens zu seinem Gärtner, »sonst erfrieren uns die Kerls.«
Da der Raum, in welchem sich die beiden augenblicklich befanden, durch eine Filzverkleidung hermetisch nach außen abgeschlossen war, so vermochte die ausgestrahlte Kälte ihnen hier nichts anzuhaben.
Butkens bewegte also wieder den Regulierhahn, und im Augenblick verstummte das Zischen und es trat Ruhe ein.
Ehe beide aus dem sie schützenden Raum ins Freie traten, ließen sie eine kleine Weile verstreichen. Dann begaben sie sich dorthin, wo man nach einzelnen herübertönenden, unartikulierten Lauten die beiden Einbrecher vermutete.
Wie erstaunte Butkens, als er in die Nähe der Beiden kam und dort in einem der Halberfrorenen sein ehemaliges Faktotum wiedererkannte.
»Netscher... ja, zum Kuckuck, was treibst Du Dich denn hier in der Nacht in meinem Park herum?« sagte Butkens und faßte den Angeredeten, welcher auf dem Boden hockte, unter den Arm und zog ihn in die Höhe.
Fast kaum fähig vor Frost ein Glied zu rühren, wich Netscher beschämt den Blicken Butkens' aus und gab keine Antwort.
Seinem Kumpanen schien die Kälte noch mehr zugesetzt zu haben, denn derselbe rührte sich nicht und gab nur von Zeit zu Zeit durch ein leises Stöhnen zu erkennen, daß noch Leben in ihm war. Er hatte sich auf eine alte Tonne niedergelassen und sich halb betäubt an die dahinter befindliche Wand gelehnt.
Mit Hilfe des alten Schaepman wurden Netscher und Potgieter ins Haus geschafft, wo beide bald wieder zum vollen Bewußtsein kamen und über ihre Lage nicht gerade erfreut zu sein schienen.
»Was wolltet Ihr hier, Burschen?« frug Butkens in scharfem Tone, sich zunächst an Netscher wendend.
»Mynheer — —« stotterte der Angeredete, »ich — — ich — — ich wollte...«
»Nun heraus mit der Sprache!« herrschte Butkens ihn an.
Netscher mußte wohl einsehen, daß hier lügen nichts half. Darum bekannte er offen Farbe, in der Hoffnung, so am besten dabei wegzukommen.
Als Butkens vernommen hatte, was beabsichtigt war, daß beide von Professor Jonckbloet den Auftrag erhalten hatten, einmal bei Nacht und Nebel im Parke herumzuspionieren, da verzieh er seinem ehemaligen Diener, bedeutete ihm aber, daß er sich nicht wieder auf diesem Terrain sehen lassen solle. Ein zweites Mal würde es ihm recht schlecht bekommen und er könne Gott danken, daß er diesmal mit dem Leben davongekommen sei.
Netscher versicherte tiefbeschämt, daß er so etwas nie wieder wagen würde, und daß ihn nur die zugesicherte Belohnung dazu gereizt hätte.
Als die beiden Spione, welche sich inzwischen wieder völlig erholt hatten, das Grundstück verließen, nahm ihnen Butkens das Wort ab, über das Geschehene zu schweigen und sicherte jedem eine Summe von hundert Gulden dafür zu.
Da das Schweigen für die beiden mehr einbrachte, als was ihnen ihr Auftraggeber versprochen hatte, so zogen sie ersteres vor, und bei ihrem Rapport an Jonckbloet erklärten sie, nichts besonders Auffallendes im Parke Butkens' entdeckt zu haben.
In den Morgenausgaben der Amsterdamer Zeitungen war am selbigen Tage folgendes zu lesen:
»Im Verlauf der letzten Stunden der vergangenen Nacht muß die anormale Kältestrahlung besonders heftig aufgetreten sein, da alle Bäume und Sträucher, welche noch gestern grünten, heute ganz entlaubt und völlig erfroren sind. Wie die meteorologische Warte uns mitteilt, hat das Thermometer gegen drei Uhr morgens einen Tiefstand von 15 Grad Kälte registriert. Der Meerbusen Y des Zuidersees weist starke Eisbildung auf, ein Fall, der seit mehr denn zwanzig Jahren nicht dagewesen ist.
Noch immer bemüht sich die Wissenschaft, den unnatürlichen Vorgängen auf die Spur zu kommen, aber wie vor vier Wochen, wo der Zuidersee austrocknete und die Atmosphäre mit Sauerstoff übersättigt wurde, vermag auch diesmal niemand eine befriedigende Erklärung über die herrschenden Zustände abzugeben.«
Ein anderer Artikel hatte folgenden Wortlaut:
»Nach wie vor ist der Gesundheitszustand hierorts der denkbar beste. Seit dem Auftreten der Kältestrahlung ist die Zahl der täglichen Todesfälle um über 90 Prozent zurückgegangen, eine ganz unerhörte Tatsache.
Die Ärzte werden fast beschäftigungslos, und für ihre Existenz hier wäre fernerhin zu befürchten, wenn die Zustände, wie sie augenblicklich herrschen, dauernd blieben. Der Zuzug von Fremden wächst von Tag zu Tag. Neugierige, Kranke, Forscher und noch viele andere Leute suchen unsere Stadt auf. Amsterdam bildet das Gespräch der ganzen Welt, was auch die zahllosen, aus allen Teilen der Erde eingehenden Depeschen bekunden.
Angestellte Nachforschungen im Butkensschen Besitztum, nordöstlich der Stadt, wo man die Kältequelle wähnte, sind resultatlos verlaufen. Die rätselhafte Erscheinung ist und bleibt unergründbar.«
Während man sich noch in Amsterdam und in der ganzen Welt über die Dinge den Kopf zerbrach, begehrte eines Tages, es war um die zehnte Vormittagsstunde, bei dem Bürgermeister der holländischen Hauptstadt ein gebräunter, älterer Herr mit graumeliertem Haar eine Unterredung.
Der Bürgermeister, sehr beschäftigt, war nicht geneigt, den Besucher zu empfangen. Als dieser ihm aber Bescheid zugehen ließ, daß die Sache, um derentwillen er käme, äußerst wichtig und dringlich sei, ja, daß davon das Wohl der ganzen Stadt abhinge, da glaubte der Stadtvater, jenem eine Audienz gewähren zu müssen.
»Robinson ist mein Name,« sagte der Besucher, als er im Arbeitszimmer des Bürgermeisters vorgelassen wurde. »Ich habe Ihnen sehr wichtige Mitteilungen zu machen.«
»Bitte, Herr Robinson, setzen Sie sich,« sagte der Bürgermeister. »Ich möchte Sie aber darum ersuchen, daß Sie sich mit Ihrem Anliegen kurz fassen, meine Zeit ist sehr gemessen.«
Robinsons Gesicht überzog ein feines Lächeln. Wenn der Bürgermeister gewußt hätte, wer in diesem Augenblick vor ihm stand.
»So ungemein wichtig die Sache ist,« sagte Robinson, als er sich niedergelassen hatte, »will ich mich auf Ihren Wunsch gern so kurz als möglich fassen. Ich glaube aber, daß Sie von ganz allein die Unterredung mit mir auf längere Zeit hinausziehen werden.«
»Ich bin wirklich sehr beschäftigt,« replizierte der Bürgermeister.
»So möchte ich denn gleich auf den Kern der Sache zu sprechen kommen,« antwortete Robinson. »Gestatten Sie, daß ich mich Ihnen hier als den Urheber der seltsamen Naturereignisse, die Amsterdam in den letzten Wochen durchlebt hat, denunziere.«
Der Sprecher hielt hier inne und suchte von dem Gesicht seines Gegenübers die Wirkung seiner Worte abzulesen.
Der Bürgermeister, welcher bisher lässig auf seinem Stuhle gesessen hatte, reckte sich verdutzt in die Höhe und musterte seinen Besucher von Kopf bis zu Fuß.
Wieder glitt über Robinsons Gesicht ein undefinierbares Lächeln.
Der Bürgermeister mochte wohl im ersten Augenblick annehmen, daß sein Besucher entweder nicht recht bei Sinnen sei, oder sich einen schlechten Scherz mit ihm erlaube.
»Sie erlauben sich wohl, mich zum besten zu halten?« begann das würdige Stadtoberhaupt und maß seinen Besucher mit einem Blick, der aufs deutlichste verriet, daß er nicht der Mann sei, den man veralbern könne.
»Auf diese Antwort war ich gefaßt,« entgegnete Robinson ruhig. »Ich wiederhole Ihnen aber nochmals, daß ich derjenige bin, der die Natur so aus ihrem Gleichgewicht gebracht hat, daß die Amsterdamer jetzt wie vor Wochen die Wirkungen am eigenen Leibe verspüren. Sie werden sich wohl an das Zurückweichen des Meeres und die Hustenepidemie noch gut erinnern können. Niemand, auch die hervorragendsten Gelehrten nicht, sind der Sache bis heute auf die Spur gekommen. Lange Zeit hindurch habe ich im geheimen gearbeitet, gearbeitet zum Wohl der Menschheit. Aber ich habe jetzt eingesehen, daß der Sache mehr gedient ist, wenn ich mit meinen Geheimnissen in die Öffentlichkeit flüchte. Darum, Herr Bürgermeister, bin ich hier. — — Ich sehe Ihr verdutztes Gesicht und Ihre ungläubigen Mienen, deshalb wiederhole ich Ihnen zum dritten Male, daß ich, zwar nur ein simples Menschlein, die Mutter Natur zu dirigieren vermag. Es klingt paradox, wenn ich mich einen irdischen Schöpfer nennen, im Sinne der Sache aber, welcher ich diene, bin ich es doch...«
Dem Bürgermeister schien die Gegenwart des Fremden ungemütlich zu werden, da er in diesem, der sich selbst als einen irdischen Schöpfer bezichtigte, zweifellos einen Verrückten sehen mußte. Hastig aufstehend, unterbrach er die Rede Robinsons und flüchtete zur Tür, wo er eine Klingel in Bewegung setzte.
Robinson wollte eben in seiner Rede fortfahren, als ein Beamter auf der Schwelle erschien und nach den Befehlen des Gestrengen frug.
»Bleiben Sie gefälligst einige Augenblicke hier zur Gesellschaft dieses Herrn — — —« sagte der Bürgermeister zu dem Ankömmling gewendet. »Der Herr hier ist der irdische Schöpfer...« Die letzten Worte hatte das Stadtoberhaupt mit einem Gemisch von Spott und Ängstlichkeit gesagt. Dann verschwand er aus dem Zimmer, an der Tür nochmals einen Blick auf seinen Besucher werfend.
Robinson stand verblüfft da. Eine dunkle Ahnung stieg in ihm auf und besagte ihm, daß der Bürgermeister allem Anschein nach an seiner Zurechnungsfähigkeit zweifle. Es war ja auch ein gewagtes Stück von ihm gewesen, einer solchen Persönlichkeit entgegenzutreten und sich als irdischer Schöpfer zu gerieren.
Der Beamte musterte fortgesetzt sein Gegenüber und wußte nicht, was er aus dem Vorgange machen sollte. Der Gestrenge hatte jenen als irdischen Schöpfer bezeichnet — — — was war dem Bürgermeister wohl eingefallen? — — —
»Ich sehe, Sie wissen ebenso wie der Herr Bürgermeister nicht, was Sie von mir denken sollen,« sagte jetzt Robinson zu dem Beamten.
Letzterer gab keine Antwort.
»Hören Sie, mein Lieber, ich glaube, daß mich Ihr Herr Bürgermeister für verrückt hält. Das bin ich aber ganz und gar nicht, sondern bin ebenso bei Sinnen wie er und Sie. Wenn jemand solche Entdeckungen macht wie ich, so...«
Weiter kam Robinson nicht im Sprechen, denn die Tür öffnete sich und vier Polizeibeamte betraten das Zimmer. Hinter Ihnen erschien das gestrenge Stadtoberhaupt.
»Führen Sie diesen Herrn hinunter ins Kommissariat,« sagte der Bürgermeister zu den Beamten gewendet. »Weitere Order werde ich dann geben.«
Die vier Beamten schritten jetzt auf Robinson zu und bemächtigten sich seiner Person, indem sie ihn an die Arme faßten und mitzukommen befahlen.
»Meine Herren!« rief Robinson aus, »ich sehe, Sie behandeln mich wie einen Menschen, der seine fünf Sinne nicht beisammen hat. — Herr Bürgermeister, Sie ergreifen Maßregeln gegen mich, noch ehe Sie sich überzeugt haben, daß das, was ich Ihnen mitgeteilt habe, nicht auf Richtigkeit beruht. Ich kann alle meine Angaben durch unumstößliche Beweise dokumentieren.«
»Sparen Sie sich vorläufig die Worte,« erwiderte das Stadtoberhaupt. »Sie können sich darüber mit dem Kommissar unten unterhalten. — Man lasse mich allein!«
Die Beamten folgten nun schnell der Weisung ihres Gestrengen und schoben und zogen Robinson aus dem Zimmer hinaus auf den Flur.
Als letzterer sah, daß jeder Widerstand nutzlos war, fügte er sich und folgte den Beamten in ein im untersten Stockwerk des Stadthauses gelegenes Bureau.
Hier fand unmittelbar darauf eine Vernehmung durch einen Polizeikommissar statt.
»Wer sind Sie?« frug letzterer.
»Mein Name ist Robinson.«
»Stand?«
»Stand? — — — ich bin Privatgelehrter orientalischer Sprachen.«
»Sie sind Engländer?«
»Ja... Herr Kommissar, wenn Sie aber, wie der Herr Bürgermeister glauben, hier jemand vor sich zu haben, welcher irrsinnig ist, so geben Sie sich einer großen Selbsttäuschung hin.«
»Eh — — Sie haben gesagt, Sie seien der irdische Schöpfer — —«
Die letzten Worte waren von dem Kommissar in etwas gedehntem Tone gesprochen worden, wobei er die im Bureau anwesenden Beamten mit einem die Situation bezeichnenden, vielsagenden Blicke ansah.
»Ich sehe, Herr Kommissar, daß auch Sie sich an diese für jeden Uneingeweihten recht seltsam klingende Bezeichnung stoßen und mich deshalb für irrsinnig halten. Ich kann Ihnen aber Beweise erbringen, die jede weitere Erklärung meinerseits überflüssig machen.«
»Es ist gut!« versetzte der Kommissar und wandte sich an seine Untergebenen: »Führen Sie ihn in Gewahrsam ab.«
»Aber — — man behandelt mich hier wie einen Verbrecher...« rief Robinson empört aus.
»Ich habe Weisungen erhalten, Sie auf Ihren Geisteszustand untersuchen zu lassen,« versetzte der Kommissar.
»Dachte ich es mir doch — — —« murmelte Robinson. »Zum Glück,« sagte er dann lauter, »habe ich einen Bundesgenossen, den Sie wohl hoffentlich nicht auch für irrsinnig halten werden. Mynheer Butkens wird Ihnen mit Vergnügen bestätigen, daß ich über meine fünf Sinne verfüge.«
»Mynheer Butkens? — Wer ist das?« frug stutzend der Kommissar.
Robinson gab hierüber die nötige Auskunft.
Dem Kommissar schien damit aber noch keineswegs der Zweifel behoben zu sein, welchen der Bürgermeister in bezug auf die geistige Zurechnungsfähigkeit dieses Mannes hegte.
»Wenn es Ihnen vielleicht beliebt, mich so ohne weiteres einzusperren, so werden Sie das bald bereuen,« ließ sich Robinson vernehmen und der Tonfall seiner Stimme verriet, daß er sich in einer starken Erregung befand.
»Ich verbitte mir jede Gegenrede,« herrschte ihn der Kommissar an, drehte sich um und beschäftigte sich mit anderen Dingen.
Wieder mußte nun Robinson den Beamten folgen und wanderte dahin, wo er zwischen vier Wänden über sein unkluges Vorgehen in der Sache mit Muße nachdenken konnte.
Einige Stunden später führte man den »irdischen Schöpfer« abermals ab. Ein Wagen brachte ihn ins — Irrenhaus.
Am Silvestertage des Jahres, in dem unsere Erzählung spielt, fand ein von der holländischen Regierung einberufener Weltkongreß statt. Derselbe trug sowohl einen wissenschaftlichen als auch einen politischen Charakter. Sämtliche Kulturstaaten der Erde hatten ihre diplomatischen Vertreter nach Amsterdam entsandt. Zahlreiche Universitäten und wissenschaftliche Institute waren durch Kapazitäten vertreten. Die Räume des ehemaligen Admiralitätshofes am OudezijdesVoorburgwal waren an jenem Tage von Menschen überfüllt. Wie verlautet, sollte eine internationale Diskussion stattfinden, welche die seltsamen Entdeckungen Robinsons zum Gegenstand hatte. Kleine Probeversuche nach seiner Methode sollten die Grundlage bilden, wonach man schnell einen Überschlag vorzunehmen in der Lage war, um Wirkungen im großen berechnen zu können. Den Vorsitz der grandiosen Versammlung hatte der Rektor der Universität und der Bürgermeister von Amsterdam übernommen. Beide wurden durch Mr. Robinson und Butkens assistiert. In dem mächtigen Beratungssaale hatten sich in der Nähe der Rednertribüne mehr als hundert Zeitungsberichterstatter aus allen Gegenden der Erde niedergelassen, um noch am Abend lange Stenogramme über die Verhandlungen an ihre Redaktionen absenden zu können. Nicht weit von deren Plätzen war ein großer Tisch aufgestellt, auf dem sich eine Anzahl Apparate befanden. Dahinter boten zahlreiche lange Stuhlreihen Sitzgelegenheit für mehr als tausend Personen.
Den Kongreß eröffnete der Rector magnificus, indem er alle Anwesenden zunächst willkommen hieß und dann Robinson, den Held des Tages, sowie seinen Helfershelfer Butkens vorstellte.
Aller Augen richteten sich auf Mr. Robinson. Dieser fühlte, daß er mit einem Male das höchste Interesse aller Anwesenden besaß. Trotzdem wurde er aber weder befangen noch verlegen, und als er dann das Wort ergriff, tat er dies frank und frei.
Nachdem die erste Anrede stattgefunden hatte, ließ sich der Rector magnificus wie folgt vernehmen:
»Hochansehnliche Versammlung! Wir stehen augenblicklich im Zeichen großer Umwälzungen. Jedermann unter uns sind wohl die Entdeckungen Mr. Robinsons bekannt. Ihm werden wir bald ein neues Wirtschaftsleben, ein ganz geändertes Dasein zu verdanken haben. Mr. Robinson hat es verstanden, die Natur zu bemeistern, indem er ungeheure Quanten Wasser vernichtete und Luft nach einem genialen Verfahren tropfbarflüssig machte. Seine Verdienste sind darum sehr große. Wir sind nun hier zusammengekommen, um darüber zu beratschlagen, in welchem Maßstabe beide Erfindungen zum Wohle der Menschheit ausgebaut werden können, ohne irgend welche Schattenseiten zu erzeugen.
Ehe ich zu den wissenschaftlichen und technischen Einzelheiten übergehe, möchte ich es nicht versäumen, Mr. Robinson dafür zu danken, daß er seine Geheimnisse der Öffentlichkeit preisgegeben hat. Es war das beste, was er tun konnte. Was ihm bisher allein nicht gelang, wird jetzt sicherlich durch viele zur Ausführung kommen. Noch sind die Resultate zwar nicht abgeschlossen, doch steht zu hoffen, daß die künstlich erregten anormalen Naturzustände von wohltuendster Einwirkung auf Körper und Geist der Menschen fürderhin werden.«
Nach diesen Worten ließ sich der Rector magnificus nieder und der Bürgermeister erhob sich jetzt zu einer Ansprache.
»Hochverehrte Anwesende! In den Vorsitz zu dieser Versammlung mitberufen, möchte ich hier zunächst meinem tiefen Bedauern Ausdruck geben, daß ich, als Mr. Robinson mich mit seinen Entdeckungen bekanntmachen wollte, die Sachlage völlig verkannt hatte. Man kann es mir nicht zum Vorwurf machen, daß ich damals schroff gegen Mr. Robinson vorgegangen bin. Seine Angaben klangen mir aber so ungeheuerlich, daß ich ihnen mit dem besten Willen jeden Glauben versagen mußte. Sobald jedoch der Wahrheitsbeweis von ihm angetreten wurde, habe ich alles Erdenkliche getan, um das Mißtrauen wieder wettzumachen. Mynheer Butkens gebührt für seine Beihilfe unser aller vollster Dank. Er bahnte die Wege, welche zum gegenseitigen Verständnis zwischen den berufenen Behörden und Mr. Robinson führten. Die Stadt Amsterdam hat bei den geheimen Vorversuchen Mr. Robinsons manche unangenehme Wirkungin Kauf nehmen müssen. Heute aber sind wir alle froh, daß die großeEntdeckungen ihren Ausgangspunkt von unserer Stadt nehmen und sind stolz auf Mr. Robinson. In geheimer Sitzung haben sich die Vertreter dieser Stadt zum Dank dahin geeinigt, daß sie den genialen Mann zum Ehrenbürger Amsterdams ernannt haben und liegt mir der Auftrag ob, die bezügliche Urkunde hier bei dieser Gelegenheit Mr. Robinson zu überreichen.«
Der Bürgermeister nahm am Schlusse seiner Rede eine Papierrolle zur Hand, begab sich vor die Rednertribüne und überreichte das Dokument dem Helden des Tages, der dankbar gerührt die Rolle in Empfang nahm und dem Bürgermeister warm die Hand drückte.
»Mr. Robinson wird jetzt das Wort ergreifen. — — Ich bitte um Ruhe!« rief der Präsident in den Saal.
Im nächsten Augenblick herrschte Totenstille.
Der Aufgerufene erhob sich und schickte sich zu einer kurzen Rede an.
»Meine hochverehrten Herren! Es ist mir bekannt geworden, daß in diesem Saale eine erlauchte Schar berühmter Männer versammelt ist. Dieser gegenüber stehe ich als bescheidenes Menschlein da, als einer, dessen Verdienst es ja nur ist, Geheimnisse aus alten Dokumenten für unsere jetzige Zeit verwertbar gemacht zu haben. Bereits schon habe ich einer wissenschaftlichen Kommission meine Entdeckungen bis ins kleinste angegeben, hoffend, damit meiner Mitwelt gedient zu haben. Von berufener Stelle aus wird nun im großen versucht werden, was ich im kleinen noch nicht erreichen konnte, nämlich die Trockenlegung größerer Wasserbecken, das gleichzeitige Binden der freigewordenen Gase an das Gestein und die Verflüssigung der Luft in ausgedehntester Weise. In dieser Hinsicht möchte ich meinem treuen Mitarbeiter, Mynheer Butkens einmal das Wort lassen. Er wird sich besser über die technische Seite meinerVerfahren auslassen können, da er sie mit mir genügend studiert hat.«
Der Erwähnte, welcher neben Robinson saß, erhob sich jetzt vom Platze, verneigte sich und begann zu sprechen.
»Hochansehnliche Versammlung! Großes ist im Werke, den Menschen ist es in die Hand gegeben, die Natur zu bemeistern. Noch ist heute nicht vorauszusehen, von welcher Tragweite die Robinsonschen Entdeckungen für die Welt sind. Aber das eine läßt sich voraussagen, daß den Errungenschaften im kleinen sicher noch solche im großen folgen werden.
Ob wir die Entdeckungen in ihrem ganzen Umfange verwertbar machen können, das steht noch in Frage. Würde doch die Verflüssigung der gesamten Atmosphäre auf der Erde eine Nordpoltemperatur hervorrufen, die uns sicher nicht genehm sein würde. Sie sehen, meine hochverehrten Herren, daß uns gewisse Grenzen gesteckt sind...«
Hier wurde der Sprecher durch den Rector magnificus unterbrochen. »Mynheer Butkens,« begann er, »hier könnte wohl gleich die öffentliche Diskussion einsetzen?«
Da Butkens damit einverstanden war, so entwickelte sich jetzt ein reges Frage- und Antwortspiel.
»Halten Sie eine Wasserzersetzung im größten Maßstabe für möglich?« frug ein deutscher Professor der Geologie.
»Das hängt ganz davon ab, wie es gelingen wird, die bei der Zersetzung freiwerdenden Gase wieder zu binden.«
»Wurde nicht einmal Ihrerseits geäußert, daß der erdelektrische Strom, welcher die Zersetzung des Wassers bewirkt, gleichzeitig auch das Bindemittel der freiwerdenden Gase abgibt?« frug derselbe Gelehrte weiter.
»Nach den indischen Dokumenten, denen die Entdeckungen entnommen sind, sollte dies eigentlich der Fall sein,« versetzte Butkens.
»Und es war bei dem damaligen Versuche im Zuidersee doch wohl nicht der Fall gewesen,« warf der Rector magnificus in der Rede ein.
»Das muß ich leider bestätigen,« versetzte Butkens. »Mit der Wasserzersetzung haben wir bisher nicht gerade die besten Resultate erhalten. Hier ist noch ein großes Feld für die Forschung offen. Bei der Verflüssigung der Luft hingegen sind wir zu besseren Erfolgen gelangt, trotzdem wir auch hier mit gewissen Mißständen zu rechnen haben. Den unangenehmsten Faktor in dieser Beziehung bildet die sich entwickelnde Kältestrahlung, welche, wenn man die Versuche in vielfach größerem Maßstabe machen wollte, leichthin von schweren Folgen begleitet sein könnte. Eine weniger intensive Kältestrahlung ist dagegen von wohltätigstem Einfluß auf die Gesundheit von Menschen und Tieren. Wir haben dies jetzt zur Genüge erfahren. Fast neunzig Prozent aller Sterbefälle sind seit Wochen zum Schwinden gebracht. Das ist fürwahr schon ein Resultat, wie es sich die Menschheit nicht besser wünschen kann und allein schon wert, daß Mr. Robinson ein Denkmal gesetzt wird — — —.«
Man sah Robinson bei den letzten Worten eine abwehrende, bescheidene Bewegung machen.
Jetzt ergriff der Bürgermeister von Amsterdam wieder das Wort und sagte: »Die Welt wird große Verdienste zu belohnen wissen. Hierorts ist es bereits beschlossene Sache, daß wir dem genialen Ergründer der indischen Geheimnisse ein Denkmal setzen.«
Von allen Seiten wurde jetzt lauter Beifall hörbar.
»Ich möchte mir nun die Frage erlauben,« begann Professor François, eine Kapazität auf dem Gebiete der Physik. »Hält Mr. Robinson eine gleichzeitige Ausführung der Luftverflüssigung und Wasserzersetzung größten Maßstabes für möglich?«
An Mr. Robinsons Stelle ergriff nun Butkens wieder das Wort und antwortete:
»Wir halten es nicht für unmöglich, beide Operationen gleichzeitig
mit Erfolg betreiben zu können. Jedenfalls käme es auf einen größeren
Versuch zunächst einmal an. Nicht unerwähnt möchte ich hier noch
lassen, daß der erdelektrische Strom sich bei unserer damaligen Anzap
fung als ein rabiater und ungefügiger Geselle gezeigt hat, so daß uns die
Dinge bald über den Kopf wuchsen und wir nicht mehr Herr der Lage
waren.«
Nachdem hierüber diskutiert und noch ein reger Meinungsaustausch über die Punkte, welche weiter zur Tagesordnung standen, gepflogen worden war, an dem sich zahlreiche Gelehrte und Gesandte fremder Nationen beteiligt hatten, trat Robinson vor den Tisch, auf welchem verschiedene Apparate gruppiert waren und verkündete der lautlos zuhörenden Menge, daß er noch ein drittes physikalisches Wunder vorzunehmen gedenke. Er kam dann auf das kalte Feuer der Inder zu sprechen und veranstaltete sofort einen kleinen Versuch im Saale, welcher zu diesem Zwecke durch Vorhänge verdunkelt wurde.
Leider hatte Robinson bei seiner fluchtartigen Abreise aus Indien nur kleine Mengen der erforderlichen mineralischen Substanz und des Sattasarisaftes mitgenommen, und diese Reste gingen bei dem Versuch jetzt voll drauf.
Als Robinson mit dem Experiment beginnen wollte, mußte er aber die Entdeckung machen, daß der eingetrocknete Saft in seiner Wirkung auf jenes eigentümliche Mineral keine Feuererscheinung mehr hervorzurufen imstande war. Jedermann war arg enttäuscht, daß Robinsons Versuch mit dem kalten Feuer, über dessen eigenartige Natur er kurz zuvor berichtet hatte, mißlang, und gleich gab es Skeptiker, welche sich zuraunten, daß es mit den Robinsonschen Entdeckungen doch möglicherweise noch ein Häkchen haben könne. Man sieht, daß das Nichtgelingen des eben angestellten Versuches schnell Zweifel, auch in bezug auf die anderen Entdeckungen, hervorrief.
Die Zweifler begehrten nun, ehe umfassende internationale Vereinbarungen zur Abmachung kämen, daß einige Versuche der Wasserzersetzung und Verflüssigung der Atmosphäre vor ihrer aller Augen vorausgehen sollten.
Zahlreiche anwesende Gelehrte und Staatsdelegierte hatten wohl davon viel gehört und gelesen, aber die erzeugten anormalen Naturvorgänge selbst zu beobachten bisher keine Gelegenheit gehabt. So kam es, daß viele darauf bestanden, bevor völkerrechtliche Abschlüsse zustande kämen, daß die Wasserzersetzung und Luftverflüssigung vor ihren Augen praktisch erprobt würde.
Mit Robinsons und Butkens' Einverständnis vertagte der Rector magnificus die internationale Versammlung, bis daß ein Versuch dargetan hatte, daß Zweifel an der Sache durchaus unberechtigt waren.
* *
*
Der Schauplatz, auf dem sich nun die weiteren Vorgänge im Anschluß an die internationale Versammlung abspielen sollten, war das Butkenssche Besitztum.
Es war gegen Abend am selben Tage, als sich durch den uralten, jetzt durch die Kältestrahlung entlaubten Park Scharen von Menschen bewegten. Es waren erlauchte Abgeordnete, welche kamen, um sich persönlich einmal über den Wert der Robinsonschen Entdeckungen ein Bild zu machen.
Robinson und Butkens hatten schnell noch die nötigen Vorkehrungen getroffen, um gleichzeitige Versuche mit der Luftverflüssigung und Wasserzersetzung vorzunehmen. Es muß hier noch bemerkt werden, daß sich der Zuidersee im Laufe der vergangenen Wochen durch die Wasser der einmündenden Flüsse längst wieder gefüllt hatte und somit abermals als Versuchsobjekt dienen konnte.
Die Stahlgestänge, welche Robinson und Butkens vor Wochen unmittelbar hinter dem Parke in den Boden des Sees eingetrieben hatten, waren nach näherer Untersuchung noch völlig intakt befunden worden und konnten daher zu einem erneuten Wasserzersetzungsprozeß verwendet werden.
Auch die Gasanlage, welche übrigens in letzter Zeit bedeutend vergrößert und verbessert worden war, wurde für die folgenden Stunden wieder in Tätigkeit versetzt. In einem besonderen Raume des Landhauses, welchem die vorgenannte Anlage durch den Verflüssigungsprozeß entkeimte Luft zuführte, waren ein halbes Dutzend Versuchsobjekte, hochgradig lungenkranke Personen, untergebracht, welche dort vor den Augen aller Kongreßteilnehmer zur Heilung gebracht werden sollten.
Der alte Gärtner Schaepman, welcher die Gasometeranlage, mit deren Einrichtung er im Laufe der Zeit ganz vertraut geworden war, bediente, hatte an dem Abend alle Hände voll zu tun.
Butkens und Robinson fanden sich zu einer letzten Beratung zusammen, um noch einmal diese und jene Punkte durchzusprechen, von denen das Gelingen der Versuche abhing.
»Finden Sie es wirklich nicht gefährlich, beide Versuche gleichzeitig anzustellen?« frug Robinson seinen Verbündeten.
Dieser zuckte mit den Achseln und erwiderte: »Ich wüßte keinen Grund, weshalb die Sache nicht programmäßig verlaufen sollte. Freilich, unvorhergesehene Zufälle können ja immer eintreten.«
»Gelingen beide Versuche und wir können die Entdeckungen als wirklich brauchbar darstellen, so ist unser beider Zukunft für immer gesichert, und man wird wohl nicht anstehen, uns einige Millionen als Dotation anzubieten.«
Butkens lächelte. »Können Millionen ein Äquivalent bilden für den Dank, welchen die Menschheit einem einzelnen schuldet, dem es gelungen ist, die Natur zu bemeistern?«
»Aber, lieber Butkens, mein Werk ist es doch nicht, der Ruhm gebührt allein jenem alten indischen Forscher und auch Ihnen, der mir die Theorie in die Praxis umgesetzt hat.«
»Ganz egal, lieber Mr. Robinson, Sie sind der Urheber, und Ihnen nur hat die Menschheit Dank zu zollen.«
»Wir wollen den Herren einmal eine tüchtige Probe von unserem Können zeigen und sie recht weidlich frieren lassen,« meinte scherzend Robinson.
»Und husten sollen sie, daß sie keine Minute mehr länger an der Lösung des Wasserzersetzungsproblems zweifeln werden,« fügte Butkens hinzu.
»Wir werden aber selbst ihre Leidensgefährten sein.«
»Was verschlägt's,« erwiderte Butkens, »wenn nur die ungläubigen Herren bis auf die Knochen überzeugt werden.«
»So wollen wir ihnen einmal gehörig zusetzen,« sagte Robinson. »Solche Zweifler müssen für ihre Skrupel einen ordentlichen Denkzettel bekommen.«
Mit diesem Vorsatz begaben sich beide Männer auf ihren Posten, und zwar hatten sie untereinander vereinbart, daß Robinson den Wasserzersetzungsprozeß leiten und Butkens den Verflüssigungsgenerator bedienen sollte.
Die Dunkelheit war bereits eingebrochen, als alle Vorbereitungen getroffen waren. Ein Teil der anwesenden Gäste hatte sich in der Nähe des Seeufers postiert, während ein anderer Teil sich in der Nähe des Verflüssigungsgenerators aufhielt. Der alte Schaepman spielte den Fourier zwischen Robinson und Butkens, so war es wenigstens geplant worden.
9 Uhr 10 Minuten ertönte das erste Zischen vom Seeufer her: der erdelektrische Strom war nach oben geleitet und begann das Wasser des Zuidersees zu zersetzen.
Fast zu gleicher Zeit hatte Butkens den Generator in Tätigkeit versetzt, und eine intensive Kälte durchstrahlte schnell den Park. Viele der Anwesenden knöpften fröstelnd ihre Kleidung zu, ahnten aber nicht, daß über sie noch eine wahre Nordpolkälte hereinbrechen sollte.
Butkens führte zunächst nach der Inbetriebsetzung des Generators vor einer Anzahl Vertretern der medizinischen Wissenschaft Heilversuche in jenem schon erwähnten Raume aus, wo sich einige lungenkranke Personen den Händen Butkens' anvertraut hatten.
Mit Erstaunen sahen die Ärzte die ungemein belebende Wirkung der metamorphisierten Luft auf die Versuchspersonen, verspürten solche aber auch an sich selbst. Die bisher blutlosen Gesichter der Kranken bekamen eine leichte Rötung, und hatten letztere sonst immer mit Atemnot und Hustenreiz zu kämpfen gehabt, so verschwanden diese Symptome jetzt, und die Brust jedes Kranken atmete, wie einige Ärzte durch Auskultation feststellen konnten, so regelmäßig wie die jedes Gesunden. Das waren für die Vertreter der Wissenschaft schon recht erstaunliche Resultate, und diese zweifelten nun kaum mehr, daß auf solche Weise Heilungen brustkranker Personen möglich seien.
Während Butkens noch weitere Erklärungen abgab, erfolgte draußen plötzlich eine außerordentlich starke Detonation.
Entsetzt horchte Butkens auf und stürzte dann zur Tür. Gleichfalls erschrocken eilten die anwesenden Herren hinter ihm her.
Draußen empfing sie alle eine gewaltige Kälte, die sie im Augenblick zittern machte.
Was war passiert? — — —
Butkens war, so schnell als ihn seine Füße tragen konnten, hinten in den Park geeilt, um die Ursache der Detonation zu ergründen. Daß irgend etwas Schreckliches vorgefallen war, daran zweifelte er nicht. Kaum hatte er den Park betreten, so sah er vor sich eine Bresche in den Wald geschlagen. Zahllose Bäume lagen in der Richtung zum See hin entwurzelt da, und von allen Seiten drangen lärmende Stimmen zu ihm herüber. Bald stürzten ihm Leute entgegen, welche entsetzt dem Hause zuflohen. Keiner gab auf seine Fragen, was eigentlich passiert sei, Antwort. Alles eilte in wilder Hast an ihm vorüber.
Als Butkens in die Nähe des Seeufers gelangte, sah er die Wellen des Zuidersees hochgehen und alle Bäume längs des Strandes am Boden liegen.
Von Robinson bemerkte er keine Spur. Auch sonst war niemand mehr in der Nähe. Jeder schien sein Heil in der Flucht gesucht zu haben.
Mehr als einmal rief er Robinsons Namen, aber keine Antwort tönte ihm entgegen. Hastig eilte er, vor Kälte zitternd, zu der Stelle, wo das Stahlgestänge in den Strand eingetrieben war. Kein Rest desselben war zu sehen. An Stelle desselben war ein tiefes Loch aufgewühlt, in welches der Zuidersee jetzt seine Wellen hineinwarf.
Ratlos und tief erschrocken stand Butkens da und wußte nicht, was er von alledem denken sollte. Da vernahm er, wie ein Zischen wieder hörbar wurde und folgerte daraus, daß der Prozeß der Wasserzersetzung noch im Gange sei.
Aus der Ferne hallten die Stimmen vieler Menschen zu ihm herüber, und da er unter den Geflüchteten auch Robinson vermutete, so war er im Begriff, die Unglücksstätte zu verlassen und dem Landhause zuzueilen.
Nochmals schaute er sich nach allen Seiten um, ob vielleicht doch noch Anhaltspunkte zu finden seien, welche ihm eine Erklärung für die Detonation abgeben konnten.
Inzwischen war die herrschende Kälte auf ein unerträgliches Maß gestiegen, so daß Butkens mit den Zähnen klappernd dastand.
Die hochgehenden Wellen des Zuidersees warfen ihre Schaumspritzer auf ihn und durchnäßten ihn.
Da vernahm Butkens über sich einen Knall! Er fühlte den Boden unter sich zittern und sank dann bewußtlos nieder.
Der diesen furchtbaren Ereignissen folgende Morgen — es war der erste Tag des neuangebrochenen Jahres — klärte die Dinge, welche über Nacht vor sich gegangen waren, in etwas auf. Extrablätter durchschwirrten die Stadt. In fetten Lettern war darin folgendes zu lesen:
»Amsterdam, 1. Januar. In der vergangenen Silvesternacht hat sich auf dem Butkensschen Landgut am Zuidersee ein großes Unglück ereignet.
Während des Versuchs gleichzeitig den Vorgang der Wasserzersetzung und Luftverflüssigung vor den dort versammelten Kongreßteilnehmern zu explizieren, erfolgte gegen 10 Uhr abends eine furchtbare Detonation, welche den Zuidersee bis in den Grund aufwühlte und in dem alten Park einen gewaltigen Windbruch erzeugte. Als Schlimmstes ist zu bedauern, daß Mr. Robinson und Butkens den furchtbaren Ereignissen zum Opfer gefallen sind. Der erstere wurde vor den Augen zahlreicher Teilnehmer des Kongresses von den Wellen des Zuidersees verschlungen, während Butkens diesen Morgen, anscheinend erfroren, am Orte der Detonation tot aufgefunden worden ist. Es mutet einem an, als wenn die Natur sich an denen, die sie bemeistern wollten, gerächt und sie vernichtet hätte.
Nach den Aussagen berühmter Kapazitäten, welche dem letzten Akte dieses furchtbaren Naturdramas selbst beigewohnt, haben am Orte der Ereignisse überaus heftige Explosionen stattgefunden, deren Ursache nur in der Wiedervereinigung der freigewordenen Gase der zersetzten Wassermengen zu suchen ist. Infolge des durch die gewaltige Detonation erzeugten Luftdruckes ist leider auch die gesamte Luftverflüssigungsanlage im Butkensschen Parke zerstört worden.«
Noch am selben Tage fand in aller Eile eine Sitzung des Kongresses statt, um das Fazit aus den stattgefundenen Ereignissen zu ziehen. Hierbei stellte es sich heraus, daß mit dem Tode der beiden so schnell berühmt gewordenen Männer, deren Geheimnisse in bezug auf die beiden neuen Verfahren, welche ihnen das Leben gekostet hatten, für alle Zeiten verloren gegangen waren.
Die, welche die Natur bezwungen, wurden dabei von ihr verschlungen! —
Ein Memento mori für die Lebenden!
Roy Glashan's Library
Non sibi sed omnibus
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