Roy Glashan's Library
Non sibi sed omnibus
Go to Home Page
This work is out of copyright in countries with a copyright
period of 70 years or less, after the year of the author's death.
If it is under copyright in your country of residence,
do not download or redistribute this file.
Original content added by RGL (e.g., introductions, notes,
RGL covers) is proprietary and protected by copyright.
RGL e-Book Cover
Based on an image created with Microsoft Bing software
Oskar Hoffmann: "Die vierte Dimension"
(Champion-Romane. Bd. 4). Berlin/Leipzig:
Verlag von Hermann Seemann Nachfolger o.J. [1909f.].
Oskar Hoffmann: "Die vierte Dimension"
(Champion-Romane. Bd. 4). Berlin/Leipzig:
Verlag von Hermann Seemann Nachfolger o.J. [1909f.].
Kongens Nytorv ist der größte und schönste Platz Kopenhagens. Im Zentrum der nordischen Hauptstadt gelegen, wird er von sehenswerten und prächtigen Gebäuden umschlossen. Hier befinden sich das königliche Nationaltheater, das Schloß Charlottenborg, das Hotel d'Angleterre, das Marmorhaus der Standardgesellschaft und die imposanten Gebäude der Nordischen Telegraphengesellschaft sowie das Magazin du Nord. Inmitten des Platzes thront die bleierne Statue Christians V.
In einem Winkel des Kongens Nytorv, just dort, wo eine der verkehrsreichen Hauptstraßen auf den Platz ausmündet, stand noch vor einem Jahrzehnt ein altersgraues, unansehnliches Haus. Die Chronik Kopenhagens wußte von ihm nichts zu erzählen. Schlichte, ehrbare Bürgersleute hatten es bewohnt, bis daß es die Arbeitsstätte eines Mannes wurde, der sich vom Autodidakten zum Professor aufgeschwungen hatte und dessen Wissen und Forschungen auf dem Gebiete der Mathematik es zweifellos wert waren, daß dieser seltene Geist von der Welt gebührend angestaunt wurde.
Ehe wir nun einen Blick in das besagte Häuschen am Kongens Nytorv werfen, wollen wir einem Vorgang Beachtung schenken, der sich in der berühmten königlichen Bibliothek der Hauptstadt an einem Maimorgen ereignete.
Über einen dickbauchigen Folianten vertieft, saß der Professor für dänische Geschichte, Erich Holm, auf seinem Stammplatz im Bibliotheksaal. Ein Diener brachte ihm gerade Fridericias Werk über Dänemarks ydre politiske Historie , das er sich ausgebeten hatte, als sein Kollege von der anderen Fakultät, Professor Estrup, zu ihm herantrat und ihn durch einige Worte aufschreckte.
»Einen Augenblick — — lieber Herr Kollege«, klang es an Holms Ohren.
Der Angeredete hob den Kopf und sah den Sprecher an.
»Haben Sie es schon gehört — — — unser Lund?« fuhr der greise Estrup im Sprechen fort und seine Stimme verriet, daß ihn etwas Ungewöhnliches aufgeregt zu haben schien.
Holm richtete sich aus seiner halbgebückten Stellung auf. »Was ist mit Lund?« fragte er zurück.
»Hm — — hm — er ist seit einigen Tagen verschwunden und niemand weiß über sein Verbleiben Auskunft zu geben«
»Eh!« entfuhr es den dünnen Lippen Holms und er erhob sich von seinem Sitze.
»Spurlos verschwunden...«
»Spurlos verschwunden...« replizierte der Geschichtsprofessor mit nicht geringer Verblüffung.
»Man munkelt auch so allerlei«, fuhr Estrup mit gedämpfter Stimme fort.
»Was? — ich hörte noch nichts.«
»Seine geistige Verfassung soll...«
»Aber, lieber Kollege... das ist doch wohl nur dummes Geschwätz.«
»Absonderlich war er immer, und...«
»Nun, nun!« raunte Estrup ihm zu. »Erinnern Sie sich nicht mehr seiner verschiedenen Äußerungen über das DoppelIch des Menschen?«
»Hm —« murmelte nachdenklich Holm und fuhr sich mit der Hand durch seinen grauen Knebelbart.
»Das gab doch wohl zu denken?«
»Vage Annahmen — — weiter nichts.«
»Aber, Herr Kollege — —«
»Sie halten wohl Lund für...« platzte Holm jetzt heraus und sah Estrup mit einem komischen Blick an.
»... geistesgestört — — je nun, wenn man verschiedenes in Rechnung zieht«, erwiderte Estrup und wiegte seinen Kopf hin und her.
»Und sein Verschwinden?«
Estrup zuckte mit den Achseln.
»Ist Lund nicht in seiner Wohnung?«
»Seit drei Tagen hat er sich dort nicht sehen lassen. Seine alte Haushälterin ist verzweifelt darüber.«
»Allerdings seltsam«, versetzte Holm.
Doktor Jörgensen hegt auch große Besorgnis«, meinte Estrup.
»Sein Arzt?«
»Ja — — er ist auch sein Freund.«
In diesem Augenblicke gesellte sich zu den beiden noch der Oberbibliothekar Molbech, ein Mann, den die Natur mit einer ziemlich großen Dosis Neugier erblich belastet hatte.
»Was sagen die Herren zu unserem armen Freund Lund?« flüsterte der Ankömmling und setzte eine geheimnisvolle Miene auf.
»Lund hat möglicherweise eine kleine Reise unternommen...« sagte Holm, dem es nicht in den Kopf zu wollen schien, daß seinem Kollegen etwas zugestoßen sein sollte.
»Davon hätte er doch wohl seine Haushälterin unterrichtet«, entgegnete Molbech. »Nein, nein —«
»Ich klammere mich an solche Möglichkeiten, solange ich keinen unmittelbaren Beweis dafür habe, daß Ihre Vermutungen wirklich begründete sind«, ließ sich Holm vernehmen.
»Jedem von uns sind seine wirren Auslassungen über die Psyche des Menschen in bezug auf ihre Anpassung an geometrische Gebilde übersinnlicher Natur aufgefallen«, sagte Estrup hastig.
»Sein Geist hat sich im Grübeln über das Transzendentale verloren... zweifelsohne«, warf der Oberbibliothekar ein.
»Die letzten seiner aufgestellten Theorien gaben schon zu den- ken...« fuhr Estrup fort.
»Hypothesen...« murmelte Holm.
»Hypothesen, die sich ins Haltlose verloren.« Bei diesen letzten Worten stützte Estrup sein Kinn nachdenklich in die rechte Hand, eine Stellung, die er bei wichtigen Gesprächen gern einnahm.
»Hypothesen haben oft keinen realen Grund und Boden«, meinte Holm.
»Aber, mein bester Herr Kollege, die Behauptung Lunds, daß die Existenz von Punktwesen verbürgt sei, das ist doch keine aufgestellte Hypothese mehr!« rief Estrup erregt aus, daß die in der Nähe sitzenden Besucher der Bibliothek aufzuhorchen begannen.
»Bah! — — Vage Annahmen eines zu weit Denkenden darf man nicht auf die Goldwage legen«, antwortete Holm. »Besonders, wenn es sich um imaginäre Raumgebilde handelt.«
»Nun, wir werden ja sehen — —« versetzte Estrup.
Der Oberbibliothekar nickte zu diesen Worten, er schien in bezug auf die über Lunds Geisteszustand kursierenden Meinungen ganz im Fahrwasser Estrups zu segeln.
Die Unterhaltung der drei fand hiermit ihr Ende. Holm wollte Lunds Behausung aufsuchen, Estrup sich mit anderen Kollegen treffen, und der Oberbibliothekar wurde soeben von einem Untergebenen in Anspruch genommen.
In der Behausung Arrild Lunds, des Professors für Mathematik, der den Mittelpunkt des eben im Bibliotheksaale stattgefundenen Gesprächs gebildet hatte, fand sich zur selben Zeit jemand ein, der von Lund die Nachricht überbrachte, daß man sich um ihn nicht sorgen solle, wenn er einige Zeit abwesend sei.
Der Abgesandte wollte über den Aufenthaltsort des Professors nicht das Geringste wissen. Er gab an, daß ein alter Herr auf dem Bahnhof ihm den Auftrag erteilt habe, dessen er sich soeben entledigt habe.
Wenn man nun auch einigermaßen über den Verbleib Lunds beruhigt war, so gab seine rätselhafte Abwesenheit und Geheimnistuerei doch noch reichlich Stoff zum Denken.
»Er ist nun schon drei volle Tage und Nächte fort«, sagte Frau Christiansen, seine Haushälterin, zur Pflegetochter Lunds.
»Ich bange so um ihn — — er war die letzten Tage immer so eigentümlich. Er aß und trank wenig, schlief wenig und wollte nie durch ein Wort gestört sein«, versetzte Ingrid, Lunds Pflegebefohlene, und man konnte ihr die Besorgnis um den alten Herrn vom Gesicht ablesen.
»Der Herr Professor hat am Freitag wieder soviel Figuren gezeichnet, daß die Papierbogen haufenweise umherliegen.«
»Ob das im Zusammenhange mit seinem Verschwinden stehen mag?« meinte Ingrid.
»Das Figurenmalen ist ihm in letzter Zeit fast zu einer fixen Idee geworden«, versetzte hierauf Frau Christiansen.
»Mit geometrischen Zeichnungen hat sich Papa doch schon immer beschäftigt... freilich so viel wie er bis Freitag zeichnete, war noch nie vorgekommen... und so seltsame Figurengebilde. Er war dabei auch furchtbar nervös und seine Augen flackerten manchmal so seltsam, daß ich mich vor ihm fast fürchtete«, sagte Ingrid.
»Wenn Herr Lund auf dem Bahnhof war, so will er sicher verreisen... wo mag er aber die drei Tage und Nächte verbracht haben? Der alte Herr ist mir ein leibhaftiges Rätsel!« versetzte Frau Christiansen.
Die beiden setzten ihre Unterhaltung über den eigentümlichen Fall noch eine Weile fort, und dann beschlossen beide Frauen zum Bahnhof zu eilen, um dem Vermißten nachzuforschen.
In der darauffolgenden Nacht — alles hatte längst die Ruhe gesucht — kehrte Professor Lund unerwartet in seine Behausung zurück. Er tappte im finstern die knarrenden Stiegen zum ersten Stockwerk empor, wo sich sein Arbeitszimmer befand.
Oben angekommen, blieb er eine kleine Weile stehen, um zu horchen. — — Nichts regte sich in der Umgebung.
Behutsam klinkte er die Tür zu seinem Arbeitszimmer auf und machte Licht.
Als Lund sich überzeugt hatte, daß ihn niemand hatte kommen hören, legte er seinen Mantel und Hut ab und setzte sich an den Schreibtisch, auf dem sich Berge von Papierbogen, wirr durcheinander liegend, befanden.
Dann sprach er halblaut vor sich hin, was er unbewußt oft zu tun pflegte. Er konnte ganze Gespräche mit sich selbst führen.
»Wenn es mir gelänge, das Psychische vom Physischen im Menschen zu trennen — —«, murmelte Lund vor sich hin. »Das geistige Auge würde in Tiefen dringen können — — das Vierdimensionale müßte sich meinen Blicken erschließen — —«
Der Alte stützte jetzt den Kopf in beide Hände und grübelte. Der Gongschlag seiner prächtigen Standuhr, die ein Jubiläumsgeschenk der Kollegenschaft war, verkündete eben in sattem Metallton die zweite Stunde nach Mitternacht.
Lund wurde dadurch in seinem Sinnen wieder gestört.
»Und ich muß die Axiome der Metaphysik feststellen — —« murmelte der Alte wieder. »— — was einem Aristoteles und Kant nicht gelang, das soll mir gelingen.«
Lund griff jetzt mit leuchtendem Auge nach einem Stoß beschriebener Papiere. Es war das Manuskript eines von ihm verfaßten neuen Lehrbuches der Metaphysik, welches eine Reihe auf dem Gebiete des Transzendentalen bahnbrechend werdender Hypothesen enthielt. Diese Schrift war das Lebenswerk des Professors, mit ihr wollte er nicht nur seinen Ruhm für alle Zeiten begründen, sondern auch selbst in die schwarzen Tiefen des Übersinnlichen dringen.
So lautete der Titel, der in kräftiger Kursivschrift auf der ersten Seite des Manuskriptes prangte. Er besagte des wahrhaft Geheimnisvollen gar viel. Neue, den sterblichen Menschen und ihrer Wissenschaft völlig unbekannte geometrische Raumgebilde sollten nach den Anschauungen des Verfassers jenes seltsamen Buches existieren und wurden mit Hilfe psychischer Formeln nachgewiesen. Diese psychischen Formeln hatte Lund selbst entdeckt und sie repräsentierten orakelhafte Gebilde von Zahlen und Buchstaben, lesbar und faßbar nur für solche, welche sich in die Ideen des Autors vertieft oder besser gesagt verrannt hatten, und die nach der Lektüre des besagten Werkes auf die Daseinsberechtigung mehr als dreidimensionaler Räume schwuren.
Lund hätte sein Buch ebensogut eine »Physik des Unbewußten«, eine »Philosophie des Übersinnlichen« oder »Mathematik des Unbegreiflichen« nennen können, die Menschheit hätte das tiefsinnige Werk wohl unter jedem dieser Titel akzeptiert. Geistig Unberufenen hätte Lunds Buch zweifellos Gehirnschmerzen bereitet, und ein mit einem geistigen Defekt bereits behafteter Grübler wäre bei der Lektüre desselben sicher vollends verrückt geworden.
Schon die nackte Einleitung zu den entwickelten Theorien stellte erhebliche Anforderungen an den Menschenverstand und gab so viel Stoff zum Denken, daß dessen Verdauung auch solchen, die imstande waren, ihren Geist Seil tanzen zu lassen, psychische und physische Schmerzen bereitete.
Wer tiefer in das Werk eindringen wollte, dem konnte wohl geraten werden, sich eine kalte Kompresse um den Kopf zu legen und sein Testament zu machen.
Die dem grandiosen Buche von Lund beigegebenen geometrischen Tafeln, welche planimetrische, trigonometrische und stereometrische Figuren seltsamster Gestaltung aufwiesen, waren gleich dem erläuternden Texte ganz dazu angetan, ein nicht taktfestes Mathematikerhirn zu verwirren.
Eine der Tafeln brachte unter anderem auch die Lösung des Problems der Quadratur des Kreises. Man sieht schon an diesem einen Beispiel, daß Lunds neue geometrische Axiome die Mathematik in Bahnen lenkte, die zur vollständigen Begreifung des Unendlichen führen mußten.
Mit der Hyperbel als letzte der denkbaren krummlinigen Figuren hatte sich Lund längst abgefunden und eine weitere Figur kombiniert und konstruiert, welche der Planimetrie des »Unendlichen« weit mehr Rechnung trug als die endlos scheinende Hyperbel.
Und nun gar stereometrisch — da kannte Lunds geometrisches Fassungsvermögen erst recht keine Grenze.
»Theoretisch hätt' ich's geschafft — —«, murmelte der Alte vor sich hin, als er die Manuskriptblätter zur Seite legte und sich erhob. »... Ob aber meine Seele ebenso Order pariert — —.«
Was der Alte weiter im Sinne hatte, das sei hier im vorhinein verraten. Lund hatte nämlich eine Methode gefunden, das Begriffsvermögen des menschlichen Hirns zu steigern, indem er die Leistungsfähigkeit gewisser Nervenpartien im Großhirn durch hypnotische Behandlung beeinflußte. Zu diesem Behufe mußte der Mensch in einen eigentümlichen Trancezustand versetzt werden, wozu die Hypnose die Handhabe bot.
Lund hatte an sich selbst schon derartige psychologische Experimente vorgenommen, konnte sie aber niemals zu vollem Erfolg bringen, weil er es nicht wagte, den erforderlichen Grad des Trancezustandes bei sich hervorzurufen. Seit kurzem aber hatte er sich entschlossen, den experimentellen Teil seiner Forschungen bis zum letzten Ende zu führen, auch auf das Risiko hin, daß ihm dies möglicherweise den Verstand oder gar das Leben kosten konnte.
Drei Tage hindurch hatte Lund an einem geeigneten Orte die nötigen Vorbereitungen getroffen, und nun sollte das Experiment vor sich gehen. Noch einmal war der Professor in seine Wohnung heimlich zurückgekehrt, um für den Fall eines unglücklichen Verlaufs der Sache, sein Testament gemacht und für die Mitwelt die Aufklärungen hinterlassen zu haben, die seine Forschungen ins richtige Licht stellten.
Als der dumpfe Gongschlag seiner Wanduhr die vierte Stunde verkündete, brach Lund auf, um sich in aller Stille wieder aus seiner Behausung zu entfernen.
Dem Alten wurde es jetzt doch etwas eigen ums Gemüt. Ob er sein Heim wiedersah? — — Daß das Experiment unter Umständen einen schlimmen Verlauf nehmen konnte, das verhehlte er sich nicht. Wenn er dadurch in einen künstlich erzeugten Wahnsinn verfiel? Vor dieser Möglichkeit schreckte er am meisten zurück. Die Vorversuche hatten ihn belehrt, daß der Trancezustand abnorme Veränderungen im Hirn hervorrief, die möglicherweise auf die Dauer anhalten konnten.
Erneut zögerte Lund, ob er gehen sollte. Schnell zog er noch einmal das Fazit seines Tuns. — — Bei der nackten Theorie konnte es nicht bleiben. Nur ein praktischer Versuch vermochte seinem Forschungswerk die Krone aufzusetzen. Nahm die Sache einen unglücklichen Verlauf, so war er eben ein Opfer der Wissenschaft. — —
Und Lund ging — —
Die nachfolgenden mathematischen Gedankengänge über begreifliche und unbegreifliche Dimensionen geometrischer Natur entnehmen wir dem ungedruckt bleiben sollenden Werke Lunds, der »Metaphysischen Geometrie«, in der Annahme, dem werten Leser so am besten zu dienen. Einmal aus dem Grunde, um die genialen Hypothesen und geistvollen Ideen des größten aller Mathematiker hier gebührend ans Tageslicht zu ziehen. Zum andern, weil es dem Autor dieser Erzählung nicht möglich sein würde, auch nur im entferntesten mathematisch Unbegreifliches in so genialer Weise dem Laienhirn begreiflich zu machen. Nur ein Mann von der Begabung Lunds vermochte es, Licht in das transzendentale Schattenreich zu werfen, und darum wollen wir hier etwas höhere Mathematik in seiner Ideensphäre treiben.
Die folgenden Ausführungen sind wortgetreue Abdrucke aus Lunds hochinteressantem Buche, das als Manuskript in dem Archiv der Dichterwerkstatt des Autors dieser Erzählung schlummert und dem Tage der Auferstehung mit Geduld entgegensieht.
Aus der Einleitung des Werkes sei hier zunächst das Wichtigste publiziert:
»Der Raum an sich ist für den Tieferdenkenden ein äußerst schwieriger Begriff. Nach dem heutigen Stande der Wissenschaft faßt man ihn als unbegrenzt auf. Die Geometrie betrachtet ihn als eine gegebene Anschauung und leitet daraus die Lehrsätze ab, die sich durch die Konstruktionbesonderer Raumgebilde mit innerer Notwendigkeit in ihm ergeben, wie solches durch Euklid geschehen ist. Raum ist geometrisch bezeichnet etwas Dreidimensionales. Zufolge meiner tiefergehenden mathematischen Betrachtungen bin ich aber zu der festen Überzeugung gelangt, daß Räume von mehr als drei Dimensionen nicht nur denkbar sind, sondern auch existieren; wir Menschen vermögen solche mit unserer Sinnesempfindung freilich nicht wahrzunehmen. Das ist aber absolut kein Grund, die Existenz vier- und mehrdimensionaler Räume im Universum abzuleugnen.
Meine eingehenden Untersuchungen nach dieser Richtung hin fußten auf der Annahme, daß die verschiedenen Sphären mehrdimensionaler Größen als verschiedene Räume zu bezeichnen sind. Um meine Behauptungen nun zu beweisen, muß ich die Metaphysik heranziehen und ihre Gesetze mit denen der Geometrie in Einklang bringen. Das Resultat meiner Forschungen gipfelt in einer von mir aufgestellten Zwitterwissenschaft, der metaphysischen Geometrie. Sie repräsentiert eine intime Verquickung metaphysischen Denkens mit geometrischer Betrachtung unter Anwendung von mir entdeckter psychischer Formeln. Nur mit solchem System konnte es gelingen, chaotische, also absolut gesetzlose Raumgebilde geometrischer Betrachtung zugänglich zu machen und eine Mathematik vieldimensionaler Gebilde zu schaffen. Neu aufgefundene Axiome ließen es dann zu, daß ich Lehrsätze einer metaphysischen Geometrie aufstellen konnte, um eine Berechnung vier- und mehrdimensionaler Raumgebilde zu ermöglichen. Da die Phantasie des Menschen nicht imstande ist, den Raum begrenzt zu denken, sondern sich jenseits jeder Grenze immer wieder Raum vorzustellen genötigt sieht, wodurch sich der Begriff des unendlichen Raumes herausbildete, war es an der Zeit, dem menschlichen Denk- und Fassungsvermögen einen erweiterten Anschauungskreis zu schaffen. Um hier bahnbrechend zu wirken, mußte ich die naturphilosophische Spekulation heranziehen, welche bekanntlich die Existenz des leeren Raumes ableugnet und das Räumliche als Attribut der Körperwelt betrachtet. Nächstdem mußten Formeln gefunden werden, um das Vorhandensein vierdimensionaler Raumgebilde metaphysisch nachzuweisen.
Solche Formeln konnten natürlich nur psychischer Natur sein. Wie chemische und mathematische Formeln in Buchstaben und Zahlen eingekleidet werden, so mußte, sollten die psychischen Formeln dem Begriffsvermögen faßbar werden, diese ebenfalls einen gleichen Ausdruck erfahren.
So entstanden Gedankenwerte, Zwangsformeln psychischer Natur, mit deren Hilfe man sich Vorstellung transzendentaler Räume zu machen vermag. Wenn die Nativisten sagen, die Fähigkeit räumlich anzuschauen, sei dem Menschen angeboren, so mögen sie nicht unrecht haben, daraus würde sich aber wieder ergeben, daß ererbte Fähigkeiten stets steigerungsfähig sind. Das Raumvorstellungsvermögen muß demnach auch zu hebenund ausdehnungsfähig sein. Meine Untersuchungen haben dies nun bestätigt...«
Soweit lauteten die Aufzeichnungen des einleitenden Teiles von Lunds metaphysischer Geometrie. Sehen wir nun einmal zu, welche Ansichten dieses Werk in bezug auf die geometrischen Gebilde äußert. Bei der Entwicklung seiner Theorie über die Existenz vierdimensionaler Räume ging Lund in folgender Weise systematisch vor:
»Der Punkt ist das einfachste geometrische Gebilde, d.h. ein ausdehnungsloser Ort im Raum. Durch Fortbewegung eines Punktes entsteht die Linie, die, weil sie eine Ausdehnung, die Länge, besitzt, als eindimensionales Gebilde zu bezeichnen ist. Durch Verschiebung einer Linie entsteht die Fläche, ein zweidimensionales Gebilde. Durch Fortbewegung der Fläche erhält man den Körper, ein dreidimensionales Gebilde. Der Körper repräsentiert eine allseitig begrenzte Raumform und können seine Grenzflächen ebene und krumme sein. Die dreidimensionalen Gebilde sind die Grenzsteine menschlichen Begriffsvermögens.
Versuchen wir nun einmal diese Grenzsteine zu verrücken. Bei meiner Voraussetzung der Existenz von Räumen höherdimensionaler Art gehe ich von dem Beispiel der Algebra aus, bei welchem man nicht nur ein der Fläche entsprechen des Produkt von zwei Faktoren und ein dem Körper entsprechendes von drei Faktoren zu bilden, sondern beliebig viele Faktoren zu einem Produkt zu vereinigen vermag...«
Eine andere Stelle in Lunds Werk, die faßbarste seiner ganzen Lehren, lautete wie folgt:
»Warum versucht man immer wieder die Existenz höherdimensionaler Räume abzustreiten? — — So gut wie Flächenwesen, die in einer Ebene leben und nur ein Wahrnehmungsvermögen für zwei Dimensionen besitzen, dreidimensionale Gegenstände nicht zu sehen vermögen, so ist es uns Körperwesen, die wir im Raume leben, unmöglich vierdimensionale Dinge zu schauen. Wenn wir mit unseren Sinnen also höherdimensionale Gegenstände aus x-Räumen nicht wahrzunehmen vermögen, so ist damit keineswegs bewiesen, daß solche nicht existieren.«
Hochinteressante Ausführungen in Lunds Buch bildeten die zu den psychischen Formeln gehörigen Textstellen. Nachstehend greifen wir einiges Wichtige aus diesem Kapitel heraus, um dem werten Leser die eigentümlichen Formelgebilde, welche geistige Werte in mathematisch verwendbaren Zeichen repräsentieren, vor Augen zu führen. Gedanken respektive Ideen in Buchstaben und Zahlen auszudrücken, wie es Lund tat, konnte entschieden als ein wissenschaftlicher Fortschritt an und für sich gelten.
Vertiefen wir uns also einmal in jenes Kapitel des seltsamen metaphysischen Werkes, welches über Gedankenwerte und ihren Ausdruck in Formeln handelt.
»Wie man in der Mathematik unter einer Formel den in allgemeinen Zeichen gegebenen Wert einer aus mehreren andern zusammengesetzten Größe versteht, so hat man in der Metaphysik unter einer Formel ebenfalls einen in Zeichen gegebenen Wert für zu einer ›Gedankengröße zusammengesetzter Begriffe des Denkvermögens‹ zu verstehen. Um eine Bildung solcher psychischen Formeln zu ermöglichen, mußten erst wie in der Chemie Primzeichen für Gedankenelemente gefunden bzw. aufgestellt werden. Zwei oder mehrere solcher Primzeichen zu einer Formelvereint, repräsentieren dann den Wert einer Gedankengröße. Mit Hilfe solcher psychischen Formeln vermag man dann Dinge transzendentaler Natur in ihrer Existenz dem menschlichen Denk- bzw. Vorstellungsvermögen faßbar zu machen, sie geometrisch nachzuweisen.«
Soweit aus den Aufzeichnungen des von Lund genial verfaßten Lehrbuches der metaphysischen Geometrie. Es muß hier unbedingt auf das sensible Fassungsvermögen des werten Lesers Rücksicht genommen werden, denn die Erfahrung hat zur Genüge gelehrt, daß eine Überanstrengung beim Lesen nur zu leicht Kongestionen des Hirnes veranlaßt, die sich bis zu Denkkrämpfen steigern können. Das bildet selbstredend für den Verfasser dieser Erzählung hinreichend Grund, das keine interessante Lektüre, sondern schlankweg Kopfarbeit bedeutende Kapitel in aller Form zu schließen. Die Kardinalpunkte der Lundschen Theorien über transzendentale Raumgebilde sind berührt worden, und der Begriff der vierten Dimension liegt vor dem Leser als eine halbaufgeknackte Nuß da, an der er sich nicht mehr die Zähne auszubeißen braucht.
Die Reise ins Jenseits von Gut und Böse, die Professor Lund zu unternehmen gedachte, um mit geistigem Auge einmal jene Räume und ihre Wesen zu schauen, die der irdische Sterbliche als ins Reich des Übersinnlichen gehörig betrachtet, war zur beschlossenen Sache geworden.
In die Frederiksberggate, einer belebten Straße Kopenhagens, hatte sich Lund in jener Nacht, in der er den festen Entschluß gefaßt, das geplante psychologische Experiment an sich vorzunehmen, begeben.
Das Haus, in das er sich dort zurückgezogen hatte, gehörte einem schrullenhaften, alten Rentier, der auf Reisen gegangen war. Der Professor hatte das hinter dem Gebäude gelegene Gartenhäuschen zu privater Benutzung gemietet. Er wurde hier seiner festen Ansicht nach von niemand gestört und konnte tun und treiben, was er wollte. Das Vordergebäude stand während der Abwesenheit seines Besitzers leer, und der ausgedehnte Garten wurde von einer hohen Mauer umschlossen und war somit den Blicken der Nachbarn und Straßenpassanten entzogen.
An dieser von allem Verkehr abgeschiedenen Stätte gedachte sich Lund auf einige Zeit geistig von seiner irdischen Umgebung zu trennen, um die Reise ins Reich des Übersinnlichen zu unternehmen.
Der einzige Sterbliche, den er in sein Vorhaben eingeweiht hatte, war ein Student aus dem Kreise seiner Zuhörerschaft, namens Jensen. Dieser, ein Jütländer von Geburt und ein von einem seltenen Wissensdrang beseelter junger Mann, hatte von Lund den Auftrag erhalten, ihn während der Dauer des seltsamen Experimentes zu überwachen und seine Ernährung zu besorgen. Diese sollte in der Weise bewerkstelligt werden, daß dem bewußtlosen Professor alltäglich einmal flüssige Nahrungsstoffe vermittelst eines Schlauches zugeführt wurden. Um sich an solche Ernährungsweise zu gewöhnen, waren schon seit drei Tagen Proben vorgenommen worden.
In der Frühe des folgenden Morgens stellte sich also Jensen wieder ein, um während der Dauer des Experiments sich ebenfalls in dem Gartenhäuschen einzuquartieren. Damit jede Berührung mit der Außenwelt für die Zeit unterbliebe, hatten sich beide im vorhinein genügend verproviantiert.
»Guten Morgen, junger Freund!« rief Lund dem jungen Jensen zu, als dieser eintraf. »Haben Sie Ihre Vorbereitungen getroffen? Bedenken Sie, daß die Sache sich tagelang hinziehen kann. Mein Wiedererwachen hängt von Umständen ab, die ich selber nicht kenne.«
»Hoffentlich gerate ich nicht in irgend welche Verlegenheit«, versetzte Jensen und legte einige mitgebrachte Pakete auf den Tisch.
»Hm — — hm —«, meinte Lund und rieb sich die Stirn.
»Ich möchte nicht wünschen, daß Ihnen etwas zustößt, wobei ich außer Lage bin, Ihnen Hilfe zu leisten«, meinte Jensen.
»Zum Beispiel?« fragte Lund.
»Wenn Ihr Körper eine Nahrungsaufnahme verweigerte...«
»Die Verwendung des Mundschlauches dürfte wohl solche Bedenken ausschließen.«
»Sie könnten die Zähne so fest aufeinanderpressen, daß ich außerstande bin, den Schlauch in Ihre Speiseröhre einzuführen — man muß doch mit einer solchen Möglichkeit rechnen.«
»Ich glaube nicht... es wird kein Krampfzustand eintreten, der Ihre Befürchtung zur Wahrheit machen würde«, versetzte Lund nachdenklich.
»Oder — wenn Sie nicht wieder zum Bewußtsein zurückgerufen werden könnten.«
»Schlimmstenfalls ziehen Sie dann einen Nervenarzt heran und weihen ihn in die Sache ein... acht Tage müssen Sie aber unbedingt erst verstreichen lassen. — Hören Sie? Acht Tage.«
»Wenn aber...«
»Ganz gleich, was inzwischen bei mir eintritt«, unterbrach der Professor seinen Vertrauten.
»Ich bin aber für Ihr Leben geradezu verantwortlich und möchte für einen unglücklichen Ausgang nicht haften«, erwiderte mit sichtlicher Erregung Jensen.
»Mein Tod könnte Sie den Behörden gegenüber kaum in Verlegenheit setzen... man würde solchenfalles die Sache als eine wissenschaftliche Expedition in unbekannte Weltenräume betrachten, bei welcher ich freiwillig oder unfreiwillig den Tod gefunden habe«, sagte Lund scherzhaften Tones.
»Oder wenn eine dauernde Geistesgestörtheit bei Ihnen eintreten sollte...«
»Aber, mein Lieber, Sie bringen heute einen Haufen Bedenken mit. Wollte ich auf diese alle Rücksicht nehmen, so täte ich am besten, wenn ich das Experiment unterließe. Daran denke ich aber nicht. Ich führe zu Ende, was ich begonnen.«
Lund hatte die letzten Worte so energisch gesprochen, daß Jensen mit der Äußerung weiterer Bedenken einhielt.
»Wir wollen jetzt über keine eventuell eintreten könnende Möglichkeiten weiter disputieren und unsere Vorbereitungen lieber unverzüglich treffen«, versetzte der Professor und setzte sich nieder, um in Gesellschaft Jensens eine letzte frugale Mahlzeit mit Hilfe des Schlauches einzunehmen. Diese bestand in einem flüssigen Gericht aus Eiern und einem Peptonpräparat.
»Hoffentlich resultiert sich aus diesen opulenten Mahlzeiten für die Folge kein dauernd verdorbener Magen«, meinte Jensen und pumpte mit Hilfe eines großen Gummiballes Nahrungsflüssigkeit in den Magen des auf einem Lehnstuhl behaglich sitzenden Professors.
»Dies Bedenken will ich eher gelten lassen, denn ich habe tatsächlich wenig Vertrauen zu meinem Magen. Aber, was tut eine solche Magenverstimmung? Löse ich nicht ein Problem, enträtsle ich nicht Dinge, an die sich noch kein Menschenverstand herangewagt? Dafür ist mir kein Preis zu hoch!« rief Lund mit Enthusiasmus aus.
»Es ist wahr — Sie ringen um die Krone der Wissenschaft! Und Sie werden sie erlangen, wenn alles glückt«, antwortete begeistert Jensen.
»Das Experiment wird gelingen, junger Freund.«
»Welche Gehirnpartien wollen Sie ausschalten?« fragte Jensen, um sich etwas näher zu orientieren.
»Es ist gut, daß Sie mich danach fragen, um schlimmstenfalls den Arzt gleich auf den richtigen Weg zu leiten, damit er die lahmgelegten Hirnpartien kennt und sie zu normaler Funktion wieder veranlassen kann«, erwiderte Lund.
»Ihre Mitteilungen darüber würden mich wesentlich beruhigen«, sagte Jensen und nahm ein Stück Papier zur Hand, um sich Aufzeichnungen zu machen.
»Hören Sie, mein Lieber, genau zu. Ich setze die vorderen Teile des Großhirnes durch Hypnose außer Funktion, dadurch wird das Empfindungsvermögen für meine irdische Umgebung ausgeschaltet. Dann erziele ich durch meinen gleichzeitig wirkenden elektrischen Telepator eine Funktionserhöhung des für die Sehsphäre so wichtigen Hinterhauptslappens, und erreiche damit ein anormales Wahrnehmungsvermögen für Dinge transzendentaler Natur.«
»Es ist staunenswert, Herr Professor, wie Sie den richtigen Weg gefunden haben. Glauben Sie wirklich durch die Beeinflussung Ihres Telepators das Wahrnehmungsvermögen des Menschen steigern zu können?« versetzte Jensen.
»Junger Mann, wenn ich etwas bestimmt behaupte, so bin ich auch meiner Sache stets gewiß. Ich habe fast ein ganzes Jahr hindurch anatomische Studien über die Funktionen des Gehirns getrieben und festgestellt, daß das normale Menschenhirn nicht nur sinnlich wahrnehmbare, sondern auch übersinnliche Dinge in ihrer Wesenheit zu erfassen vermag.«
»Diese Entdeckung ist doch wunderbar!« rief Jensen aus.
»Wie ich Ihnen schon einmal mitteilte, habe ich zur Ergründung dieser Tatsache praktische Versuche an einem lebenden Menschen angestellt«, ließ sich Lund weiter vernehmen.
»Und dem Manne hat das Experiment nichts geschadet?«
»Nicht, daß ich wüßte... er ist munter wie ein Fisch im Wasser.«
»Verzeihen Sie meine Neugier — — was hat der Mann von der übersinnlichen Welt geschaut?«
»Seine Empfindungen in der Sehsphäre waren gesteigerte, aber wie es schien, verworrene. Möglich, daß der Mann mit seinem untergeordneten Denkvermögen übersinnlich Geschautes in seiner Wesenheit nicht zu erfassen vermocht hat. Er mag alles wie im Traume empfunden haben...«
»Welche Teile seines Hirnes hatten Sie beeinflußt, Herr Professor?« fragte Jensen, den Alten hastig unterbrechend.
»Vor allem den Hinterhauptslappen — —«
»In diesem liegt Ihrer Meinung nach die Sehsphäre?«
»Nicht nur meiner Meinung nach, sondern auch nach der aller namhaften Psychologen und Mediziner. — — Ich habe einmal ein Experiment mit Radium angestellt, um die Sensibilität der verschiedenen Hirnpartien zu erforschen. Dabei habe ich gefunden, daß der Hinterhauptslappen ganz besonders auf gewisse Reizungen von außen her reagiert.«
»Sehr interessant...« murmelte Jensen und sah Lund leuchtenden Blickes an.
»Eine Radiumbestrahlung rief ein gesteigertes Sehvermögen hervor... das Experiment hatte mich belehrt, daß der Horizont des Wahrnehmungsvermögens beim Menschen verrückbar ist.«
»Eine großartige Entdeckung!« rief Jensen begeistert aus.
»Nun, mein Lieber, die Zeit ist zu kostbar, um noch zu plaudern. Wir wollen ans Werk gehen«, erwiderte Lund und begab sich aus dem Zimmer.
Jensen blickte sich jetzt in dem Gemach um.
Auf einem Sessel lag ein merkwürdig aussehendes Instrument. Jensen besah sich das Ding näher. Eine mit Messingkuppen verschlossene Glasröhre in einem Holzgestell gelagert, war an sich nicht etwas ganz Ungewöhnliches. Was Jensen aber dabei auffiel, war ein eigentümliches Flimmern, das von der Röhre ausging.
Der junge Student wagte es, das kleine Instrument zur Hand zu nehmen. In diesem Augenblick erschien Lund wieder auf der Schwelle der Tür.
»Zerbrechen Sie mir das Ding nicht! Der Telepator ist zu kostbar«, sagte Lund und nahm Jensen das Instrument eilends aus den Händen. »Die Wände der Röhre sind extradünn, um die Ausstrahlung zu erhöhen... sie sind darum sehr zerbrechlich.«
»Dies ist also der Telepator?« rief Jensen aus und ließ seine Blicke wieder über das Instrument gleiten.
»Es enthält für etwa eine halbe Million Kronen reines Radium.«
»Donnerwetter!« entschlüpfte es den Lippen Jensens.
»Ein Vermögen...« fügte Lund hinzu.
»Und Sie vertrauen mir die kostbare Röhre an?«
»Sie werden das Vertrauen zu rechtfertigen wissen.«
»Ich schwöre es!«
»Jetzt will ich Ihnen noch die nötigen Instruktionen für Ihr Verhalten während der Abwesenheit meiner Psyche geben, dann wollen wir endlich mit der Sache beginnen«, sagte Lund.
»Ich bin ganz Ohr und werde peinlich Order parieren«, versetzte Jensen.
»Also schön... zunächst haben Sie andauernd größte Ruhe zu bewahren. Lesen Sie viel, schlafen Sie nach Belieben und bedienen Sie sich immer nur der dort in der Ecke stehenden Filzschuhe. Dann sorgen Sie bitte dafür, daß die Nahrungszufuhr für mich jeden Tag die gleiche ist, und daß diese immer zur selben Stunde erfolgt. Sagen wir morgens Punkt 8 Uhr. Täglich prüfen Sie früh und abends je einmal meinen Puls. Notieren Sie sich die Schlagzahl desselben. Ferner müssen Sie einmal täglich meine Körpertemperatur feststellen. Sinkt der Pulsschlag so, daß die Zahl dreißig in der Minute nicht mehr erreicht wird oder daß die Körpertemperatur auf das Niveau von fünfundzwanzig Grad sinkt, so dürfen Sie das Experiment unterbrechen, indem Sie die Radiumröhre, den Telepator, von meinem Hinterhaupt entfernen und mir dann mit Hilfe des dort auf dem Schranke stehenden Sauerstoffballons einige Sekunden hindurch Gas in die Lungen blasen. Dies muß aber sehr vorsichtig geschehen, mein lieber Freund, denn sonst könnten Sie mir dabei das Lebenslicht ausblasen, ohne daß Sie es merken.«
»Ich werde die denkbar größte Vorsicht bewahren, Herr Professor«, beteuerte Jensen. »Orientieren Sie mich nur aufs genaueste darüber.«
»Die Zufuhr von Sauerstoff muß sogleich unterbrochen werden, sobald sich bei mir eine starke Rötung des Gesichts und Atemnot einstellt«, belehrte Lund seinen Vertrauten.
»Und wie habe ich den Schlauchansatz des Ballons zu handhaben?«
»Klemmen Sie mir denselben nur zwischen die Lippen.«
»Und wenn Sie die Zähne aufeinandergebissen haben?«
»Das wird für die Einblasung kein Hindernis sein, weil ich einige Zahnlücken habe«, antwortete Lund und holte den Gummiballon herbei.
»Enthält er reinen Sauerstoff?« fragte Jensen und besah sich den Apparat von allen Seiten.
»Reinen Sauerstoff«, bestätigte der Alte.
»Wie lange soll ich Sie in dem Trancezustand lassen, falls sich keine beängstigende Erscheinungen bei Ihnen bemerkbar machen?« meinte Jensen weiterhin.
»Je nun — — — eigentlich bin ich mir darüber selbst recht im unklaren«, erwiderte Lund nachdenklich.
»Sie sprachen anfänglich von einer Woche... ist dieser Zeitraum nicht etwas lang? Können Minuten im Trancezustand nicht eine längere Zeitintervalle repräsentieren als im gewöhnlichen Leben?«
Dem Professor schien der Einwand Jensens der Erwägung für würdig.
»Sie könnten damit gar nicht so unrecht haben, junger Freund, wenn man in Betracht zieht, daß im Traume innerhalb einer Minute eine Zeit vorbeistreift, die man zuweilen als Stunden empfindet«, sagte Lund.
»Ich erinnere mich, oft nur wenige Minuten geträumt zu haben, und doch kamen diese mir fast wie Tage vor, denn ich erlebte so viel...«
»Ähnliches glauben auch zum Leben zurückgerufene Ertrunkene empfunden zu haben — —« unterbrach Lund den Sprecher. »Solche haben wiederholt behauptet, daß sie im Augenblick des Ertrinkens ganze Zeitläufe ihres Lebens an sich vorüberziehen sahen.«
»Seltsam...«, meinte Jensen.
»Ja, der Begriff Z e i t scheint tatsächlich unter anormalen Verhältnissen ein anderer zu sein. Möglich, daß ich mit diesem Umstand zu rechnen habe.«
Der Professor schwieg eine kleine Weile und sah nachdenklich vor sich hin. — —
»Hm — es könnte aber auch der Fall sein, daß im Trancezustand die Zeit bedeutend langsamer als im täglichen Leben verstreicht«, ließ sich dann Lund weiter vernehmen. »Eine Funktionsveränderung des Hirnes kann ja auch eine Gedankenträgheit zur Folge haben.«
»Ich bin überaus gespannt, wie die ganze Sache ablaufen wird«, sagte Jensen.
»Genug der vagen Erörterungen — — sie führen für mich zu keinem Ziel. Also, die Verhaltungsmaßregeln hätte ich Ihnen nunmehr gegeben, das Experiment kann vor sich gehen.«
»Noch eins«, unterbrach Jensen den Alten, der sich bereit machte, die letzten Vorkehrungen für seinen Dauerschlaf zu treffen. »Werden wir hier wirklich ungestört bleiben?«
»Zweifellos. Der Hauswirt kehrt erst nächsten Monat von seiner Reise zurück, und sonst wohnt niemand im Hause.«
Lund sah jetzt nach seiner Uhr. Dann notierte er sich die Zeit und hüllte sich in seinen bereitliegenden Schlafrock.
»Sind Sie wirklich der festen Überzeugung, Herr Professor, daß Sie im Trancezustand Übersinnliches schauen werden?«
Lund sah Jensen auf diese Frage hin in einer Weise an, wie man Zweifler und enragierte Skeptiker mit Blicken bestraft, wenn man seiner Sache gewiß ist.
»Ich werde im Geiste vierdimensionale Räume mit ihren Lebewesen schauen... vielleicht noch Seltsameres und für irdische Anschauungen völlig Unbegreifliches erblicken...«
Lund hatte diese Worte im Tone fester Überzeugung gesprochen.
»Es fällt einem schwer, sich mit der Existenz von Gebilden übersinnlicher Natur zu befreunden«, meinte Jensen. »Mein Gedankengang würde sich ohne Zweifel bald verwirren, wenn ich darüber andauernd nachgrübeln wollte.«
»Mein Lieber, Ihnen fehlt der mathematische Sinn und die metaphysische Denkweise, um sich Gebilde solcher Art vorzustellen. Studieren Sie später einmal mein grundlegendes neues Werk über metaphysische Geometrie und Sie werden zu anderer Anschauung kommen... na! nun will ich aber mit der Sache beginnen.«
Lund nahm bei den letzten Worten in einem bequemen Lehnsessel Platz und legte sich in denselben zurecht. Dann gab er die nötige Anweisung, wie erst die Hypnose und dann die telepatorische Behandlung zu bewirken sei.
Jensen hörte mit Aufmerksamkeit zu.
»Das Quarzprisma hier«, sagte Lund und zeigte auf ein dreikantiges Glas mit Spiegelbelag, welches auf dem Tische bereit lag, »dient für die Hypnose. Ich befestige es in den Ständer, der oben an der Lehne meines Sessels angebracht ist. Dort befindet es sich in solcher Stellung vor meinen Augen, daß ich hypnotisiert bleibe, so lange, als das Prisma nicht entfernt wird.«
»So hätte ich also, um das Experiment zu unterbrechen, das Prisma unbedingt zu entfernen?« fragte Jensen.
»Gewiß...« beeilte sich Lund zu antworten. »Übrigens trage ich mich mit dem Gedanken, daß Sie etwa eine Viertelstunde nach Eintritt des Trancezustandes mich wieder erwecken sollen, indem Sie sowohl das Quarzprisma als auch die Radiumröhre entfernen und mir etwas Sauerstoff zuführen, falls ich nicht erwachen sollte.«
»Ah! Sie wollen einen Vorversuch machen?« rief Jensen. »Das freut mich, denn es trägt zu meiner Beruhigung bei.«
»Sie dürfen auch ohnedem sorglos bleiben. Also, nach einer Viertelstunde unterbrechen Sie das Experiment in der Weise wie ich Ihnen angegeben habe«, sagte Lund und befestigte das Prisma und den Telepator an den zu seinen Häupten angebrachten Ständer. »Den Telepator drehen Sie erst dann bis zur Schädeldecke meines Hinterkopfes zurück, sobald ich auf Fragen Ihrerseits keine Antwort mehr gebe, überhaupt auf nichts mehr reagiere... Sie haben mich verstanden, lieber Jensen?«
»Ja, Herr Professor. Ich werde alles peinlich befolgen.«
»Schön — — also erst der Vorversuch.«
Lund legte sich zurecht und schob sich das Quarzprisma vor Augenhöhe.
Jensen setzte sich neben ihn und beobachtete mit großer Spannung den weiteren Verlauf der Sache.
Eine geraume Weile lag Lund da und ließ das von dem Prisma in seine Augen reflektierte Licht auf sich einwirken. Als die auf dem Tische liegende Taschenuhr des Professors dann fünf Minuten als verstrichen anzeigte, bemerkte Jensen, daß Lunds Augen einen stieren Ausdruck annahmen. Leise richtete er darum jetzt eine Frage an den Alten.
Keine Antwort erfolgte.
Jensen beugte sich nunmehr über Lund und fragte ihn mit gehobener Stimme, ob er noch wache.
Abermals erfolgte keine Antwort.
Nun hielt es Jensen an der Zeit, den Telepator zu drehen. Er heftete dann erneut seine Augen auf das Gesicht des Alten, um aus dessen Ausdruck irgend welche Wirkungen des Telepators abzulesen.
Minuten banger Erwartung, es möchten sich bedenkliche Folgeerscheinungen zeigen, verstrichen, aber nichts verriet im Aussehen des Schlafenden, das Jensen Anlaß zur Beunruhigung gab.
Lund atmete kaum, und die Zahl seiner Pulsschläge betrug nach Jensens Feststellung wenig mehr als vierzig. Die Temperatur des Körpers schien dagegen noch die gleiche zu sein.
So verstrich die Viertelstunde, welche für das Probeexperiment in Ansatz gebracht worden war. Jensen konnte den Augenblick jetzt kaum erwarten, wo er Prisma und Telepator außer Wirkung setzen durfte.
Nach etwa fünf Minuten gab Lund Lebenszeichen von sich. Und nach Verlauf einer weiteren Minute schien er aus dem Trancezustand heraus zu sein, denn seine Augen blickten weniger stier und seine Brust hob sich in regelmäßigen Atemzügen.
Aber noch fünf Minuten verstrichen, ehe Lund die Augen ganz aufschlug und verwundert um sich blickte. — — Er schien sich in seiner Umgebung für den ersten Augenblick nicht gleich zurechtzufinden. Doch auch dieser Dämmerzustand wich, und der Alte begann sich zu recken, ganz wie er es nach längerem Schlafe zu tun gewohnt war.
»Hallo! Herr Professor! Wie ist Ihnen?« rief Jensen erfreut.
»Wo — — bin ich — — — ? — — Ah — hm...« antwortete Lund.
»Gott sei Dank!« sagte Jensen und erfaßte des Alten Hand. »Sie fühlen sich doch wohl?«
Lund blickte seinen Vertrauten wie verklärt an, dann löste sich seine Zunge. »Wo war ich nur...« Der Professor rieb sich seine Stirn, dann fiel sein Blick auf das Prisma, und die Erinnerung an das Vorangegangene kam ihm zusehends.
»Das Experiment — erinnern Sie sich noch, Herr Professor?« Mit diesen Worten half Jensen dem Gedächtnis Lunds etwas nach.
»Richtig... das Experiment«, murmelte halblaut der Alte. Er mochte sich immer noch etwas geistesabwesend fühlen.
»Können Sie geordnet denken — — Herr Professor?... Oder — —«
»Vollkommen — — — O! ich sah Seltsames... so Seltsames!« Lund strich sich wiederholt über seine Stirn, als suche er seine Gedanken zu sammeln, dabei leuchteten seine Züge, wie die eines Menschen, dem Herrliches widerfahren.
»Erzählen Sie bitte!... Sahen Sie wirklich mehr als von dieser Welt ist?« frug mit einem begreiflichen Gemisch von Neugier und Erregung Jensen.
Lund richtete sich jetzt ganz im Sessel auf und kramte weiter in seiner Erinnerung nach.
»Es war wie ein wüster Traum...« begann der Professor zu berichten. »Mir däucht, ich war im Raumlosen, sah die Punktwesen, sah — — sah...« Hier stockte Lund und sann.
Jensen wurde es bei diesem Bericht eigen zu Mute. Er ahnte, daß es auf Erden doch noch mehr geben mochte, als der normale Sinneseindruck dem Menschen zum Bewußtsein kommen läßt.
»Sind Ihre Erinnerungen so unklare, Herr Professor? Wie schade! Raumloses und Punktwesen... können dies nicht bloß Phantasiegebilde Ihrer anormalen Gehirnfunktion sein?«
»Jensen! Jensen!« rief Lund fast vorwurfsvoll. »Können Sie Ihre ewigen Zweifel nicht unterdrücken — — was ich geschaut, war Wirklichkeit, nackte Wirklichkeit und keine Phantasie.«
»Der Laie faßt's so schwer, Herr Professor...« meinte hierzu Jensen.
Nachdem Lund nun des weiteren erzählt hatte, was er in jener Viertelstunde durchlebt zu haben glaubte, und er nur über verschwommene Eindrücke zu berichten wußte, da schien Jensens Glauben an die Sache doch einigen Boden zu gewinnen.
»Sie wollen also das Experiment fortsetzen, Herr Professor?« fragte Jensen.
»Unverzüglich, mein Lieber. Ich brenne vor Verlangen danach. — — Noch eins! Die Zeit... die eine Viertelstunde däuchte mir im Trancezustand zehnfach so lang. Ich glaube, wenn ich einige Tage in der Trance bleibe, daß ich dann hinreichend Blicke in die andere Welt getan habe. Wecken Sie mich also schon nach drei Tagen, lieber Freund. Eine Woche könnte mich zu sehr entkräften. — — Hatten Sie meinen Pulsschlag und meine Körpertemperatur geprüft, als ich schlief?«
Jensen berichtete über seine Resultate in dieser Beziehung.
»Sehr gut... ich danke Ihnen!... Jensen! wenn Sie die Eindrücke gehabt hätten wie ich, Sie würden jetzt außer sich sein über das Erlebte — — leider war alles etwas verworren. — — Hatten Sie den Telepator auch richtig in seine Lage gebracht? Deckte seine Polkappe genau die tonsurartig rasierte Stelle meines Hinterkopfes?«
»Mußte dies so sein?« fragte der Studiosus etwas betroffen zurück.
»Auf alle Fälle«, versetzte Lund. »Sehen Sie, daran wird es gelegen haben, daß die Eindrücke welche ich in der Trance erhielt, verwaschene waren... aber ich vergaß auch Ihnen anzugeben, daß Sie genau auf die Tonsur Acht zu geben hätten.«
»Die Polkappe hat die Tonsurstelle nur zum Teil bedeckt, dessen erinnere ich mich«, antwortete Jensen und warf einen Blick auf Lunds Kopf.
»Dachte ich's mir doch...« murmelte Lund und nahm im Sessel wieder die frühere Stellung ein. »Nun auf zur neuen Reise ins Unbekannte!« fügte er scherzhaften Tones hinzu.
Ein letzter Händedruck, und das Quarzprisma wurde wieder vor des Alten Augen geschoben.
»Auf Wiedersehen!...« sagte Lund nochmals und schwieg dann.
Minuten waren verflossen, als Jensen sich anschickte, nachdem er auf eine Frage keine Antwort erhalten hatte, den Telepator zu richten. Gewissenhaft achtete er darauf, daß die Polkappe die Tonsur genau bedeckte. Dann setzte sich Jensen in der Nähe des Alten nieder und beobachtete diesen eine geraume Weile.
Lunds Gesichtsausdruck war ein eigentümlicher. Fast konnte man vor demselben erschrecken, wenigstens ein sensibeles Gemüt hätte etwas wie Grauen empfunden.
Nach Verlauf einer Stunde prüfte Jensen den Körperzustand Lunds und fand ihn recht befriedigend. Dann überkam den jungen Mann aber eine unerklärliche Müdigkeit, die er anfangs energisch zu überwinden suchte.
Der Schlafanfall war für Jensen auffällig, da er weder an Übermüdung litt, noch ihn auf sonstige Ursachen zurückzuführen vermochte.
Plötzlich durchzuckte Jensen der Gedanke, daß der Telepator möglicherweise auch für ihn eine nicht vorausgesehene Wirkung ausüben könnte. Er hatte schon häufiger von einer Radiumstrahlung vernommen, und es war auch nicht ausgeschlossen, daß er hier von einer solchen in bedenklicher Weise beeinflußt worden war.
Was sollte er nun tun? Entfernen durfte er sich keinesfalls, er hatte Lund das Versprechen gegeben, ihn keine Minute zu verlassen. Wenn er das Fenster öffnete — — vielleicht half die frische Luft die Müdigkeit zu verscheuchen?
Während Jensen noch darüber nachdachte, wie er sich gegen den Schlaf wehren könne, entschlummerte er — —
Es war zweifellos, die Ausstrahlung des Radiumtelepators hatte auch des jungen Jensen Sinne umgarnt und ihn in Morpeheus' Arme geworfen.
Wenn einmal ein Philosoph behaupten würde, daß alles Leben nur Scheinleben ist, so dürfte er ebensowenig unrecht haben als andere, die mit Überzeugung in Kants Fußstapfen wandeln und auf des großen Königsbergers Erkenntnistheorie schwören.
Die Kantianer sehen bekanntlich im Begriff Raum sowie in der räumlichen Beschaffenheit der Wahrnehmungsgegenstände, soweit sich solche auf unsere Sinnenwelt beziehen, nur eine Anschauungsform des menschlichen Geistes, der mit unbewußter Notwendigkeit die Tatsachen der Sinnesempfindung räumlich anordnet und zu gegenständlichen Anschauungen macht.
Doch genug der Philosophiererei! Professor Lund konnte alle Axiome, Theorien und Hypothesen der Wissenschaft glatt über den Haufen werfen. Er stand inmitten einer neuen Sinnenwelt und sah, was bislang noch kein Sterblicher des Erdballs geschaut.
Raum und Zeit! was repräsentierten sie beide für ihn in diesem Augenblicke? — — Vage, leere Begriffe, die sich die Menschen gebildet hatten.
Er schwebte im Dimensionslosen, umschwirrt von Punktgebilden, die ihn, den Dreidimensionalen, zu narren schienen.
Aber nein! diese Punktwesen vermochten ihn ja gar nicht zu erkennen. Für sie mußten alle Lebewesen, die sich irgend einer oder aller drei Ausdehnungen erfreuten, übersinnliche Gebilde sein, von denen sie sich keine Begriffe zu machen verstanden.
Lund sah in den Nulldimensionalen, wie er sie schnell taufte, undefinierbare Lebewesen, von denen ihm jedes einzelne im Raumlosen wie eine winzig kleine Insel vorkam.
Lunds Eindringen in die Lebenssphäre alles Dimensionslosen hätte zweifellos unter den Punktgebilden eine Revolution hervorgerufen, wenn diese mit irgend welchen Sinnesorganen Witterung davon bekommen hätten. Lund schwebte unter ihnen, wie eine ins Wasser gefallene Fliege unter Infusorien.
Grabesstille umher.
Wohin er, der Dreidimensionale, zu greifen versuchte, um irgend einen festen Halt zu gewinnen, da faßte er ins Leere.
Im Reiche des Nebelhaften, in der Sphäre der Urgeschöpfe herrschte eine Lebensträgheit sondergleichen. Zwischen Anorganischem und Organischem schien noch keine Grenze zu existieren...
Während Lund, im Raumlosen schwebend, solchen Gedanken nachhing, verspürte er, daß sich die Szenerie um ihn allmählich veränderte.
Die seltsamen Punktgebilde, die eben noch in seiner Umgebung herumgeschwirrt, nahmen Gestalt an. Bald sah er nur noch Stäbchen — —
Die Nulldimensionalen hatten sich in Eindimensionale verwandelt. Und das war wie in einem Kaleidoskop vor sich gegangen.
Die Stabwesen wuchsen zusehends, und dieses Wachstum verkörperte Lund den Begriff »Zeit«, der ihm im Raumlosen quasi abhanden gekommen war.
Der Dreidimensionale befand sich also jetzt unter Liniengeschöpfen, unter Kreaturen, die nur eine Längsausdehnung kannten. Diese Wesen bildeten für ihn immerhin einen Fortschritt in der Schöpfungsgeschichte, die er augenblicklich von ihren Uranfängen durchlebte.
Ob diese Linientierchen Sinne hatten? — —
Sicherlich wenigstens ein Sehvermögen, das ihnen alles, was eine Längenausdehnung besaß, in seiner Existenz faßbar erscheinen ließ.
Ob Lund für diese seltsamen Kreaturen sichtbar war? Ohne Zweifel. Die eine seiner drei Dimensionen machte ihn für die lebendigen »Lineale« bemerkbar.
Der alte Professor fühlte mit einem gewissen Behagen, daß er nicht mehr im völlig Haltlosen schwebte, daß greifbare Wesen in seiner Nähe waren. Diese kennen zu lernen, war nun sein Bestreben.
Im Begriff, sich einer der Linienkreaturen zu nähern und deren Lebensbedingungen zu studieren, begann sich der Schauplatz wieder kaleidoskopartig zu verändern. Er bemerkte, daß die Linienwesen zu Flächengebilden heranwuchsen, sobald er sie genauer ins Auge faßte.
In verschwommenen Konturen sah er eine neue Welt vor seinen erstaunten Blicken sich auftun — —
Lund fühlte sich in eine neue Sphäre des Universums versetzt. Er sah eine ungeheure Ebene, eine Ebene ohne Grenzen. Darauf tummelten sich Lebewesen — Flächenkreaturen.
Einen Begriff von dieser Daseinswelt kann man sich am besten machen, wenn man ein Bild von Menschenhand gemalt oder noch besser eine Photographie betrachtet. Was man darauf erblickt, ist Fläche oder Linie, Fläche selbst das, was im irdischen Leben unseren Augen körperlich erscheint und auch ist, Linie, deren Begrenzung.
Lund drängte sich dieser hier berührte Vergleich beim ersten Betrachten der zweidimensionalen Umgebung sogleich auf.
Eine Unterstufe der Welt des »Körperlichen«.
Märchenerzähler würden aus dieser Flächensphäre die wundersamsten Geschichtchen auftischen, wenn sie von einem Streifzuge aus der ewigen Ebene zurückkehrten.
Eine eigenartige »Tausendundeinenacht«, dieses Reich der Zweidimensionalen. Lund ließ seine Blicke in die Ferne schweifen.
Plötzlich erschrak er.
Die Flächenkreaturen strömten auf einen Fleck zusammen, dann marschierte ein Heer derselben auf ihn los. Zwerge auf einen Riesen!
Bald sah sich der Alte umringt. Gleich einem Ameisenhaufen rückte die ungeheure Rotte der Zweidimensionalen heran. Mit einem Fußtritt hätte er wohl an die Tausende vernichten können.
Die Flächenwesen verursachten bei ihrer Bewegung ein eigentümliches Geräusch, das erste, welches Lund bislang vernommen hatte.
Der dreidimensionale Goliath versuchte den andrängenden Kreaturen auszuweichen, indem er mit Riesenschritten auf der Ebene zurückwich. Doch vergeblich, der Haufe stürmte ihm nach.
Da! was war das? — — Tauchte nicht im fernen Hintergrund die Gestalt Jensens auf? — — Lund strengte seine Augen an. Natürlich, das war sein junger Genosse. Jensen, wie er leibt und lebt.
Gerade hatten ihn die Zweidimensionalen wieder eingeholt, als Lund mit überlauter Stimme Jensen heranrief. — —
»Jensen!... Jensen! hallte es durch das Gemach, wo der Gerufene während seines Überwachungsdienstes in Schlummer versunken war.
Jensen schreckte aus dem nicht tiefen Schlafe auf und blickte einigermaßen verdutzt um sich. Deutlich hatte er seinen Namen zweimal hintereinander rufen hören.
Sein Auge fiel auf Lund. Erschrocken sprang Jensen auf. Der Alte lag noch in seiner Betäubung. Hoffentlich war inzwischen nichts passiert — — Jensen hätte sich Zeit seines Lebens die größten Vorwürfe gemacht.
Schnell prüfte er den Pulsschlag und die Körpertemperatur Lunds. Das Resultat war ein zufriedenstellendes und beruhigte den jungen Mann.
Als sich Jensen dann wieder hinsetzte, um darüber nachzudenken, ob er geträumt habe, empfand er dunkel, daß er im Schlafe seltsame Dinge geschaut hatte. Aber alles war so verworren gewesen, daß er in das Geträumte keinen rechten Zusammenhang zu bringen vermochte. Er erinnerte sich nur noch einer riesenhaften Ebene, auf der er gewandelt war.
Mitten im Nachsinnen über das im Schlafe Geschaute wurde Jensens Gedankengang bald wieder umnachtet — — erneut verfiel er in Schlummer.
Die Wirkungssphäre des Telepators zog abermals ihre Kreise um alles Lebendige an dieser stillen Stätte...
Auf Lunds Anruf war Jensens Gestalt plötzlich wieder von der Ebene der zweidimensionalen Sphäre verschwunden.
Die Flächenkreaturen schienen sich dann zum Kampf gegen den Eindringling, der ihrer Ansicht nach aus einer Geisterwelt stammen mußte, zu rüsten.
Was hatte Lund zu befürchten? Der Alte erinnerte sich dessen, daß ein Bienenschwarm imstande war, den größten und stärksten Menschen zu töten. Konnte er darum nicht auch den anstürmenden Kreaturenheeren des zweidimensionalen Reiches zum Opfer fallen?
Lächerlich! Er, der Körperliche, sollte den Flächenwesen unterliegen! Sie sollten nur herankommen.
Die kleinen Kreaturen waren sehr beweglich und vermochten wie Eidechsen über die Ebene zu gleiten. Sie glichen Zwischengebilden von Tier und Pflanze und schienen ein Wahrnehmungsvermögen für alles, was in ihrer Lebenssphäre äußerlich in die Erscheinung trat, zu besitzen.
Gern hätte Lund den Rückzug angetreten, wohin aber sollte er sich wenden? Die ungeheure Ebene lag vor und hinter ihm, vom gewohnten Körperlichen erblickte er nirgends eine Spur.
Der Alte sann jetzt darüber nach, wie er eigentlich in diese Gegend geraten sei. Doch er vermochte sich keine Rechenschaft zu geben. Sein Erinnerungsvermögen. war ihm benommen. War er in der Ebene immer gewesen?
Alles Körperliche schien für ihn in nebelhafter Ferne zu liegen und von einem Dunstschleier umwoben zu sein. Sein Erinnerungsvermögen an Zurückliegendes ließ keine haltbaren Vorstellungen in ihm aufkommen. — — War er in solcher Umgebung etwa auch zum Flächenwesen degradiert worden?
Solche Gedanken durchschwirrten Lunds Hirn, während er vor den zweidimensionalen Wesen in der unendlichen Ebene zurückwich. Doch bald sollte er der Daseinswelt der Flächenkreaturen entrückt werden. Schon kam es wieder wie eine Umnebelung über seinen Geist. Die Gestalten der Ebene lösten sich allmählich auf, und die Totenstille, welche ihn bisher umfangen hatte, wich einem seltsamen Klingen.
Kaleidoskopartig vollzog sich wieder eine Wandlung der Dinge.
Lund traute seinen Augen nicht, als er urplötzlich leibhaftige Menschen seinesgleichen in der um ihn herum gähnenden Leere erblickte. Pardon! wenn hier gesagt wurde, leibhaftige Menschen. Nein, das Körperliche der aufgetauchten Gestalten war nur Schein.
Nebelmenschen, Gestalten ohne Fleisch und Blut, just Wesen, wie sie uns Irdischen als Spukgeister hier und da erscheinen.
Lund starrte seine neue Umgebung an. Teufel noch mal! die Veralberung des Spiritismus auf Erden seitens der »Aufgeklärten« bestand damit zu Unrecht. Er selbst hatte früher dem Unfug der Spiritisten von Beruf zu steuern versucht und ihre Lehren als Hirngespinste geistiger Hochstapler verurteilt. und nun mußte er gewahr werden, daß er sich bei der Ergründung der vierten Dimension dabei ins eigene Fleisch geschnitten hatte.
Was sein Auge hier schaute, waren Seelen in Nebelgestalt, Geister Abgeschiedener aller Welten. Lund grübelte darüber nach, ob diese Seelenwelt wohl die Sphäre der vierten Dimension sei — —
Nach seiner aufgestellten metaphysischen Theorie repräsentierte die gesuchte vierte Ausdehnung die »geistige Tiefe«. Das Seelische im Menschen war etwas Dimensionales, mußte geometrisch eine imaginäre Ausdehnung unbekannter Art sein. Lund fand, daß er wissenschaftlich richtig spekuliert hatte.
Mehr und mehr klärte sich jetzt des Alten Blick. Das, was eben noch verschwommen sich in seiner Umgebung gezeigt hatte, gestaltete sich jetzt in markanten Konturen. Die Sphäre der Geister umgab ihn, den Körperlichen.
Wo lag eigentlich dieses Reich der Nebelwesen, die letzte Heimstätte der Menschheit? — Zweifelsohne jenseits des Erdballes, im Raume des Universums.
Lund wurde in seinem Gedankengange durch das Auftauchen zweier Dunstgestalten in unmittelbarer Nähe gestört. Er bemerkte, wie sich die Augen dieser schwebenden Geister auf ihn, den Körperlichen mit einem verwunderten Ausdruck hefteten.
Der Alte musterte die beiden Gestalten. Ein männliches und ein weibliches Wesen mittleren Alters. Die Frau mußte einmal ein schönes Geschöpf gewesen sein, das verrieten die Augen und Formen dieser Nebelgestalt. Mit welcher Grazie sie um ihn herumschwebte — — wieviel Männer mochte dieses Weib auf Erden betört und zu Tollheiten aller Art veranlaßt haben? Vielleicht entstammte sie gar nicht seinem heimatlichen Planeten, war eine Evastochter des Mars, der Venus oder sonst eines bewohnbar gewesenen Gestirns.
Lund vernahm nun einige in gedämpftem Tone gesprochene Worte. Sie wurden an ihn gerichtet.
»Verwegener! wie kommst du in unsere Sphäre?« klang es an seine Ohren.
»Auf der Suche nach der vierten Dimension...« antwortete Lund und ihm fiel dabei der eigene sanfte Ton seiner Sprechweise auf.
»Bei Jehova — — du vermißt dir viel«, versetzte die männliche Nebelgestalt. »Doch sage, wie fandest du den Weg in diese Sphäre? Verzeihe mir die Neugier, aber mein grenzenloses Erstaunen mag dies rechtfertigen.«
»Wenn meine Sinne mich nicht trügen, hatte ich auf Erden versucht, die Funktion meiner Psyche zu steigern, um mein Begriffsvermögen über das Normale zu erheben«, gab Lund zur Antwort.
»Das wagte vor dir noch kein Mensch«, sagte die Nebelseele.
»So bin ich eben der erste gewesen, und es ist mir geglückt«, meinte Lund.
»Es kann dir leichthin deine körperliche Hülle kosten, lieber Menschheitsbruder.«
»Glaubst du?«
»Wer frevelhaft die ihm gesteckten Grenzen überschreitet, der spielt mit seinem irdischen Leben«, ließ sich die Nebelseele vernehmen.
»Bah! — Was verschlägt's — — dann weile ich eben unter euch«, erwiderte Lund.
»Wie stelltest du dich auf Erden zu deinem Gott, den du im Herzen trugst?« fragte die Nebelseele weiter.
»Zu Gott — —« versetzte Lund nachdenklich. »Ich war Zeit meines Lebens kein Gläubiger, kein Freund der Pfaffen.«
»Die Wissenschaft degenerierte dich wie so viele deinesgleichen. Dein Gottglauben ging dir verloren und dein Ichbewußtsein überhob sich in der Erkenntnis der Dinge, über die die Natur ihre Schleier gebreitet hatte.«
»Wo bin ich eigentlich, und wer seid ihr beiden?« fragte jetzt Lund unvermittelt.
»Auch unser Fuß wandelte einst auf Erden, lieber Freund... aber es ist lange her, wohl an die fünfhundert Jahre nach irdischer Zeitrechnung«, versetzte die Nebelgestalt.
»So bin ich also in der Sphäre der Seelen von der Erde Abgeschiedener — — und ihr gehört zu den Vierdimensionalen?«
»Allerdings...«
»Dann habe ich gefunden, was ich suchte. — — Doch sage mir, wer bist du und deine Begleiterin, wes Standes und Geisteskinder waret ihr beiden einstmals auf Erden?« fragte Lund weiter.
»Ich kämpfte unter Wallenstein und fiel im Dreißigjährigen Krieg bei Lützen... Kennst du die Geschichte der Erdenvölker?«
»Zur genüge«, antwortete Lund. »Und deine Begleiterin dort, wer war sie?«
»Eine Marketenderin.«
»Werde ich hier unter euch geduldet sein, wenn ich noch eine Zeit verbleibe?« fragte Lund von neuem.
»Ich kann es nicht hindern... du wirst freie Wege in unserer Sphäre finden.«
»Wollt ihr mir als Führer dienen? Laßt mich euer Gast sein«, bat Lund.
»Es sei, lieber Erdenbruder. Aber eins mußt du mir fest versprechen. Vermesse dich nicht, hier nach mehr zu forschen als das, was du mit deinen Augen erblickst.«
»Das kann ich leicht versprechen.«
»Forsche nicht nach Dingen, deren Wesen dir hier nicht zum Verständnis kommen will«, sagte die Nebelseele.
»Ich werde mein Wort halten... Welchen Namen trugst du einst auf Erden?«
»Lingstein — ich war Offizier und ein tüchtiger Haudegen.«
»Wohin wirst du mich führen, Freund Lingstein? — — Wird man mich auch überall bei euch willkommen heißen?«
»Sei unbesorgt. Der Tod, der unsere irdische Hülle abstreifte, hat uns auch aller schlechten menschlichen Charaktereigenschaften beraubt... ein Heil für alle Seelen. Niemand wird dir übel wollen. Dein Körperliches hat von den Nebelseelen nichts zu befürchten. Komm, folge mir!« Bei den letzten Worten schritt die Gestalt durch den Raum und bewegte sich schwebend einer bestimmten Richtung zu.
Lund folgte. Es war ihm recht eigen zu Mute. Er dachte darüber nach, ob eine wirkliche Unsterblichkeit im Reiche der Nebelseelen bestände oder ob deren Dasein auch einmal erlösche.
Leichten, schwebenden Schrittes ging es durch den Ätherraum dahin. Er sah nichts als leeren Raum, nirgends etwas von plastischer Umgebung — eine gähnende, unendlich erscheinende Tiefe des Weltalls.
Weder Sonne noch Mond warfen ihre Strahlen hierher, und doch herrschte ein eigentümliches Dämmerlicht, dessen Ursprung nicht zu ergründen war.
Plötzlich wandten sich die beiden Nebelgestalten um, und Lund wurde befragt, ob er in seiner Körperlichkeit zu folgen vermöge.
Der Alte bejahte.
»Hast du Angehörige auf Erden verloren?« fragte jetzt die weibliche Nebelseele.
»Meine Eltern — — meinen Bruder...« gab Lund hastig zur Antwort.
»Möchtest du sie wiedersehen?«
»Ja — führe mich zu ihnen«, versetzte Lund, und seine Antwort verriet eine starke innere Erregung.
In diesem Augenblicke tauchten in der Nähe verschiedene andere Nebelgestalten auf und warfen erstaunte Blicke auf den irdischen Ankömmling.
Lund betrachtete die Gestalten, er suchte in deren Gesichtern nach den Zügen seiner verstorbenen Eltern. Doch es waren wildfremde Wesen. Auch die nächsten ihm zu Gesicht kommenden Personen waren ihm unbekannt.
»Ist dies das Seelenreich der Erdbewohner?« fragte Lund jetzt seine Führer unvermittelt.
»O nein! Du siehst hier die Seelen aller Menschen des Universums.«
»Und in diesem Chaos von Milliarden und aber Milliarden Seelen herrscht Ordnung, gibt es kein Sprachgewirr?« fragte Lund und schien den Gedanken daran nicht fassen zu können.
»Im Sinne des Irdischen gibt es hier weder eine Wirrnis noch Zuchtlosigkeit, mein lieber Freund«, versetzte Lingstein.
Lund wollte eben noch eine weitere neugierige Frage stellen, als plötzlich alles vor seinen Augen sich in Dunst aufzulösen schien...
Die Nebelgestalten verschwanden, und unklare absonderliche Gebilde tauchten verschwommen vor ihm auf. Dann verwirrte sich sein Gedankengang — —
Die Kirchenglocken Kopenhagens tönten eben im harmonischen Zusammenklang in das Gemach des Hauses am Kongens Nytorv herein, als Jensen aus seinem Schlummer erwachte.
Der junge Mann sprang auf.
Sein Blick fiel auf den alten Professor im Lehnstuhl. Noch immer lag derselbe im Trancezustand, aber sein Kopf hatte eine andere Lage als bisher. Die Polplatte des Radiumtelepators deckte nicht mehr die Tonsur von Lunds Hinterhaupt.
Jensen wollte jetzt zu dem Alten herantreten, aber die Füße versagten fast ihren Dienst. Er fühlte eine bleierne Schwere in sich, und die wenigen Schritte, die er zu machen vermochte, ließen erkennen, daß der junge Mann taumelte.
Jensen schob sofort die Schuld an seinem Zustand auf die Wirkung des Telepators. Er mußte sich entschieden außerhalb des Bereichs dieses unheilvollen Instrumentes bringen, darüber wurde er sich klar.
Wie trunken schleppte sich Jensen zu Lund hin. Mechanisch schob er dem Professor die Radiumtarnkappe über die Tonsur. Unfähig auch Lunds Puls und Temperatur zu untersuchen, wankte er dann wieder zu seinem Sitz zurück.
Er fühlte seinen Gedankengang so träge — so merkwürdig kam ihm alles vor — — die Welt erschien verändert, er sah sie wie im Scheine einer Stallaterne.
Langsam tauchte die Erinnerung an Vorangegangenes in ihm auf. Er hatte wüste Traumbilder im Schlummer gehabt, hatte Nebelgestalten um sich herumtanzen sehen, wie die Geister Verstorbener spukhaft über ihren Gräbern einen Reigen aufführten. Das vermaledeite Radium mußte ihm den Possen gespielt haben. Ein Haschischrausch konnte ihm nichts Seltsameres und Absurderes vorgaukeln als was er im Schlafe geschaut und erlebt.
Wie er nun so sann, fühlte er abermals, daß ihn der Schlummer zu übermannen drohte. Er kämpfte non neuem dagegen an — — aber wie ein Energieloser.
— — bim — baum — — bim — baum — — tönten die Glocken der Kirchen melodisch durch das halbgeöffnete Fenster des Gemachs.
Leiser und leiser wurden dann für Jensen die Klänge des Glockenensembles und tönten schließlich nur noch wie fernste Sphärenmusik aus lichten Höhen zu seinen Ohren.
Dann herrschte abermals Grabesstille im Gemach. Jensen war von neuem in einen Dornröschenschlaf versunken — —
Lunds geistige Pilgerfahrt im Seelenreich fand plötzlich wieder ihre Fortsetzung, nachdem der Alte eine geraume Weile hindurch nichts anderes als leeren Raum um sich verspürt hatte.
Abermals schien Leben um ihn herum zu erblühen, das Leben und Weben leibloser Menschengestalten repräsentierte sich von neuem seinem Auge.
Lund sah sich in einer wogenden Menge von Nebelseelen, die ihn alle mit erstaunten Blicken musterten. — Wo kam der freche Eindringling her? Was wollte ein an die Materie gebundener Mensch hier unter ihnen, den von der Gottgewalt durch den Tod geläuterten Seelen?
Dieses Vermessen eines Erdenmenschleins war unerhört.
Lund sah sich im Kreise seiner Umgebung um. Wo war sein Cicerone, jener im Dreißigjährigen Kriege gefallene Lingstein geblieben?
»Irdischer! wie kommst du unter uns?« erklang die gedämpfte Stimme einer Nebelseele.
Lund sah sich nach dem Frager um. Dicht vor ihm schwebte eine männliche Gestalt.
»Ich weilte schon einmal unter euch... vor Augenblicken. Wo ist Lingstein, der mich führte?« versetzte Lund suchenden Blickes.
»Lingstein?« klang es dann in verwundertem Tone an sein Ohr.
»Einer deinesgleichen, Nebelseele. Er war der erste, dem ich in dieser weltabgeschiedenen Sphäre begegnete.«
Die Nebelseele schüttelte ihr Haupt.
»Leiblicher, was sprichst du da?«
Lund berichtete nun der Nebelseele von seiner Bekanntschaft mit Lingstein und der Marketenderin.
»Und was willst du hier beginnen?« fragte die Nebelgestalt.
»Mein Wissensdrang, das Vierdimensionale zu ergründen, hat mich in eure Mitte geführt«, gab Lund zur Antwort.
»Gut — du sollst in deinem Wissensdurst ausreichend befriedigt werden. Ich werde dich führen. Du wirst vieles erfahren, wirst alle die Großen der Erde kennen lernen, die in der Weltgeschichte des Erdenlebens sich einen Platz eroberten.«
»Und wer bist du selbst?« fragte Lund mit einiger Neugier.
»Ein aus dem Irdischen freudlos Dahingeschiedener...« versetzte die Nebelseele mit düsterem Klang in der Stimme.
»Dein Name?« fragte Lund von neuem. »Ohne Klang und Bedeutung, mein lieber Freund. — Nodchar.«
»Nodchar...« wiederholte Lund.
»Ganz recht. Ich fiel eines Weibes wegen im Duell. Es war das traurige Ende eines Menschen, der nie in seinem Leben vom Glückstern begleitet gewesen war.«
»Du Armer — —.«
»Bedaure mich nicht. Ich habe ausgelitten. Das Erdendasein ist für den Menschen nur eine Etappe in der ewigen Existenz.«
»Und die verblendete Menschheit glaubt, daß sich nach dem Tode alles in nichts auflöst...«
»In der Sphäre der Psychen, in der du dich jetzt befindest, gibt es ein ewiges Fortleben — — doch sprich, wohin soll ich dich führen?«
»Zu denen, die du die Großen der Erde nanntest. O! ich brenne vor Verlangen, sie alle kennen zu lernen!«
»So wollen wir die Wanderung beginnen.« Mit diesen Worten schritt die Nebelseele voraus, hinein in den unermeßlich weiten Raum. Lund erblickte bald hier bald dort Gestalten, alles Unbekannte und Durchschnittsmenschen früherer Zeitepochen. Plötzlich steuerte Nodchar auf eine hagere Gestalt zu und wechselte mit dieser einige Worte, die Lund nicht verstand.
»Hier mein lieber Erdenbruder«, sagte dann Nodchar zu ihm gewendet, »steht ein Geistesverwandter von dir.«
Lund blickte die Nebelgestalt genauer an. Wo hatte er dieses Gesicht schon gesehen? — —
»Es ist der große Darwin...« flüsterte ihm Nodchar zu.
Wahrhaftig! Lund kannte den Begründer der Abstammungslehre des Menschen aus Bildern einer Kulturgeschichte. Das war der alte Forscher wie er leibte und lebte.
Die Bekanntschaft zwischen Lund und Darwin hatte Nodchar schnell vermittelt, dann überließ er die beiden sich selbst und schritt wortlos neben diesen her.
»Also bist du auch einer von meiner Gilde«, hörte man den seligen Darwin zu Lund sprechen.
»Einer von den vielen, die die Lebensrätsel zu ergründen suchen«, versetzte Lund, hocherfreut, die Bekanntschaft des berühmten Naturforschers gleich zu Beginn seiner Wanderung in der Seelensphäre gemacht zu haben.
»Es ist eine wenig dankbare Aufgabe, Lebensrätsel zu ergründen«, hörte man Darwin wieder reden. »Der Irrwege gibt es zu viele, und nur selten gibt einem die Natur selbst einen Wink, der einen auf den rechten Pfad führt.«
»Man tappt meist im Dunkeln und greift zu falschen Anschauungen«, erwiderte Lund.
»Hat mein Wirken auf Erden Spuren hinterlassen?« fragte Darwin und suchte aus seines irdischen Begleiters Gesicht die Antwort im voraus abzulesen.
»Tiefe Spuren. Deine Abstammungslehre ist allgemein angenommen worden, aber mit deiner Theorie der natürlichen Zuchtwahl können sich viele nicht befreunden.«
»Ich dachte es mir...« murmelte Darwin halblaut vor sich hin.
»Du hast zahllose Anhänger, aber auch ebenso viele bittere Gegner auf Erden.«
»Und zu welchen rechnest du dich, mein Freund?« fragte der alte Darwin.
»Zu denen, die deine Theorien nie verworfen haben, sie aber auch nicht als Evangelium hinnahmen«, antwortete Lund vorsichtig, um es mit seinem großen Kollegen nicht im voraus zu verderben.
»Du drückst dich recht diplomatisch aus«, versetzte Darwin. »Sprich nur nach deiner vollen Überzeugung. Hier in dieser Sphäre kennt man weder Heuchelei noch Übelnehmen. Wir lieben allein nur die reine Wahrheit.«
»Ich sprach allerdings nicht ganz die Wahrheit«, gab Lund zur Antwort. »Wenn ich also offen berichten soll, so halte ich deine Anschauung von der Zuchtwahl für ein Phantasiegebilde, das nie und nimmer für die Wirklichkeit in Frage kommen kann. — — Hälst du auch jetzt noch daran fest?«
»Nein, jetzt ist meine Hypothese ein überwundener Standpunkt für mich. In dieser Sphäre hier erkannte ich, daß ich damit einen Irrtum predigte, als ich die Theorie aufstellte.«
»Man geißelt auch mich als krassen Hypothesenschmied auf Erden«, versetzte Lund hierauf.
»Ich bin neugierig zu wissen, nach welcher Seite hin du der Natur und ihren Geheimnissen auf den Leib rücktest«, meinte Darwin.
»Ich vermaß mich, noch Tieferes zu ergründen als du. Ich forschte nach Übersinnlichem, nach der vierten Dimension. Und das Glück war mir hold... ich fand sie — — hier.«
»Vielleicht bezahlst du aber dein Forschen mit dem Leben.«
»Was verschlägt dies? Dann bleibe ich in eurer Mitte«, versetzte Lund.
»Du bist Mathematiker?«
Lund bejahte.
»Du wirst bei der Welt schwerlich Glauben finden, wenn du ihr von der gefundenen vierten Dimension berichten wirst.«
»Weshalb nimmst du das an?«
Darwin schüttelte sein greises Haupt.
»Deine Belehrung wird der Menschheit über das Fassungsvermögen gehen... darum, mein lieber Freund.«
»Bah! — sie wird es schon begreifen lernen.«
Darwin lächelte.
»Lebensrätsel sind harte Nüsse, und ist mal eins gelöst, so reichen die Begriffe der Normalen nicht aus, um den entblößten Kern zu erblicken«, erwiderte er dann.
»Forscht ihr Vierdimensionalen auch noch nach euch unbekannten Dingen?« fragte jetzt Lund.
»Für uns gibt es keine Lebensrätsel mehr.«
»Alle Wetter!« entschlüpfte es Lunds Lippen. »So liegen die Geheimnisse der Natur entschleiert vor Euch?«
»Bis auf Daseinsrätsel der Gottallmacht — —« gab Darwin zur Erwiderung.
»Laß mich, würdigster Freund, aus diesem Borne deines Wissens schöpfen. Zum Heil der Menschen auf Erden...«
»Zum Heil? Vielleicht ist's zum Unheil der Erdenkinder, und es ist besser, ich stehe auf solche Fragen, die du mir zu deiner Aufklärung stellen möchtest, an, dir die Antwort zu erteilen.«
»Laß die Quelle deines Wissens fließen, würdiger, großer Darwin«, sagte in fast flehendem Tone Lund. »Sage mir, was war einst der Ursprung alles Lebens?«
»Lasest du je in der Bibel der Christenheit?«
Lund bejahte eifrig.
»Glaubst du an die darin überlieferten Schöpfungsberichte?«
»Wie kann ich — —«
»Richtig«, unterbrach Darwin Lund. »Ihr alle schwört ja auf die Zelle mit ihrer Entwicklungsphase, sucht die Urzelle und die Kraft, die den Stoff formt. Göttliches wird euch dabei wesensfremd.«
»Will man das Rätsel des Lebens ergründen, so bietet die Religion mit ihrem Gottglauben die schlechteste Handhabe«, erwiderte Lund eifrig.
»Ihr dringt mit bewaffneten Augen in die Tiefen des Universums und in den Mikrokosmos der Natur, rückt euch so die Sonnen und Atome nahe, um den Schleier zu lüften, den eine göttliche Allmacht über sein Schöpfungswerk ausgebreitet hat. Ihr verirrt euch mit euren Gedanken bis weit ins Transzendentale und kommt der letzten Erkenntnis der Dinge doch nicht nahe.«
»Du hast recht, großer Darwin. Wir Menschen werden das Rätsel des Lebens nie und nimmer ergründen«, antwortete Lund.
»Ihr haltet das Leben für etwas an die Materie gebundenes. Und doch ist letztere nur das Mittel, durch welches sich die lebendige Gottkraft äußert. Die Schwingungen der Stoffatome, der Tanz der Molekel ist ein ewiger durch die gottgewaltige Urkraft in Szene gesetzter Lebensvorgang.«
»Und diese Urkraft?« fragte Lund unvermittelt voller Wißbegier.
»Die lebendige Gottkraft, welche Sonnen aus Nebelmassen formt, den Menschen aus den Menschen zeugt und die Bewegungen in der Zelle dirigiert, äußert sich auf Erden in den verschiedensten Modifikationen. Sie erscheint euch sowohl in der Form von Energie als auch in Gestalt geistiger Triebkräfte, welche euer Tun und Handeln regeln.«
»Kennst du die Versuche, welche man auf Erden angestellt, um dem Rätsel des Lebens näherzukommen?« fragte Lund, nachdem er den Worten Darwins mit gespannter Aufmerksamkeit gelauscht hatte.
»Wie wäre das möglich — — ich bin über sechzig Jahre irdisch tot«, antwortete der große Gelehrte.
»So höre. Man hat Versuche angestellt, die bewiesen, daß der Atmungsvorgang im Menschen nichts weiter ist, als ein gewöhnlicher chemischer Prozeß...«
»Oho!« unterbrach Darwin den Sprecher. »Damit habt ihr so gut wie nichts ergründet.«
»Höre weiter«, sagte Lund. »Man hat diesen Atmungsprozeß auch nachgeahmt.«
»Mit dem gewünschten Erfolg?«
»Ja. Mit Hilfe eines sauerstoffhaltigen Körpers gelang das Experiment in vorzüglicher Weise. Aber wir sind bei diesem einen Versuch zur Ergründung des Lebensrätsels nicht stehen geblieben.«
»Ich bin neugierig, noch mehr zu hören«, antwortete Darwin mit einem mitleidigen Lächeln.
»Wir haben gefunden, daß das menschliche und tierische Blut, die kostbare Flüssigkeit, welche zum Leben gehört, auf das engste mit dem Meerwasser verwandt ist und durch dieses ersetzt werden kann«, ließ sich Lund mit gewichtiger Miene vernehmen.
»Hm — — ganz interessant zu hören, doch für den, der das Rätsel des Lebens kennt, wenig von Bedeutung«, meinte Darwin und blieb auf seiner Wanderung durch den Raum plötzlich stehen.
»Das eben erwähnte Experiment erschien noch wichtiger, als die Entdeckung gemacht wurde, daß man unbefruchtete Eier des Seeigels künstlich befruchten kann, wenn man dieselben mit einer Mischung von Meerwasser und Magnesiumchlorid in Berührung bringt«, fuhr Lund fort.
»Immer noch belanglos«, versetzte Darwin. »Ich will dir aber ein wenig auf die Spur helfen, mein alter Freund, damit du nicht unbefriedigt mich verläßt. — Höre! Die Stoffteilchen, die ihr die Moleküle der lebendigen Substanz nennt, sind die eigentlichen Träger des Lebens. In dem fortwährenden Zerfall und Wiederaufbau derselben besteht der äußere Vorgang des Lebens, dessen Ausdruck die mannigfachen Lebenserscheinungen sind. Jeder lebende Körper, sei es der eines Menschen, einer Pflanze oder eines Tieres besteht aus unzähligen Einzelzellen, die in ihrer Gesamtheit einen Zellenstaat bilden. Alltäglich erneuern sich nun viele Tausende von Zellen, so daß Tag für Tag sich ein neuer Zellenstaat konstruiert...«
»Soweit haben wir das auf Erden auch schon herausgeklügelt«, versetzte Lund. »Sag mir, was ist das eigentliche Leben, wo kommt die Urkraft her, und zu welchem Zwecke wird der Mensch in die Welt gesetzt, um wieder zu Staub zu zerfallen?«
»Du stürmst mit einer Flut Fragen auf mich ein«, erwiderte Darwin, »die mich verlegen machen, wenn ich das Gottgeheimnis streng bewahren will. Doch so ganz will ich dich über die Dinge nicht im unklaren lassen, ich weiß als ein Forscher von ehemals deinen Wissensdrang zu würdigen.«
»Also das Lebensrätsel...« fiel Lund voll Erregung ihm ins Wort. Er konnte seine Ungeduld, den Schleier gelüftet zu sehen, kaum noch bemeistern.
Statt der Antwort vernahm Lund aber mit einem Male seltsamen Glockenklang, und Darwins Nebelgestalt löste sich schemenhaft auf. Wieder tat sich die unergründliche Leere des unendlichen Raumes vor Lunds Blicken auf.
Bim — — Baum — — Bim — — Baum — — tönte es erst laut, dann immer schwächer werdend an seine Ohren.
Als der letzte in weitester Ferne verklingende Glockenklang verhallt war — Kopenhagens Scheidegruß für den abermals in die Sphäre der Vierdimensionalen geratenden Professor — da nahmen die blassen Nebelstreifen um ihn herum von neuem Gestalt an.
Lund sah sich plötzlich wieder mitten in die Nebelseelensphäre versetzt. Eine Menge Gestalten beiderlei Geschlechts umringten ihn. Überall erblickte er verwunderte Gesichter. Fremd war ihm jede Physiognomie. Vergeblich suchte sein Auge nach dem alten Darwin.
Dann wurde er von einer der Nebelgestalten über seine Herkunft befragt. Er stand Rede, wie er es schon einmal getan.
Lunds Erscheinen hatte unter den Körperlosen einige Aufregung verursacht. Diese legte sich erst, als er über die Art und Weise berichtete, wie er in diese vierdimensionale Sphäre gekommen war.
»Du versuchst Gott, mein Freund!« ließ sich eine der Nebelseelen ernsten Tones vernehmen.
»Ich bin mir dessen bewußt«, antwortete Lund ohne Zögern und sah sich im Kreise um.
»Wen suchst du unter uns?« fragte eine zweite Nebelseele und trat dem Irdischen näher.
Lund schaute den Frager ins Antlitz. Er stutzte dann. Das Gesicht erschien ihm nicht fremd. Wo hatte er die Züge schon einmal gesehen?
»Wer bist du?« fragte Lund die Gestalt.
»Karl der Große, ich war einstmals Kaiser auf Erden.«
»Sapperlot!« platzte Lund heraus. »Da muß ich ja an meine Schulzeit denken. Deinetwegen habe ich einmal in einer Geschichtsstunde die größten Prügel bekommen. So oft ich später dein Bild in irgend einer Weltgeschichte zu Gesicht bekam, drängte sich stets diese Erinnerung daran in mir wieder auf.«
Karl der Große lächelte und fuhr sich mit der Hand durch seinen weißen Bart.
»Wie schaut's jetzt unten auf Erden aus?« fragte er dann mit seiner klangreichen Stimme.
»Trübe, großer Kaiser«, gab Lund zur Antwort. »Die Kulturvölker kennen noch immer keinen Weltfrieden, und Kriege gibt's, wie zu deiner Zeit, nur sind diese noch mörderlicher geworden.«
»Welches Jahr schreibt ihr jetzt nach christlicher Zeitrechnung auf Erden?« fragte Karl weiter.
»Wir leben im zwanzigsten Jahrhundert nach Christi Geburt«, antwortete Lund.
»Beim heiligen Gott! so wären schon über tausend Jahre seit meinem Tode verflossen — — hier in der Ewigkeit dünken sie einem wie Augenblicke.«
»Dir hat die Menschheit ein Denkmal in der Geschichte der Erdenvölker gesetzt. Dein Name ist nicht verblichen, wie das Reich, das du gegründet«, sagte Lund und musterte die Nebelgestalt, die einst zu den großen Männern gehört hatte, die Völker mit weiser Hand regierten.
»Wo hat man meine Gebeine bestattet?« fragte Karl weiter.
»Wenn ich mich recht erinnere, so wurdest du in deinem Münster zu Aachen beigesetzt. Kaiser Otto der Dritte ließ dann im Jahre Tausend dein Grab öffnen, und Kaiser Friedrich der Erste ließ dich durch den Gegenpapst Paschalis den Dritten heilig sprechen.«
»Du bist gut orientiert, mein Freund«, versetzte Karl. »Also in Aachen ruhen die Reste meines Körperlichen? — — Wie erging es meinem Sohne Ludwig nach meinem Tode? Kannst du mir auch darüber etwas berichten?«
Lund kramte einen Augenblick in seinem Gedächtnis nach und erwiderte dann: »Er regierte in dem von dir hinterlassenen Reiche bis zum Jahre 840 und soll dann auf einer Rheininsel in deutschen Gauen gestorben sein — — ich wundere mich aber, daß du dies hier von deinem Sohne nicht bereits erfahren hast.«
»Doch — doch — — ich wollte nur einmal ergründen, ob auch seiner noch die Menschheit gedenkt«, meinte Karl der Große.
»Die Historie der Kulturvölker ist uns in Aufzeichnungen der Geschichtsschreiber erhalten geblieben, unsere Kenntnisse reichen bis ins graueste Altertum zurück.«
»Man hat mich wohl als einen Despoten im Angedenken?« forschte der Nebelkaiser weiter.
»O nein! Die Welt denkt anders von dir und deinem Wirken«, fiel Lund ihm hastig ins Wort.
»Ich war einst gewalttätig, doch nicht ungerecht. Meine Begierden waren stark gewesen, aber ich war allzeit auch feinerer Empfindungen fähig. Ich hoffe, man hat meinen Charakter nicht verkannt.«
»So kennt dich die Menschheit von heute nur«, versetzte Lund.
»Also Kriege wüten wie ehemals auf dem Erdball? Können denn die Völker niemals zur Ruhe kommen? Gibt es noch immer Zankäpfel, die zum Appell an das Schwert auffordern?« fragte der greise Nebelkaiser weiter.
»Die Zankäpfel unserer Zeit bilden zumeist koloniale und wirtschaftliche Bestrebungen der Großmächte.«
»Ist der Erdball noch immer nicht unter den Völkerschaften aufgeteilt?«
»Dazu bedarf es wohl noch eines Jahrhunderts«, antwortete Lund und musterte seine Umgebung.
Eine Anzahl Nebelgestalten hatten sich in die Nähe gedrängt und lauschten der Unterhaltung. Es mußten aber nur unbedeutende Menschen gewesen sein, denn jede Nebelseele bewahrte vor Karl dem Großen einen hohen Respekt.
Lund wunderte sich hierüber, da er annahm, daß im Reiche der Abgeschiedenen alle Seelen einander gleichgestellt seien.
»Welche Staatsformen haben sich auf Erden bis heute erhalten?« fragte der Nebelkaiser interessiert weiter.
»Die monarchischen«, gab Lund zur Antwort. »Daneben sind aber auch republikanische Reiche ohne gefürstete Oberhäupter erstanden.«
»Ich fürchte, daß die Monarchien einst ganz von dem Erdboden verschwinden werden«, meinte hierzu Karl der Große und kraute sich wieder in seinem Barte.
Lund zuckte die Achseln. »Hm — — ob es der Menschheit zum Vorteil gereichen würde? Die heutigen republikanischen Verfassungen verheißen gerade nicht allzuviel für die Zukunft der Völker.«
»Wieso?«
»Beispiele lehren es uns.«
»So hältst du die Monarchien der Gegenwart für glückverheißender?«
»Wenn nicht allzu impulsiv veranlagte Fürsten das Land regieren oder gekrönte Häupter sich durch Schlappheit auszeichnen und dadurch zu Nullen unter ihren Ministern werden, wird eine Monarchie wohl immer die den Völkern zuträglichste Staatsform bleiben«, entgegnete Lund.
»Musterfürsten sind selten, mein alter Freund«, versetzte Karl der Große mit einigem Nachdruck in der Stimme.
»Gebar die Erde jemals Fürsten vom reinsten Seelenadel?« fragte Lund.
»Es genügt schon, wenn Fürsten von dem bloßen Willen beseelt sind, ihrem Volk ein guter Landesvater zu sein. Kaiser und Könige haben hohe und schwere Aufgaben zu erfüllen, man denke deshalb nicht zu streng über ihre Handlungsweisen. Das Geschick eines Volkes zu leiten, erfordert eine große Kraft. Fürsten stehen auf der Menschheit Höhen, und das Leben bringt ihnen täglich zum Bewußtsein, daß sie mit ihren Handlungen und ihrer Denkart vor einem ganzen Volke sich verantworten müssen, und daß die Nachwelt noch Jahrtausende hindurch ihre Taten kritisiert.«
Lund fand die Ansicht Karls des Großen in jeder Beziehung richtig und wollte eben zustimmend eine Erwiderung geben, als er plötzlich wieder leeren Raum um sich erblickte.
Die hohe Nebelgestalt Karls des Großen erfloß mit all den anderen um ihn in Nichts.
Er gewahrte sich mitten unter Sternen schwebend. Zu Häupten und zu Füßen, zur Rechten und zur Linken schimmerten die Gestirne in selten schöner Pracht. Ihr schwaches Licht erhellte nur matt den Raum — das Universum im Dämmerschein. Wie entzückte es Lunds Auge, wie seltsam berührte es den Mann, der sich von der Materie befreit fühlte!
Befand er sich noch in der Sphäre der Nebelseelen oder war er in eine andere Sphäre geraten?
Diese Frage erwog jetzt Lund im stillen.
Mitten im Denken fiel sein Blick auf eine Sternkonstellation. — — Er sah zu seinen Füßen die ihm bekannte Cassiopeja. Aber eigentümlich, sonst hatte er auf Erden dieses Sternbild stets nahe im Zenith erblickt und jetzt lag es im Nadir, unmittelbar unter ihm. Das gab ihm über seine Lage erneut zu denken. Er folgerte daraus den Schluß, daß er sich unterhalb des Erdballs im Universum befinde.
Nach diesem Fazit hätte nun die Erde über ihm schweben müssen. Aber er sah weder sein Heimatgestirn, noch Sonne und Mond. Bei seiner Ausschau im Weltall entdeckte er dann das Sternbild des großen Bären, welches er als Kind so oft betrachtet hatte. Auch diese Konstellation lag fast zu seinen Füßen. Nicht weit davon fand er dann auch den kleinen Bären und in dessen Nähe den Nordpolarstern der Erde. Über sich erblickte er die Sternbilder des irdischen Südhimmels, den Centaurus, das südliche Kreuz und dicht dabei jene sternleeren Stellen, welche man astronomisch die Kohlensäcke nennt.
Grabesstille rings umher. Das Schweigen des Todes, und doch war er in der Sphäre des ewigen Lebens — oder war dies nur die Übergangssphäre zur Welt der Nebelseelen? — —
Wieder sann Lund eine geraume Weile nach.
So floß eine Zeit dahin, über deren Länge sich Lund keine Rechenschaft zu geben vermochte. Die tiefe, feierliche Stille wurde für ihn fast beängstigend. Er hatte das Verlangen, das unheimliche Schweigen im Weltenraume durch seine Stimme zu unterbrechen. Deshalb und weil ihm nichts anderes in den Sinn kam, rief er laut Jensens Namen mehrere Male.
Lunds Rufe verhallten im leeren Raum ohne ein Echo zu erwecken. — —
Doch was war das? Vernahm er nicht soeben ein menschliches Flüstern in seiner Nähe?
»Herr Professor...« klang es ganz deutlich an seine Ohren.
Lund horchte auf. — — »Herr Professor...« tönte es ihm aus dem leeren Raume entgegen. — —
Keine Täuschung. Und der zu ihm sprach, mußte Jensen sein. Seine Stimme war es und keine andere.
Vergebens schaute sich der Alte nach dem Sprecher um, nichts sah er als der fernen Sterne funkelndes Licht.
»Herr Professor!« antwortete Jensen aus seinem Halbschlummer aufschreckend drunten im Hause am Kongens Nytorv.
»Jensen...« tönte es wieder im Flüstertone aus des im Trancezustand sich noch immer befindenden Alten Munde.
»Wie geht es Ihnen?« fragte Jensen mit einiger Besorgnis und erhob sich. Er fühlte nur noch wenig von den Beschwerden, die er vorher verspürt hatte, aber eine Trägheit im Gedankengange schien ihm verblieben zu sein.
Lund regte sich nicht, nur seine Lippen bewegten sich unmerklich, als wollte er reden.
Jensen erinnerte sich jetzt dessen, daß er den Pulsschlag und die Temperatur des Alten zu kontrollieren hatte. Schnell unterzog er sich dieser Aufgabe.
Als Resultat ergab sich eine Pulsfrequenz von 32 Schlägen pro Minute und ein Temperaturzustand von 25,4 Grad. Dieses Ergebnis war für Jensen nicht unmittelbar beängstigend.
»Herr Professor, sind Sie wieder bei Sinnen?« fragte er dann, sich über den Alten beugend und ihn aufmerksam musternd.
»Jensen... ich sehe... Sie nicht... Sie sind hier?« flüsterte Lund unerwartet.
»Ich bin bei Ihnen, Herr Professor — — gewiß«, antwortete Jensen und prüfte mit einem Seitenblick die Lage des Telepators.
»Erkennen Sie mich, Herr Professor?« fragte er dann von neuem.
»Eh — — lieber Jensen... wirklich — — aber ich sehe Sie nicht... schweben Sie auch hier herum?« kam es im Flüsterlaut von Lunds Lippen.
»Schweben? — — Wir sind ja im Zimmer, Herr Professor.«
»Wir sind im Raume... Jensen... im Raume draußen... sehen Sie dort über uns den Sirius...«, murmelte Lund ohne sich zu bewegen oder die Augen aufzuschlagen.
»Sie sind im Zimmer, Herr Lund... in Kopenhagen.«
»Nein — nein... wir sind beide draußen im Raume — — im Universum... sehen Sie nicht die Sterne über und unter uns?« versetzte Lund leisen Tones.
»Aber ich versichere Ihnen, daß wir hier im Zimmer auf dem Kongens Nytorv sind, Herr Professor«, antwortete Jensen mit lauter Stimme und erfaßte Lunds Hand.
»Jensen... Jensen, wo haben Sie denn Ihre Sinne?... Ich höre Sie dicht neben mir sprechen... ich schwebe hier draußen im unendlichen Raume, also Sie auch...«, klang es fast vorwurfsvoll von des Alten Lippen zurück.
Jensen sah jetzt ein, daß Lund in seinem Zustande nicht zu bekehren war, deshalb ließ er diesen im weiteren Gespräche bei dem Glauben, daß man gemeinschaftlich im Weltall schwebe.
»Sehen Sie mich, Herr Lund?« fragte Jensen.
»Nein... nur Ihre Stimme höre ich, Jensen...«
»Husch!...« tönte es leise aus Lunds Munde.
»Was ist?« fragte Jensen.
»Eine Sternschnuppe... just mir an der Nase vorbei... ei wie sah das prächtig aus.«
»Also im Weltenraume schweben wir. Ich sehe aber keine Sterne, Herr Lund.«
»Wo haben Sie Ihre Augen?... Das funkelt ja rings um uns herum... der weiße Streifen unter uns... die Milchstraße, Jensen.«
»Die Milchstraße...« replizierte Jensen im gedehnten Tone.
»Was denn sonst?«
»Sind wir in der Sphäre der Vierdimensionalen, Herr Professor?«
»Die habe ich eben wider Willen verlassen...« murmelte der Alte.
»Sie haben die Sphäre gefunden, Herr Lund?« fragte Jensen eifrig, hoffend schon jetzt einige interessante Aufschlüsse über des Alten Eindrücke in der Trance zu erhalten.
»Freilich... ich habe große Männer gesprochen... Darwin... Karl den Großen...«
»Aber, bester Herr Lund, diese sind doch schon lange tot!«
»Eben darum... Nebelseelen... ha! ha!« erwiderte mit einem versuchten schwachen Lachen der Alte, ohne sich sonst zu rühren.
»Nebelseelen? Komisch!« ließ sich Jensen kopfschüttelnd vernehmen.
»Nichts Komisches, Jensen... die Sphäre der Abgeschiedenen... die Seelen der Toten...«
Lund brachte die Antworten zwar zusammenhängend im Sinn, aber ruckweise mit kleinen Pausen heraus und stets flüsternden Tones.
»Und was wollen Sie nun weiter beginnen? Kehren Sie nicht bald wieder zur Erde zurück, Herr Lund?«
»O nein, ich hoffe wieder in die Nebelseelensphäre zu geraten... wie ich nur daraus verschlagen bin... merkwürdig — —«
Jensen gedachte in diesem Augenblicke des Telepators. Vielleicht war, weil Lund aus der Sphäre geraten, dessen Lage wieder nicht die rechte.
Während der Alte allerlei unverständliche Worte murmelte, unterzog Jensen die Radiumröhre einer näheren Besichtigung, soweit dies bei der Lage möglich war. Er fand jedoch alles in bester Ordnung.
»Jensen...« flüsterte Lund.
»Herr Professor!«
»Waren Sie auch bei den Vierdimensionalen...«
»Nein — —«
»Schade... ich muß wieder hin... ich will Moses und Diogenes... und Archimedes... und Cäsar und... Luther... Goethe... und Mohammed... Napoleon... Beethoven... Nero... alle muß ich sprechen... alle...«
»Und Ihre Eltern doch auch, Herr Lund — — Natürlich, die werden sich freuen.«
»Richtig... meine guten Eltern — — meine — — El — — tern — —« Lund brachte die letzten Worte in kaum noch verständlichem Tone heraus. Dann wurde er still.
»Herr Professor!« rief Jensen nach einer kleinen Weile.
Lund gab keine Antwort, auch auf wiederholten Anruf nicht.
Jensen griff jetzt hastig nach des Alten Puls. Vielleicht war Lund eben etwas zugestoßen. Doch bald überzeugte sich der junge Mann, daß der Pulsschlag noch der gleiche wie vorher war, das beruhigte ihn wieder.
Da Lund auch nach geraumer Weile auf keine Frage Antwort gab, so wendete sich Jensen von ihm ab und begab sich an das Fenster.
Es war inzwischen Abend geworden, und der Mond warf sein Silberlicht ins Zimmer herein, des schlummernden Alten Gestalt beleuchtend.
Jensen erwog, ob er eine Lampe anzünden sollte. Konnte diese wohl das Experiment stören?
Nach kurzem Überlegen stand er von seinem Vorhaben ab, und da er Hunger verspürte, so begab er sich ins Nebengemach, um etwas zu sich zu nehmen.
Um Lund verbreitete sich nun eine Totenstille, während die Mondstrahlen sein Gesicht umspielten, und vom Fenster her ein schwacher Lufthauch über ihn hinstrich.
Der Sterne Schimmer verblich im Raume, die Sphäre der vierten Dimension, das Geisterreich, öffnete erneut seine Pforten für Lund.
Ein Durcheinanderwogen von Nebelgestalten, wohin sein Blick fiel. Plötzlich tauchte unerwartet Lingstein an seiner Seite auf.
»Ich verlor dich, Erdenbruder«, sagte dieser zu ihm.
»Ich geriet aus deiner Sphäre ohne mein Zutun«, versetzte Lund. »Willst du mich weiterführen?«
»Gern... komm! — — Siehst du dort die drei Gestalten beieinander stehen?«
Lund bejahte.
»Es sind Dichterfürsten der Erde — — Shakespeare...«
»Shakespeare...« wiederholte Lund erfreut und strengte seine Augen an, um diesen Geistesgewaltigen zu erkennen.
»Und Voltaire und Goethe... sie werden dir ja bekannt sein.«
Lund bejahte wieder. Er war entzückt, zu diesen Männern herantreten zu dürfen.
Lingstein schritt voraus und verständigte die drei Nebelgestalten von der Ankunft des Körperlichen.
»Die Erde schickt ihre Menschen bis in diese Sphäre hinauf. — — Seltsam!« ließ sich eine der drei Gestalten beim Nahen Lunds vernehmen.
»Welche Vermessenheit!« hörte man eine zweite Stimme sprechen.
»Die göttliche Allmacht wird das Menschlein wieder auf seine Erdscholle zurückschleudern«, erklang die Stimme der dritten Nebelseele.
»Gott zum Gruß!« sagte Lund beim Nähertreten. »Erschreckt nicht vor einem simplen Erdenbürger, der sich in eure Mitte gewagt hat. Laßt mich ein Weilchen mit euch plaudern.«
Der Professor ließ darauf seine Blicke von dem einen zum andern gleiten. Links von ihm stand Goethe — kein Zweifel. Der zweite mußte Voltaire sein, aber der dritte war ihm gänzlich fremd von Gesicht. Shakespeare hatte doch anders ausgesehen. Der englische Dichterfürst, der geniale König aller irdischen Dramatiker, der hier vor ihm stehen sollte, entbehrte der Züge und des Spitzbartes, die ihn auf allen Bildern gekennzeichnet hatten.
Shakespeare fühlte den erstaunten Blick Lunds auf sich insbesondere ruhen.
»Ich bin dir fremd, lieber Freund«, sagte der Dichter. »Du sahst auf Erden mein wahres Bildnis nie.«
»Ein Shakespeare sah doch anders aus«, versetzte Lund. »Oder bist du nicht Englands größter Geist?«
»Doch, doch!« gab die Nebelseele zur Antwort. »Im Leben aber nannte ich mich einstmals anders.«
»Anders?« fragte Lund noch erstaunter als vorher.
»William Shalespeare hat nie gelebt als solcher.«
»Wie soll ich das verstehen?« sagte verblüfft Lund.
»Der Name war nur der Deckmantel für einen Mann, der staatsgefährliche Dramen schrieb. — Hörtest du niemals von Francis Bacon?«
»Bacon — —« replizierte Lund nachdenklich. »Dunkel erinnere ich mich dessen, daß dieser Name mit Shakespeare schon einmal in einem Atem genannt worden ist.«
»In einem Atem...«
»Ganz recht, es tauchte unlängst die Behauptung auf, daß jener Bacon der Verfasser der Shakespeareschen Dramen sei... dessen erinnere ich mich jetzt wieder«, antwortete Lund.
»Jener Bacon bin ich«, ließ sich nun die Nebelseele vernehmen.
Lund starrte den Sprecher an.
»Ich durfte weder unter Königin Elisabeth noch unter der Regierung Jakobs des Ersten mich als den Dichter meiner Dramen nennen — — es hätte mir ohne Zweifel den Kopf gekostet«, sagte die Nebelseele.
Goethe und Voltaire nickten ihm beistimmend zu.
»Ich stieg zu den höchsten Würden an zu meinen Lebzeiten, wurde Großkanzler, Mitglied des geheimen Rats, Siegelbewahrer und Viscount«, fuhr Bacon fort. »Dann folgte ein jäher Sturz für mich, ich verlor alle meine Ämter. Hätte man zu dieser Zeit gar noch von meinen Dichtungen Kenntnis erhalten, so wäre es um mein Leben geschehen gewesen. Vor der Öffentlichkeit verfocht ich eine von mir begründete neue Erfahrungswissenschaft. Meine Einteilung der Wissenschaften gründete sich auf die Seelenkräfte und ich tat recht damit. Wie dem Gedächtnis die Geschichte entspricht, so die Einbildungskraft der Poesie und der Verstand der Philosophie.«
»Sehr interessant...« murmelte Lund halblaut vor sich hin. »Doch, um auf deine genialen Dichtungen zu sprechen zu kommen, möchte ich bemerken, daß dich im Leben bis heute noch niemand erreicht hat. Es sei denn der große Goethe hier, der mit seinem Faust der Menschheit ein kostbar Dichtwerk hinterlassen.«
Der Weimaraner Poet quittierte diese Anerkennung seitens Lund mit einem verbindlichen Lächeln. Dann mischte auch er sich in das Zwiegespräch.
»Die Welt drunten hat mich also auch nicht vergessen?« hörte man Goethe sprechen.
»Dein Ruhm, großer Goethe, wächst, je mehr Durchschnittspoeten mit ihren dichterischen Nachwerken die Welt überschwemmen — — dir kam nur ein Schiller gleich. Man kann an dich nur denken, wenn man auch Schiller mit dir in einem Atem nennt«, versetzte Lund zu Goethe gewendet.
»Also mein Faust imponiert euch am meisten? Hm — —«, ließ sich der Weimaraner Dichterfürst wieder vernehmen.
»Zweifellos«, erwiderte Lund. »Dein wissensdurstiger Titan Faust ist großartig gezeichnet. Es ist dir wunderbar gelungen, in ihm den Repräsentanten menschlichen Strebens nach Gleichheit mit Gott im Genießen und Erkennen darzustellen und zu zeigen, daß er, auch nachdem er die Tiefen der Wissenschaft völlig durchdrungen hatte, trotzdem nicht imstande war, das Daseinsrätsel zu lösen. — — Herrlich! großer Goethe, ist dein Werk. Doch eins: für dich wäre ich eine neue Figur zu einem Faust. Auch ich vermaß mich das Daseinsrätsel zu lösen und kam damit weiter als dein Held. Ich versuchte in der Trance zu finden, was in der nackten Wirklichkeit des täglichen Lebens meinem Forscherdrang verborgen blieb.«
Goethe lächelte. »Du tatest nur einen Schritt weiter, lieber Freund, und vermagst noch lange nicht das Daseinsrätsel zu lösen und die Gottheit in ihrer Allmacht zu erkennen«, versetzte er dann.
»Ich habe den Horizont des Anschauungs- und Fassungsvermögens des Menschen zu erweitern verstanden und werde so noch manches zu erforschen vermögen«, sagte Lund.
»Sterbliches Menschlein!« versetzte Goethe mit dem Finger drohend. »Auch dir sind Grenzen gesteckt.«
»Mag sein. Ich gehe aber andere Wege als dein Faust.«
»Du bist und bleibst ihm wesensgleich, mein lieber Freund.«
»Ich fand den Weg in eure Sphäre und werde auch noch mehr vermögen und erreichen«, erwiderte Lund.
»Wenn nur dein Lebensschifflein in der Außenwelt nicht scheitert«, warf jetzt Voltaire dazwischen, welcher bisher dem Gespräch nur zugehört hatte.
»Meine Sterblichkeit ist noch nicht mein größter Kummer«, erwiderte Lund.
»Dein Wissensdurst wird vor deinem Tode nicht befriedigt werden«, sprach Voltaire weiter.
»Erst wenn du einer der unseren bist, wirst du die großen Naturgeheimnisse zu erkennen vermögen. — — Doch sage mir, wie hat die Welt auf Erden unten mich im Angedenken?«
»Du bist auch einer der Unvergessenen«, gab Lund zur Antwort. »Ich kenne deine Werke zwar nur zum wenigsten, doch viele andere wissen sie zu schätzen. Dein Einfluß auf dein Zeitalter war nicht ohne tiefgreifende Folgen geblieben, warst du doch, soviel mir bekannt, der größte Führer im damaligen Kampfe für die Aufklärung der Menschheit.«
»Ich suchte einst meine Ideen des Unsterblichkeitsglaubens durch meine Schriften unter den Mitmenschen zu verbreiten, versuchte den Entwicklungskampf darzustellen, den der Mensch durchgemacht, um zur Bildung zu gelangen und trat polemisch gegen den Kirchenglauben auf. Ich nahm die Märtyrer der Glaubens- und Denkfreiheit und die Opfer des Absolutismus in Schutz, aber was erreichte ich — wenig oder gar nichts. Die Welt blieb doch dieselbe.«
»Es ist wahr«, versetzte Lund nachdenklich. »Man strebt und forscht und kämpft zumeist vergebens. — Bescheide dich damit, daß die Menschheit dich wenigstens nicht vergessen hat. Man hält dich in deinem Vaterland noch hoch in Ehren. Und dein Herz wird pietätvoll in der Staatsbibliothek zu Paris der Nachwelt aufbewahrt bleiben. Es fiel nicht der Verwesung zum Opfer... einbalsamiert — —«
Der Dialog zwischen Lund und den drei Dichterfürsten erfuhr plötzlich eine Störung.
Goethe, Shakespeare und Voltaire verblichen in ihrer Gestalt vor den leiblichen Augen Lunds und glitten wie Nebelstreifen davon. Dann vernahm er undeutliche Stimmen, Stimmen, die ihm zum Teil gut bekannt waren...
Im Hause am Kongens Nytorv, wo Lund sich der Daseinswelt entrückt hatte, schellte es zu später Abendstunde heftig. Jensen hatte wieder geschlummert und wurde nun plötzlich unliebsam aufgeschreckt.
» T e u f e l ! « brummte er vor sich hin und lugte durch das Fenster, um zu sehen, wer Einlaß begehre.
»Wer ist unten?« fragte er mit gedämpfter Stimme in den Vorgarten hinab.
»Wir suchen den Professor Lund!« tönte eine weibliche Stimme zu Jensen herauf.
»Was wünschen Sie von ihm?« erwiderte Jensen und vermochte bei der herrschenden Dunkelheit die Sprecherin, welche in Begleitung noch zweier Personen zu sein schien, nicht zu erkennen.
»Machen Sie doch bitte die Tür auf! Wir müssen Herrn Lund sprechen!«
»Bedaure! habe strengste Anweisung niemand, wer es auch sei, hereinzulassen«, gab Jensen zur Antwort und wollte das Fenster wieder schließen.
»Um Gotteswillen! öffnen Sie, bitte! Herrn Lund muß etwas zugestoßen sein — — ich ahne es... machen Sie doch auf!« hörte man jetzt eine zweite weibliche Stimme rufen, und der Ton klang so flehend und angstvoll, daß Jensen sich bewogen fühlte, der Sprecherin eine beruhigende Antwort in bezug auf das Befinden Lunds zu geben.
»Ich bin seine Pflegetochter...« klang es darauf an Jensens Ohren.
»Ich darf aber...«
Jensen wurde in seiner Antwort unterbrochen.
»Mein Vater ist krank... ja, ja, er ist krank, und Sie verweigern mir es, ihn zu sehen... öffnen Sie doch bitte — bitte!«
Jensen fing an zu schwanken. Sollte er jemand hereinlassen? Das konnte das ganze Experiment verderben. Nein, es ging nicht an.
»Herr Professor schläft jetzt und hat mir die strengste Order gegeben, daß er von niemand gestört wird, und ich darf keinesfalls seinem Willen zuwiderhandeln.«
»Es ist gleich!« tönte es darauf an Jensens Ohren, und der die Worte gerufen, mußte ein Mann sein.
»Kommen Sie morgen früh einmal wieder«, versetzte Jensen.
»Machen Sie keine weiteren Schwierigkeiten! Sonst nehmen wir die Hilfe der Polizei in Anspruch. Wecken Sie sofort Herrn Lund!« rief die männliche Stimme in bestimmtem Tone wieder.
Jetzt wurde Jensen ganz unschlüssig.
»Schnell! Wir warten nicht lange!« klang es in kategorischem Tone herauf.
»Ich bin bereit zu öffnen, wenn Sie mir vorher zusagen, mich mit Ihnen unten an der Tür erst aussprechen zu dürfen, bevor Sie weiterhin darauf bestehen, Herrn Lund zu sehen«, gab Jensen zur Antwort.
»Ja, ja... klären Sie uns nur auf. Kommen Sie!«
Jensen verschloß das Fenster und begab sich ins Nebenzimmer, um vorher noch einmal nach Lund zu sehen.
Der Professor lag noch immer regungslos in seinem Sessel. Während dann Jensen die Treppe zum Flur hinabstieg, verspürte er, daß er einen regen Appetit bekommen hatte, auch der Durst machte seine Rechte geltend.
Unten an der geöffneten Tür traten ihm nun hastig die drei Einlaßbegehrenden entgegen. Es waren Frau Christiansen, Ingrid und Professor Holm.
»Wo ist Lund — — warum ist er seit fünf Tagen verschwunden?« rief Holm Jensen zu.
»— — seit fünf Tagen?« versetzte Jensen erstaunt.
»Jawohl, fünf Tage schon ist er von Hause abwesend!« erwiderte in sich fast überstürzender Rede Frau Christiansen und eilte als erste in den Hausflur. »Endlich ist es gelungen, seinen Aufenthalt hier ausfindig zu machen... warum verbirgt er sich vor uns?«
»O! es muß ihm etwas widerfahren sein!« jammerte Ingrid.
»Zunächst bleiben Sie hier«, gab Jensen zur Antwort und vertrat den Frauen den Aufgang zur Treppe.
»Aber wie können Sie...«, rief Frau Christiansen erregt.
»Herr Lund ist weder krank, noch ist ihm sonst etwas passiert, was Ihre Angst und Sorge um ihn rechtfertigt«, versetzte Jensen.
»Ja, was ist denn sonst los... irgend etwas Heimliches ist hier zu verbergen!« rief Holm aus.
»Lassen Sie mich, bitte, doch zu Worte kommen. Die Situation wird sich für Sie schnell aufgeklärt haben, wenn Sie mir einige Augenblicke Gehör schenken«, sagte Jensen.
»Also — —«, versetzte Holm hastig.
»Herr Lund hat sich hierher zurückgezogen, um ein Experiment an sich auszuproben.«
»Ein Experiment?« klang es Jensen aus dem Munde der drei entgegen.
»Ganz recht... ein Experiment, und ein hochwichtiges noch dazu. Er darf dabei keinesfalls früher gestört werden, als festgesetzt. Ich habe von ihm strengsten Befehl erhalten, niemand zu ihm vorzulassen, wer es auch sei.«
»Aber wir dürfen doch...« riefen die beiden Frauen.
»Auch Sie nicht, meine Damen... nein, nein, es geht wirklich nicht«, gab Jensen in bestimmtem Tone zur Erwiderung.
»Wenn dies alles nur so stimmt, wie Sie uns hier angeben — —« sagte Holm, und seine Worte verrieten, daß er Jensens Erklärung nicht für bare Münze hingenommen hatte.
»Wie — Sie zweifeln? — Ich habe Ihnen die volle Wahrheit gesagt«, erwiderte Jensen.
»Je nun...«, meinte hierzu Holm achselzuckend.
»So wollen Sie uns nicht zu ihm vorlassen?« rief Frau Christiansen.
»Nein!«
»Mit welchem Recht verweigern Sie uns den Zutritt? Uns, die wir zur Familie gehören!«
»Herr Lund hat bestimmt...«
»Die Sache geht hier keinesfalls mit rechten Dingen zu. — Wer sind Sie eigentlich?« fragte Holm jetzt.
»Mein Name ist Jensen... und der Ihrige, mein Herr?«
»Professor Holm...«
Jensen erkannte jetzt im Halbdunkel des Flures den Sprecher. »Ich bedaure ungemein, Sie trotzdem nicht vorlassen zu können.«
»Na! das wollen wir einmal sehen!« sagte Holm.
»Es ist ihm etwas passiert... sicher!« rief Ingrid.
»Herr Lund schläft jetzt und will keinesfalls gestört sein. Ich versichere Ihnen noch einmal, er ist nicht krank«, gab Jensen zur Erwiderung.
»Schön... was für ein Experiment erprobt er an sich?« fragte jetzt Holm.
»Ein psychologisches.«
»Ein psychologisches...« replizierte Holm und wechselte mit den Frauen einige Blicke. »Hm — dachte ich mir's doch — —«
»Das Experiment ist so wichtig, daß eine Störung ungemein zum Schaden gereichen könnte. Herr Lund hat sich hypnotisiert! So, nun wissen Sie es«, sagte Jensen.
»Ah! dachte ich es mir doch...« ließ sich Holm wieder vernehmen. »Deswegen also... hm... hm — —«
»Was?« fragten die beiden Frauen wie aus einem Munde.
»Er hat den Versuch also doch gewagt — — aber es ist zu gefährlich, als daß wir Sie bei ihm allein lassen können«, meinte Holm.
»Glauben Sie das wirklich?« versetzte Jensen und wurde bedenklich.
»Ich sage Ihnen, daß ich die Art des Experimentes genau kenne und weiß, wie gefährlich es dem alten Manne werden kann. Er kann den Verstand verlieren...«
Die Frauen schrien bei dieser Schlußfolgerung Holms vor Entsetzen laut auf.
»Dann freilich...« antwortete Jensen hastig. »Kommen Sie mit.«
Schnell eilten die vier die Treppe hinauf und betraten das Gemach, in welchem Lund lag.
»Pst!«, machte Jensen und vertrat den Frauen, welche zu Lund herantreten wollten, den Weg.
»Wie lange liegt er in diesem Zustand?« fragte Holm und musterte den Alten, der noch immer regungslos in seinem Sessel lag und keine Sinneseindrücke von der Außenwelt zu empfangen schien.
»Wie lange? — —«
Jensen wußte hierauf nicht sogleich eine bestimmte Antwort zu geben. »Ich glaube zehn bis zwölf Stunden... wie spät ist es?«
Bei den letzteren Worten sah er auf die Uhr.
»Elf.«
»Seit Donnerstag ist Herr Lund abwesend«, versetzte Holm. »Und heute ist Montag...«
»Montag — —« sagte Jensen in verwundertem Tone. »Sie irren sich... Sonnabend.«
»Montag!« riefen die Frauen ihm hastig zu.
»Montag, lieber Freund! Fünf Tage sind's«, flüsterte Holm. »Pst!«
»Sprechen wir leise«, bat Jensen.
Die beiden Frauen hatten sich inzwischen an Lund herangeschlichen und sahen ihm jetzt ins Gesicht. Dann entrang sich ihren Lippen ein leichter Schrei.
»Um Gotteswillen! wie sieht er aus! Bleich wie... tot — — Herr Professor!« rief Ingrid und erfaßte Holms Hand, ihn näher heranziehend.
Holm betrachtete den Schlafenden und war auch über sein Aussehen erschrocken. Schnell neigte er sein Ohr an den Mund Lunds und lauschte auf dessen Atemzüge. Dann ergriff er die schlaff herabhängende Rechte des Alten. »Er atmet ja kaum noch.«
»Mir ist so himmelangst«, flüsterte Ingrid und schmiegte sich an Frau Christiansen, welche keines Wortes mächtig, abgewendet dastand.
»Messen wir schnell einmal Puls und Temperatur...«, sagte Jensen und ergriff Lunds Hand, um die Pulsschläge zu zählen.
»Er begeht ein Verbrechen an sich selbst«, mumelte Holm.
»Einunddreißig Schläge«, sagte Jensen und griff zum Thermometer.
»Nur?... Das ist ja höchst bedenklich!« rief halblaut Holm.
»Herr Professor, retten Sie ihn... schnell. Er wird uns sonst noch sterben«, flehte Ingrid unterstützt von einer bittenden Gebärde der Frau Christiansen.
»Die Temperatur?« flüsterte Holm Jensen zu. »Schnell!«
»Neunundzwanzig... nein, das Quecksilber sinkt noch weiter. — — siebenundzwanzig... sechsund... fünfundzwanzig Grad. Bloß fünfundzwanzig...« Jensen wurde jetzt selbst sehr bedenklich.
»Wir werden einen Arzt holen lassen«, sagte Ingrid. »Frau Christiansen, gehen Sie schnell! einen Arzt!«
»Warten Sie noch einen Augenblick«, versetzte Jensen. »Hören Sie mich zunächst an. — Herr Lund liegt in einem Trancezustand, aus dem wir ihn selbst zu erwecken vermögen. Sehen Sie hier dieses Instrument, diese Röhre? Es ist der Radiumtelepator, wir brauchen denselben nur von seinem Kopfe zu entfernen und er wird bald von selbst wieder zu sich kommen.«
»Glauben Sie?« fragte Holm und musterte die Röhre, welche soeben von Jensen entfernt wurde.
»Herr Lund hat mir die nötigen Anweisungen gegeben, nach denen ich verfahren soll, wenn ich ihn aus der Trance befreien will... hoffentlich macht sich kein Arzt nötig.«
»Gut, wir wollen uns noch etwas gedulden«, sagte Holm und erfaßte Lunds Hand.
»Herr Professor!« rief jetzt Frau Christiansen Lund ins Ohr. Der Alte rührte sich jedoch nicht.
Nach einer kleinen Weile rief Jensen Lunds Namen. Aber wieder war dies erfolglos.
Holm konnte ohne Zuhilfenahme des Thermometers eine Erhöhung der Körperwärme durch bloßes Erfassen der Hand Lunds nicht feststellen.
»Vielleicht läßt sich durch die Frequenz des Pulses ermitteln, ob die Lebensfunktionen sich bei ihm allmählich wieder einstellen«, meinte Jensen und ergriff die andere Hand Lunds.
Angstvoll standen die beiden Frauen da und harrten des Augenblickes, wo sich bei dem Alten Lebenszeichen bemerkbar machten.
»Dreiunddreißig Schläge zählte ich eben«, sagte Jensen und legte die Taschenuhr auf den Tisch.
»Herr Professor«, rief jetzt Holm Lund wieder zu.
Des Alten Lippen regten sich wie zum Sprechen.
»Haben Sie es bemerkt? Er will sprechen und kann nicht«, sagte Holm hastig.
»Er hat schon wiederholt in der Trance gesprochen mit mir.«
»Wirklich?«
»Wir haben uns einmal förmlich unterhalten.«
»Was Sie sagen...«
»Er führte aber seltsame Reden... sah sich mit mir im leeren Raume schweben und...«
»Sehen Sie, sein Geist hat sich sicher verwirrt... o!« rief Frau Christiansen aus.
»Armer Vater — —« fügte Ingrid hinzu und strich den Alten liebevoll über das Haar. »Aber, was ist das hier? — — Er hat eine völlig kahle Stelle auf dem Kopfe.«
»Das ist ohne Bedeutung«, erwiderte Jensen. »Beruhigen Sie sich. Die Tonsur war nötig, um die Radiumwirkung der Röhre zu erhöhen.«
»Jen — — sen — —« kam es jetzt flüsternd über Lunds Lippen.
»Pst! er spricht«, sagte Holm und atmete auf.
»Herr Professor«, gab Jensen schnell zur Antwort.
»Jen — — sen — —« hörte man den Alten wieder sagen, ohne daß er sich sonst rührte.
»Ich bin bei Ihnen, jawohl, Herr Professor«, versetzte Jensen.
Alle Augen hingen in diesem Moment an Lunds Lippen.
»Mich friert... hu! — — Jensen —« klang es abermals aus des Alten Munde.
»Was kann ich tun für Sie? — Sind Sie wieder bei Bewußtsein, Herr Professor?« fragte Jensen und beugte sich dicht über den Angeredeten.
Einige Sekunden herrschte tiefes Schweigen.
»— — der kalte Raum — — die absolute — — Temperatur — — gren — — ze« flüsterte in abgebrochener Rede Lund mit einer Stimme, die völlig farblos war.
»Es ist aber nicht kalt hier, Herr Professor«, sagte Jensen und prüfte schnell den Thermometerstand.
»O! — — der absolute — Nullpunkt der — — absolute — —« tönte es an Jensens Ohren.
»Wo befinden Sie sich, Herr Professor?« fragte jetzt Holm.
Lund gab hierauf nicht sogleich Antwort, weshalb Holm seine Frage wiederholte.
»— — wer spricht — — da mit — — mir?« flüsterte wieder der Alte.
»Holm...«
»Wie kommen Sie — — in diese Sphäre — — Holm...« gab Lund zur Erwiderung und bewegte den einen Arm.
»Gott sei Dank! endlich regt er sich einmal!« rief Holm.
Die Frauen atmeten tief auf.
»Wo glauben Sie zu sein, lieber Kollege?« fragte Holm den Alten weiter.
»A—ber... Holm — — im Weltall... das Universum... sehen Sie denn nicht — — die Sterne um uns? — — Sirius — — hm! Hundekälte... mich friert — — schauder...«
Das letzte Wort verschluckte Lund, dann schwieg er.
»Er wähnt sich im Weltall«, sagte Holm mit einem Blick zu Jensen.
»Aus dieser Sphäre sprach er schon einmal zu mir«, gab dieser zur Antwort.
»Seltsam...« murmelte Holm. »Aber seine Temperatur will nicht recht steigen. Was tun wir nur?«
»Ich laufe zu einem Arzt!« rief Ingrid und wendete sich zur Tür.
»Noch einen Augenblick — — es ist nicht so ängstlich mehr«, meinte Jensen und hielt das junge Mädchen am Arm zurück. »Die Temperatur und die Pulsschläge haben ja bereits etwas zugenommen. Ich hoffe, es geht ohne einen Doktor... was könnte der auch dabei viel tun.«
»Jen—sen — —« flüsterte eben Lund wieder.
»Hier, Herr Lund, hier bin ich«, antwortete eilig der Gerufene und trat zu Lund heran.
»Ich — höre immer nur — — Ihre Stim—me... wo sind Sie nur?«
»Bei Ihnen... ganz nahe bei Ihnen, Herr Professor. Ich halte Sie ja an der Hand.«
»Komisch — — ich merke — nichts — nichts, rein gar nichts, Sie spaßen...«
»Wir sind nicht im Weltall, sondern hier in Ihrem Zimmer«, sagte Jensen.
»— — Holm — —«
»Auch hier.«
»Husch!... sehen Sie — — nicht — — die Sternschnuppe — husch! noch eine — — hinterher — —«
Holm schüttelte nachdenklich und besorgt den Kopf, während die beiden Frauen angstvoll dastanden und nicht zu sprechen wagten.
»Herr Professor!« rief Jensen, dem Alten wieder zu.
Es erfolgte keine Antwort hierauf.
»Fühlen Sie nicht den Druck meiner Hand, Herr Lund?« fragte Holm.
Der Gefragte gab keine Antwort, regte sich aber mehr als vorher.
»Sein Puls schlägt kräftiger — — ich spüre es deutlich«, konstatierte jetzt Jensen plötzlich.
»Ich glaube, auch der Thermometer steigt in seiner Hand«, meinte Holm und betrachtete das Instrument beim darauffallenden Mondlicht.
»Ich werde eine Lampe anzünden«, rief Ingrid und eilte auf ein Gesims zu, auf dem sich eine Tischlampe befand.
Lunds Brust hob und senkte sich jetzt, er atmete merkbar.
»Gott sei Dank! er scheint zu sich zu kommen!« rief Frau Christiansen. »Aber wie der arme Herr aussieht. Totenblaß, und die Nerven im Gesicht zucken ihm... sehen Sie doch nur.«
»Hm...« machte Holm.
»Ein Glas Wasser... wo ist Wasser?« fragte Frau Christiansen und sah sich im Zimmer um.
»Dort in der Flasche... gießen Sie ein Glas voll und setzen Sie etwas Wein aus der Karaffe hinzu«, sagte Jensen.
»Das Experiment wird ihm sicher geschadet haben. Meinen Sie nicht auch, Herr Professor?« fragte geängstigt Ingrid.
»Ich kenne die Wirkungen des Radiums auf den menschlichen Körper zu wenig, um die Folgen ermessen zu können«, antwortete Holm achselzuckend.
Während man noch hin und her beriet, was zu tun sei, um den Trancezustand ganz aufzuheben, schlug Lund unerwartet die Augen auf und versuchte sich aufzurichten.
»Herr Professor!« riefen Jensen und Frau Christiansen gleichzeitig.
»Was ist? — — Wer ist hier?« sagte Lund und rieb sich die Stirn, wie um seine Gedanken zu sammeln.
»Gottlob! wir haben ihn munter bekommen«, murmelte Holm und griff nach dem gefüllten Wasserglas, es Lund reichend. Hier, lieber Lund, trinken Sie mal. Es wird Ihnen gut tun.«
Mechanisch nahm der Alte das Glas in die Hand und trank.
»Wie fühlst du dich, Väterchen?« sagte Ingrid um umschlang den Hals Lunds.
»Du bist hier — — wie kommt ihr alle hierher?« versetzte der Professor verwundert.
»Erinnern Sie sich nicht, was voraufgegangen ist?« fragte Jensen.
Wieder rieb sich Lund die Stirn. Er verspürte Kopfweh. Dann fand er sein Gedächtnis allmählich wieder.
»Kuckuck! noch mal, was habe ich nur geträumt — — habe ich überhaupt geträumt... nein — —«, meinte Lund.
»Das Experiment, Herr Professor. Erinnern Sie sich nicht mehr daran?« erwiderte Jensen.
»Richtig — — das Experiment.«
»Möchtest du nicht aufstehen oder fühlst du dich schwach?« fragte Ingrid, noch immer stark besorgt.
»Warum wecktet ihr mich? — — Jensen! — — Sie sollten doch niemand...«
»Entschuldigen, Herr Professor, aber — —«
»Wir haben darauf gedrungen, daß Sie der Trance entrissen wurden, lieber Kollege. Die Sache schien uns doch recht bedenklich«, ließ sich jetzt Holm vernehmen.
»Sie sind nun schon fünf Tage vom Hause abwesend... fünf Tage, Herr Professor!« sagte Frau Christiansen und füllte das von Lund geleerte Glas wieder voll.
»Fünf Tage... so hätte ich zwei Tage in der Trance verbracht? Wie spät haben wir? — — Es ist Nacht, nicht wahr?«
Jensen bejahte. »Es ist gleich Mitternacht.«
»Ich habe mein Ziel erreicht«, sagte halblaut Lund und kramte in seiner Erinnerung nach.
»Welches Ziel, lieber Lund?« fragte Holm.
»Welches? — — Ich habe die vierte Dimension gefunden, war in anderen Sphären, habe die Geister der Abgeschiedenen gesehen und gesprochen.«
Die Umstehenden wechselten Blicke miteinander, die verrieten, daß man am Verstande des Alten etwas zweifelte.
»Väterchen, bist du denn ganz wach oder träumst du noch?« fragte aufs neue geängstigt Ingrid.
»Kinder, fragt nicht soviel Unnützes. — Ich bin frisch und munter wie ihr. — — Wunderbares habe ich geistig geschaut. Goethe, Shakespeare, Darwin, Karl den Großen — — ich habe sie alle gesehen und gesprochen.«
»Herr Professor, Ihnen ist anscheinend doch nicht recht wohl?« meinte Holm und sah Lund scharf ins Auge, um den Zustand des Alten zu prüfen.
»Haltet mich nicht für geistesgestört, ich denke und fühle so normal wie ihr«, versetzte Lund und schritt zum halbgeöffneten Fenster hin.
»Aber — —« sagte Ingrid.
»Ich habe mit der Trance mein Ziel erreicht — — schade, daß man mich so früh schon erweckt hat. Ich wollte Moses und Ramses, Archimedes und noch viele andere sprechen — — und meine lieben Eltern — — oh!«
Alle schüttelten wieder, besorgt um des Alten Verstand, die Köpfe.
»Väterchen, du solltest nun die Nachtruhe aufsuchen und ausschlafen«, meinte Ingrid und ergriff Lunds Hand.
»Schlafen? — — Ich habe etwas Kopfweh. Ja, mein Kind, ich werde zur Ruhe gehen. Aber ihr auch. Sorgt euch nur nicht um mich. Morgen erzähle ich euch weiter und werde euch alle überzeugen, daß mir das Experiment gut bekommen ist.«
Der Alte begab sich nunmehr ins Nebenzimmer, um auf einem Divan den Rest der Nacht zu verbringen.
Jensen wurde eingeschärft, zu wachen, damit Lund nichts zustoße. Dann verließen die beiden Frauen mit Holm das Haus und versprachen am folgenden Morgen zurückzukommen.
Bald lag tiefe Stille wieder über dem Hause, und als die Uhr die erste Stunde nach Mitternacht verkündete, war auch Jensen erneut in Morpheus' Arme gesunken und hörte und sah nichts, was um ihn herum vorging.
Lund hatte sich inzwischen in das Zimmer hereingeschlichen und traf abermals Vorbereitungen, das Experiment an sich fortzusetzen. Im Sessel zurückgelehnt, schob er die Radiumtarnkappe wieder über den Hinterkopf, sorgfältig darauf bedacht, daß die Tonsur richtig bedeckt wurde. Dann versetzte er sich erneut durch Hypnose in den Trancezustand.
Die Reise des Irdischen in die Sphäre der vierten Dimension fand damit ihre Fortsetzung.
Vom bleichen Scheine des Mondlichtes umgossen, zauberte Lund abermals die Nebelgeister vor seine irritierten Sinne, und als die Hähne der Nachbarschaft ihren ersten Morgengruß krähten, stand ein Körperlicher wieder vor den Seelen der Verblichenen.
In der Ewigkeit sind tausend Jahre wie eine Sekunde, und im unendlichen Universum Milliarden Meilen wie ein Millimeter, gleichwie im Mikrokosmos Atome große Felsblöcke und im Weltall Sonnen nur Sandkörner sind.
So auch empfand Lund, als er sich abermals in die Sphäre der vierten Dimension versetzt sah und sich im Raum unter den Nebelgestalten fortbewegte. Ein Fortbewegen im Raum ohne Boden unter den Füßen war doch eigentlich etwas recht Eigentümliches. Lund verspürte, daß er weder Schritte noch sonstige Gliederbewegungen zu machen hatte, wenn er nach irgend einer Richtung hin zustrebte. Es war ein fast unbewußtes Fortgleiten in der unendlichen Sphäre der vierten Dimension. Er fühlte sich wie eine Schwalbe im Äther schwebend, frei von der Materie, im Bewußtsein dessen, daß er als Körperlicher im Nebeldunst umhervagabundierte.
Sein Auge durchforschte den Raum um ihn herum. Bald hier, bald dort sah er in der Ferne die nebelhaften Bewohner der Geistersphäre schweben.
Seltsam! — Mit einem Male nahm niemand mehr von ihm Notiz. Auch selbst die Gestalten nicht, welche unmittelbar an ihm vorüberglitten. Sonst war er doch immer sofort bemerkt worden, und die Nebelseelen hatten den irdischen Eindringling angehalten.
Als wieder einmal eine Gestalt an ihm vorbeischweben wollte, redete er sie an.
»Guter Freund, warum nimmst du von mir keine Notiz?« rief Lund und war erstaunt, daß seine Stimme jetzt eine so eigentümliche Klangfarbe besaß.
Die Gestalt hemmte im selben Augenblick ihre Schritte und sah sich nach allen Seiten um.
»Wer redete mich hier an?« fragte die Nebelseele verwundert und forschte noch immer nach dem Sprecher.
»Ja, bei allen Heiligen, siehst du mich denn nicht?« versetzte Lund und musterte die vor ihm schwebende Gestalt.
Vor ihm stand ein hochgewachsener Mann mit langwallendem, eisgrauen Vollbart und dito Haupthaar.
»Ich höre eine Stimme zu mir sprechen, vermag aber niemand zu erblicken«, antwortete die Nebelseele und tastete mit der Hand wie suchend umher.
Lund befühlte sich, um sich zu vergewissern, ob er denn in seiner Körperlichkeit auch tatsächlich hier vorhanden war. Eigentümlich, daß er von den Nebelgeistern nicht mehr erblickt werden konnte, daß man immer nur seine Stimme vernahm.
»Ich bin ein irdischer Mensch«, sagte Lund. »Und wer bist du?«
»Moses nannte man mich, als ich einstmals auf Erden wandelte«, versetzte die Nebelseele.
»Moses — — —« erwiderte erstaunt Lund und musterte die vor ihm stehende Gestalt.
»Ich befreite einstens die Israeliten von dem Drucke einer schmachvollen Knechtschaft. Ich führte das Volk vierzig Jahre lang durch die Wüste, hob es aus seiner religiösen Entartung wieder zur Reinheit des alten Glaubens empor und schuf unter ihm neue Kriegstüchtigkeit und Manneszucht. Als ich starb, konnte ich mit Befriedigung auf mein Lebenswerk zurückschauen — — — doch sage mir, wer bist du, Stimme — — ein irdischer Mensch? Seltsam, wie gerätst du in diese Sphäre?«
»Ich weile nur scheinbar unter euch Nebelseelen«, versetzte Lund.
»Scheinbar?«
»In Wirklichkeit lebe und atme ich noch auf dem Boden des Erdplaneten, nur mein Geist wandelt hier in dieser Sphäre.«
Der Professor klärte nun mit einigen Worten die Nebelseele darüber auf, wie er es vermocht hatte, seine Seele in die Sphäre zu dirigieren, um dort Forschungen nach der vierten Dimension anzustellen.
Der alte Moses war höchlichst erstaunt über das, was Lund ihm jetzt mitteilte.
»Beim Haupte Abrahams!« rief Moses aus und strich sich mit der Hand durch seinen wallenden Vollbart. »Ich sehe dich nicht, höre nur deine Stimme, Irdischer. Du lebst also noch auf Erden?«
Lund bejahte und erwiderte: »Du bist wirklich und wahrhaftig der große Moses, der einst trockenen Fußes durch das Rote Meer zog?«
Moses nickte
»Seitdem sind 3500 Jahre verflossen. Nach dir erstand ein Messias und brachte das Christentum unter die heidnischen Völker«, sagte Lund.
»3500 Jahre sind schon seit meinem Tode verstrichen? — — Irdischer, täuschst du dich nicht? Mir ist's, als wäre es nur eine kurze Spanne Zeit.«
»Ja, ja, viele Jahrhunderte sind, seitdem du von der Erde abgeschieden bist, dahingerauscht. Das heilige Buch der Christenheit, die Bibel, hat im Alten Testament deinen Namen und deine Taten verzeichnet. Du hast danach auf dem Sinai dem Volke Israel seine Gesetze gegeben...«
»Ich habe den hebräischen Stämmen, welche ich aus Ägypten befreite, den Kult Gottes auf dem Sinai übertragen, ich bin ihr Priester, ihr Orakelgeber gewesen«, erwiderte Moses, Lund in die Rede fallend.
»Die Israeliten haben dem Christentum weichen müssen, alter Moses. Der Messias siegte im Tode über sie und brachte der Menschheit einen neuen Glauben.«
»So ist mein Volk untergegangen auf Erden?« fragte Moses. »Ich weiß, daß Israel später den Messias, den Gottessohn, gekreuzigt hat. Es geschah in der Verblendung ihres Herzens und ihrer Sinne. Die Gottallmacht hat meinem Volke aber längst verziehen — — doch sage mir, Irdischer, hat das Christentum eure Herzen geläutert?«
»Leider kann ich das nicht von allen Menschen sagen«, versetzte Lund. »Gar viele haben das Wort Gottes im Munde, aber nicht im Herzen, und es gibt Millionen Ungläubige. Kein Wunder freilich, denn die aufklärende Wissenschaft läßt die Menschen der heutigen Kulturperiode mehr und mehr die christliche Religion als etwas Mythisches betrachten. Religion ist fast nur noch in Kinderherzen anzutreffen. Noch freilich hält der Papst mit seiner Priesterschar eine Legion Katholiken in Schach und zwingt sie zum seligmachenden Kinderglauben.«
»Zum Kinderglauben — — den du wohl auch verloren hast, Sterblicher?« fragte Moses. »Du sagst, daß du ein Mann der Wissenschaft seiest, und als solcher dich mit in die Reihen der Aufgeklärten zählst.«
»Leider, alter Moses, hatte auch mich die Wissenschaft zu einem Ungläubigen gestempelt, doch jetzt, wo ich hier in der Sphäre der Abgeschiedenen weile und nun an ein ewiges Fortleben nach dem Tode glauben muß, da kommt es mir zum Bewußtsein, wie sehr ich bisher gesündigt habe, indem ich Gott und ein Seelenleben leugnete.«
Lund hatte die letzten Worte kaum ausgesprochen, als die Nebelgestalt vor seinen Augen verschwand und sich abermals völlig leerer Raum vor seinen Blicken auftat.
Vergeblich rief er mehrere Male nach der entschwundenen Seele, doch echolos verhallte seine Stimme im Raume. Wieder schwebte nun Lund weiter, einem unbestimmten Ziele zu. Eine Richtung existierte hier nicht mehr, in der Sphäre der vierten Dimension gab es weder Norden noch Süden, weder oben noch unten, der Ortsinn des Menschen konnte sich hier niemals betätigen, ebensowenig wie Begriffe Raum und Zeit am Platze waren. Das Unendliche und Ewige umgab den Irdischen.
Während Lund weiter durch den Raum glitt, hoffend auf neue Nebelgestalten zu stoßen, fühlte er in sich eine Veränderung vorgehen. Durch seinen Körper wogte ein seltsames Gefühl, über dessen Natur er sich keine Rechenschaft zu geben vermochte. Es war ihm, als wenn seine Psyche mit dem Physischen zu kämpfen hätte. Nicht, daß er Schmerzen empfand, aber es wurde ihm so unendlich seltsam um Herz und Sinn.
Und was war die Schuld hieran?
Unten im Hause am Kongens Nytorv, wo Lund in seiner Körperlichkeit lag, erwachte soeben Jensen aus seinem Schlummer. Der junge Mann sprang auf, strich sich über die Stirn, wie als ob er in der Erinnerung suchte.
Noch leuchteten die Sterne am Nachthimmel, nur der Mond war untergegangen, schon griff die Morgendämmerung leise heranschleichend Platz und verscheuchte die Schatten der Nacht.
Jensen begab sich in das anstoßende Gemach, um nach Lund zu sehen.
Wie erstaunte er aber, als er den alten Professor nicht mehr auf seiner Lagerstatt liegen sah. Wo war Lund geblieben?
Eine dunkle Ahnung beschlich ihn, daß er vielleicht wieder im Experimentierraum sein könne.
Schnell begab sich Jensen dorthin. Mit Erstaunen sah er, daß der Alte Abermals in dem Sessel lag und den Telepator auf seinem Haupte befestigt hatte.
Jensen sprang hinzu. Im Halbdunkel sah er die Tonsur auf Lunds Kopf unbedeckt. Die Radiumtarnkappe bedeckte einen anderen Teil seines Schädels.
Schnell schob Jensen die Polkappe wieder über die Tonsur und prüfte hastig Puls und die Blutwärme Lunds.
Alles war in schönster Ordnung. Die Frequenz des Pulses war sogar eine ziemlich hohe.
Jensen setzte sich jetzt auf einen Stuhl neben den Alten und hing seinen Gedanken nach. Lund hatte sich also wiederum in die Trance versetzt — —
Im Zimmer roch es eigentümlich, das fiel Jensen mit einem Male auf. Die Atmosphäre schien von einem säuerlichen Ozongeruch durchsetzt zu sein. Das Radium war doch eine Teufelssubstanz! Was dieses unheimliche Element nicht alles zuwege brachte?
Jensen grübelte weiter, das Radium beschäftigte seine Sinne jetzt mehr wie vordem. Mit der Entdeckung dieser Substanz war für die Menschheit eine neue Etappe in bezug auf die Wissensbereicherung eingetreten. Was lag da nicht noch alles im Hintergrunde? Was konnte das Radium nicht noch alles Ungeheuerliches und Unfaßbares den Sinnen der Menschen enthüllen? Eine ganz neue Welt schien sich schon jetzt zu eröffnen. War das Radium vielleicht die Ursubstanz, nach der die Menschen solange suchten und forschten? War es der Stoff, aus dem das Anorganische zum Organischen umgewandelt wurde, der in Totes Leben brachte, der die Materie beseelte? — —
Während Jensen noch über die Natur des Radiums nachgrübelte, krähte in der Nachbarschaft ein Hahn seinen Morgenruf. Das Kikeriki in langgezogenen Tönen fand auch den Weg in die Ohren Lunds, gerade in dem Augenblicke, als Jensens Sinne durch die ozonhaltige Atmosphäre des Zimmers wieder umnebelt wurden.
Kikeriki! — —
Draußen im Raum, in der Unendlichkeit, in der Ewigkeit, schallten die Krähtöne dem alten Professor entgegen. Just in dem Augenblicke, wo er wieder eine Nebelgestalt zu Gesicht bekam.
Kikeriki! — — Ganz deutlich vernahm Lund den Ruf eines Hahnes. Es war für ihn ein ungemein komisches Gefühl, hier in der überirdischen Sphäre Hahngeschrei zu vernehmen.
Lächerlich! — — Das mußte eine Täuschung sein. Während er noch darüber nachsann, trat eine Nebelgestalt auf ihn zu und redete ihn an.
»Freund, von wo kommst du?« erklang die Stimme der Nebelseele.
Lund gab hierauf Antwort, wie er es bisher den anderen Nebelseelen gegenüber getan hatte.
Nachdem sich das Erstaunen des Vierdimensionalen gelegt hatte, wollte dieser sich erschrocken abwenden.
»Du fürchtest dich vor mir?« fragte Lund.
»Fürchten? — — O nein«, versetzte die Nebelseele. »Ich fürchte nur die Gottallmacht, die keinem Sterblichen gestattet, in unsere Sphäre einzudringen.«
»Wer bist du?« fragte Lund und musterte die Nebelgestalt.
Es war ein hagerer Mann mit strengen Gesichtszügen, der ein hohes Alter bei seinem Abscheiden von der Erde gehabt haben mußte.
»Ich trug einst den Namen Ramses der Zweite und war König der Ägypter«, versetzte die Nebelseele.
Lund war erfreut, sogleich wieder den Geist eines berühmten Abgeschiedenen getroffen zu haben. Das war also der berühmte König der zwanzigsten Dynastie der alten Ägypter. Lund erinnerte sich, auf einer Orientreise die Mumie Ramses' in Giseh gesehen zu haben und er vermochte in der Geistergestalt die Ähnlichkeit mit derselben wieder zu erkennen.
»Dein Ruhm und Name, großer Ramses, ist auf Erden nicht vergessen«, sagte Lund.
»Ich habe 66 Jahre für die Wohlfahrt meines Volkes gesorgt, habe viele Länder unterworfen und war den Besiegten stets ein gerechter Herrscher«, versetzte Ramses. »Hat die Zeit mein Volk erhalten oder ist es im Kampfe ums Dasein untergegangen?«
»Die Erde, wie sie vor 3000 Jahren war, ist heute nicht mehr wiederzuerkennen, großer König«, versetzte Lund. »Das Alte stürzt und immer wieder blüht neues Leben aus den Ruinen. Wo man dich begraben hatte, fand man dich jüngst erst wieder. Eine Mumie, vertrocknet, aber nicht zu Staub zerfallen. Dein Körper ist der Menschheit erhalten worden. Die Ärzte deiner Zeit haben das Einbalsamieren wahrhaftig verstanden. Drei Jahrtausende ist dein Leibliches der Welt erhalten geblieben, ebenso wie die Königsgräber deiner Zeit, die Pyramiden. Noch heute ragen sie, die gigantischen Bauwerke einer grauen Vorzeit, in dem blauen Himmel Ägyptens auf, und der Nil bespült noch in alter Weise das Land deiner Wirkungsstätte und sein Schlamm trägt noch heute deinen Nachkommen Früchte.«
Als Lund auf eine neue Anrede Ramses' wartete, sah er plötzlich, wie sich dessen Gestalt auf die seltsamste Weise veränderte. Ramses schrumpfte, allmählich zu einer geometrischen Figur zusammen, und neben ihm erstanden vor den Blicken Lunds noch weitere solcher Figuren.
Zweiecke, Dreiecke, Vierecke und andere Polygone schossen plötzlich wie Pilze im Raume auf.
»Zum Kuckuck noch einmal!« rief Lund. »Wo bin ich hingeraten? Um mich herum wogen vieleckige Gebilde — — sind's Nebelseelen, Menschen kosmischer Natur, wahnwitzige Gebilde meines Sehvermögens?«
Die Polygonen schienen jetzt einen seltsamen Tanz um ihn herum aufzuführen.
Lund war sich keinen Augenblick im Zweifel, daß er aus der vierten Dimension in eine absonderliche Welt geraten war. In die Welt der Polygone.
Äffte ihn sein Gesichtssinn?
Er vermochte die Situation nicht recht zu erfassen. Weilte er wieder unter Flächenwesen?
Da vernahm er plötzlich die Stimme eines Polygonen.
»Eigentümliches Wesen, was tust du unter uns?« klang es an Lunds Ohren.
»Ich bin ein Mensch und wer seid ihr«, fragte der alte Professor und tastete nach einem der in der Nähe tanzenden Polygonen.
»Ein Mensch bist du? — — Du bist rund, bist anders wie wir? du bestehst aus mehreren Flächen? — —«
»Natürlich — —« versetzte Lund, »ich bin eben ein Körper. Vermagst du das nicht zu fassen?«
»Ein Körper — —« hörte man die Polygonen im Chorus verwundert sprechen.
»Ja, zum Henker! wo bin ich eigentlich hier?« rief Lund aus und tastete wieder nach einem der Polygonen, ohne ihn jedoch erfassen zu können.
»Du lebst und atmest wie wir«, ließ sich die piepsige Stimme eines Polygonen vernehmen, es war ein Siebenecker.
»Diese Frage zu stellen habe ich viel eher Berechtigung als du«, erwiderte Lund und sah sich das Flächenwesen genauer an.
»Wir sahen noch niemals einen Körper«, sprach der Siebenecker weiter. »O! wir ahnten aber schon lange, daß es noch Kreaturen geben müsse, die anders gestaltet sind als wir.«
»Ihr seid Flächenwesen, seid an die Fläche gebunden und kennt nur eine Länge und Breite«, sagte der Professor. »Wir dagegen, wir Menschen, sind körperliche Wesen.«
»Seltsam — komisch — merkwürdig — —« so klang es im Durcheinander an die Ohren Lunds.
»Ihr armseligen Kreaturen!« meinte Lund und sah mitleidig die Geschöpfe des Flachlandes an. »Hattet ihr bisher keine Vorstellung von einer dritten Ausdehnung, kanntet ihr immer nur Länge und Breite?«
Die Polygonen bejahten.
»Jetzt aber könnt ihr euch einen Körper denken, jetzt, etwas, das drei Ausdehnungen hat?«
»Wir vermögen eure Dicke wohl zu sehen«, versetzte ein Sechsecker, der eine zum weiblichen Geschlecht des Flachlandes gehörige Kreatur zu sein schien.
»Und wie leicht ist doch die Natur eines Körpers zu begreifen!« rief Lund.
»Leicht — es ging über unser Fassungsvermögen — — ja, jetzt, wo du Körperlicher in unsere Ebene getreten bist, können wir uns eine Vorstellung von der dritten Ausdehnung machen«, meinte ein Zwölfecker.
»Um es kurz zu machen, und euch schnell über das Wesen eines Körpers zu belehren«, antwortete Lund, »laßt euch gesagt sein, daß ein körperliches Gebilde stets entsteht, wenn man eine Fläche um die andere dreht.«
»Ah! Ah —« tönte es im Chorus von seiten der Polygonen.
Dem armseligen Völkchen mit dem beschränkten Horizont schien bei der Erwähnung des Lundschen Lehrsatzes ein Licht aufzugehen.
Das Ei des Kolumbus. Niemals hatte einer von ihnen den Gedanken gehabt, eine Fläche um die andere zu drehen.
Die Daseinssphäre der Polygonen gab Lund eine Unmenge Stoff zum Nachdenken. Hier war alles Fläche. Der Raum, auf dem sich die Polygonen bewegten, letztere selbst, Fläche ihr höchster geometrischer Begriff. Abwechslung in dieses ewig Flächenhafte brachten nur die verschiedenen Formen, unter denen die Flächenwesen existierten. Vom Zweiecker bis zum Hundertecker und darüber hinaus schien alles von Leben beseelte Materie zu sein.
Ob unter dem Polygonenvölkchen wohl eine Rangordnung herrschte? Diese Frage legte sich Lund schnell im stillen vor, während er den tanzenden Bewegungen der Flachlandkreaturen sinnenden Auges zuschaute.
Am Ende ist hier die Zahl der Ecken maßgebend, dachte der Professor. Demnach müßte ein Hundertecker irgend eine Fürstlichkeit des Polygonenvolkes sein, und den obersten Herrscher konnte ganz gut ein tausendeckiger Kaiser repräsentieren.
Lächerlich! Daß sich der Gedankengang eines gewieften Mathematikers bis in eine solche Absurdität verlaufen konnte.
Eben turnte ein, wie es schien, Zwanzigflächner, leichten Schrittes heran und störte den Alten in seinen Betrachtungen, indem er um diesen herumtänzelte und dessen Körperliches in einer Weise angaffte, daß sich dieser nahezu belästigt fühlte.
Bisher hatte er immer nur geradlinige, ebene Flächenwesen gesehen. Ob es wohl auch krummlinige, ebene Figuren in dieser Lebewesenwelt gab? Es mutete dem Professor von vornherein komisch an, wenn er darüber nachdachte, daß er über kurz oder lang die Bekanntschaft eines lebenden Kreiswesens, einer dito Ellipsengestalt, einer Parabelfigur oder gar einer Hyperbelkreatur machen würde.
Letzteres Flächenwesen würde ja für seine Begriffe hinsichtlich einer visuellen Betrachtung ein geradezu undenkbares Geschöpf sein. Die Füße einer derartigen Kreatur hätte er solchenfalls wohl vor sich gesehen, während der Kopf vielleicht in Sonnenferne seinem Auge entrückt geblieben wäre. Diese Parabel- und Hyperbelmenschen hätten die Riesen im Weltall repräsentiert. Lund machte jetzt mit seinem Sinnen über solche möglichen und unmöglichen Gestalten der Lebewesenwelt ein Ende. Die Schlüsse, zu denen er gekommen war, erschienen ihm doch zu wahnwitzig.
Ob die Bewohner des Flachlandes auch eine Kultur besaßen?
Jedenfalls. Denn Wesen, welche eine Sprache besitzen und denk- und überlegungsfähig sind, müssen als Menschen betrachtet werden.
»Was willst du unter uns?« fragte ein Polygone jetzt wieder und schreckte damit Lund aus seinem Gedankengange auf.
Der Alte maß schnell mit einem Blick das Flächenwesen und stellte fest, daß es mindestens 30 Ecken besaß.
»Ich komme aus dem Reiche der vierten Dimension, jener Sphäre, die der körperlichen Menschheit über ihre Begriffe geht«, antwortete Lund und betrachtete den Flächenknirps, der kaum einen Meter Länge besaß, mit einem halb neugierigen, halb überlegenen Blick.
»Und wo lebst du?« fing der Siebenecker wieder an zu fragen.
»Auf der Erdkugel, mein lieber Freund.«
»Wir existieren auf einer Scheibe«, meinte jetzt ein Zehnecker.
»Wieviel Köpfe besitzt euer Volk«, fragte Lund neugierig.
Die Polygonen schüttelten den Kopf; sie wußten auf diese Frage keine Antwort zu geben. Ob ihr Zahlenbegriffsvermögen ein so beschränktes war?
»Wieviel Geschlechter habt ihr?« fragte Lund weiter und versuchte aus der Schar der Polygonen die weiblichen Wesen herauszufinden.
»Drei Geschlechter«, lautete die Antwort des Siebeneckers.
»Was?« rief Lund erstaunt aus. »Wir Körperlichen kennen doch nur zwei.«
Die Polygonen lachten. Es mußte ihnen komisch vorgekommen sein, daß höher organisierte Wesen wie sie nur auf zwei Geschlechter beschränkt waren.
»Und welche sind diese drei Geschlechter?« fragte Lund weiter.
»Das männliche, weibliche und das Doppelgeschlecht«, gab der Zehnecker zur Antwort.
»Sapperlot!« meinte Lund. »Das Doppelgeschlecht — — nicht übel. Vermutlich so ein Zwitterding. — — Bah, das haben wir auf der Erde auch.«
»Die Doppelgeschlechtlichen sind die Träger unseres Wissens und Könnens. Sie arbeiten und schaffen wie die Drohnen im Bienenstock, während unsere Aufgabe es nur ist, daß sich das Flachland nicht entvölkert.«
Die Rede des Polygonen bewies dem Professor, daß das Leben und Weben im Flachlande dem in der Körpersphäre keineswegs nachstand. Alles bestand hier nur unter anderen Formen.
Wie es schien, waren die Polygonen ein tanzlustiges Völkchen, zum mindesten hatten diese Kreaturen immer eine tänzelnde Bewegung an sich. Es war für Lund ebenso absurd, über die Ursache dieser ewig pendelnden Gangart der Polygonen nachzudenken, wie ihre Herkunft zu ergründen.
»Kennt ihr ein höchstes Wesen, das euch, euer Tun und Können regiert?« fragte Lund neugierig weiter.
Einige der Polygonen räusperten sich.
»Ein höchstes Wesen?« fragte der Siebenecker.
»Wir nennen dieses höchste Wesen Gott auf Erden«, meinte Lund. »Er ist die schöpfende Allmacht.«
Die Polygonen schüttelten wieder den Kopf. Dies schien über ihre Begriffe zu gehen.
»Gott?« fragte der Zehnecker. »Die Doppelgeschlechtlichen kennen unsere Herkunft — — frage sie.«
»So bringe mir einen Doppelgeschlechtlichen zur Stelle«, erwiderte Lund.
Die Polygonen eilten jetzt hastig davon, um dem Wunsche des Körperlichen Rechnung zu tragen. Lund stand nun wieder allein da und harrte mit großer Neugier der Ankunft jenes seltsamen Doppelgeschlechtlichen. Je mehr er über dessen Natur sich ein Bild im voraus zu machen suchte, desto weniger gelang es ihm, jenes Zwitterwesen in den Rahmen einer vernünftigen Vorstellung zu bringen.
Ob er von diesen abnormen Flächenkreaturen vielleicht eine ausreichende Antwort auf seine Frage nach der Gottheit erhalten würde? Ob die Doppelgeschlechtlichen in das Wesen der Gottheit tiefer eingedrungen waren als die körperlichen Menschen? Ob sie wie die Nebelseelen einen weiteren Horizont besaßen als die irdischen und eine genaue Vorstellung von der schöpferischen Kraft und regierenden Allmacht im Universum hatten? — —
Kikeriki!
Lund wurde jetzt aus seinem Sinnen unliebsam gerissen. Das Hahnengekräh zerstörte wieder seinen Gedankengang, endlich Aufschluß über die Gottheit und das letzte Wesen aller Dinge zu erhalten.
Als der Hahnenschrei sich dann wiederholte, entschlüpfte Lunds Lippen ein derber Fluch. Der Alte machte eine heftige Bewegung und im selben Augenblick verwandelte sich die Szenerie vor seinen Augen.
Hatten die Gebilde des Flachlandes des Professors Geist eben noch umgaukelt, so löste sich jetzt alles vor ihm in Nichts auf. Er fühlte einen leisen Schauder durch seinen Körper gehen, und die Augen fingen an, allmählich ihren Dienst zu versagen.
Es wurde dunkel um ihn her.
Gab es im Flächenlande wie auf Erden die Erscheinung von Tag und Nacht? Es mußte wohl so sein. Dann sah er sich im gestirnten Universum schweben. Hoch über ihm schimmerte der Sirius in seiner Pracht.
Plötzlich verspürte er einen Ruck. Lund betastete sich mit den Händen, um sich zu vergewissern, ob er noch in seiner Körperlichkeit existiere.
Dabei dünkte es ihm, als höre er in der Ferne seinen Namen rufen. Dem Klange nach mußte es Jensens Stimme sein.
Eben wollte Lund den Anruf erwidern, als sich sein Geist verdunkelte und sein Denkvermögen versagte. Das Sternengeflimmer um ihn her erlosch, und völlige Nacht und Grabesstille hielten ihren Einzug.
Frau Christiansen und Ingrid erschienen an jenem Morgen, der auf ihren nächtlichen Besuch in dem Hause am Kongens Nytorv folgte, dortselbst bereits wieder in aller Frühe. Beide Frauen trugen sich noch mit starker Sorge um den alten Herrn Lund.
Vergeblich klingelten die Ankömmlinge an der Tür des Hauses. Nichts regte sich in letzterem.
Jetzt wurde Ingrid von einer großen Angst gepackt und sie schickte die Haushälterin sofort zu einem in der Nähe wohnenden Schlosser, während sie selbst, nachdem sie noch eine Weile vergeblich geläutet hatte, einen Arzt in der Nachbarschaft aufsuchte.
Zum Glück traf sie einen solchen an und sie beschwor ihn, daß er ihr sofort folge.
Unterwegs teilte Ingrid dem Arzt ihre Besorgnisse um Lund mit und erzählte ihm von dem Experiment des alten Herrn.
Der Doktor, welcher Professor Lund persönlich kannte, schüttelte über die Dinge, welche er zu hören bekam, den Kopf.
Als beide hastigen Schrittes ihrem Ziele zueilten, erblickte Ingrid einen Polizisten, den sie sofort über die Sachlage aufklärte und ihn aufforderte, mitzukommen.
Inzwischen hatte sich Frau Christiansen wieder am Hause eingefunden. Als nach minutenlangem Klingeln die Tür noch immer nicht geöffnet wurde und auch ein anhaltendes starkes Pochen ohne jeden Erfolg war, erhielt der eben hinzukommende Schlosser den Auftrag, das Schloß der Haustür zu öffnen.
Bald darauf knarrte die schwere Tür in ihren Angeln, Ingrid eilte hastig die Treppe hinauf und stürzte in das Zimmer, in welchem sie in der vergangenen Nacht schon einmal geweilt hatte.
Ihr auf dem Fuße folgten die andern, Frau Christiansen, der Doktor und der Polizist.
Den Eintretenden bot sich im Zimmer das Bild zweier tief im Schlaf Versunkener.
Gleich beim Öffnen der Tür fiel allen ein stechendsaurer Geruch auf, der die Zimmerluft erfüllte.
Der Doktor schnüffelte in der Luft herum.
»Das riecht hier merkwürdig«, sagte er und ließ seine Blicke über die Schläfer gleiten.
»Vater, lieber Vater!« rief Ingrid atemlos und eilte auf den alten Professor zu, dessen schlaff herabhängende Hände erfassend.
Zu Tode erschrocken prallte aber Ingrid wieder zurück, als sie verspürte, daß die Hände Lunds eiskalt waren.
»Um Gotteswillen! Herr Doktor, Herr Doktor!« schrie Ingrid auf und faltete flehend die Hände. Weiter war sie keines Wortes mächtig.
»Was haben Sie, liebes Fräulein?« versetzte der Arzt und trat hastig an Lund heran, dessen Puls sofort untersuchend.
»Er ist tot! Herr Doktor! — — tot!« rief Ingrid verzweifelt aus und sank bei diesen Worten nieder.
»Tot?« Dieses eine Wort entrang sich jetzt auch Frau Christiansens Lippen. Dann stieß sie einen unartikulierten Schrei aus.
Der Polizist war inzwischen zu Jensen herangetreten, um dessen Zustand zu untersuchen.
»In ihm ist noch Leben«, rief der Polizist und ließ die Hand des jungen Studenten, welche er ergriffen hatte, wieder los.
»Auch bei dem alten Herrn hier ist das Leben nicht entflohen«, konstatierte jetzt der Arzt.
»Er lebt noch?« fragte Ingrid und sprang auf. »Gott im Himmel sei Dank! Retten sie ihn, lieber Herr Doktor — — er darf nicht sterben!«
»Ja ja, retten Sie ihn, bester Doktor!« rief auch Frau Christiansen und rang die Hände.
»Zunächst wollen wir einmal frische Luft in das Zimmer lassen«, sagte der Arzt und schritt an das Fenster, um es zu öffnen.
»Was ist denn hier eigentlich vor sich gegangen?« fragte jetzt der Polizist, der sich über die Dinge, wie sie hier lagen, durchaus nicht zu orientieren vermochte.
»Sie haben ein Experiment gemacht«, jammerte Frau Christiansen.
»Was für ein Experiment?« fragte der Hüter des Gesetzes wieder.
»Der Herr Professor hat sich hypnotisiert — — er hat so ein schreckliches Zeug, womit ihm dies gelingt«, jammerte Frau Christiansen weiter.
»Herrn Lunds Puls ist zwar äußerst schwach, aber ich hoffe, daß er mit dem Leben davonkommt«, sagte der Arzt, nachdem er die Kleidung des Alten geöffnet hatte und sein Ohr an dessen entblößte Brust gelegt hatte. Dann wendete er sich Jensen zu und untersuchte diesen. Hier kam er zu einem günstigeren Resultat.
»Ihm wird die Sache nicht soviel geschadet haben«, meinte der Arzt, indem er sich mit Jensens Zustand beschäftigte.
»Was soll nun geschehen?« fragte der Polizist zu dem Arzt gewendet.
»Ich bedarf einiger Medikamente aus der Apotheke«, antwortete der Doktor. »Vielleicht haben Sie die Freundlichkeit und sorgen dafür, daß mir dieselben hierher gesandt werden. Auch möchte ich Sie bitten zum Doktor Steenstrup zu gehen, der am Kongens Nytorv wohnt, und ihn zur Hilfeleistung hierher zu dirigieren.«
Der Polizist tat wie ihm geheißen war und entfernte sich eiligst.
Der Arzt richtete sein Augenmerk jetzt auf das Instrument, welches auf dem Sessel des Professors angebracht war.
»Was ist das für eine Röhre?« fragte er die Frauen.
»Ich weiß nicht — — es ist ein Instrument, womit er sich hypnotisiert«, gab Ingrid eilig zur Antwort.
»Der grünliche, flimmernde Schein — — was mag es nur sein? Die Röhre leuchtet, und es riecht hier so eigentümlich«, meinte der Arzt und schnüffelte wieder in der Luft herum. Dann hob er die Gestalt des Alten aus seiner halbgestreckten Lage empor und verlangte von den Frauen Kissen und Tücher.
Schnell eilten Ingrid und Frau Christiansen in das Nebengemach.
»Ist drüben ein Bett vorhanden?« rief der Arzt ihnen nach.
Schon erschien Ingrid wieder mit einigen Decken und Kissen.
»Ein Schlafsofa, Herr Doktor, vielleicht können wir ihn...«
»Gut, wir wollen ihn auf das Sofa legen«, versetzte Dr. Suhm.
In diesem Augenblicke hörte man draußen auf dem Flur Schritte und gleich darauf öffnete sich die Tür; Holm trat ein. Erschrocken blieb der Professor auf der Schwelle stehen. Er ahnte nichts Gutes, als er den Doktor über Lund gebeugt stehen sah und Jensens Bewußtlosigkeit bemerkte.
»Ist etwas Schlimmes passiert?« rief er mit sich überstürzenden Worten Ingrid zu.
Das junge Mädchen nickte verzweifelt den Kopf. »Ja, Herr Professor, er ist fast dem Tode nahe — — o, wenn er stürbe!«
Frau Christiansen quittierte diese Äußerung Ingrids wieder mit einem leisen Schrei.
»Wollen Sie mir helfen, den alten Herrn in das Nebenzimmer zu tragen?« meinte jetzt Dr. Suhm. »Fassen Sie ihn bitte unter die Füße, ich werde unter die Arme greifen. — Fräulein Lund, machen Sie doch die Türe auf.«
Der alte Herr wurde nun schnell auf die Lagerstatt hinübergeschafft, wo er regungslos dalag und kaum ein Lebenszeichen bemerkbar äußerte.
Holm erfuhr jetzt stückweise, was vorgegangen war.
Während der Arzt sich nun auf Augenblicke mit Jensen beschäftigte, ein Glas frisches Wasser für diesen verlangte, ihn mit einem Tuche rieb und noch sonstige Manipulationen an dem jungen Manne vornahm, um ihn zum Bewußtsein zu bringen, erschien der erwartete Dr. Steenstrup.
Schnell wurde dieser von seinem Kollegen über die Sachlage aufgeklärt, und als der Polizist mit den Medikamenten zurückkam, gingen die beiden Ärzte an die Arbeit, das halb entflohene Leben der beiden Patienten wieder zurückzurufen.
»Das unselige Experiment — —« rief jammernd Frau Christiansen aus.
»Er hat es noch einmal versucht«, echote Ingrid mit klangloser Stimme.
»Herr Doktor«, sagte Holm zu Suhm gewendet. »Es handelt sich hier um einen Trancezustand, hervorgerufen durch hypnotische Behandlung und Lahmlegung gewisser Gehirnpartien zufolge einer intensiven Radiumbestrahlung. — — Ich bin darüber etwas orientiert. Lund hat mich...«
»Aha! — — so, so!« klang es aus dem Munde der beiden Ärzte.
»Es sollte ein psychologisches Experiment werden«, fuhr Holm fort.
»Zu welchem Zwecke?« fragte Steenstrup.
»Wenn ich nicht irre, zielte Professor Lund darauf hin, das Begriffs- und Fassungsvermögen in sich zu steigern, um transzendentale Dinge wahrnehmen zu können.«
»Komischer Versuch das«, meinte Suhm und sah seinen Kollegen mit bedeutungsvollem Blicke an.
»Allerdings seltsam«, erwiderte dieser und untersuchte kopfschüttelnd Jensen, welchem man eine bequemere Lage in seinem Sessel gegeben hatte.
»Mit dem Experiment scheinen sie aber gründlich Fiasko erlitten zu haben«, äußerte sich dann Steenstrup weiter.
»Wie es scheint, ja«, versetzte Suhm.
»Wenn's nur nicht auf eine Geisteskrankheit hinausläuft«, sagte Professor Holm und begab sich in das Nebenzimmer, wo Lund lag.
»Der Zustand des alten Herrn ist ziemlich bedenklich«, meinte jetzt Suhm, als er mit seinem Kollegen allein war. »Wenn er mit dem Leben davon kommt, so kann er von großem Glück sagen.«
»Denken Sie? — — hm — hm, ist seine Herztätigkeit so schwach?« fragte Steenstrup.
»Allerdings — — ich befürchte, daß ein Herzschlag eintreten wird. Seine Körpertemperatur ist außerordentlich gesunken.«
»Was bedeutet dieses Instrument hier?« fragte Steenstrup, indem sein Blick die Radiumröhre gestreift hatte.
»Die Röhre diente zu dem Experiment. Der grünliche Lichtschein derselben geht von einer Quantität Radiumbromid aus«, unterrichtete Suhm seinen Kollegen.
»Und der Ozongeruch im Zimmer?«
»Ozon? — — Donner, ja, es riecht nach Ozon«, rief Suhm aus und schnüffelte wieder in der Luft. »Vielleicht entwickelt das Radium Ozon?«
»Von einer Ozonentwicklung habe ich bisher noch nichts gehört.«
»Hm — — ich allerdings auch nicht«, meinte Suhm.
»Nun, lassen wir unsere Erörterungen jetzt fallen und beschäftigen wir uns mit den Patienten«, sagte Steenstrup.
»Ich werde zu Lund hinübergehen«, versetzte Suhm und begab sich in das Nebengemach.
Steenstrup beschäftigte sich jetzt mit Jensen. Er flößte ihm etwas Wasser ein, in welches er ein Medikament getan hatte. Dann veranstaltete er an dem jungen Manne eine Massage, um dessen Lebensgeister zu erwecken.
Das gewünschte Resultat blieb auch nicht aus. Jensen regte sich bald, seine Brust hob und senkte sich in regelmäßigeren Atemzügen, und es dauerte nicht lange, so schlug er auch die Augen auf.
»Hallo! junger Mann, wie befinden Sie sich?«
Jensen gab hierauf nicht sofort eine Antwort, sondern ließ seinen matten Blick wie irre in der Umgebung umherschweifen.
»Vermögen Sie nicht zu sprechen?« fragte Steenstrup und einige Besorgnis stieg in ihm auf, da ihm der irre Blick aus dem Auge des Patienten nicht entgangen war. Wieder erfolgte keine Antwort.
Steenstrup richtete den Patienten in die Höhe und befragte ihn abermals, wie es ihm ginge.
Endlich löste sich die Zunge Jensens. »Haben Sie es zu Papier gebracht?« fragte er unerwartet.
Steenstrup blickte den jungen Mann an und wußte nicht gleich, was er darauf erwidern sollte.
»Befinden Sie sich nicht wohl?« fragte er dann. »Fühlen Sie Schmerzen?«
Jensen versuchte zu lächeln. »Wenn Sie alles aufgezeichnet haben, so möchte ich es einmal sehen, Herr Professor«, tönte es jetzt klanglos aus Jensens Munde.
Der Arzt konnte sich jetzt der Ansicht nicht mehr verschließen, daß der Patient irre Reden führte und ihn nicht erkannte. Deshalb rief er nach seinem Kollegen.
Dieser steckte gleich darauf den Kopf durch die Tür, um zu sehen, was Steenstrup von ihm wolle.
»Er redet irre — — sein Verstand scheint gelitten zu haben«, raunte Steenstrup Suhm zu.
Dieser machte ein bedenkliches Gesicht und trat in das Zimmer ein.
»Wie steht es mit Lund?« fragte Steenstrup.
»Er liegt im tiefsten Schlaf.«
»Die Parabelmenschen sind doch gelungene Geschöpfe, und die Hyperbelisten erst«, stieß Jensen, matt auflachend, soeben heraus.
»Er spricht von Parabelmenschen — — fixe Idee«, meinte Suhm.
Steenstrup nickte mit einem verständnisvollen Blicke.
»Was nun?« fragte Suhm weiter.
Der Kollege zuckte mit den Achseln und sah Jensen ins Auge.
»Zweifellos geistesabwesend, vielleicht nur akut«, meinte er dann.
»Wissen Sie, wo Sie sich befinden, junger Mann?« fragte nun Suhm Jensen.
»Von den Punktgebilden bis zu den Hyperbelriesen ist eine Fortentwicklung nach oben hin unverkennbar«, gab Jensen zur Antwort.
Die Doktoren schüttelten darob den Kopf.
»Hm — —« sagte Steenstrup zu Suhm gewendet. »Wir müssen ihn ins Krankenhaus schaffen lassen. Ich hoffe, daß sein Zustand sich noch bessert.«
»Meinen Sie?«
»Nun, solange man darüber nicht im klaren ist, wie weit sich die Wirkung der Radiumsubstanz erstrecke, kann man im voraus nicht viel sagen. Es ist möglich, daß der Patient nach einem kräftigen Schlafe dann seinen Verstand wiederfindet.«
»Ein Homomunkulus... so ein Menschlein im Entstehen... es ist eine Etappe in der Entwicklung«, klang es wieder aus Jensens Munde.
»Er führt eigentlich recht seltsame Reden«, meinte Steenstrup.
Suhm nickte.
In diesem Augenblicke öffnete sich die Tür, und Ingrid rief nach Doktor Suhm.
»Sofort, mein Fräulein!« antwortete der Gerufene.
»Gehen Sie, bester Herr Kollege«, sagte Steenstrup, »ich werde den Polizisten beauftragen, daß der junge Mann hier ins Krankenhaus befördert wird. Ich will den Chefarzt dann unverzüglich über seinen Zustand unterrichten.«
»Wir wollen den Frauen vorläufig noch nichts über den bedenklichen Zustand des Patienten sagen«, meinte Suhm und entfernte sich aus dem Gemach.
»Herr Doktor, glauben Sie wirklich, daß Sie ihn retten können?« rief Ingrid Suhm entgegen.
»Wie geht es dem Herrn Jensen drüben?« fragte Frau Christiansen eilig.
»Er ist aus seiner Betäubung erwacht und hat auch schon gesprochen, phantasiert aber etwas — — leichtes Fieber, wird bald vorübergehen«, gab der Arzt zur Antwort.
Da es Suhms Bemühungen nicht gelang, den alten Professor aus seiner Bewußtlosigkeit zu erwecken, so stieg die Besorgnis der beiden Frauen auf das höchste.
»Ich halte eine Überführung in das Krankenhaus für unumgänglich nötig. Er wird dort in bester Pflege sein, meine Damen«, sagte Suhm. »Ich hoffe, Ihnen bald Günstiges über seinen Zustand berichten zu können.«
Eine Stunde nach diesen Vorgängen waren die beiden Patienten bereits in das Öresundshospital überführt worden. Während man bei der Behandlung Jensens gute Resultate erzielte, indem dessen Geistesverwirrung sich von Tag zu Tag mehr abschwächte, konnten die Ärzte bei Lund nur feststellen, daß dieser von einer seltsamen Schlafkrankheit befallen war, aus der ihn niemand zu erwecken vermochte.
Bald durchschwirrte die Zeitungen des ganzen Kontinents und auch selbst die des Auslandes die Nachricht von dem Dornröschenschlaf des dänischen Mathematikprofessors. Und als nach Wochen der Zustand Lunds bei künstlicher Ernährung durch die Ärzte noch immer in derselben Weise anhielt, da nahm die gesamte Kulturwelt von dem Langschläfer Notiz, und die Erörterungen über seinen Zustand beschäftigte sowohl die wissenschaftlich Gebildeten als auch die Laien. Mit Spannung sah man von Tag zu Tag der Erwachung Lunds entgegen, und als rund ein Monat verflossen war, nannte der Volksmund den geheimnisvollen Patienten des Öresundshospitals zu Kopenhagen einen Monatsschläfer.
Jensen hatte sich inzwischen längst erholt. Wenn sich sein Geisteszustand auch bedeutend gebessert hatte, so hielt man ihn doch immer noch in Pflege, weil er ab und zu Rückfälle bekam.
Alltäglich empfing Jensen den Besuch von Berichterstattern hervorragender Zeitungen des In- und Auslandes, die sich Material für sensationelle Berichte über den Dauerschläfer, über seine Experimente und deren Ergebnisse holen wollten.
So blieben Lund und Jensen eine Zeitlang das Tagesgespräch der gesamten gebildeten Welt.
Die Ergebnisse des Lundschen Experimentes waren durch Jensen in die Öffentlichkeit gedrungen und hatten die gebildeten Kreise sowohl wie das niedere Volk in Erregung versetzt, jedem gaben sie Stoff zum Denken. Mit besonderer Freude hatte die Anhängerschaft des Spiritismus Notiz davon genommen. Solche experimentellen Beweise für die Existenz einer Geistersphäre war Wasser auf ihre Mühle gewesen.
Eine Auskundschaftung des Jenseits war bislang noch niemand in so ausgiebiger Weise gelungen, weder ein Jackson Davis noch ein Home oder Slade hatten dem Spiritismus soviel Beweismaterial geliefert wie Lund.
Mochten auch viele die Ergebnisse der Lundschen Versuche anzweifeln und belächeln, die Spiritistenschar war eine gläubige Menge und ihre Gemeinde vergrößerte sich nun mit einem Male rapid.
In Dänemarks Hauptstadt sollte jetzt ein Kongreß des Internationalen Spiritistenbundes tagen, den die in Kopenhagen wohnenden Mitglieder nach Bekanntwerden der Lundschen Forschungen sofort einberufen hatten. Es verlautete, daß Lunds Helfershelfer Jensen bereit sei, auf dem Kongreß über die genialen Errungenschaften auf transzendentalem Gebiet seitens des dänischen Mathematikprofessors zu sprechen. Seine angekündigte Rede mußte Licht in das mystische Dunkel der Geistersphäre werfen, und die Manifestationen der Geister, die mediumistischen Kundgebungen aus dem Jenseits, soweit man bislang solche festgestellt haben wollte, als durchaus glaubwürdig hinstellen. Für die Spiritisten mußte der Augenblick solcher Offenbarungen ein großer und bedeutungsvoller Moment werden, der ihre Sache ungeheuer förderte, deshalb kamen sie sofort in Scharen aus aller Herren Länder herbeigeeilt.
Zu dem Kongreß hatten sich auch bekannte Vertreter der Wissenschaft angemeldet, welche mehr oder weniger zur Anhängerschaft des Spiritismus gehörten und die über strahlende Materie, über den vierten Aggregatzustand und noch andere Grenzgebiete der Geisterlehre Vortrag zu halten gedachten.
In dem Ausschuß, welcher den Kongreß einberufen hatte, spielte Jensen, der inzwischen völlig wieder genesen war, die erste Rolle. Lund, die eigentliche Hauptperson, war aus seinem Dornröschenschlaf noch immer nicht erwacht, trotzdem bereits 33 Tage seit seiner Einlieferung ins Öresundshospital verstrichen waren.
Jensens Rapport war zwar ein lückenhafter, mußte aber doch größtes Aufsehen erregen, wenn er die Lundschen Experimente und ihre Ergebnisse der breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis brachte.
So konnte es denn keineswegs verwundern, wenn auch zahlreiche »Nichtspiritisten« den Kongreß besuchten und darunter viele Gelehrte aller Fakultäten, besonders Theologen und Psychologen, zu erblicken waren. Teils mochte diese die Neugier, teils ein Interesse an der Sache dahin gelockt haben. Wäre der Experimentator ein anderer als der dänische Mathematikprofessor gewesen, so würden diese Gelehrten von dem Spiritistenkongreß sicher nicht die geringste Notiz genommen haben. So aber war ein wissenschaftliches Interesse vorhanden. Wenn man nicht zu dem Schlusse kommen wollte, daß Professor Lund übergeschnappt sei, mußte mann seinen experimentellen Untersuchungen irgend einen Wert beimessen.
In dem Bibliothekzimmer der Universität zu Kopenhagen fanden sich kurz vor dem Kongreß Professor Holm und Estrup zu einem Gedankenaustausch über die alle Welt in Atem haltende Sache ihres Kollegen Lund zusammen. Zu beiden gesellte sich auch wieder Molbech, der Oberbibliothekar, und trat schnurstracks mit in die schwebende Debatte der beiden Gelehrten ein.
»Wenn der Mittelpunkt der ganzen Sache nicht Lund wäre, würde ich alles für Humbug halten«, warf Molbech in die Rede Holms ein, der soeben ein Resümee aus Lunds experimentellen Ergebnissen gezogen hatte.
»Seine Erfahrungen im Trancezustand können aber sehr wohl auch künstlich erzeugte Träume repräsentieren, mit denen er sich unbewußt selbst falsche Tatsachen vorgespiegelt hat«, erwiderte Estrup.
»Ein neuer Gesichtspunkt... nicht übel, Herr Kollege«, ließ sich Holm vernehmen. »Dem aber stehen die Aussagen Jensens gegenüber, die man nicht nolens volens verwerfen kann.«
»Diese können meinen Standpunkt trotzdem nicht hinfällig machen«, meinte Estrup mit einigem Nachdruck.
»Allerdings — —« pflichtete ihm Holm bei. »Jensen kann ähnliche Traumzustände durchlebt haben, und dann wäre mit seinen Aussagen nicht viel bewiesen.«
»Lund wird zweifellos ein Opfer seiner Versuche werden«, warf jetzt Molbech wieder ein. »Eine künstliche Überreizung des Gehirnes durch Radiumbestrahlung kann ihm für immer den Verstand kosten, wenn nicht gar noch das Leben.«
Holm nickte, und Estrup zuckte hierzu die Achseln und zog die Stirne kraus.
»Die Spiritisten sind ja ganz aus dem Häuschen geraten seit Jensen die Dinge in die Öffentlichkeit lanciert hat«, meinte Holm.
»Lund konnte für diese Art Leutchen gar keine bessere Propaganda machen«, gab Estrup zur Antwort.
»Ich hätte nicht übel Lust, den Kongreß zu besuchen«, sagte Holm. »Jensen hat mir zwar schon alles bis ins kleinste angegeben, was er der Zuhörerschaft an Neuigkeiten aufzutischen gedenkt.«
»Phantasien!« warf Estrup ein, ehe Holm noch zu Ende sprechen konnte. »Wirre Gebilde eines überreizten Hirnes, ob man solchen überhaupt den geringsten Wert zumessen kann, das möchte ich noch dahingestellt sein lassen.«
»Das Radium ist wirklich ein Teufelszeug, und wenn es die Gehirnfunktionen auch nur um ein minimales schon zu erhöhen vermag, so hat das Lundsche Experiment immerhin der Menschheit gezeigt, daß unser geistiger Horizont doch nicht jene ein für allemal festgelegte Begrenzung hat, wie wir bisher glaubten«, ließ sich Molbech vernehmen.
»Dem irdischen Sterblichen wird das Transzendentale allzeit verschlossen bleiben«, versetzte Estrup, der trotz aller Einwendungen seinen behaupteten Standpunkt in der Lundschen Sache keineswegs aufzugeben gewillt zu sein schien. »Und wer da glaubt, daß die Erde selbst einen Stoff, eine Substanz biete, mit welcher man die Kluft zwischen Irdischem und Überirdischem überbrücken könne, um vielleicht gar der Gottheit auf den Leib zu rücken, so dürfte jeder, der sich mit einem solchen Gedanken vertraut macht, gewaltig auf dem Holzweg sein. — — Nein, solche Phantastereien sind Märchen für große Kinder.«
Die Unterredung zwischen den drei Männern fand nicht so bald ihr Ende. Holm und Molbech brachten Estrup gegenüber immer neue Punkte zur Sprache, die geeignet waren, diskutiert zu werden.
Unterdessen hatte Jensen ebenfalls einen kleinen Disput mit hervorragenderen Vertretern des Spiritismus. Unter denselben befand sich Mr. Wilson aus London, Monsieur Lacombe aus Paris und der ehemalige Quäker Richardson aus Philadelphia.
Die Unterredung zwischen Jensen und den Spiritisten fand in einem Zimmer des Hotels statt, welches Richardson als Absteigequartier gewählt hatte.
Lacombe und Wilson vertraten eine Richtung des Spiritismus, die sich mit den Anschauungen Richardsons nicht deckte. Jensens Offenbarungen schienen nun geeignet zu sein, neue Wege für die Anhängerschaft des Spiritismus zu ebnen und die große Gemeinde hinsichtlich Auffassung und Anschauung der Dinge vom Jenseits unter einen Hut zu bringen.
Der Quäker Richardson, welcher in Amerika für die spiritistische Bewegung maßgebend war, und der sich auch fortgesetzt bemüht hatte, seine Ideen und Lehren nach Europa hinüber zu verpflanzen, hatte Jensens Berichte mit einer Gier verschlungen, die ihresgleichen suchte, und er gab sie nun rasch verdaut mit den Axiomen seiner spiritistischen Weisheit wieder.
Mr. Wilson suchte seine Anschauung mit den Jensenschen Forschungsresultaten zu verquicken, wobei er von dem etwas krakehlichen Lacombe aufs lebhafteste unterstützt wurde.
Es nahm sich seltsam aus, die drei Spiritistenführer hier beieinander zu sehen. Nicht in bezug auf ihre Gegnerschaft als vielmehr in Hinsicht auf ihre Erscheinung als Menschen.
Der baumlange Mr. Wilson mit seinen strengen Gesichtszügen stand mit dem kleinen, überaus wohlbeleibten Quäker in scharfem Kontrast. Dieser wieder mit dem lebhaften Monsieur Lacombe, der fortwährend mit den Händen in der Luft herumfuchtelte und auch beim Sprechen fortgesetzt eine wechselnde Mimik im Gesicht zur Schau trug. Wie in der äußeren Erscheinung voller Kontrast, so fanden sich auch in der Rede und der Denkart der Drei die schroffsten Gegensätze beisammen. Neben Wilsons ernster, gemessener Sprechart fiel die ölige Stimme des Quäkers ganz besonders auf, während sich bei dem Franzosen die Worte im Munde zu überstürzen schienen.
Jensen bildete jetzt in diesem Bunde den vierten. Seitdem er die Folgen des Lundschen Experimentes überwunden hatte, trug sein Wesen etwas Melancholie zur Schau. Mit diesem Temperament paßte er also so recht in die Gruppe der Spiritisten.
»Und ich sage Ihnen, daß die Unsterblichkeit des Geistes durch die Lundsche Theorie der vierten Dimension, soweit diese mir in ihren Grundzügen bekannt geworden ist, als erwiesen zu betrachten ist«, sagte der Quäker im gewohnten salbungsvollen Ton.
»Ein Sterben des Körpers heißt noch lange nicht das Mitsterben der Seele«, meinte Mr. Wilson. »Im spiritualistischen Sinne muß man das Sterben als ein Geborenwerden betrachten. Der alte Adam, der Zellenfrack, wird beim irdischen Ableben allein zu Grabe getragen. Das Fortleben des Geistes ist für mich eine verbürgte Tatsache.«
»Natürlich!« fiel Lacombe dem Engländer polternd in die Rede. »Mit dem Glauben an ein Fortleben nach dem Tode steht und fällt der Spiritismus.«
»Wenn sich doch die Menschen mehr von der sinnlich wahrnehmbaren Sphäre entfernen wollten«, sagte Richardson, »sie würden dann viel eher jene Seelensphäre begreifen lernen.«
»Meine Herren«, versetzte hierauf Jensen, »die gebildete Welt hat in neuerer Zeit dem Spiritismus sein Existenzrecht abgesprochen. Die Wissenschaft sieht die spiritistischen Lehren als eine Art Humbug an. Ich bin neugierig, wie man sich von jetzt ab zu dem Spiritismus stellen wird.«
»Leider gibt es in unseren Kreisen so viele gewissenlose Menschen«, polterte Lacombe heraus und sein Gesicht rötete sich, »Menschen, welche den Spiritismus als melkende Kuh benutzen. Denken Sie nur an Home, an Slade, an die Rothe. Schlugen diese Betrüger nicht Kapital aus unseren Lehren und untergruben das Ansehen des Spiritismus? Ich wette, daß wir unsere Wissenschaft noch hätten zu Grabe tragen müssen und daß man uns als ernste Leidtragende mit Hohn und Spott überschüttet hätte, wenn jetzt nicht rechtzeitig ein Umschwung in den Anschauungen infolge der Lundschen Versuche erfolgt wäre.«
»Es wird übrigens Zeit, daß wir uns zu dem Kongreß begeben«, sagte der Quäker, als sein Blick auf die Uhr fiel. »Man hat mir den Vorsitz im Kongreß übertragen. Natürlich werde ich ihn in Würdigung der von mir vertretenen Anschauung und im Sinne meiner Ideen leiten.«
Mr. Wilson knurrte etwas Unverständliches vor sich hin.
»Es werden auch wissenschaftliche Kapazitäten vertreten sein«, meinte Jensen.
»Endlich geben sich die hohen Herren einmal dazu her, einem Spiritistenkongreß beizuwohnen«, versetzte Richardson und strich sich mit der Hand über sein fleischiges Kinn.
Während die Spiritistenführer, noch weiter disputierend, sich zum Sitzungssaale des Kongresses begaben, verbreitete sich in der Stadt das Gerücht, daß der Monatsschläfer erwacht sei. Und sogleich wurde Lund wieder zum Tagesgespräch der friedlichen Kopenhagener Bürger.
Wie verlautet war, sollte Lund noch ganz entkräftet sein und seltsame Gespräche mit seiner Umgebung führen.
Als Jensen den Sitzungssaal betrat, stieß er auf Holm, welcher ihn sofort von dem Erwachen Lunds Mitteilung machte.
»Endlich — — fünf Wochen lang hat der alte Herr geschlafen!« stieß Jensen freudig erregt hervor. »Und es geht ihm wohl? — — o sprechen Sie, was wissen Sie Näheres darüber?«
»Mein lieber Herr Jensen«, versetzte Professor Holm, »vorläufig ist sein Geisteszustand nicht nur ein trüber, sondern auch recht bedenklicher. Nun, Sie haben ja selbst eine solche Metamorphose durchgemacht. Wir fürchteten damals auch um Ihren Verstand.«
»Ich weiß, ich weiß — —«
»Der gute, alte Lund wird das Experiment nicht noch einmal vornehmen. Seine Entkräftung nach dem Dauerschlaf soll eine überaus große sein. Danken wir Gott, wenn er die Geschichte nicht noch mit dem Leben quittiert.«
»Er muß seltsame Dinge geschaut haben«, meinte Jensen.
»Am Ende sind's aber nur Phantasiegebilde«, erwiderte Holm.
»Lassen wir doch endlich einmal die Phantasie aus dem Spiele«, sagte Jensen. »Es ist durchaus nicht unmöglich, daß eine gesteigerte Gehirnfunktion auch ein gesteigertes Fassungsvermögen zur Folge haben kann, durch welches es wiederum möglich wird, Dinge zu schauen, die wir mit normalen Sinnen weder zu erblicken noch zu begreifen vermögen.«
»Ja«, meinte hierzu Holm, »da kann man verschiedener Meinung sein. Es gibt freilich Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen wir nichts wissen. Aber ich bezweifle stark, daß wir selbige mit unseren Sinnen, auch wenn wir diese zu steigern vermöchten, jemals gewahr werden.«
»Mit solchen Anschauungen werden Sie hier in dieser Umgebung nicht durchdringen, Herr Professor.«
»Ich habe auch gar nicht die Absicht, meine Meinung hier geltend zu machen. Mich treibt lediglich die Neugier her, zu sehen, wie sich andere Kollegen zu der ganzen Angelegenheit stellen werden. Soviel ich erfahren habe, sind eine Anzahl Theologen und Psychologen nach Kopenhagen gekommen, um den Dingen einmal auf den Grund zu gehen. Ich vermute, daß es erregte Debatten im Kongreß geben wird.«
Inzwischen hatte sich der Quäker Richardson von Ausschußmitgliedern zur Tribüne geleiten lassen, wo er nun mit salbungsvollen Worten den zahlreich Versammelten kund gab, daß er den Kongreß als Vorsitzender leiten wolle und bat um Unterstützung aller Gläubigen der großen Gemeinde.
Kaum hatte Richardson seine Anrede beendet, als er die Mitteilung empfing, daß Se. Majestät der König von Dänemark sein Erscheinen zum Kongreß in Aussicht stellte. Infolge dieser Nachricht, welche Richardson sofort den Anwesenden verkündete, wurde mit dem Eintritt in die Debatte und mit dem Vortrag Jensens bis zur Ankunft des Königs gewartet.
Eine geraume Weile verstrich und nichts verriet das Nahen Sr. Majestät. Bald griff die Langweile überall Platz, wenn auch eine Zeitlang das Lundsche Experiment hinreichend Gesprächsstoff geboten hatte.
Als dann aber Stunde um Stunde verrann, und der König noch immer nicht auf der Bildfläche erschien, da entsandte Richardson einen Boten zum Palais, mit der Anfrage, wann der Kongreß der Ankunft des erlauchten Herrschers entgegensehen könne.
Inzwischen leerte sich der Saal mehr und mehr, die Anwesenden katten keine Lust, ihre Zeit hier zu vergeuden. Immerhin aber hielten noch mehrere hundert Personen treulich Stand. Aber auch sie sollten auf das schmählichste enttäuscht werden. Es stellte sich nämlich heraus, daß die Nachricht von dem Erscheinen des Königs als die Mystifikation eines Spaßvogels anzusehen war.
Die drei Spiritistengewaltigen ließen ihrem Zorn über diese Düpierung freien Lauf. Einer machte dem andern den Vorwurf, daß man die Ankunft des Königs gar nicht hätte abzuwarten brauchen, und die Debatte ruhig hätte beginnen können.
Da die Zeit schon weit vorgeschritten war und die meisten Teilnehmer auch den Saal verlassen hatten, so wurde der Spiritistenkongreß auf den folgenden Tag verlegt.
Jensen eilte sofort in das Öresundshospital, um sich nach dem Befinden Lunds zu erkundigen, ihm schlossen sich Richardson und die beiden anderen Spiritistenhäuptlinge an. Im Hospital sollte nun eine der denkwürdigsten Diskussionen, welche jemals gepflogen worden waren, stattfinden.
Professor Lund hatte nach Ansicht der ihn behandelnden Ärzte nicht gerade lichte Augenblicke, als Jensen mit den drei Spiritisten, im Öresundshospital angekommen, den Patienten zu sprechen wünschte.
Jensen hatte seit jenem Tage, wo Lunds Einlieferung ins Hospital erfolgt war, diesen nicht wieder zu Gesicht bekommen, weshalb er voll Neugierde und Aufregung nicht schnell genug den Augenblick des Wiedersehens erwarten konnte.
Wie erschrak er aber, als er bei seinem Eintritt in das Krankenzimmer die verfallene Gestalt Lunds mit den fahlen Gesichtszügen erblickte.
»Herr Professor!« rief Jensen und eilte auf den Alten zu.
»Bitte, nicht so stürmisch und laut, mein Herr«, sagte die anwesende Pflegerin.
Lund musterte Jensen mit einem Blick, wie man einen Fremden betrachtet, dessen Gesichtszüge einem bekannt vorkommen.
»Kennen Sie mich nicht wieder, Herr Professor?« rief Jensen im gedämpften Tone.
»Eh — — die Stimme — — Jensen?« versetzte langsam und zögernd Lund.
»Wie geht es Ihnen — — besser?« fragte Jensen weiter und ergriff die Hand des Alten zum Gruß.
»Jensen — wo waren Sie nur? Wie lange bin ich schon aus der Sphäre der Andersdimensionalen zurück«, erwiderte Lund.
»Ich war krank, wie Sie, Herr Professor.«
»Krank — — ich war nicht krank — man meint, ich sei krank — ha! Unsinn! Ich bin gesund und munter wie ein Fisch im Wasser«, versetzte der Alte.
»Hm — — das Experiment hat Sie aber doch etwas stark angegriffen, Herr Professor«, gab Jensen, über das Wesen des sonderbaren Alten bestürzt, zur Erwiderung.
Lund stierte eine kleine Weile vor sich hin, ehe er eine Antwort gab.
Die drei Spiritisten waren über Lunds Benehmen etwas verblüfft und wußten nicht recht, was sie denken und sagen sollten.
»Jensen — —« hörte man den Alten plötzlich wieder reden.
»Herr Professor!«
»Die Reise war so komisch — — denken Sie sich, ich war im Flachlande, unter den Vierdimensionalen — — dann in der Nähe Gottes — — Jensen, waren Sie nicht auch einmal dort — — in der Sphäre?« sagte Lund in schleppendem Tone.
Die Spiritisten lauschten, jetzt kamen die Offenbarungen.
»Ich glaube... mein Gedächtnis hat mich in dieser Hinsicht etwas in Stich gelassen, Herr Professor«, erwiderte Jensen und ließ sich auf einen Stuhl in der Nähe Lunds nieder.
»Eh — — wer sind die Männer dort, Jensen?« fragte jetzt der Patient und ließ seine matten Augen auf Jensens Begleitern ruhen.
»Verzeihen Sie, daß ich sie Ihnen noch nicht vorstellte«, versetzte Jensen. »Es sind hervorragende Spiritisten, die Sie über Ihre Erlebnisse in der Geistersphäre einmal zu interpellieren wünschen, Herr Professor... hier Mr. Wilson aus England... Monsieur Lacombe aus Frankreich und hier Mr. Richardson aus Amerika.«
»Spiritisten — —« erwiderte in gezogenem Tone Lund.
»Ganz recht. Sie harren der Offenbarungen, die Sie ihnen zu machen haben.«
»Herr Professor«, wagte jetzt der Quäker Lund anzureden. »Ich möchte Sie bitten, mir doch einige Fragen zu beantworten.«
Lund starrte den Sprecher wie geistesabwesend erst an, dann aber kam etwas Leben in seine Gesichtszüge und er antwortete: »Der verkannte Spiritismus — — nun, ich werde ihm auf Erden zu seinem Recht verhelfen. — — Ich habe die Sphäre der vierten Dimension geschaut und die Seelen der Toten gesprochen.«
Jensen und die Pflegerin wechselten schnell einige Blicke, die besagten, daß beide einige Besorgnis um den Verstand des Alten hatten.
»Sie haben mit den Geistern Abgeschiedener wirklich gesprochen? O! das müssen Sie uns erzählen«, fiel Lacombe Lund in die Rede und trat einen Schritt auf den Professor zu.
»Keine Klopfgeister — — richtige Nebelseelen«, ließ sich Lund weiter vernehmen.
»Nebelseelen?« fragte Wilson mit seiner schnarrenden Stimme.
»Ich habe mit Moses und — —« Lund überlegte oder suchte vielmehr in seiner Erinnerung nach, mit wem er noch zusammengekommen war.
»Der Moses der Bibel, Herr Professor?« ließ sich Richardson vernehmen.
»Mit Ramses dem Zweiten... in Giseh sah ich mal seine Mumie und nun habe ich ihn persönlich gesprochen«, erzählte Lund weiter. »Dann traf ich Shakespeare — — eh! wollte sagen Bacon..., Goethe — — Voltaire — — den alten Darwin — —«
Die Spiritisten sahen sich jetzt einander erstaunt an.
»Wenn man nur wüßte, ob das alles nicht bloß Halluzinationen sind«, meinte Jensen zu den Spiritisten gewendet in leisem Tone.
»Den Teufelskerl, den Nero, sah ich auch. Aber am meisten habe ich mich über das Zusammentreffen mit Archimedes gefreut«, plauderte der Alte mit seiner mattklingenden Stimme unentwegt weiter. »Wir haben gemeinsam versucht, der noch immer ungelöst gebliebenen Quadratur des Kreises zu Leibe zu gehen und es ist uns gelungen. — — Archimedes hatte gute Gedanken — er konstruierte transzendentale Zahlengebilde, und das Kopfzerbrechen hatte sogleich ein Ende... die Lösung war gefunden.«
»Sie werden doch der Welt die seltsame Lösung des großen Problems nicht vorenthalten?« fragte Jensen.
»Aber — Jensen... ich habe zunächst wichtigere Dinge der Menschheit mitzuteilen«, versetzte Lund und setzte sich nieder, den Kopf in die Hand stützend. »Wichtigere Sachen — wichtigere... das Wesen des Lebens... die Gottnatur — —«
»Die Gottnatur!« flüsterten die drei Spiritisten einander zu und wechselten bedeutungsvolle Blicke.
»Die vierte Dimension ist doch was Seltsames und doch wieder so was Natürliches — — Jensen«, meinte Lund.
»Sie haben sie geschaut, Herr Professor?« gab Jensen zur Entgegnung.
»Und dann das Flachland...« fuhr Lund fort.
Was meinte er?« flüsterte Richardson Wilson auf Englisch ins Ohr.
»Flachland...« replizierte leise der Englishman.
»Die fidelen Flächenmenschen — eigentlich zu absurd in der Erscheinung«, berichtete der Professor weiter. »Tanzende Vielecke — — ein komisches Völkchen, die Polygonen.«
Die Spiritisten schüttelten die Köpfe. Sie mochten wohl allmählich an der Zurechnungsfähigkeit des Alten verzweifeln.
»Hm — —! Flachgebilde habe ich im Träume auch schon geschaut«, sagte Jensen und verlor sich in Nachdenken.
»Und die Linienkreaturen — —«, fuhr Lund fort und strich sich mit der Hand wie müde über die Augen. »Sie mußten nach meiner Theorie existieren... sie mußten — — die Weiterentwicklung dreidimensionaler Gebilde verlangte diese Unterstufe.«
Der Quäkerspiritist schnitt jetzt ein Gesicht, das deutlich verriet, daß er den alten Professor tatsächlich für übergeschnappt hielt.
»Dann die Punktgebilde, die Embryonen unter den Organismen, eigentümliche Lebewesen — —« plauderte Lund in seiner müde klingenden Sprechweise fort.
»Herr Professor«, warf jetzt Jensen in des Alten Rede ein. »Erinnern Sie sich aller dieser geistig geschauten Gebilde in wirklich völliger Klarheit? Könnten es nicht Trugbilder Ihres erregten Hirnes gewesen sein, die durch Ihre Phantasie gestaltet wurden?«
Die Spiritisten horchten gespannt auf. Die Antwort auf diese Frage war für sie von hoher Bedeutung, da aus ihr hervorgehen mußte, ob ein krankhafter Phantast oder ein genialer Vertreter der Wissenschaft vor ihnen stand.
Lund blickte Jensen einige Sekunden unverwandt an, als wenn er erst den Sinn der gestellten Frage verdauen müßte.
»Ah — — oh! Ihr zweifelt...« versetzte der Professor in gedehntem Tone. »Ich habe die Sphäre der Seelen geschaut wie ich euch jetzt hier schaue. Ich habe die Geister der Toten gesprochen, und drang selbst bis zu Gott vor, um dieses letzte und höchste Wesen in seiner Existenz wahrzunehmen und zu ergründen — — meine Forschung im Transzendentalen wird dem Spiritismus neue Wege bahnen... ha! Die Herren Spiritisten werden mich wohl oder übel zu ihrem Papst ernennen müssen — — zu ihrem unfehlbaren Papst.«
Mr. Richardson warf den beiden anderen Häuptlingen seiner Gilde einen bezeichnenden Blick zu und versetzte in öligem Tone: »Die Spiritisten des ganzen Erdballes werden Sie als den Messias anerkennen, der ihnen die Offenbarungen aus dem Jenseits vermittelt, Herr Professor! Ja, Sie werden von uns die Papstgewalt in die Hände gelegt bekommen.«
»Die vierte Dimension, meine Herren«, antwortete Lund, »existiert, und Sie werden noch viel davon zu hören bekommen. — — Nach dem Tode gibt es ein Fortleben. Die Materie allein ist sterblich, nicht der Geist, der im Menschen wohnt — — die Seele wandert in die Sphäre der Nebelwesen und kommt dort Gott nahe.«
»Herr Professor«, warf Lacombe in seiner hastigen Sprechweise ein, »können wir Ihren Äußerungen wirklich voll und ganz Glauben schenken?«
Lund schaute den Sprecher sinnend an. Dann erwiderte er: »Warum zweifelt man hier immer an meinen Worten? — — ich habe alles erlebt, was ich erzählt — — alles! o! ich bin nicht etwa krank... nein, nein! Die Menschen hier können mich entweder nicht begreifen oder wollen mich nicht verstehen... hm — hm — — es ist auch zuviel für sie. Es ist ein Tohuwabohu für ihre Hirne — — meine Erlebnisse in der anderen Lebenssphäre können sie nicht in den engen Rahmen ihres Fassungsvermögens zwängen. Aber das Experiment, meine Freunde — — es hat alles klipp und klar bewiesen — — klipp und klar. Es gibt eine vierte Ausdehnung im Raume... die geistige innere Tiefe — — das Seelenleben der Menschen ist ein ewiges, unvergängliches, die Sphäre der Nebelseelen ist das Himmelreich, der Ort, wo die Materie nichts, der Geist alles ist.«
Lund hielt hier inne und schöpfte etwas Atem. Es hatte den Anschein, als wenn ihm das Sprechen schwer fiele.
»Glauben Sie, daß Herr Lund normal ist?« flüsterte Richardson Jensen ins Ohr und sah ihn mit gespannten Blicken an.
Jensen zuckte die Achseln und erwiderte leise: »Eins muß geprüft werden...«
»Und das wäre?« fragte der Quäker eilig.
»Es muß festgestellt werden, ob das, was Lund geistig geschaut haben will, nicht bloß Irritationen eines überreizten Hirnes sind — — Halluzinationen vielleicht, verstehen Sie?«
»Verstehe —«
»Die Trance hat ihm möglicherweise nur Bilder vorgegaukelt, die in Wirklichkeit gar nicht existieren.«
In diesem Augenblick trat der Oberarzt ins Zimmer und verlangte, daß die Unterredung ein Ende nehme, da der Patient großer Schonung bedürfe und keineswegs durch solche Besuche aufgeregt werde.
Als sich Jensen und seine Begleiter darauf von Lund verabschiedeten, sagte dieser: »Man hält mich hier zurück... sie glauben alle, ich sei krank. Aber ich sage Ihnen, Jensen, ich fühle mich wirklich ganz wohl — — bin zwar etwas müde und träge, aber mehr ist's nicht.«
»Ich hoffe, daß ich Sie bald wiedersehe, Herr Professor«, versetzte Jensen, indem er sich auf das Drängen des Arztes hin rasch verabschiedete.
Lund nickte mechanisch. »Ich werde als der Papst der Spiritisten den Menschen draußen die Augen öffnen — — ich werde ein neues Evangelium der Wahrheit und neue Dogmen aufstellen...« versetzte er, und starrte dann mit nichtssagendem Blick vor sich hin.
Die Spiritisten entfernten sich mit Jensen. Sie schienen von dem Ergebnis ihres Besuches wenig erbaut zu sein und hielten Lund für geisteskrank.
Jensen konnte sich nicht ganz zu der gleichen Ansicht neigen, trotzdem auch er allen Grund hatte, die Zurechnungsfähigkeit des Professors anzuzweifeln. Das Experiment, das Sehen in der Trance, wollte er nicht so ohne weiteres außer Rechnung stellen.
Nachdenklich trennte sich Jensen von den Spiritisten und begab sich zu Holm, um diesem über Lunds Zustand und Äußerungen zu berichten. Was in dem jungen Mann am meisten Besorgnis erweckte, war die Selbstbezichtigung Lunds als Papst der Spiritisten — — offenbar Anzeichen von ausgebrochenem Größenwahn.
Wochen waren seit diesen Vorgängen ins Land gezogen. Lund hatte das Öresundshospital längst wieder mit seiner Wohnung vertauscht. Die Professur war ihm aber infolge dauernder Geistesgestörtheit entzogen worden. Seitdem lebte der Alte zurückgezogen von der Welt in seiner Klause. Ingrid pflegte ihn, und außer Jensen ließ sich selten jemand zu Besuch im Hause erblicken. Der Phantast und Monatsschläfer wäre darum von der Welt bald ganz vergessen worden, wenn nicht ein ungewöhnliches Ereignis seine Person erneut in den Vordergrund allgemeinen Interesses geschoben hätte.
Ein Professor der Pflanzenphysiologie an der Universität zu Kopenhagen hatte die Entdeckung gemacht, daß man Pflanzen durch eine Ätherbehandlung zu berauschen vermöge und ihnen dadurch die herrschende Jahreszeit vergessen machen könne, so daß dieselben, wenn man sie mitten im Winter aus ihrer Betäubung erweckt und in warme Räume bringt, sofort Blätter und Blüten zu treiben anfangen und bald im Hochsommerflor prangen. Diese Tatsache führte weiter zu der Erkenntnis, daß alle Pflanzen beseelt seien, wodurch sich der Forscher bewogen fühlte, dem Seelengeheimnis im Keime und Samen verschiedener Pflanzen nachzuforschen, und wurden hierzu vor allen sensible Gewächse, wie Mimosen und insektenfressende Pflanzen in die Beobachtungssphäre gezogen, weil man diese für die höchststehenden Organismen im Pflanzenreich hielt.
Das Endresultat eingehender Nachforschungen über die Seelentätigkeit in der Pflanze war, daß es gelang, ein vorhandenes geistiges Fluidum im Zellgewebe nachzuweisen. Und das war ein gewaltiger Fortschritt in der Erkenntnis der Natur und alles Lebendigen. Er führte in der Folge zu der positiven Annahme, daß jedes mit den Sinnen wahrgenommene Leben nichts anderes als ein Zusammenwirken von Geist und Materie sei, und daß beide getrennt voneinander für sich zu existieren vermögen. Das geistige Fluidum, die Seelensubstanz, ging bei der Trennung vom Materiellen nicht verloren — irgendwo im Raume mußte es nach dem Absterben des Organismus verbleiben. Dies führte nun weiterhin in die Sphäre der Lundschen Forschung und ließ die Gedankengänge des Kopenhagener Mathematikers für gar nicht so hirnverbrannt und undenkbar erscheinen, wie sich diese bisher dem Verstande der Gelehrten präsentiert hatten.
Es war unglaublich aber wahr. Professor Frijsenborg hatte geistiges Fluidum von der Materie ablösen können und wenn er es auch nicht auf Flaschen zu füllen vermochte, so verstand er es doch, den Trennungsvorgang experimentell zu zeigen, so daß er mit menschlichen Sinnen wahrgenommen werden konnte.
Die Frijsenborgsche Entdeckung war ein würdiges Pendant zu Lunds Versuchen und Erlebnissen in der Trance und rief allerorts wieder letztere in Erinnerung. Man war nun mehr geneigt, das Lundsche Experiment ernst aufzufassen. Die Wissenschaft stand jetzt mit einem Male den früheren Dingen nicht mehr so bockbeinig gegenüber und fing an, sich mit den Lundschen Versuchen erneut zu beschäftigen.
Für die Spiritisten war die neue Entdeckung natürlich Wasser auf ihre Mühle, und deren Oberhäupter beeilten sich, die Suche für ihre Zwecke dienstbar zu machen und sie nach allen Seiten hin auszuschlachten.
Selbstredend gab es aber immer noch eine erkleckliche Anzahl Zweifler, welche den neu aufgerollten Dingen mit einer gehörigen Dosis Skepsis gegenüberstanden und denen es nicht einleuchten wollte, wie man Pflanzenseelen gleich in Spiritus gesetzte Reptilien aufbewahren könne — es hatte sich nämlich im Volke die irrige Meinung verbreitet, daß Frijsenborg das Seelenfluidum von Karnivoren, sogenannten fleischfressenden Pflanzen, in Glasbehältern besonderer Konstruktion aufgespeichert habe. Da die Skeptiker aber nicht annehmen konnten, daß gleichzeitig zwei berühmte Forscher der Kopenhagener Universität übergeschnappt waren, so bequemten sie sich dazu, die Dinge wie sie lagen, nicht ohne weiteres über Bord zu werfen, sondern sich mit ihnen insgeheim zu beschäftigen.
Jensen hatte von der Frijsenborgschen Entdeckung kaum vernommen, als er sich mit diesem Forscher sofort in Verbindung setzte und damit eine Brücke im Verkehr mit dem in völliger Zurückgezogenheit lebenden Lund bildete, indem er für die Folge einen Gedankenaustausch zwischen den beiden Gelehrten vermittelte.
Frijsenborg fand im näheren Verkehr mit Lund, daß dieser zwar nicht unzurechnungsfähig, aber doch auch geistig nicht normal war. Seit seinem Erwachen aus dem Dauerschlaf war der Alte in einem merkwürdigen Dämmerzustand verblieben, der zwar ein logisches Denken bei ihm nicht völlig ausschloß, der aber oft genug Anlaß gab, daß seine seltsamen Reden nicht immer für bare Münze hingenommen wurden.
In Lunds Wohnung fanden für die Folge also Zusammenkünfte zwischen den beiden Gelehrten statt, deren Ergebnis in wissenschaftlicher Hinsicht vorläufig noch geheim blieb. Nur Jensen wußte darum.
»Es würde sich verlohnen, wenn man einmal untersuchen würde, wie der Pflanzengeist durch Radium beeinflußt wird«, meinte eines Tages Lund, als er mit Frijsenborg über dessen Entdeckung disputierte.
»Sie zeigen mir einen neuen Weg — ich werde ihn einschlagen. Das Radium ist ein Zauberstoff, der schon manches zuwege gebracht und uns Unsichtbares sichtbar gemacht hat«, versetzte hierauf Frijsenborg nachdenklich.
»Die Menschen wollen das aber nicht recht glauben...« murmelte Lund vor sich hin. »Das Vierdimensionale wurde mir entschleiert... das Unsterbliche im Menschen sah ich mit Augen. Das Radium allein hat mir dazu verholfen... ganz allein — hm.«
Frijsenborg war, seit er häufiger mit Lund zusammenkam, nicht mehr so geneigt, diesen als geistesverwirrt zu betrachten. Er hatte erkannt, daß der Alte klar und logisch zu denken vermochte. Freilich, eine gewisse ausgeprägte Gedankenträgheit war unverkennbar bei ihm vorhanden, wohl die Folge einer andauernden Radiumeinwirkung auf das Gehirn.
»Wollen Sie mir die Untersuchungen mit der Pflanzenseelenextraktion überlassen?« fragte Lund seinen Kollegen und starrte dabei gewohnheitsgemäß vor sich hin.
»Ich wollte Sie schon darum bitten — —« erwiderte Frijsenborg. »Sie kommen mir auf halbem Wege entgegen. Sie haben eine genügende Menge Radiumbromid, um operieren zu können. Mir würde dessen Beschaffung, wenigstens in solcher Quantität, nicht so schnell möglich sein.«
»Welche Karnivoren halten Sie für geeignet? Zu dem Experiment gehören doch wohl besonders empfängliche Pflanzen«, meinte Lund und kraute sich in seinem Barte.
»Dionaea muscipula...« antwortete Frijsenborg.
»Eine der bekannten insektenfressenden Pflanzen?«
»Ja, die Venusfliegenfalle ist vielen bekannt.«
»Hm... ich habe schon einmal davon gehört. — — Können Sie mir zwei Exemplare zu den Versuchen überlassen?« fragte Lund.
»Gewiß. Ich habe eine kleine Zucht davon. Morgen früh werde ich einige mitbringen.«
»Wie lange verdauen diese Pflanzen ihren Fang?« fragte Lund mit lässig klingender Stimme.
»Etwa acht Tage. Während dieser Zeit bleibt das Blatt der Venusfliegenfalle geschlossen.«
»Gut. Also morgen erhalte ich einige Exemplare, und ich werde sofort an die Arbeit gehen«, versetzte der Alte.
»Ich bin sehr neugierig, zu welchen Resultaten Sie kommen werden.«
»Eh — — wir haben's mit Materielosem zu tun. Die Seelenfängerei wird nicht gut angehen, aber ich denke, daß ich die Existenz der Pflanzenseele nachweisen kann, sobald es mir gelingt, sie vermittelst Radiums von der Substanz zu isolieren und sie zu einer Reaktion auf gewisse Materien zu zwingen, die mir die Anwesenheit des Pflanzengeistes verrät.«
Lund hatte mit diesen Worten sein Arbeitsprogramm dem Kollegen verraten, zum wenigsten angedeutet, auf welche Art und Weise er den Dingen zu Leibe gehen wollte.
Frijsenborg verabschiedete sich bald darauf und versprach nochmals die Pflanzen zu bringen. Er ließ dabei aber durchblicken, daß er den Experimenten gern beiwohnen würde.
Lund meinte hierzu, daß dem nichts im Wege stände. Frijsenborg war erfreut darüber und wollte die Pflanzen sogleich holen, um möglichst schnell mit den Versuchen zu beginnen.
Als Frijsenborg ihn verlassen hatte, ging Lund in eine dunkle Kammer, in welcher er den Telepator mit seinem Radiuminhalt aufbewahrte.
Wochenlang hatte er das Gemach nicht betreten, niemals war die Tür inzwischen geöffnet worden, da er stets den Schlüssel bei sich trug.
Eine eigentümlich riechende Luft drang dem Alten entgegen, als die Tür aufgeklinkt war. Auch schien es, als wenn ein grünlicher Lichtschein den Raum durchflute.
Lund blieb auf der Schwelle stehen.
In diesem Augenblick kam Jensen zu Besuch. Er wurde stets unangemeldet vorgelassen. Als er den Alten in seinem Gemache, wo sich dieser sonst tagsüber aufzuhalten pflegte, nicht antraf, fragte er Ingrid, ob Lund abwesend sei.
Ingrid erschrak.
»Im Zimmer ist er nicht«, rief Jensen die Treppe hinab.
Ingrid, welche unten auf dem Flur stand, eilte schnell die knarrenden Stiegen zum ersten Stock hinauf, um sich nach ihrem Pflegevater umzusehen.
»Wo mag er nur sein?« fragte sie ängstlich und lief den halbdunklen Korridor entlang.
»Die Kammertür ist offen!« rief sie Jensen zu. »Er muß hier drinnen sein... Vater, bist du hier?«
Jensen begab sich jetzt ebenfalls nach hinten.
»Gott! wie das hier riecht!« rief Ingrid und klappte die Tür zu dem dunklen Gemach auf.
Erschrocken wich Ingrid nun zurück. Auf der Schwelle stand Lund und lehnte sich an den Türpfosten, anscheinend nach Atem ringend.
»Vater! Um Himmelswillen, was ist passiert?« fragte Ingrid und erfaßte seine Hände.
Lund wankte jetzt mühsam heraus.
»Das Radium...« brachte er über die bleichen Lippen.
Jensen überschaute sofort die Situation.
»Kommen Sie schnell heraus!« rief er dem Alten zu.
»Was ist nur wieder?« jammerte Ingrid.
»Das Radium...« murmelte Lund und schritt über die Schwelle auf den Flur hinaus.
»Kommen Sie, Herr Professor.«
»Sagen Sie doch nur, was passiert ist?« fragte Ingrid flehend Jensen.
»O, es wird nicht schlimm sein — — das vermaledeite Radium hat ihm wahrscheinlich wieder einen Streich gespielt. Die Ausstrahlung ist so intensiv...«
»Bist du wohl, Väterchen?« fragte Ingrid, sich an den Alten anschmiegend.
»Ja... ja — — hm...« murmelte Lund und starrte vor sich hin.
Der Alte wurde nun von Jensen und Ingrid in sein Zimmer geführt, wo er sich in einem Sessel niederließ.
»Öffnen Sie doch bitte die Fenster... frische Luft wird ihm gut tun«, sagte Jensen.
Ingrid tat wie ihr geheißen.
Nach wenigen Minuten schon hatte sich der Alte von dem Streich, den ihm das Radium gespielt hatte, erholt.
»Das Teufelszeug...« sagte er dann, als Jensen auf den Inhalt des Telepators zu sprechen kam.
»Es ist das beste, wenn das Radium aus dem Hause geschafft wird«, meinte Ingrid.
Dagegen protestierte der Alte aber heftig.
Jensen und Ingrid wechselten einen Blick miteinander. Beide schienen die Entfernung des Radiums trotzdem beschlossen zu haben.
»Frijsenborg will ja damit experimentieren«, versetzte Lund, als Ingrid auf das Wegschaffen der gewünschten Substanz drängte.
»Dann mag er es in sein Haus nehmen«, antwortete Ingrid.
»Ich gebe es nicht aus den Händen... was denkst du? das Zeug ist ungeheuer kostbar — — es hat mir eine neue Welt erkennen helfen... ich sah die vierte Dimension, die Nebelseelen und...« Das übrige verschluckte der Alte.
Sobald Lund auf die Nebelseelen zu sprechen kam, wurde es Ingrid ungemütlich. Sie fürchtete dann immer sofort wieder um den Verstand ihres Vaters.
Nach einer geraumen Weile tauchte Frijsenborg wieder auf und hörte von dem stattgehabten Vorgange.
»Sapperlot! Hm... man muß doch vorsichtig sein«, meinte er und kraute sich in den Haaren.
»Bitte, lassen Sie Herrn Lund nicht allein experimentieren, wenn es eben sein muß«, sagte Jensen leise zu dem Professor.
Dieser nickte.
»Was haben Sie dort mitgebracht?« fragte Ingrid und warf einen Blick auf ein mit Zeitungen umwickeltes Gefäß.
»Es sind einige Pflanzen darin«, versetzte Frijsenborg.
»Aha — — die Karnivoren...« warf jetzt Lund in das Gespräch ein.
Frijsenborg nickte.
»Und was soll nun geschehen?« fragte Ingrid, die immer neues Unheil witterte, ängstlich.
»Ich wollte ein kleines Experiment veranstalten«, erwiderte der Gefragte.
Bei dem Worte Experiment zuckte Ingrid zusammen.
»Herr Kollege, befinden Sie sich wieder wohl?« fragte Frijsenborg den Alten.
Lund bejahte. »Wir können mit der Sache gleich beginnen.«
Ingrid wurde nun aus dem Zimmer geschickt, obwohl sie damit nicht einverstanden war.
»Ich werde über Ihren Herrn Vater wachen«, sagte Frijsenborg ihr flüsternd ins Ohr.
Und als auch Jensen ihr ähnliches versicherte, war Ingrid beruhigt und begab sich wieder nach unten.
»Also die Kammer war fünf Wochen lang verschlossen?« fragte Frijsenborg, als man ins Gespräch kam.
»Ich glaube, daß es solange her ist«, versetzte Lund.
»Ich habe kleine Glasgefäße mitgebracht, die hermetisch verschließbar sind. Vielleicht können wir in diese einige Pflanzen bringen und sie den Wirkungen des Radiums aussetzen«, sagte Frijsenborg und kramte aus seiner Manteltasche mehrere Pakete heraus.
»Was soll nun geschehen?« fragte Jensen.
»Wollen Sie mir behilflich sein, so soll es mir angenehm sein«, versetzte Frijsenborg.
»Gern — sehr gern.«
Jensen wurde nun schnell über das Vorhaben der beiden Gelehrten in Kenntnis gesetzt.
»Also die Pflanzen sollen in eine Art Trancezustand verbracht werden, wenn ich recht verstehe«, meinte Jensen und blickte die von ihrer Umhüllung inzwischen befreiten Pflanzen an.
»Sie haben falsch verstanden, junger Mann«, erwiderte Frijsenborg. »Es liegt in unserer Absicht, den Karnivoren dort ihren Geist — ihre Seele zu entziehen.«
Jensen blickte den Sprecher verwundert an. War dieser auch nicht mehr ganz bei Sinnen?
»Es gilt, die Wirkung des Radiums auf die Venusfliegenfallen auszuprobieren, wobei ich auf eine Trennung der Pflanzenmaterie vom Pflanzengeist rechne.«
»Gelingt die Sache, so habe ich handgreifliche Beweise für die Existenz der vierdimensionalen Sphäre«, fügte Lund in seiner langsamen Sprechart hinzu.
»Sie sehen, junger Mann, wir gehen einem großen Problem zu Leibe«, meinte hierauf Frijsenborg.
»Wenn das Radium uns dabei nur nicht einen Possen spielt — wir sind über das Zeug noch lange nicht Herr«, versetzte Jensen und berührte eine der Pflanzen.
Die betastete Venusfliegenfalle ließ ihr Blatt plötzlich schließen.
»Bitte, berühren Sie die Dinger nur nicht!« rief Frijsenborg und legte seine Hand auf die Jensens. »Sie sehen, Sie verderben die Sache im voraus, die Pflanzen reagieren auf jede Berührung.«
»Wir wollen die Karnivoren zunächst einmal in die Trance versetzen«, meinte nun der Alte.
»In die Trance... was wollen wir damit erreichen?« fragte Frijsenborg.
»Je nun — — — vielleicht treiben sie wunderliche Sprossen und Blüten... abnorme — —« gab Lund zur Antwort.
»Das ist ein Gedanke, wert ihn auszuführen«, ließ sich Frijsenborg erfreut vernehmen.
Es wurden nunmehr einige Vorbereitungen getroffen, um die Pflanzen in die dunkle Kammer zu bringen.
»Wie lange werden wir die Dinger wohl darin lassen müssen?« frug Frijsenborg Lund.
»Eine oder zwei Stunden werden keine sonderlichen Resultate liefern«, meinte Lund.
»Ich denke, wir belassen sie zwölf Stunden in der Kammer.«
Lund war damit einverstanden.
»Hoffentlich gehen mir die Pflanzen nicht dabei ein«, sagte Frijsenborg.
»So wollen wir vorläufig nur ein Exemplar opfern«, erwiderte Lund.
»Gut... nur ein Exemplar. Es wird sich ja dann zeigen, wie die Karnivoren auf das Radium reagieren.«
Die Pflanze wurde nun in die Kammer gebracht, wobei man aber mit der nötigen Vorsicht zu Werke ging.
Intensiv war der dem Gemach entströmende Geruch und er schien stark auf die Schleimhäute der Männer zu wirken.
»Nun wollen wir die Kammer schnell verschließen«, sagte Frijsenborg, als die Venusfliegenfalle an Ort und Stelle, in die unmittelbare Nähe der auf einem Tische liegenden Radiumröhre gebracht worden war.
Nachdem die beiden Gelehrten dann noch eine Weile die fernerhin geplanten Experimente durchgesprochen hatten, trennte man sich, um am folgenden Morgen wieder zusammen zu kommen.
Wiederholt erkundigte sich Ingrid am Abend nach Lunds Befinden. Sie war noch immer sehr besorgt darum, daß der Alte abermals etwas davongetragen haben könnte. Auch vergewisserte sie sich, daß die verhängnisvolle Kammer fest verschlossen war.
Der folgende Morgen sollte nun allerlei interessante aber auch betrübende Momente zeitigen.
Als Ingrid ihrem Vater den Morgenkaffee brachte, fand sie den Alten wieder in einem Schlafe liegend, aus dem er nicht zu erwecken war. Zu Tode erschrocken ließ sie einen Arzt rufen und dieser konstatierte, daß Lund wieder einen Anfall jener merkwürdigen Schlafkrankheit, welche er schon einmal durchgemacht, bekommen hatte.
Frijsenborg fand, als er kam, um das Resultat des Experimentes zu erfahren, die Kammer halb offen. Lund mußte also wieder über Nacht darin gewesen sein, denn kein anderer besaß den Schlüssel. Er erschrak darüber.
»Wahrscheinlich hat er sich aus Neugier verleiten lassen, die Kammer über Nacht zu betreten«, meinte Frijsenborg zu Ingrid und Jensen.
»Die unglückselige Kammer!« rief Ingrid. »Das Radium muß heute noch aus dem Hause.«
»Ich werde die Röhre in Verwahrung nehmen«, versetzte der Professor, als er von Lunds bedenklichem Zustand Kenntnis erhalten hatte. »Das Radium ist bei mir sicher aufgehoben.«
»Ach ja! tun Sie das!« erwiderte Ingrid.
»Was nun?« meinte Jensen. »Hoffentlich übersteht der alte Herr die Sache wieder. Das letzte Mal hatte sie ihn erheblich mitgenommen.«
Frijsenborg begab sich nun mit Jensen in die Kammer, und ersterer ergriff hastig, um so schnell wie möglich aus dem Bereich der radioaktiven Atmosphäre zu gelangen, die Pflanze. Beim Wegnehmen bemerkte er, daß der Topf auf dem Tische eine strahlende, grünliche Lichtkorona zurückließ.
Aus der Kammer herausgetreten, gewahrte der Gelehrte zu seiner größten Verwunderung, daß die Pflanze seltsam geformte Blüten von schillernder Farbe trug. Ein halb Dutzend zu einem Bündel auf einem Stengel vereint. Die Blätter waren um das Doppelte ihrer früheren Größe gewachsen, und von den Blüten ging ein betäubender Duft aus.
»Komisch! Eigentümlich! — — sehen Sie doch nur!« rief Frijsenborg erstaunt einmal über das andere aus und hielt die Pflanze hoch.
»Seltsam!« rief Jensen. »Die Wirkung des Radiums! — Die Welt wird durch das Zeug noch einmal ganz verändert.«
»Jahrelange Kreuzungen könnten eine solche Pflanze nicht in dem Maße verändern, wie dies das Radium in einer einzigen Nacht bewirkt hat. Wir stehen vor einer neuen Epoche wissenschaftlicher Erkenntnis.«
Die Venusfliegenfalle in ihrer Verwandlung gab tatsächlich ein seltsames Bild ab und zeugte von den immensen eigentümlichen Wirkungen des Radiums. Frijsenborg war über die Dinge höchlichst erstaunt und hätte fast seinen erkrankten Kollegen ganz darüber vergessen, wenn nicht Ingrid ihn daran erinnert hätte.
»Ich werde nun für die Folge meine Experimente wohl allein vornehmen müssen«, sagte Frijsenborg zu Ingrid. »Herr Lund darf mit den Sachen keinesfalls wieder in Berührung kommen, sonst fürchte ich, daß es noch einmal einen traurigen Abschluß nimmt. Ich hoffe, daß der alte Herr diesmal wieder mit einem blauen Auge davon kommt.«
Lund wurde auf Anraten des Arztes am selben Tage noch ins Öresundshospital verbracht, wo er wieder dasselbe Zimmer wie vor Wochen bezog und von demselben Arzt erneut behandelt wurde.
Die Zeitungen durchschwirrte bald darauf die Nachricht, daß Professor Lund abermals in einen Dauerschlaf verfallen sei, und daß wiederum das Radium hierzu Anlaß gegeben habe.
Ferner berichteten die Tagesblätter in langen Abhandlungen, die teils von Gelehrten, teils von Laien abgefaßt waren, über die seltsamen Versuche des Pflanzenphysiologen Frijsenborg in Kopenhagen. In einigen Artikeln wurde der Welt weis gemacht, daß es jetzt tatsächlich gelungen sei, durch Radium Seelenfluidum auf Flaschen zu ziehen.
Es war überaus lächerlich! Seelen auf Flaschen ziehen!
Hunderttausende, ja fast über ein Viertel der ganzen Menschheit glaubten es nahezu. Und die Dinge, wie sie lagen, nahmen immer größere Unwahrscheinlichkeit an, je mehr davon in die Zeitungen lanciert wurde — lanciert von unwissenden Laien und Berichterstattern, für die die ganze Sache ein überaus sensationeller Stoff war.
Die Menschen wurden mit Nachrichten der unsinnigsten Art hintereinander überfüttert und wußten bald nicht mehr, was sie denken sollten. An einem 1. April konnten nicht mehr fette Enten in den Zeitungen auftauchen, als zu dieser Zeit.
Kaiser und Könige, Gelehrte und Laien, Amerikaner wie Chinesen und Japaner, kurz alle Welt sah den Dingen, die in Kopenhagen vor sich gingen und die für Lunds einstmalige Experimente und das Vorhandensein einer Geistersphäre, einer vierten Dimension, sprachen, mit wachsendem Erstaunen entgegen.
Dann trat der große Rückschlag sein.
Frijsenborg mußte eines Tages zugeben, daß der von ihm in Gefäßen aus Celluloid internierte Pflanzengeist nach eingehendster Untersuchung nichts anderes war als Materieteilchen in Atomzerstäubung, also etwa in Form der Duftträger, wie sie von Organismen fortgesetzt ausgestoßen werden.
Frijsenborg war, wenn man seine Forschungen jetzt bei Licht betrachtete, nur einen Schritt in der Erkenntnis der Natur vorgegangen. Er hatte mit seinen Experimenten nachgewiesen, daß der Duft der Pflanzen, soweit er von diesen ausgesandt wurde, nichts anderes war, als ein unausgesetztes Ausstrahlen von kleinsten Teilen der Materie — ein fortwährendes Bombardement von ausgestoßenen Stoffpartikelchen in Atomgröße. Was man für Geist — für die Seele der Pflanze gehalten hatte, war also nichts anderes als konzentrierter Duft.
Nach dieser Erkenntnis flaute sofort das gewaltige Interesse für Lunds Phantasieforschung und seine seltsamen Resultate gewaltig ab, besonders nachdem bekannt geworden war, daß eine Überführung Lunds nach seinem Wiedererwachen in eine Irrenanstalt sich als nötig erweisen würde.
Die einzigen, welche den Kopenhagener Forscher nicht vergaßen und seine Lehren von der vierten Dimension nicht unmittelbar für Irrlehren hielten, waren die Spiritisten. Richardson, Wilson und Lacombe gerierten sich allein als begeisterte Anhänger eines Mannes, dem es gelungen war, die Sphäre der Geister zu schauen und mit Toten der Erde zu verkehren.
Ein dänischer Verleger ließ sich herbei, im Glauben ein Geschäft zu machen, Lunds unvollendet gebliebenes Lehrbuch einer metaphysischen Geometrie zu veröffentlichen und er hatte sich in seiner Berechnung auch nicht getäuscht, denn das Buch wurde als wissenschaftliche Kuriosität von vielen gekauft. Die psychischen Formeln, jene von Lund aufgestellten Substitute für Gedankenwerte, gaben immerhin zu denken und schienen geeignet zu sein, der philosophischen Forschung neue Wege zu weisen.
Der moderne Heilmittelschwindel bemächtigte sich seinerseits des Frijsenborgschen Pflanzengeistes als eine gut verwertbare Mixtur für Gesunde und Kranke zur Auffrischung der Lebensgeister. Eine amerikanische Firma bahnte dieser seltsamen Mixtur durch eine ungeheure Reklame einen Weg ins Volk und setzte dadurch Millionen von Flaschen ab. Ob das Mittel irgend jemand jemals geholfen hat, darüber ist bis heute nichts verlautet.
Jensen, der späterhin eine Anstellung in der königlichen Bibliothek erhielt und Lunds Pflegetochter als Frau heimgeführt, erwarb nach einigen Jahren das Manuskript des Lehrbuches der metaphysischen Geometrie von dem Verleger des Werkes zurück und bewahrte dasselbe als unvergeßliches Andenken an den inzwischen aus dem Leben geschiedenen Verfasser auf.
Nachdem Lund die Augen für immer geschlossen und in die Sphäre der Nebelseelen übergesiedelt war, wurde für eine kurze Zeit die Erinnerung an ihn wieder wach.
Man sprach abermals von dem Problem der vierten Dimension und fand nach wie vor, daß das menschliche Fassungsvermögen zu eng begrenzt sei, um eine Lösung des Problems jemals herbeiführen zu können.
Roy Glashan's Library
Non sibi sed omnibus
Go to Home Page
This work is out of copyright in countries with a copyright
period of 70 years or less, after the year of the author's death.
If it is under copyright in your country of residence,
do not download or redistribute this file.
Original content added by RGL (e.g., introductions, notes,
RGL covers) is proprietary and protected by copyright.