Roy Glashan's Library
Non sibi sed omnibus
Go to Home Page
This work is out of copyright in countries with a copyright
period of 70 years or less, after the year of the author's death.
If it is under copyright in your country of residence,
do not download or redistribute this file.
Original content added by RGL (e.g., introductions, notes,
RGL covers) is proprietary and protected by copyright.
RGL e-Book Cover
Based on an image created with Microsoft Bing software
Oskar Hoffmann, Phatastische Novellen,
Verlag Dieter von Reeken.
›Bibliothek für Alle‹. Stuttgart/Leipzig:
Zeller & Schmidt, 1. Jg. 1909, Bd. IV, Einbanddeckel
›Bibliothek für Alle‹. Stuttgart/Leipzig: Zeller & Schmidt,
1. Jg. 1909, Bd. IV, Titelseite (S. 3, unpaginiert)
Der Beginn der Erzählung
Eine Luftreise in die Eisregionen von Oskar Hoffmann. In:
›Bibliothek für Alle‹. Stuttgart/Leipzig:
Zeller & Schmidt,
1. Jg. 1909, Bd. III, S. 81
In der englischen Stadt Manchester war John Reilly als reicher Sonderling bekannt. In seinen jungen Jahren hatte er als Ingenieur in Nordamerika emsig gearbeitet; als er dann später eine große Erbschaft antrat, gab er seinen Beruf auf — doch nur in praktischer Hinsicht; als Privatgelehrter beschäftigte er sich theoretisch weiter, ersann allerlei Konstruktionen, entwarf zeichnerisch haarsträubende Projekte, ließ viele Modelle von Maschinen und Instrumenten herstellen — kurz, wer in sein Laboratorium geriet, der glaubte in einer richtigen Erfinderwerkstatt zu sein. Es gab wohl kein bekanntes Problem, mit dessen Lösung sich John Reilly nicht beschäftigt hätte. Seine Versuche, Elektrizität direkt aus der Kohle zu gewinnen, Diamanten künstlich herzustellen, und ein kostenloses Ideallicht aus der elektrischen Zersetzung des Wassers zu erzeugen, waren für den vielseitigen und scharfsinnigen Mann ebenso Lebensaufgaben, wie die Erfindung eines lenkbaren Luftschiffes und eines neuen astronomischen Sehwerkzeuges, welches eine hundertmal stärkere Vergrößerungskraft als alle existierenden Refraktoren und Reflektoren erhalten sollte.
Zu der Zeit, wo unsere Erzählung einsetzt, versuchte sich John Reilly ausschließlich mit dem Problem der Lenkbarkeit der Luftschiffe. Durch die Erfindung eines eine immense Aufspeicherungskraft besitzenden Akkumulators von ungemein leichtem Gewicht war er der Lösung des Flugproblems außerordentlich nahe gekommen — ja, es schien damit eigentlich schon gelöst, denn die treibende Kraft des Fahrzeuges war geschaffen, es galt nur noch letzteres selbst zu konstruieren, und das war für den Erfindungsgeist dieses Mannes keine Aufgabe, derer er sich nicht schnell und mit Geschick erledigt hätte.
Schon seit Wochen — vom Geburtstage des neuerfundenen Akkumulators ab — befand sich John Reilly täglich bis in die späten Nachtstunden hinein in fieberhafter Tätigkeit. Tagelang hatte er gegrübelt und gerechnet, um für das neue Luftvehikel die denkbar beste und vorteilhafteste Bauart zu ersinnen. Gerechnet hatte John Reilly — der Leser wird staunen. Zwölf Wochen hindurch waren mathematische Formeln auf Formeln gehäuft worden; erst machte der ingeniöse Erfinder den Versuch, die Konstruktionsaufgabe, welche in erster Linie auf der besten Behebung des Luftwiderstandes fußte, mittels der Integralrechnung zu lösen, dann ging's in die Differentialrechnung hinüber, und das schwierige Exempel wurde schließlich mit Hilfe der Funktionentheorie beendet. Die unendlich vielen und häufig arg verwickelten Gleichungen, bei welchen sich der Rechner mit einer Menge »Unbekannten« herumzuschlagen hatte, füllten eine solche Anzahl Blätter, daß ein wohl zwanzig Meter langes Rechenexempel dabei herausgekommen wäre, hätte man sie zusammengeklebt.
Unverzüglich ging John Reilly nun daran, auf Grund der gelungenen Rechnung, von dem problematischen Luftfahrzeug einen für die Konstruktion nötigen zeichnerischen Entwurf zu Papier zu bringen, was ihm bei seiner Geschicklichkeit auch schnell gelang. Jetzt war alles genügend vorbereitet. Das lenkbare Luftschiff war theoretisch also erfunden. Eine Anzahl tüchtiger Mechaniker mußten nun sogleich an den Aufbau der Flugmaschine gehen. In einer auf seinem Hofe für diesen Zweck besonders errichteten Werkstatt wurde unter John Reillys persönlicher Aufsicht Tag und Nacht an der Herstellung der Einzelteile und an der Zusammensetzung derselben gearbeitet. Teilchen mußte auf Teilchen passen, keine der Rippen des Fahrzeuges durfte einen größeren Neigungswinkel, als derselbe in der Rechnung vorgesehen war, besitzen, sollte nicht die Theorie an der Praxis scheitern. Besonders die Herstellung des neuen Akkumulators schien mit Schwierigkeiten verknüpft, so einfach die Konstruktion auch vorgesehen war. Im Prinzip beruhte diese Kraftaufspeicherungsmaschine darauf, daß durch elektrolytische Zersetzung von Wasser der hierbei freiwerdende Sauerstoff und Wasserstoff, in dem Akkumulator getrennt, in komprimierter Form aufgespeichert wurde. Durch die Wiedervereinigung beider hochgespannter Gase mittels einer sehr sinnreichen mechanischen Vorrichtung konnte eine sich auf etwa 50 Pferdestärken bemessende Kraft erzielt werden. Man sah es nach Fertigstellung dem kleinen, kaum einen Meter langen und eineinhalben Meter breiten zylindrischen Akkumulator nicht an, daß er ein Kraftreservoir war, mit dessen Hilfe man monatelang eine Maschine in Betrieb halten konnte.
Als das Fahrzeug nach etwa dreiwöchentlicher Arbeit vollendet war, entließ John Reilly alle Mechaniker bis auf einen. Dieser hatte bisher als Obermonteur die Konstruktion der Flugmaschine geleitet. Edward Eliot, so hieß der junge, kaum dreißigjährige Mann, hatte sich, seitdem ihn John Reilly kennen lernte, dessen Vertrauen und Achtung zu erwerben gewußt. Seine Begabung schien auch eine vor allen seinen Kollegen hervorstechende zu sein. Schon als er Reillys Konstruktionsplan sah, erkannte er beim ersten Überblick, welche Aufgabe er zu lösen hatte, und wußte im voraus, daß er dieser gerecht werden konnte; ja, er gab sogar John Reilly Winke zu einer Verbesserung der Konstruktion. Das mußte dem Erfinder des Fahrzeuges sehr imponiert haben, denn während der ganzen Zeit der Herstellung beriet er viel und oft mit Eliot. In den beiden Männern waren so recht die Vertreter von Theorie und Praxis zusammengekommen. Wer weiß, ob die Flugmaschine je ihren Dienst getan hätte, wenn nicht deren Aufbau durch Mr. Eliot besorgt worden wäre. Reilly wußte sehr wohl, daß gerade bei der Flugtechnik die Praxis der Theorie nur zu gerne einen Possen spielte. Wie viele scharfsinnige Köpfe hatten doch schon ein solches Vehikel erdacht, berechnet und zu Papier gebracht. Theoretisch stimmte alles bis in die kleinsten Einzelheiten, kam es dann aber zur praktischen Ausführung, so sahen die Erfinder fast immer das Kind ihres Geistes an irgend welchen, meist unerklärlichen Umständen scheitern.
Besagter Eliot hatte sich also bald die Freundschaft des alten Herrn erworben, und es war bereits beschlossene Sache, daß ersterer den letzteren auf einer Probefahrt begleiten sollte. Der erste Aufstieg wurde geheim gehalten, um, falls man mit dem neuen Luftschiff Fiasko erleiden würde, dem Spott der Manchester Bürger zu entgehen. John Reilly wußte, daß man allerorten in der Stadt über seine ungeheuerlichen Phantasieprojekte spöttelte — Reillys liebe Mitbürger hatten dazu freilich auch allen Grund, denn noch niemals sahen sie eine jener kühnen Ideen praktisch verwirklicht vor sich.
Es war beschlossen worden, in der Nacht zum 1. Juli die Probefahrt anzutreten. Die Reise sollte über Liverpool und die Irische See hinweg nach des Erfinders Geburtsort Dublin in Irland gehen. In der Luftlinie lag das Ziel rund 280 Kilometer von Manchester entfernt, wovon 50 Kilometer auf die Wegstrecke bis Liverpool entfielen, also 230 Kilometer über der Meeresoberfläche zurückzulegen waren. Da die Geschwindigkeit des neuen Luftschiffes bis auf 75 Kilometer pro Stunde getrieben werden konnte, just also so schnell wie die Luxuszüge der Eisenbahnen fahren, so mußte die geplante Luftreise in bereits weniger als vier Stunden beendet sein — wenn das große Unternehmen glückte, wahrhaftig eine respektable Leistung einer Flugmaschine.
Am Tage vor der Abreise untersuchten Reilly und sein praktischer Fachgenosse Eliot das Fahrzeug noch einmal aufs gründlichste, und beide waren darauf von dem Gelingen ihrer Probefahrt völlig überzeugt — es mußte alles so verlaufen, wie es geplant war. »Doch mit des Geschickes Mächten ist kein ewiger Bund zu flechten!« Es sollte anders kommen, als es auf John Reillys Programm stand. — — —
Der Abfahrtstermin war da. In dem Innenraum des Luftschiffes, welcher etwa 3 Meter im Quadrat hatte, fanden zwei Personen bequem Platz, und es konnten auch allerlei Instrumente und Lebensmittel darin verstaut werden, ohne daß sie sonderlich gehindert hätten. Die Auftriebskraft der Maschine war eine so große, daß sie ein Totalgewicht von nahezu 40 Zentnern in beliebige Höhe mit Leichtigkeit zu heben vermochte. Vorsichtigerweise nahm John Reilly so viel Mittel zum Lebensunterhalt mit, daß beide bequem hätten einige Wochen davon leben können — ›man kann ja nicht wissen, was passiert,‹ so dachte der geniale Erfinder, und wie der Leser im Verlauf auch sehen wird, war die Vorsicht diesmal vortrefflich am Platze gewesen.
»Wann fahren wir ab?« frug Eliot, als er die letzte Hand an die Vorbereitung zur Reise legte.
»Punkt zwei Uhr,« erwiderte John Reilly.
»Dann wären wir etwa zu Sonnenaufgang in Dublin,« gab der Mechaniker zurück.
»Ganz recht — um fünf Uhr, vielleicht auch erst um sechs Uhr.«
»Ob alles so glatt ablaufen wird, wie wir es geplant haben?«
»Ich denke — doch machen wir uns deswegen keine Sorge.«
»Wie aber, wenn wir gerade über der See einen Unfall erlitten.«
»Das wäre nicht schlimmer als über dem Lande. Überdies treiben ja in der Irischen See so viele Schiffe, daß wir bei einem Unfalle wohl sicher auf Rettung rechnen können?«
»In welcher Höhe über der Erde wollen wir eigentlich die Fahrtrichtung beginnen?« fragte Eliot und überflog mit einem Blick eine kleine Karte des Britischen Reiches.
»Es dürfte wohl am geratensten sein, so nahe als möglich über Land und Wasser zu schweben.«
»So wollen wir also nicht den Versuch machen, probeweise eine größtmögliche Höhe zu erreichen?«
»Ein einzelner Versuch könnte ja wohl schon gemacht werden.«
»Wir haben zum Glück nordöstlichen Wind.«
»Das ist mir sehr erwünscht,« sagte John Reilly, »dadurch wird der Luftwiderstand auf ein erhebliches Minimum reduziert.«
»75 Klometer in der Stunde ist eine nette Fahrt,« meinte Eliot lächelnd, »ich bin froh, wenn wir mit der Hälfte dieser Geschwindigkeit vom Fleck kommen.«
»Oho,« rief Reilly, »damit bin ich aber nicht zufrieden.«
»Werden Sie auch den Kurs sicher einhalten können?«
»Kleinigkeit. Kompaß und Sextant lassen mich nicht im Stich; überdies haben wir klaren Himmel, und ich vermag mich jederzeit durch Messung der Monddistanz zu orientieren.«
»Wollen wir das Fahrzeug verschließen, oder halten Sie das nicht für nötig?«
»Es regnet ja nicht,« meinte Reilly. »Zudem gedenke ich auch einige meteorologische Messungen über der Seeoberfläche vorzunehmen, schon deshalb muß ich die Deckenluke offen halten.«
»Da unser Fahrzeug beleuchtet wird, werden die lichtschimmernden Fenster wohl bald die Aufmerksamkeit der Leute erregen, und dieser oder jener wird sich den Kopf zerbrechen, was für ein wanderndes Licht da oben am Himmel hinzieht.«
»Ja, es wird drollig aussehen,« sagte Reilly. Man stelle sich nur vor, wie unser erleuchteter Kasten in 500 Metern Höhe im Dunkel dahinschwebt.« Bei diesen Worten lachte der Sprecher und betrachtete schmunzelnd das Produkt seines Erfindungsgeistes.
»Sollte die Probefahrt glänzend gelingen, so beabsichtigen Sie doch sicher eine größere Reise zu unternehmen; darf ich Sie in diesem Falle bitten, mich wiederum daran teilnehmen zu lassen?«
»Gewiß, mein lieber Eliot, es ist mir sogar höchst angenehm,« sagte der Gefragte und drückte seinem Partner die Hand.
»Donner und Doria! Da müßte man einmal eine Fahrt um die Welt riskieren, wieviel Zeit würden wir wohl dazu gebrauchen?«
John Reilly rechnete einen Augenblick nach, dann sagte er: »Der Umfang der Erde beträgt 40 Millionen Meter, pro Stunde vermag unser Fahrzeug 75 Kilometer zurückzulegen, daraus ergibt sich, vorausgesetzt, wir würden die Fahrt keine Minute unterbrechen, eine Fahrzeit von rund 22 Tagen.«
»Fabelhaft. In drei Wochen rund um die Erde? — Na, sagen wir's vorläufig niemand, man möchte uns sonst für geistesgestört halten,« erwiderte der junge Eliot lachend.
Als die Zeit der Abfahrt eintrat, bestiegen die beiden Luftschiffer ihr Fahrzeug, welches mitten in dem geräumigen Hofe stand, von wo aus die Auffahrt bequem bewerkstelligt werden konnte. — Punkt zwei Uhr wurde der Akkumulator in Tätigkeit gesetzt, und die drei Meter breite Luftschraube trat ziemlich geräuschlos in Funktion. Ihre Flügel durchschnitten blitzartig rotierend die Luft; vermochte sich doch die Schraube in einer Sekunde hundertmal um die Achse zu drehen, eine Geschwindigkeit, welche die der Propellerschrauben unserer größten Dampfschiffe um wenigstens das Sechzigfache übertraf. Majestätisch hob sich das Vehikel schnell in die Luft empor. Triumphierend sah John Reilly, wie das Luftschiff der leisesten Bewegung des Steuerruders nach jeder Richtung hin Folge gab.
»Sehen Sie nur, wie prächtig das Ding steigt, es übertrifft alle meine Erwartungen,« rief er hocherfreut aus.
»Trotzdem auch ich schon vorher überzeugt war, daß der Aufstieg unbedingt schnell und gut gelingen müsse, bin ich doch von dem sicheren und tadellosen Funktionieren des Fahrzeuges außerordentlich überrascht,« gab der junge Mechaniker zurück.
»Wir wollen uns jetzt in die Arbeit teilen,« sagte Reilly. »Überwachen Sie die Tätigkeit des Akkumulators, ich werde das Steuer führen.«
Schon nach wenigen Minuten befanden sich die Luftschiffer hoch über den Türmen der Kathedrale von Manchester. Den Fluß Irwell, an dessen linkem Ufer die Grafschaft, über welche das Luftschiff soeben dahinflog, liegt, konnten die Insassen desselben deutlich als ein vom Mond beschienenes, sich durch die Landschaft schlängelndes Band erkennen.
»Wir befinden uns bereits 400 Meter hoch,« sagte Reilly, indem er einen Blick auf das Barometer warf.
»Werden Sie noch höher steigen?«
»Ja, suchen wir zunächst 1000 Meter zu erreichen.«
Pfeilschnell schoß das Fahrzeug kerzengerade in die Luft hinauf. Schon verschwanden den Blicken der beiden die Lichtpunkte, welche sie eben noch zwischen dem dunkeln Häusermeer Manchesters erblickt hatten.
»Wird das Gewölk über uns kein Hindernis bilden?« meinte Eliot und schaute unverwandten Auges durch die Deckenluke empor.
»Nein,« erwiderte John Reilly, »wir werden nichts als einen dichten Nebel um uns herum spüren.«
Jetzt saust das Vehikel durch eine Wolkenschicht, welche Eliot, nachdem sie dieselbe vertikal durchschnitten hatten, auf mehr denn 40 Meter Dicke schätzte. Oben empfing sie wieder da Silberlicht des Mondes, welches die weiße Wolkendecke unter ihnen beleuchtete und wie ein großes Schneefeld erscheinen ließ. Der Anblick war wunderbar. —
Höher und höher stieg das Fahrzeug. Nach einigen Augenblicken bemerkte Reilly: »Mr. Eliot, sehen Sie« — dabei zeigte der Sprecher auf den Barometer —, »1000 Meter Höhe sind erreicht. Wir haben dazu rund fünf Minuten Zeit gebraucht.«
»Lassen Sie uns den Aufstieg noch weiterhin versuchen; es wäre doch interessant, zu erfahren, bis zu welcher Höhe es dem Fahrzeug möglich ist zu steigen.«
»Gewiß, auch ich trage mich mit der Absicht.«
Das Luftschiff stieg. 2000 — 3000 — 4000 Meter, und noch war die Antriebskraft anscheinend dieselbe.
»4800 Meter. Wenn ich nicht irre, ist der Montblanc, Europas höchster Berg, wohl genau ebenso hoch?«
John Reilly nickte.
»Ich spüre schon, wie die Luft erheblich dünner wird,« fuhr Eliot fort.
»Das hat bis jetzt noch nichts zu sagen,« erwiderte John Reilly.
»Wir müssen freilich bei dem weiteren Aufstieg vorsichtig sein und nicht über die Höhe von 10 000 Metern hinausschießen, denn sonst könnte uns doch allgemach der Atem ausgehen.«
»Ja, die Sache ist gefährlich, ich erinnere mich, gelesen zu haben, daß die beiden Luftschiffer Coxwell und Glaisher eine Höhe von 11 000 Metern erreicht haben und infolge der ungeheuren Verdünnung der Luft oben besinnungslos geworden sind.«
»Trotz alledem möchte ich, vorausgesetzt, daß Sie einverstanden sind, mich doch einmal an die gefährliche Grenze wagen. Im Moment der Gefahr stellen wir den Auftrieb ein und bringen das Fahrzeug blitzschnell zum Sinken.«
»Ich denke, wenn die nötige Vorsicht beobachtet wird, daß wir es wagen dürfen,« erwiderte Eliot.
»Ich werde scharf aufpassen.«
Von Minute zu Minute wurde das Atmen beschwerlicher. Hastig hob und senkte sich die Brust der beiden, und nach weiteren fünf Minuten stellten sich bei Eliot heftige Kopfschmerzen ein.
Das Barometer zeigte, nachdem nahe eine Stunde seit der Abfahrt von Manchester vergangen war, die ungeheure Höhe von 10 321 Metern. Als jetzt Eliot doch etwas gar zu sehr zu klagen anfing und auch Reilly arge Beschwerden verspürte, so fanden beide es an der Zeit, den Abstieg zu bewerkstelligen.
Ein Hebeldruck, und das Fahrzeug sank mit rapider Geschwindigkeit in die Tiefe hinab. Allmählich fühlten beide die Beklommenheit und Atemnot schwinden, wenngleich Eliot noch immer über Kopfschmerzen klagte.
Eine Viertelstunde später befanden sich die Aeronauten nur mehr in einer Höhe von 2000 Metern über der Erdoberfläche. Schon drang von Osten her ein schwacher schmaler Lichtschein, der das Grauen des Morgens verkündete. John Reilly stellte jetzt astronomische Beobachtungen an, um zu ermitteln, wie weit sie sich durch den Aufstieg von Manchester entfernt hatten. Die errechnete Monddistanz ergab ein unerwartetes Resultat.
»Zum Teufel,« sagte John Reilly, »wir sind ja ganz nach Norden verschlagen.«
»Wie?« frug sein junger Begleiter etwas verwundert zurück. »Befinden wir uns denn nicht noch über Manchester?«
»Leider nicht, mein Lieber.«
»Wo dann?«
»Sie werden erstaunt sein, wenn ich Ihnen sage, daß wir bereits über der Insel Man schweben.«
»Alle Wetter, ist das möglich.«
»Wir sind wider Willen weit nach Nordwesten verschlagen.«
»Und haben es nicht bemerkt? Der Aufstieg der Maschine muß also doch nicht in vertikaler Richtung erfolgt sein.«
»Demnach nicht, oder wir sind in den höchsten Regionen so scharf nordwärts getrieben, daß wir bei unseren körperlichen Beklemmungen gar nicht darauf geachtet haben; ich habe auch leider dem Kompaß keine Aufmerksamkeit geschenkt.«
»Da werden Sie dem Fahrzeug jetzt wohl einen anderen Kurs geben müssen?« fragte der junge Mechaniker.
»Das ist bereits geschehen. Sehen Sie, wie die Spitze der Flugmaschine südwestlichen Kurs einhält?«
»Ja,« erwiderte Eliot, indem er einen Blick auf den Kompaß warf.
»Verspüren Sie nicht seit einiger Zeit, daß von unten her ein feuchtwarmer Luftstrom heraufdringt?« frug John Reilly, welcher eifrig eine kleine Landkarte studierte.
»Sie haben recht, Mr. Reilly.«
»Ein Zeichen, daß wir uns auf offenem Meer befinden.«
»Wenn ich mir die Sache so nachrechne, komme ich zu dem Resultat, daß unser Fahrzeug doch noch eine bedeutend größere Geschwindigkeit als 75 Kilometer pro Stunde erreicht hat, namentlich wenn ich berücksichtige, daß wir nicht horizontal, sondern vertikal gefahren sind.«
»Das finde ich auch,« sagte John Reilly und rechnete ein wenig nach, »'s ist mir rein unerklärlich, daß wir uns jetzt, kaum eine Stunde und zwanzig Minuten seit der Abfahrt, schon mitten auf der Irischen See befinden können.«
»Sollten Sie sich nicht vielleicht irren, Mr. Reilly?«
»Es könnte dann höchstens meine astronomische Ortsbestimmung falsch sein.«
Abermals berechnete John Reilly die Monddistanz; dann sagte er kopfschüttelnd: »Ja, was ist denn das? Jetzt habe ich wieder ein anderes Resultat erhalten ...«
Der Mechaniker schaute verwundert auf.
»Meine Rechnung ergibt, daß wir uns unter dem 5° westlicher Länge von Greenwich und 54,7° nördlicher Breite befinden; also in der Nähe der irischen Stadt Belfast.«
»Wie — am Nordkanal,« rief Eliot aus.
»Beinahe ... aber die Sache kann unmöglich stimmen.«
John Reilly rechnete von neuem.
Inzwischen hielt sich das Fahrzeug in einer Höhe von 1800 Metern und schoß pfeilgeschwind in südwestsüdlicher Richtung dahi ...
»Lassen Sie uns doch bis auf einige hundert Meter hinabsinken, Mr. Reilly.«
»Es ist das beste,« erwiderte der Angeredete, indem er seine Rechnung beiseite legte und sich mit dem Antriebshebel beschäftigte.
Bald gelangte das Luftschiff wieder in den Bereich der Wolken, und als es dieselben durcheilt hatte, vermochte Eliots scharfer Blick einige dunkle Linien in der Tiefe zu sehen. Einige Minuten später zeigte der Barometer nur noch eine Höhe von 212 Metern an. Unter sich sahen die Reisenden eine dunkle Seefläche, auf welcher sich an verschiedenen Stellen winzige leuchtende Punkte zu bewegen schienen. Reilly verfolgte diese aufmerksam und sagte dann zu seinem Gefährten: »Sehen Sie, meine Rechnung scheint doch keine trügerische gewesen zu sein; wir befinden uns über dem Meeresspiegel. Die Lichter, die Sie dort sahen, sind Laternen an den Masten fahrender Schiffe.«
»Auch ich zweifle jetzt keinen Augenblick mehr daran ... aber sehen Sie dort, der helle Lichtschein — dort nördlich.«
Bei diesen Worten wies Eliot mit der Hand nach einer Richtung, welche seitab vom Kurse des Fahrzeuges lag.
»Ein verankertes Feuerschiff.«
Es war merkwürdig, daß das Fahrzeug hier unten bei weitem nicht die Geschwindigkeit zeigte, mit welcher es hoch in den oberen Regionen vorwärts gekommen war.
»Wollen Sie jetzt nicht lieber die astronomische Ortsbestimmung noch einmal vornehmen?« fragte Eliot.
Reilly bejahte und wollte eben mit der Aufnahme beginnen, als der Mond durch Wolken verdeckt und eine Messung der Distanz dadurch unmöglich wurde.
»Das ist ärgerlich,« brummte Reilly.
»Ah, Sie meinen, daß uns der Mond in diesem Augenblick einen Strich durch die Rechnung macht?«
»Ja — doch ist es meine Schuld, ich konnte die vorigen Minuten dazu benutzen. Nun, ich werde versuchen, die Höhe und Breite aus der Polhöhe zu berechnen. Haben Sie eine genau gehende Uhr?«
»Ja, wenn es nicht auf Sekunden ankommt,« erwiderte Eliot und zog seine Uhr aus der Tasche.
Reilly lächelte und sagte: »Ja, mein Lieber, jede halbe Sekunde, welche die Uhr vor- oder nachgeht, ergibt eine falsche Rechnung. Doch ist es mir möglich, Ihre Uhr einmal auf richtigen Gang hin zu prüfen.«
»Wie wollen Sie das machen?« fragte Eliot neugierig.
»Wie es der Seemann macht, wenn er seinen Chronometer prüft.«
»Gewiß, auch mittels astronomischer Berechnung?«
»Ganz recht — und zwar durch die Beobachtung der Jupitermonde.«
»Jupitermonde?«
»Der Planet Jupiter, der größte unseres Sonnensystems, besitzt bekanntlich fünf Monde, vier davon sind leicht sichtbar. So oft nun diese Trabanten in den Schatten ihres Riesenplaneten treten, werden sie verfinstert; die Momente dieses Eintritts der Finsternis sind für einen bestimmten Ort vorausberechnet und in einem Jahrbuch zusammengestellt. Beobachte ich nun jetzt eine solche Verfinsterung und schlage in dem Verzeichnis nach, so finde ich dabei sofort die genaue Zeit notiert, ich muß diese freilich etwas umrechnen, da wir auf einem anderen Längengrad weilen,« belehrte John Reilly und schickte sich inzwischen an, die erwähnte astronomische Beobachtung anzustellen.
»Ein großartiges Hilfsmittel,« meinte Eliot beistimmend.
Mittlerweile hatte sich ein Wind aufgemacht, der, aus Westen blasend, dem Fahrzeug einen tüchtigen Luftwiderstand entgegensetzte, so daß die Fahrgeschwindigkeit erheblich vermindert wurde. — Als Reilly mit der neuen Uhrprüfung und der neuen Ortsbestimmung fertig war, schüttelte er nachdenklich den Kopf, prüfte den Kompaß und sagte: »Die Maschine hat einen Fehler.«
»So?«
»Sie gehorcht dem Steuer nicht.«
»Das ist allerdings bedenklich — wo befinden wir uns denn jetzt, sind wir wieder vom Kurs abgewichen?«
»Um fast zwanzig Striche.«
»Alle Wetter.«
»Wir geraten immer nördlicher hinauf.«
»Wollen wir nicht lieber zu landen versuchen?«
John Reilly lachte. »Wo denn? Möchten Sie vielleicht auf dem offenen Meere aussteigen?«
»Treiben wir denn nicht in der Nähe der irischen Küste?«
»Leider nicht ...« seufzte John Reilly.
»Um Himmelswillen, wir befinden uns doch nicht etwa über dem Atlantischen Ozean?«
»Sie haben es erraten.«
»Und nun?« fragte Eliot etwas erregt.
»Ich werde wieder bis zu einer Höhe von mehreren tausend Metern steigen, vielleicht gelingt es uns oben, den richtigen Kurs einzuhalten.«
Aus dem Winde wurde allmählich ein Sturm, der das Fahrzeug mit furchtbarer Gewalt vor sich hertrieb. Mochte sich die kräftige Propellerschraube auch mit unglaublicher Geschwindigkeit drehen, sie besaß doch nicht die Kraft, dem Orkan wirksam entgegenzuarbeiten.
»Jetzt bin ich nur neugierig, was aus uns werden wird ...« meinte, seine unerschütterliche Ruhe bewahrend, John Reilly und versuchte, das Luftschiff wieder in die höheren Regionen steigen zu lassen. Der erneute Auftrieb blieb aber diesmal ohne den erhofften Erfolg. Mit rasender Eile schoß das Fahrzeug durch das Luftmeer dahin.
»Wenn es so fortgeht, treiben wir ins Eismeer hinaus.«
»Die Aussicht finde ich nicht gerade verlockend,« meinte Eliot bestürzt. »Läßt sich denn gar nichts dagegen tun?«
»Nichts,« sagte John Reilly stoisch.
»Schon bricht der Tag an —«
»Das ist aber auch der einzige Trost für uns.«
»Wie hoch befinden wir uns denn jetzt?«
Reilly schaute nach dem Barometer. »800 Meter ...«
»Versuchen wir es doch, über die Region des Sturmes hinauszukommen.«
»Hm — wenn das so ginge. Das Fahrzeug kommt nur langsam zum Steigen. Gelänge es uns, noch einige hundert Meter höher zu kommen, so würden wir ruhigere Luftschichten erreichen; aber ich bezweifle stark, daß ein weiterer Aufstieg möglich sein wird.«
»Wie heftig wir vom Sturme herumgeworfen werden. Sehen Sie nur, wie unser Fahrzeug hin- und herschlingert.«
»Statt eines Auftriebes haben wir jetzt offenbar einen Abtrieb. Das Barometer zeigt bereits wieder die alte Höhe, in der wir uns vor einer kleinen Weile befunden haben.«
»Zum Teufel, wir werden doch nicht etwa bis zum Meeresspiegel hinabgedrückt werden?«
»Schon möglich,« sagte Reilly in resigniertem Tone.
»Und dann?«
»Das frage ich mich in Gedanken soeben selbst.«
»Zur Not würde unser Kasten schwimmen können.«
»Ich denke —«
»Durch die Rippenwandung vermag nicht ein Tropfen Wasser hereinzukommen, dafür garantiere ich,« rief Eliot hastig.
»Aber der Schwerpunkt des Fahrzeuges ...«
»...dürfte annähernd so liegen, daß die Maschine in horizontaler Lage schwimmen würde.«
»Die Propellerschraube könnte dann statt in der Luft im Wasser arbeiten — wir kämen sicher dann besser vom Fleck, als hier oben, wo wir gänzlich der Gewalt des Sturmes preisgegeben sind.«
»Das ist ein Gedanke.«
»Versuchen wir es einmal, statt höher hinauf tiefer zu kommen ... 280 Meter über dem Meere ist eine geringe Höhe; schon in wenigen Minuten können wir den Wasserspiegel erreicht haben.«
Der Sprecher wollte eben den Abtriebshebel umlegen, als Eliot ihm warnend zurief: »Halt, Mr. Reilly, seinen Sie vorsichtig. Bedenken Sie, daß die Wogen derartig hoch gehen, daß wir vielleicht an eine Felsenküste geschleudert werden können und elendlich scheitern würden.«
»Lieber Eliot, zu dieser Befürchtung liegt wohl wenig Anlaß vor, da wir durch den Sturm schon so weit nach Norden verschlagen sind, daß wir hier über der hohen See fern von jeder Küste sein dürften.«
»Und unter welchem Breitengrade glauben Sie, daß wir augenblicklich sind?«
»Bei der rasenden Fahrt müssen wir schon hoch hinauf verschlagen sein; ich vermute, daß wir uns etwa auf der Höhe von Glasgow befinden und gegen die Hebrideninseln zutreiben.«
Da jetzt der Tag dämmerte, vermochten die beiden in die Tiefe hinabzusehen; Reilly hatte sich nicht getäuscht. —
Sie schwebten über der offenen See. Wie es schien, mußte die Gewalt des Sturmes oben eine weit größere sein, als unten auf dem Meeresspiegel, denn die Wellen gingen anscheinend gar nicht so übermäßig hoch, wenngleich sich das immerhin aus der Vogelperspektive sehr schlecht beurteilen ließ.
»Sehen Sie, nichts als eine unendliche Wasserfläche dehnt sich unter uns aus,« äußerte nach einer Weile Reilly zu seinem Gefährten.
»Dann können wir es freilich wagen, unsere Maschine den Wellen anzuvertrauen.«
John Reilly nickte und lenkte das Luftschiff abwärts.
Zu ihrem Schrecken mußten die beiden Aeronauten aber bemerken, daß, je tiefer sie sanken, die Gewalt des Orkanes zunahm. Dann plötzlich — wurde ein furchtbarer Ruck verspürt.
Das Fahrzeug schien einen Augenblick still zu stehen, um sich gleich darauf wirbelnd im Kreise um seine eigene Achse zu drehen. Den Insassen verging Hören und Sehen dabei.
»Um des Himmelswillen,« schrie Reilly auf, »wir befinden uns in einem Wirbelzentrum.«
Schon im nächsten Augenblicke ließ jedoch die so furchtbar rotierende Bewegung wieder nach, und es schien fast, als wenn sie mit einem Male wieder gänzlich aus dem Bereich des Sturmes gekommen wären, wenigstens war nur noch ein ganz schwacher Wind um sie herum wahrzunehmen.
»Gott sei Dank!« rief Eliot aus, »die Gefahr ist vorbei.«
»Im Gegenteil,« erwiderte Reilly, »wir befinden uns jetzt an einer sehr schlimmen Stelle; im Zentrum des Orkans herrscht in der Regel Windstille, so auch hier; wehe uns aber, wenn wir das Zentrum durchschnitten haben, der Orkan wird uns dann wieder mit seiner vollen Gewalt packen.«
Eliot, der soeben schon erleichtert aufgeatmet, ließ von neuem den Mut sinken. »Können wir diese Windstille nicht benutzen, um den Meeresspiegel zu erreichen?«
»Der Versuch kann gemacht werden.«
Nachdem Reilly schnell die Propellerschraube zum Stillstand gebracht hatte, sank das Fahrzeug bis auf etwa 30 Meter über den Meeresspiegel hinab. Bereits war es Tag, und strömender Regen goß vom Himmel hernieder. Die Wellen des Meeres gingen haushoch. Der weiße Gischt ihrer Schaumkronen spritzte fast bis an das Luftschiff hinauf. Da, mit einem Male — wieder ein heftiger Ruck, und von neuem ging die Fahrt in rasender Eile nordwärts. Bei dem furchtbaren Schlingern des Fahrzeuges vermochten die Insassen nicht aufrecht zu stehen, weshalb sie sich auf den Boden niederlegten. Nach etwa fünf Minuten hatte das Luftschiff den Wasserspiegel erreicht und wurde von den Wellen ergriffen. Zum Glück war die Deckenluke jetzt fest verschlossen, so daß von keiner Seite Wasser hereindringen konnte. Bald tauchten sie in die schäumende Flut unter, bald sahen sie sich wieder auf dem Kamme einer mächtigen Woge, kurz, das Fahrzeug wurde wie eine Nußschale von den entfesselten Elementen umhergeschleudert. In seinem Innenraume sah es gar böse aus. Alle Bücher und sonstige Dinge lagen kunterbunt durcheinandergewürfelt auf dem Boden umher. Es war ein Glück, daß die Fensterluken aus Hartglas bestanden, sonst hätten die umherfliegenden Gegenstände sicher die Scheiben durchschlagen, so aber konnten diese dem Anprall der härtesten Dinge standhalten. Hier unten auf dem Meere wütete der Orkan mit nicht geringerer Macht als oben.
»Wir müssen mit einer geradezu rasenden Geschwindigkeit vorwärts gekommen sein; schauen Sie doch einmal dorthin, ich glaube, das sind die Hebrideninseln,« sagte John Reilly und zeigte durch das Fenster in der Richtung nach Osten.
In nebelhafter Ferne waren tatsächlich einzelne schmale Landstreifen sichtbar geworden.
»Ich kann es nicht glauben,« erwiderte Eliot, »wir können doch unmöglich in den paar Stunden seit unserer Abfahrt von Manchester 1000 Kilometer weit gefahren sein.«
»Aber es sind die Hebriden, verlassen Sie sich darauf, mein lieber Eliot. Ein halbes Dutzend größerer, nebst einer Anzahl kleinerer Inseln, alle fast eine gerade Linie nach Norden bildend, eine solche Inselgruppe können in dieser Gegend nur die Hebriden sein.«
Eliot warf einen Blick auf die Landkarte und sagte dann: »Alle Wetter. Da würden wir uns ja zwischen dem 57. und 58. Breitengrade befinden.«
»All right!«
Allmählich ließ der Sturm nach, und es trat völlige Windstille ein. Das Meer beruhigte sich, und das Luftschiff tänzelte auf den nur noch leicht erregten Wogen wie eine Nußschale hin und her. Jetzt wurde von den Luftschiffern der Versuch gemacht, die Propellerschraube auf ihre Kraft im Wasser hin zu prüfen. Tatsächlich vermochte sie auch im Wasser zu arbeiten, ebenso versagte auch das Steuerruder in dem nassen Element seine Dienste nicht. Es gelang auf diese Weise, leicht umzukehren und den Kurs heimwärts zu schlagen. Sie mochten fast eine Stunde gefahren sein, als die Schraube plötzlich ihren Dienst versagte und das Fahrzeug zum Stillstehen kam.
»Bombenelement,« rief John Reilly. »Was mag da passiert sein?« Mit diesen Worten untersuchte er den Akkumulator und die Schraubenwelle.
Eliot erschrak. »Sollte die Schraube gebrochen sein; ich kann mir das gar nicht denken, da wir doch das beste Material dazu verwendet haben und daher ein Bruch oder dergleichen kaum möglich ist.«
»Halt. Wir haben ja dort hinten eine Glasscheibe am Boden eingefügt, um durch dieselbe jederzeit einen Blick senkrecht in die Tiefe werfen zu können. Da sie sich in der Nähe des Steuers befindet, so können wir vielleicht durch die Wasserschicht hindurch den Zustand der Schraube untersuchen.«
Schnell eilten beide an die besagte Stelle hin, und ein Blick genügte, um sie sofort zu überzeugen, daß zwischen den Flügeln der Schraube und der Hinterwand des Fahrzeugs sich nicht allein ein Baumstamm eingeklemmt, sondern sich auch eine Menge Seetang und ähnliche Wasserpflanzen verwickelt hatten. Da war freilich guter Rat teuer. Was konnte man dagegen beginnen? — »Unser Mißgeschick ist aber auch zu arg,« meinte John Reilly etwas mißmutig. »Ja,« erwiderte seufzend Eliot. »Sind wir mit dem einen Unglück eben fertig, so ist gleich ein anderes da.«
»Wir wollen versuchen, die Maschine wieder aus dem Wasser in die Luft steigen zu lassen; auf diese Weise werden wir vielleicht den Baumstamm los.«
Gesagt, getan. Nachdem der Auftriebshebel zurückgelegt war, hätte sich aller Berechnung nach die Flugmaschine aus dem Wasser erheben müssen. — Doch das schien mit Schwierigkeiten verknüpft zu sein. Wohl hob sich das vordere Ende des Kastens in die Höhe, jedoch die Schraube versagte ein für allemal ihren Dienst. Es blieb also nichts anderes übrig, als sich in das Schicksal zu fügen und zu warten, bis die Wellen den Baumstamm von selbst wieder fortschwemmen würden.
»Jetzt sitzen wir aber schön auf dem Trockenen.«
»Sagen wir lieber auf dem Nassen,« entgegnete John Reilly, dessen Humor noch immer nicht ganz gewichen zu sein schien.
Während sie noch hin und her überlegten, was zu tun sei, wurde das Fahrzeug plötzlich von einer Strömung ergriffen und fortgeführt, und zwar abermals nordwärts. Im ersten Augenblick waren die Insassen ratlos und sahen sich verdutzt an.
»Haben Sie eine Ahnung, wo wir uns befinden?« frug John Reilly endlich.
»Nein,« gab Eliot zurück.
»Im Golfstrom.«
»Im Golfstrom?« fragte der junge Mechaniker verdutzt.
»Ganz recht. Und ich will Ihnen nur gleich sagen, daß wir uns, wenn uns kein Schiff aus dieser Lage rettet, in einigen Wochen mit Eisbergen und Eisbären herumschlagen müssen.«
»Oho, Mr. Reilly, Sie machen doch wohl einen Scherz.«
»In dieser Lage einen Scherz? Nein, lieber Eliot, zum Scherzen bin ich nicht aufgelegt. Seien Sie dessen versichert, daß wir uns bald im Reiche der Arktis befinden werden.«
»Arktis?« fragte Eliot.
»Nun, sagen wir, was dasselbe ist, in der Region des Nordpols, im Eismeer.«
»Sie eröffnen uns ja da schöne Aussichten, Mr. Reilly, wenn man daran glauben wollte, müßten einem ja die Haare zu Berge stehen.«
»Vielleicht gelingt es uns, unterwegs ein Schiff anzurufen oder, wenn die See ruhig bleibt, an einer der Inseln zu landen. Also noch ist nicht alles verloren. Lassen Sie den Mut nicht sinken. Ich bin nur froh, daß wir uns reichlich mit Nahrungsmitteln versehen haben. Man sieht hier wieder einmal, wie gut es ist, wenn man für alles Fürsorge trifft.«
»Ist der Golfstrom breit, Mr. Reilly.«
»Er ist eine mehrere hundert Seemeilen breite Strömung mitten im Meere, welche ihren Ursprung bei der Halbinsel Florida im Mexikanischen Meerbusen hat, von dort aus der nordamerikanischen Küste folgt und, sich auf der Höhe von Ney York quer durch den Ozean ziehend, nach Norden hin bis ins Eismeer verläuft. Ein hilfloses Fahrzeug, welches in diese Strömung gerät, wird unweigerlich von ihr fortgetragen.«
»Das wäre ja entsetzlich, wenn so aus unserer Luftfahrt wider Willen eine Nordpolreise würde,« meinte Eliot.
»Vielleicht gelingt es uns, oben am Nordkap von Europa, an welchem die Nordstromtrift dicht vorübergeht, uns gegen die Insel NowajaSemlja, welche im Reiche der Arktis liegt, zu verlaufen, Land zu erreichen.«
Während sie so in dem blauen Wasser des Golfstromes dahintrieben, beobachteten beide häufig die stillstehende Schraube. Noch war der Baumstamm als ein hemmender unnützer Ballast im Gefolge ihres Fahrzeuges, und es schien auch keine Aussicht vorhanden zu sein, ihn so bald los zu werden. Nebenher in dem Golfstrom schwamm eine Menge Treibholz, so dicht oft, daß die beiden Reisenden befürchteten, von neuem Schaden zu bekommen.
»Ich werde einmal versuchen, einen der vorbeischwimmenden Äste zu erfassen, um damit unsere Maschine von dem Baumstamme zu befreien.« Mit diesen Worten hatte Eliot ein Fenster geöffnet und bemühte sich, ein auf dem Wasser treibendes Holzstück aufzufischen.
»Der Gedanke kann uns retten,« meinte John Reilly und tat desgleichen an einem anderen Fenster.
Nach vielen vergeblichen Bemühungen gelang es endlich, einen fast fünf Meter langen Baumast aus dem Wasser zu ziehen. — »Das wäre gelungen!« — »Jetzt versuchen Sie vorsichtig nach der Schraube zu stoßen; ich werde durch die Bodenluke beobachten, ob Sie die richtige Stelle treffen. Nehmen Sie nur um Himmelswillen die Schraube in acht!« Reilly begab sich eilig auf seinen Posten.
Eliot befolgte diese Anweisung. — »Das ist eine Sisyphusarbeit, Mr. Reilly!«
»So — jetzt noch etwas mehr nach links und eine Hand breit tiefer — so ... halt! Zuviel ... drücken Sie doch das Holz etwas nieder ... so! Es faßt! Schon bewegt sich der Stamm ... halt! Um Himmels willen ... die Schraube biegt sich!«
Eliot stellte seine Bemühungen ein, und Reilly versuchte die Kraft des Akkumulators ein wenig auf die Welle wirken zu lassen; doch bald schon sah er ein, daß er damit mehr verderben, als gut machen könne. Nachdem sie sich beide eine ganze Weile abgemüht hatten, ohne daß der Baumstamm auch nur um eines Zentimeters Breite bewegt worden war, sahen sie das Hoffnungslose ihrer Arbeit ein und beschlossen, sich von jetzt ab lediglich darauf zu beschränken, Ausguck nach einem in der Nähe vorbeisegelnden Schiff zu halten.
So ging der ganze Tag hin, aber weder Land noch die Mastspitzen eines Schiffes wurden am Horizont sichtbar. Die letzte geographische Ortsbestimmung, welche Reilly mit seinem Sextanten angestellt hatte, ergab, daß sich das Fahrzeug unter dem 61. nördlichen Breitengrade und dem 8. westlichen Längengrade befand.
»Wir haben bereits Schottlands nördlichste Spitze im Rücken,« erklärte Reilly.
»Recht aussichtsvoll!« stöhnte Eliot.
Zum erstenmale seit ihrer Abfahrt nahmen sich jetzt eine Mahlzeit ein; trotz ihrer mißlichen Lage ließen sie sich die auf ihrem kleinen Spiritusapparat zurechtgemachten Speisen nebst einigen Flaschen Bier wohlschmecken. Als die Sonne unter den Horizont gesunken war und auf der weiten Meeresfläche noch immer kein Schiff erschien, beratschlagten beide, wie sie es für die Dauer der Nacht halten wollten.
»Ich will wachen und scharfen Ausguck nach Schiffen halten,« erbot sich Eliot bereitwilligst.
»Aber nicht die ganze Nacht, mein Lieber; sobald Mitternacht vorbei ist, darf ich wohl darauf rechnen, daß Sie mich wecken; alsdann sollen Sie der Ruhe pflegen.«
Reilly mochte ungefähr eine Stunde geschlafen haben, als er durch einen Ruf seines Gefährten geweckt wurde.
»Was ist los?«
»Sehen Sie einmal dorthin, ich glaube, es naht ein Schiff!«
Reilly spähte in der bezeichneten Richtung aus. »Das ist kein Schiff, Mr. Eliot, sondern ein Eisberg.«
»Wir werden doch hoffentlich nicht damit zusammenstoßen?« frug Eliot beunruhigt.
»Ich bezweifle es, denn er bewegt sich nicht im Bereiche des Golfstromes; wohl droht er sich uns bedenklich zu nähern, doch ist darum noch keine unmittelbare Gefahr vorhanden.«
»Teufel, wenn ich daran denke, daß wir über kurz oder lang einmal zwischen zwei Eisberge geraten können, so überläuft mich schon jetzt eine Gänsehaut!«
»Ja, dann wäre Holland wirklich in Not; unser Vehikel würde wie eine Nußschale zerdrückt werden,« entgegnete Reilly.
Am Horizont konnte man eine langgestreckte Masse erkennen, deren Kurs geradewegs auf das Luftschiff zuzuführen schien.
»Ausweichen können wir nicht, wir müssen uns also wohl oder übel auf unser gutes Glück verlassen.«
»Ein Zusammenstoß mit diesem Koloß würde aber sicher unser Fahrzeug zertrümmern.«
»Ja, mein Lieber, daran wird sich wohl leider nichts ändern lassen; wenn das Geschick es eben will, gehen wir hier elendiglich zu Grunde.«
Eine halbe Stunde später war der Eisberg so nahe, daß den Luftschiffern wirklich ernste Gefahr drohte. Die nordwärts ziehenden Wasser des Golfstromes vermochten es nicht, die gewaltige Eismasse in ihrem Lauf zu hemmen. Die beiden Aeronauten machten sich jeden Augenblick auf den Eintritt der Katastrophe gefaßt. Jetzt trat mit einem Male der Mond aus den Wolken hervor und begoß mit einem Silberscheine die gewaltige, bereits in fürchterlicher Nähe blinkende Eismasse. Einige Meter noch, und der Zusammenstoß war unvermeidlich. Fast mechanisch versuchte Reilly die Schraube in Tätigkeit zu setzen, und zu seinem freudigen Erstaunen funktionierte dieselbe, sie mußte demnach jetzt von dem Baumstamme befreit sein. Das gab den beiden Insassen des Fahrzeuges neue Hoffnung. Es gelang nun, dem Eisberge einen kleinen Vorsprung abzugewinnen und endlich vollends aus dem Bereiche desselben zu kommen.
»Der Gefahr wären wir noch einmal glücklich entronnen,« sagte John Reilly mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung.
»Um ein Haar hätten wir der Welt Valet sagen können.«
»Mit dem Eiskoloß war nicht zu spaßen. Sehen Sie nur, mein lieber Eliot, welch riesige Höhe der Berg besitzt!«
»Ich schätze seine Länge auf mindestens 500 Meter.«
»Die Höhe kann auch gut ihre 80 Meter betragen.«
»Wie tief mag er in das Wasser hinabreichen?«
»500 bis 600 Meter auf alle Fälle; in der Regel kann man annehmen, daß sieben Achtel der ganzen Eismasse unter dem Wasserspiegel liegen.«
Das Fahrzeug entfernte sich mehr und mehr von der gigantischen Eismauer. Die mit großer Kraft arbeitende Propellerschraube kämpfte erfolgreich gegen die Strömung der Golftrift an, und es stand zu erwarten, daß man über kurz oder lang ganz aus ihr herauskommen würde.
»Das Wasser ist hier so undurchsichtig, daß ich nicht zu erkennen vermag, ob unsere Schraube wieder gänzlich freies Spiel hat,« bemerkte nach einiger Zeit der junge Mechaniker, welcher sich vergeblich bemühte, die Strahlen einer Blendlaterne in die Tiefe des Wassers dringen zu lassen.
»Glaube es schon; dazu die Dunkelheit ... Halt! Was ist denn da schon wieder los! ... Die Schraube stoppt!«
Eliot erschrak und fuhr blitzschnell aus seiner gebückten Stellung auf. »Haben wir schon wieder Pech? ... Wahrhaftig, wir halten still.«
»Schnell, Eliot, drehen Sie das Steuer völlig nach links. Ich will unterdessen versuchen, ob ich der Schraube Gegenstrom geben kann. Wir wollen hoffen, daß es wirkt und uns vom Fleck bringt.« — Da half aber kein Rückwärtsdrehen des Antriebhebels, die Schraube streikte unerbittlich, und das Vehikel war wieder einmal ein Spielball der Wellen. Als steuerloses Wrack schaukelte es auf den Schaumkronen der Golfstromwogen daher und zog mit diesen abermals die gemeinsame Bahn der eisigen »Arktis« entgegen.
John Reilly war jedoch nicht der Mann, der auch in der verzweifeltsten Lage den Mut so leicht hätte sinken lassen.
»Hoffentlich kommt bald ein Grönlandfahrer in Sicht ...« tröstete er sich und seinen jüngeren Gefährten.
Wieder verging Stunde auf Stunde, und noch immer schien keine Hoffnung auf Rettung zu sein. Statt Schiffen begegneten sie nur Eisbergen; auch Land war nirgends zu erblicken. Unaufhaltsam ging es weiter nordwärts.
»Wir müssen uns jetzt der norwegischen Stadt Hammerfest gegenüber befinden, freilich in einem Abstande von etwa 500 Kilometern,« sagte John Reilly, als er die ebengenannte Ortsbestimmung festgestellt hatte.
»Werden wir uns nicht endlich einer Küste nähern?« frug Eliot, der mißmutig den Horizont betrachtete.
»Nein! — Nach meiner Seekarte läuft die Golfstromtrift einige Grade weiter um die nördlichste Spitze Europas herum, wir kommen also bald ins Treibeis, wo nur neue Gefahren warten.«
»Dann ist es unter diesen Umständen noch ein Glück, daß wir uns in der Zone der Mitternachtssonne befinden.«
»Gewiß, denn Ende Juli tritt in diesem Breitengrade die lange Polarnacht ein, bis dahin müssen wir also, wollen wir nicht in dem Dunkel der eisigkalten Nacht erfrieren oder verhungern, uns irgendwo an Land gerettet haben.«
»Und Sie glauben, daß uns dies gelingen wird,« meinte Eliot.
»Ja,« antwortete Reilly in zuversichtlichem Tone.
»Die Eisschollen mehren sich von Stunde zu Stunde ...«
»Die Wände unseres Fahrzeuges sind stark genug, um dem Anpralle der Eisschollen zu widerstehen; hoffentlich erfahren wir keine größeren Eispressungen, das könnte die Lage sonst kritisch machen.«
Einige Stunden nach diesem Gespräch brach Eliot plötzlich in den Ruf aus: »Ein Walfisch! Sehen Sie dort, Mr. Reilly.«
Der Angerufene sprang von seinem Sitze auf und eilte geschwind ans Fenster. »Wo?«
»Sehen Sie den Wasserstrahl ... dort!«
»Sie haben Recht ... das Tier wird uns hoffentlich ungeschoren lassen.«
In kaum 30 Meter Entfernung kam das riesige Ungetüm dahergezogen. Daß es ein Wal war, das unterlag keinem Zweifel mehr, als aus dem Spritzloch des Tieres ein hoher Wasserstrahl aufschoß. Der gewaltige Bewohner des Eismeeres schien sich für John Reillys Vehikel lebhaft zu interessieren, denn er nahm seinen Kurs schlankweg auf dieses zu.
»Jetzt sind wir verloren!« stieß Eliot unwillkürlich hervor.
»Die Sache ist nur halb so schlimm, als es Ihre erregte Phantasie sich ausmalt. Solange wir den Wal unsererseits nicht angreifen, wird er kaum mit unserem Fahrzeug anbinden,« widersprach der allezeit besonnene unerschrockene Reilly. Doch diesmal hatte der kühne Sprecher die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Das Meeresungeheuer schien wirklich feindliche Absichten zu hegen, denn es peitschte mit seiner Hinterflosse zornig das Wasser.
»Der Wal ist verwundet!« schrie Reilly plötzlich laut auf. »Dann freilich wird er uns zu Leibe gehen.«
»Verwundet? Woran können Sie das sehen?«
»Der ganze Wasserspiegel ist blutig gefärbt und ...«
Weiter kam Reilly nicht, denn schon schoß der gereizte Leviathan heran, und die von ihm hochaufgewühlten Wogen schleuderten das Luftschiff so umher, daß es völlig auf die Seite zu liegen kam und für einen Augenblick tief ins Wasser hinabtauchte. In diesem schrecklichen Momente vergingen den beiden Insassen Hören und Sehen. Doch im Verlauf einiger Minuten war der Wal bereits so weit an ihnen vorbeigeschossen, daß sie sich als gerettet betrachten durften.
»Wir haben, Gott sei Dank, noch immer Glück im Unglück!« meinte Eliot, dem davonjagenden Fleischkoloß nachschauend.
»Ja, es hätte allerdings schlimmer ablaufen können. Ein einziger Schlag mit der Schwanzflosse, und wir lägen jetzt auf dem Grunde des Meeres,« stimmte ihm Reilly bei.
Als letzterer eine Weile nach diesem Zwischenfall einen Blick durch die Glasscheibe am Boden warf, bemerkte er, daß das Wasser bedeutend klarer geworden war und vermochte nun schon eher die Umrisse der Propellerschraube zur Not zu erkennen. »Eliot, sehen Sie einmal her! Die Schraube ist jetzt wieder sichtbar. Freilich steckt sie in einem grünen Knäuel von Seetang, so daß man kaum die Flügel der Spitzen zu erblicken vermag!«
Was der Herbeigerufene sah, war ein unendliches Gewirr von Wasserpflanzen, welche sich derart um die Schraube verwickelt hatten, daß sie jede Umdrehung der letzteren unmöglich machten.
»Der Baumstamm ist verschwunden,« äußerte er erfreut.
»Dafür haben sich aber die Pflanzen doppelt vermehrt und festgesetzt,« gab Reilly ärgerlich zurück.
Die von Norden herabkommenden Eisschollen wurden von Stunde zu Stunde zahlreicher; zum Glück zogen die meisten derselben seitwärts außerhalb des Bereiches des Golfstromes vorbei. Seit einiger Zeit hatte auch die Kälte erheblich zugenommen, und der eisige Wind war fast unerträglich, sobald die Deckenluken des Fahrzeuges zur Erneuerung der Luft ab und zu einmal geöffnet wurden.
»Unsere Nahrungsmittel gehen bald auf die Neige. Wir müssen uns dann mehr einschränken.« — »Ich werde den Rest in Rationen teilen.«
»Wie lange reicht das Trinkwasser noch?«
»30 Liter dürfte der Vorrat betragen.«
»Das ist höllisch wenig ... doch halt! Wir können ja das Eis von herumschwimmenden Schollen auftauen.«
»Aber das Meerwasser ist doch völlig ungenießbar?«
»Gefrorenes nicht.«
»Wieso?« frug Eliot verwundert.
»Sehr einfach, weil das ungenießbare Seewasser, wenn es gefriert, bei seinem Übergang in die feste Form alle mineralischen Bestandteile gänzlich ausscheidet und so chemisch nahezu rein wird,« belehrte John Reilly.
»Dann werden wir wenigstens nicht verdursten.«
»O, verhungern auch nicht.«
»Alle Wetter, Mr. Reilly, wissen Sie auch dafür Rat?«
»Wir werden Fische fangen.«
»Ohne Netz und Angel?«
»Ohne beides.«
»Da bin ich freilich neugierig, wie Sie das anfangen werden.«
»Eine kleine Erfindung, welche ich gelegentlich einmal gemacht habe, wird uns jetzt vor dem Hungertode schützen.«
»Und Sie sind Ihrer Sache so sicher?«
»Ja, ganz sicher, denn ich habe schon früher die Probe gemacht.«
»Ihre Methode wird sich hoffentlich auch hier in den hohen Breitegraden bewähren?«
»Warum nicht ... Wo es Fische gibt und solche an der Wasseroberfläche schwimmen, wird meine elektrische Angel ihre Dienste tun.«
»Also elektrisch?«
»Ja, die nötigen Geräte trage ich stets bei mir, die Angel ist schnell zusammengesetzt.«
»Sie sind doch ein erfinderischer und praktischer Kopf, Mr. Reilly.« — »Ich danke Ihnen für das gütigst gespendete Lob. Doch wir verplaudern hier achtlos die Zeit und schauen gar nicht mehr nach Land und Schiffen aus.«
»In diesen Breiten müssen doch öfters Walfischfänger kreuzen? Es ist sehr zu verwundern, daß wir bislang nicht einen einzigen erblickten.«
»Als uns der verwundete Wal begegnete, hätten wir nur sorgfältiger auszuschauen brauchen.«
»Ah! Sie meinen, daß damals ein solcher Walfischfänger in der Nähe sein mußte?«
»Gewiß ... doch, was hätte es auch geholfen, wir wären wohl schwerlich von einem solchen Fahrzeuge bemerkt worden,« seufzte John Reilly.
»Hätten wir Raketen gehabt ...«
»Ja, wer doch an alles dächte ... Ich hätte es mir auch nicht träumen lassen, daß wir in eine solch verwünschte Lage kommen würden.«
Als die Mitternachtssonne wieder einmal dicht über dem Horizonte stand und in dieser Stellung, ehe sie sich zu neuer Tageslaufbahn erhob, eine kleine Weile auszuruhen schien, kamen unerwartet eine Anzahl gewaltiger Eisberge, wohl über ein volles Dutzend, in Sicht. Die grotesken Formen eines in ziemlicher Nähe Vorbeischwimmenden wurden durch die rotglänzende Sonne mit eigentümlichem Licht beleuchtet; die gewaltige Eismasse zog, ohne in gefährliche Nähe zu kommen, majestätisch im Zwielicht des Tagesgestirns vorbei.
Die vielzackigen, wie Eiszapfen aussehenden Gipfel des schwimmenden Berges ragten zu ungewöhnlicher Höhe hervor. Reilly schätzte einzelne 100 Meter hoch. Die Länge und Breite der fast quadratisch gefrorenen Eininsel konnte nahehin zwei Kilometer betragen.
»Sehen Sie, Mr. Eliot, daß ich damals recht hatte, als ich in der Irischen See sagte, daß wir möglicherweise in das Reich der Arktis geraten könnten.«
»Leider haben Sie recht behalten,« seufzte der Mechaniker.
»Wir sind allerdings, wie es scheint, auf dem besten Wege zum Nordpol.«
»Dachte auch schon daran. Wäre unsere Maschine flugfähig, wahrhaftig, ich hätte nicht übel Lust, ihn aufzusuchen.«
»Die Gelegenheit wäre günstig genug.«
»Daß sich die verflixte Schraube auch verwickeln mußte.«
»Wieviel Zeit würde unsere Maschine wohl bis zum Nordpol brauchen?«
John Reilly rechnete ein wenig nach und sagte dann: »Es sind von hier aus rund immer noch 17 Grad, also nahe an 2000 Kilometer ...«
»Was? 2000 ...«
»Ungefähr, ja. Die Maschine würde demnach drei volle Wochen Fahrzeit gebrauchen.«
»Hm ... darauf wären wir freilich nicht eingerichtet.«
»Ich denke auch nicht daran,« gab Reilly zurück. »Seien wir froh, wenn es uns überhaupt gelingt, bald Land zu erreichen — —«
Vier Tage waren seit diesem Gespräche wieder verflossen, und die in die Arktis Verschlagenen hatten inzwischen mehr wie ihnen lieb war, mit den sich häufig stauenden Eismassen zu tun bekommen, zum Glück aber stets ohne größeren Unfall zu erleiden. Zu verschiedenen Malen waren in der Ferne auch die Mastspitzen von Schiffen aufgetaucht, doch trotz der angestrengtesten Bemühungen blieben die Insassen des noch immer zwischen dem Treibeis hinschwimmenden Luftschiffes unbemerkt.
»Wir stecken jetzt so fest in dem Packeise, daß man es versuchen könnte, das Fahrzeug auf die Schollen heraufzuziehen und die Schrauben in Ordnung zu bringen,« meinte Eliot eines Tags, als er wahrnahm, daß sie fester als je zwischen den Eismassen eingekeilt waren. — »Das ist eine Idee.« — »Ich denke, daß es gehen wird.«
»Es muß gehen. Kommen Sie Eliot, machen wir sofort den Versuch.«
»Soll ich Werkzeug mit hinausnehmen?«
»Vielleicht Hammer und Meißel, um das Eis zu zerteilen.«
Beide verließen zum erstenmale seit ihrer Abfahrt von Manchester das Vehikel und faßten auf einer festen Eisscholle Fuß, welche sich mit andern ihrer Schwestern so fest ineinandergeschoben hatte, daß Reillys Fahrzeug von einer Seite völlig eingeschlossen war.
»Zunächst müssen wir daran gehen, das hintere Ende, an dem sich die Schraube befindet, frei zu machen; hacken wir darum das Eis dort auf.«
Diese Arbeit wurde mit vielen Bemühungen zu Ende geführt. Dann versuchten die Männer, die eingekeilte Maschine zu heben.
»Es geht!« rief Eliot freudig aus. »Es bewegt sich schon ...«
»So gelangen wir nicht zum Ziele, kommen Sie hierher, nach vorn, Eliot. Mit an einer Stelle vereinten Kräften wird sich mehr erreichen lassen.«
»Das Ding sitzt doch gewaltig fest,« pflichtete der junge Mechaniker, Reillys Rat folgend, bei.
Unter Anspannung aller Kräfte gelang es schließlich, das Hinterteil der Flugmaschine aus seinem Eispanzer herauszuschälen und eine Kante desselben bis auf die Eisschollen zu heben.
»Ich bin sehr um die Schraube besorgt, lieber Eliot. Wir wollen nur sorgfältig darauf acht geben, daß wir sie beim Herausheben nicht beschädigen; Sie wissen, daß wir keine Reserveschraube besitzen.«
»Wird das Ding überhaupt noch heil sein?«
»Wenn die Eisschollen ihr nicht zu schlimm mitgespielt haben, was immerhin möglich sein kann, so wüßte ich nicht, wodurch eine nachteilige Beschädigung herbeigeführt worden sein könnte.«
Als die Flugmaschine glücklich zur Hälfte aus dem nassen Element gezogen war, und so die freigelegte Schraube von dem wirren Seetangknäuel befreit werden konnte, zog neue Hoffnung in die Herzen der Schiffbrüchigen ein.
»Dem Himmel sei Dank! Wir werden die Rückfahrt wieder durch die Luft antreten können!« äußerte Reilly freudig, nachdem er sich überzeugt hatte, daß die Schraube in der Tat unversehrt war.
»Wenn die Maschine nur noch in der gewohnten Weise funktioniert und sie etwa nicht eine Beschädigung erlitten hat.«
Reilly schien diese Befürchtung überhört zu haben, denn ohne zu antworten, spähte er scharf nach dem südlichen Horizont aus, wo eine dunkle langgestreckte Bank sichtbar wurde.
»Eliot! Land!«
Der Gerufene sah von seiner Arbeit auf.
»Sehen Sie dort am Horizont den langen, dunkeln Strich?«
»Ja!« rief Eliot.
»Es ist Land,« behauptete Reilly.
»Grönland?«
»Nein, Norwegen.«
»Täuschen Sie sich auch nicht, könnte es nicht nur eine Wolke oder ein Eisberg sein?«
»Das scheint mir ausgeschlossen, da ich keine Bewegung des Flecks erkennen kann.«
Daß es sich, wie vermutet, um keine Festlandküste, sondern nur um Inseln handelte, sollten beide bald genug gewahr werden.
Da die Eispressung zusehends stärker wurde, schien es hohe Zeit zu sein, von den verderbendrohenden Eisschollen abzukommen.
»Lassen Sie uns eilen, Eliot, steigen Sie in das Fahrzeug hinein, ich folge sofort.«
Der Mechaniker schwang sich mit einem Satze auf das Dach der Flugmaschine. Reilly untersuchte die Schraube nochmals mit größtmöglichster Sorgfalt, und da er alles in Ordnung fand, stieg er in das Innere. — Wie er gehofft hatte, funktionierte der Apparat in alter Weise. Die Schraube durchschnitt pfeifend die Luft, und die Maschine hob sich, erst langsam, dann aber so schnell, daß sie sich in wenigen Minuten bereits 50 Meter hoch befanden. Von oben aus war der Anblick auf das Meer ein wunderbarer. Soweit das Auge sehen konnte, nichts als Eisberge und Schollen. Die Mitternachtssonne sandte ihre feuerroten Strahlen horizontal über die schimmernden eisigen Flächen zwischen denen ab und zu der freie Wasserspiegel in Gestalt dunkler Flecken sichtbar war.
Eliots Gesicht strahlte vor Freude — er dachte an seine Lieben daheim, hatte er doch kaum gehofft, sie wiederzusehen.
»Ich habe mich geirrt, es ist kein Festland, das ist nicht Norwegen!« sagte John Reilly nach einer Weile.
»Eine Insel ...« ließ sich Eliot vernehmen, als er den langgestreckten Streifen am südlichen Horizont musterte.
»Das Steuer scheint leider nicht mehr so ganz in Ordnung zu sein ...«
»Wie —? Gehorcht es nicht?« fragte Eliot, unangenehm überrascht, und seine Züge überflog ein Schatten.
»Die Maschine zeigt jetzt ein eigentümliches Bestreben, immerfort nach links abzubiegen; ich mag das Steuer noch so weit drehen, ganz im Kurs bleiben wir nicht.«
»Fatal ...« seufzte Eliot und machte sich sogleich daran, den Schaden zu untersuchen.
»Das ist eine schneidende Kälte, wozu haben wir die Luke eigentlich noch offen?« Reilly schloß die Öffnung und ließ dann die Flugmaschine bis auf 100 Meter Höhe steigen.
»Wir haben wirklich mehr Beschädigungen an unserer Maschine erlitten, als ich gedacht hatte. Die Fahrt geht nur noch so langsam vor sich, daß wir in einer Stunde kaum ein Drittel des früher zurückgelegten Weges erzielen können,« meinte Eliot, den Mechanismus des Vehikels untersuchend.
Auch Reilly beschäftigte sich jetzt emsig damit, nach den Fehlern der Maschine zu forschen. Innen schien alles in Ordnung zu sein; die Schäden mußten außerhalb liegen.
»Sobald wir über festem Lande sind, wollen wir uns niederlassen und versuchen, den Schaden an der Maschine auszubessern.«
»Wieviel Zeit werden wir noch bis zur Küste gebrauchen?« fragte Eliot, welcher scharf nach der Seite des Horizontes ausspähte, auf welche das Luftschiff seinen Lauf zunahm.
»Immerhin noch einige Stunden,« erwiderte Reilly.
»So bald schon? — Dann müßte doch aber die Küste bereits in Sicht sein, da wir von hier aus, hundert Meter über dem Meeresspiegel, einen bedeutend erweiterten Horizont haben.«
»Eigentlich, ja!«
»Es ist indes noch keine Spur davon zu erblicken.«
»Warten wir noch etwas. In einer Stunde wird es gewiß möglich sein,« sagte John Reilly und vertiefte sich in das Studium seiner Seekarte.
Stunden gingen aber hin, und kein Festland war zu sehen. Unter dem Fahrzeuge dehnte sich nach wie vor die weite Fläche des Meeres mit seinem Treibeis aus. Von Zeit zu Zeit glaubte Eliot Land zu erblicken. Jedesmal aber täuschte er sich, denn immer wieder stellte es sich heraus, daß es nur schwimmende Eisberge waren. Die nächste astronomische Ortsbestimmung, welche John Reilly vornahm, ergab, daß sich die Aeronauten um zwei Grad südwestlicher Richtung fortbewegt hatten.
»Es kann nur am Steuer liegen, lieber Eliot, wir treiben unaufhaltsam dem Atlantischen Ozean zu.«
»Läßt sich denn nichts dagegen machen?«
»Nein, der Kurs des Fahrzeuges ist wie verhext. Ich mag nach links oder rechts steuern, immerfort geht es in südwestlicher Richtung weiter,« sagte Reilly, mißmutig den Kopf schüttelnd.
In dieser verzweifelten Lage verbrachten Reilly und sein Gefährte noch vier ganze Tage. Schon drohten die Nahrungsmittel und der Wasservorrat zur Neige zu gehen, als die Luftschiffer auf eine Inselgruppe zutrieben.
»Holla, Mr. Reilly, Inseln!« rief Eliot aus.
»Es werden die Faröer sein, die dänischen Schafinseln,« lautete die Antwort des in geographischen Dingen wohl bewanderten Reilly.
Sobald sich die Luftschiffer über den Inseln befanden, wollten sie ihr Fahrzeug zum Sinken bringen. Doch wie erstaunten oder vielmehr wie erschraken sie, als weder ein Halten noch ein Sinken des Fahrzeuges bewerkstelligt werden konnte.
»Es ist doch ein verwünschtes Pech!« murrte Reilly. »Da fahren wir wieder über die Inseln hinweg, ohne anhalten zu können. Die Maschinerie unseres Luftschiffes muß doch empfindlichen Schaden gelitten haben.«
»Entsetzlich!« rief Eliot und stürzte in die Ecke der Kabine, wo sich der Akkumulator und die Armatur des Abtriebsmechanismus befanden. Mit fieberhafter Hast untersuchte er jedes Teilchen und sagte endlich: »Ich kann nichts entdecken. Der Himmel mag wissen, wo der Schaden liegt. Ich sehe es schon, wir gehen unserem Schicksal entgegen und vermögen es nicht zu ändern.«
»Lassen Sie nur den Mut nicht gleich ganz sinken, lieber Eliot!« tröstete Reilly.
Längst lagen die Schafinseln im Rücken der beiden Luftschiffer, als Reilly die Entdeckung machte, daß sie allmählich immer tiefer fuhren. Das Barometer zeigte jetzt nicht mehr 102, sondern nur noch 76 Meter Höhe an.
»Der Gang unserer Maschine ist völlig unberechenbar geworden; jetzt befinden wir uns auf einmal andauernd im Sinken,« äußerte John Reilly mißmutig.
»Ich finde das recht tröstlich,« antwortete Eliot.
Die Gegend, welche jetzt befahren wurde, ließ eine Menge schwimmender Eisberge auf dem Meere erkennen. Deutlich konnte man von oben aus die nordwärts ziehenden blauen Wasser des Golfstromes, die in ihrer Farbe stark gegen die grüne Flut des Ozeans abstachen, verfolgen. Längst war Reillys Maschine über den Polarkreis hinweg und damit auch aus dem Bereiche der Mitternachtssonne. Als das Tagesgestirn unter dem Horizont verschwand und das Dunkel der Nacht eintrat, wurde die Lage kritisch, denn das Vehikel sank immer tiefer und drohte bereits verschiedene Male mit den Spitzen der Eisberge in unliebsame Berührung zu kommen. An ein Ausweichen war nicht zu denken, da das Fahrzeug hartnäckig seinen Kurs beibehielt und ihn nicht um einen Kompaßstrich ändern zu wollen schien.
»Teufel!« sagte Reilly nach einer Weile, »wir laufen geradenwegs auf den Eisberg da vorne zu ...«
»Dann sind wir unrettbar verloren!«
»Werfen Sie nur nicht immer gleich die Flinte ins Korn!«
»Ein Zusammenstoß müßte aber unsere Maschine zerschmettern!«
»Das ist noch die Frage. Und wäre es auch der Fall, so könnten wir uns doch auf den Eisberg retten.«
»Das ist ein verzweifelt schwacher Trost,« meinte Eliot und sah mit Entsetzen, wie sie sich dem um vieles langsamer treibenden Berge von Minute zu Minute näherten.
»Wir sind jetzt nur noch 200 Meter entfernt; in wenigen Augenblicken ist der Zusammenstoß geschehen ...«
Die Höhe, in welcher sich das Luftschiff befand, ließ keine Aussicht mehr zu, daß man über den vielzackigen Gipfel hinwegkommen würde. Im Dunkel der Nacht konnten sie nur wenig mehr als die Umrisse des Eisberges erkennen. Schon die nächste Minute mußte über Leben und Tod entscheiden. — Ein gewaltiger Krach, und die Maschine stürzte auf den mächtigen Vorsprung des Eisberges nieder. Ihre Insassen kamen indessen glücklicherweise noch einmal mit dem Schrecken davon.
»Sind Sie verletzt?« war die erste Frage, welche Reilly an Eliot richtete, als sich beide aus der zertrümmerten Kabine herausarbeiteten.
»Gott sei Dank nicht, wenn auch der Arm ein wenig schmerzt.« — »So ist es also noch einmal glücklich abgegangen.« — »Aber unsere Maschine?«
»Wir können nichts daran ändern, jetzt kommt es darauf an, daß wir rechtzeitig durch ein Schiff gerettet werden,« meinte Reilly.
»Diese Aussicht scheint mir auf schwachen Füßen zu stehen. Bedenken Sie doch, daß kein Schiff es wagen wird, in die Nähe eines Eisberges zu kommen.«
»Vielleicht doch, ein Dampfer, welcher sich uns von hinten nähert, dürfte wohl nichts für sich zu befürchten haben.«
»Bis dahin werden wir aber, wenn nicht erfroren, so doch verhungert oder verdurstet sein,« warf Eliot ein. — So gut es ging, orientierten sich jetzt beide zunächst über ihre Lage. Der Eisberg müßte nach Reillys Schätzung eine Länge und Breite von etwa 100 Metern haben. Zeitweise konnte man festen Fuß fassen, und mit einiger Mühe mußte es gelingen, den Gipfel zu ersteigen.
»Es ist hier entsetzlich kalt,« klagte Eliot, dessen Zähne hörbar aufeinander klapperten.
»Bewegen wir uns,« schlug John Reilly vor, »klettern wir ein wenig, das jagt das Blut durch die Adern.«
»Meine Glieder sind schon ganz steif, da wird es mit dem Klettern wohl nicht viel auf sich haben,« meinte der junge Mechaniker und rieb sich fröstelnd die Hände.«
»Zuerst werde ich meine Laterne holen, hoffentlich ist sie nicht zerbrochen, und wir können sie anzünden.« Mit diesen Worten suchte Reilly in den Trümmern seines Luftschiffes nach dem genannten Gegenstande und fand ihn auch unversehrt in einer Ecke liegen.
Mit der brennenden Laterne in der Hand versuchten nun die beiden Verunglückten den Gipfel zu erklimmen, doch konnten sie schon auf halbem Wege nicht weiter.
»Wollen wir nicht den Hals brechen, so müssen wir hier unsere Kletterpartie einstellen.«
»Wird es denn nicht bald Tag?« fragte Eliot.
»Es ist vier Uhr, und da wir hier in der Polargegend augenblicklich noch den langen Tag haben, so dürfte die Sonne schon in den nächsten Stunden aufgehen.«
»Gott sei Dank, bei Tag ist doch alles eine ganz andere Sache.«
Reilly nickte und wollte eben den Versuch machen, auf dem Plateau, wo sie standen, etwas weiter vorzudringen, als Eliot ihm plötzlich zurief: »Sehen Sie einmal, Mr. Reilly, bewegt sich dort nicht eine dunkle Gestalt — da unten, hart am Wasser.«
Spähend sah der angerufene nach der bezeichneten Richtung hin und erwiderte dann: »Sie haben recht.«
»Was mag es sein?«
»Ein Mensch sicher nicht, das wäre doch ein zu sonderbarer Zufall. — Wenn es überhaupt ein lebendes Wesen ist.«
»Aber es bewegt sich doch.«
»Ja, es ist unverkennbar, ich weiß aber nicht, was ich daraus machen soll.«
»Jetzt ist es verschwunden.«
»Richtig. Höchst sonderbar.«
Nachdem beide eine Weile die Gegend beobachtet hatten und von der dunklen Gestalt keine Spur mehr wahrzunehmen vermochten, sagte Reilly verdrießlich: »Es ist verteufelt kalt, ich glaube, wir tun am besten, wenn wir uns bis zu Sonnenaufgang zwischen die Trümmer unseres Fahrzeuges verkriechen. Da haben wir doch wenigstens einigen Schutz.«
Eilig kletterten die beiden zu der Unfallstelle zurück und besichtigten das Vehikel. Die offene Seite der Kabine war durch abgerissene Metallbleche so verdeckt, daß die kalte Außenluft nur wenig Zutritt fand. Der Raum, mit dem sie sich begnügen mußten, war freilich so eng, daß sie sich kaum auf dem Boden ausstrecken konnten.
Von Müdigkeit übermannt, schliefen die beiden unfreiwilligen Nordpolfahrer bald ein. — Ein dumpfes Brüllen weckte jedoch Reilly, welcher einen leisen Schlaf hatte, bald wieder auf.
»Das klingt ja fast wie das Geheul eines Bären,« murmelte der Lauscher. Er war darüber unschlüssig, ob er seinen in tiefen Schlummer versunkenen Gefährten wecken sollte oder nicht. Da aber das Gebrüll lauter wurde und auch rasch näher zu kommen schien, zögerte Reilly nicht länger und ermunterte Eliot.
»Hören Sie nichts?«
»Was?« fragte der andere noch schlaftrunken.
»Das Brüllen.«
»Das Brüllen ...«
Jeder lauschte in das Dunkel hinaus.
»Es kann nur ein Tier sein ... wenn wir uns diese Nacht nicht getäuscht haben, so war das die dunkle Gestalt, welche wir sahen.«
»Ja, fast sah es wie ein Tier aus, und jetzt dieses eigenartige Gebrüll ... sollte es am Ende ein Eisbär sein?«
»Alle Wetter. Da könnten Sie recht haben.«
»Und wir sind ohne Waffen?«
»Wie mag nur die Bestie auf den Eisberg gekommen sein?«
»Ja, es ist immerhin seltsam genug.«
»Vielleicht von Grönland aus, wo sich die Eisberge durch Abbrechen von Gletschermassen bilden.«
Eine Weile war es still. Plötzlich aber, es mochten höchstens zehn Minuten vergangen sein, ertönte das Brüllen so nahe, daß es unzweifelhaft war, daß dasselbe von einem Bären herrührte, welcher sich dem Vehikel näherte — wahrscheinlich hatte das Tier Beute gewittert.
»Also doch — wir haben uns nicht getäuscht,« sagte Eliot und ergriff eine Metallstange, um nicht gänzlich wehrlos zu sein.
»Das Vieh wird einen schönen Appetit mitbringen ...« scherzte Reilly, trotz der verzweifelten Lage. »Jedenfalls befindet es sich schon wochenlang hier und ist völlig ausgehungert.«
»Da können wir uns ja gratulieren,« meinte Eliot und versuchte durch eine offene Spalte nach außen zu spähen. Das dämmernde Licht des nahenden Tages ließ ihn bald die plumpe Gestalt des Feindes erkennen.
Das beutegierige Tier trabte auf den Trümmerhaufen zu und stand bereits im Begriff, mit seiner Tatze das vergitterte Fenster einzuschlagen, als Eliot, ohne sich zu besinnen, die metallene Stange mit aller Kraft so wuchtig durch die Spalte stieß, daß sie den Bären mitten ins Auge traf.
»Unglücklicher! Was haben Sie gemacht!« rief Reilly entsetzt aus.
Ein furchtbares Geheul erschütterte die Luft, und rasend vor Wut und Schmerz stürzte sich das schwergereizte Tier auf die Kabine, welche unter der massigen Last fast zusammenbrach.
Auch Reilly ergriff jetzt einen scharfkantigen Metallteil, kroch, so schnell es gehen wollte, auf der entgegengesetzten Seite der Kabine heraus und rief seinem Gefährten hastig zu, ihm zu folgen. Eliot tat, wie ihm geheißen.
Unter lautem Wutgeheul warf sich jetzt das Untier mit solcher Wucht gegen die Seitenwand der Flugmaschine, daß diese völlig eingedrückt wurde.
Die beiden Flüchtlinge versuchten nun den steilen Abhang hinunterzugleiten, wobei sie aber große Gefahr liefen, ins Meer zu stürzen, falls es ihnen nicht gelang, auf einem hart unten über der Wasserkante befindlichen Vorsprung zum Halten zu kommen. Das Manöver ging indessen glatt von statten. Während oben der Bär noch seine Wut an dem Vehikel ausließ, versuchte Reilly einen dem Tiere unzugänglichen Punkt zu erreichen.
Nur zu bald aber war ihnen der schreckliche Gegner auf den Fersen. Wutschnaubend kam auch er den Abhang hinabgerutscht, und Eliot wollte eben zu der gesicherten Stelle, wo Reilly stand, flüchten, als er das furchtbare Tier nur noch wenige Schritte von sich entfernt sah.
»Zu Hilfe! Zu Hilfe!« schrie er verzweifelt seinem Gefährten zu, während er in Todesangst mit der Eisenstange blindlings auf den Kopf des Bären einschlug.
Heiser brüllend stürzte sich das gewaltige Tier auf den verhaßten Feind, der dabei zu Fall und unter den vor Hunger und Wut geifernden Bären zu liegen kam.
In diesem kritischen Augenblicke nahte Reilly in tollkühnen Sätzen. Die eine Hand hielt die Enden zweier armlangen Drähte, in der anderen eine schmale Blechbüchse. Bevor es der Bestie aber gelang, sich auf ihn zu stürzen, hatte Reilly das Tier mit den beiden Polenden seiner Drähte berührt und dabei auf einen Knopf der kleinen Blechbüchse gedrückt. — Die Wirkung war eine wunderbare. Der Bär brach noch in demselben Augenblicke betäubt und regungslos zusammen. Im Falle kam er quer über Eliot zu liegen. Reilly rief nun besorgt: »Eliot, sind Sie verletzt?«
»Ich weiß es nicht ... ich ... glaube nicht ...« stöhnte der unter der gewaltigen Last fast erstickende Mechaniker.
»Gott sei Dank, daß Sie wenigstens noch leben!« jubelte Reilly aufatmend und berührte nochmals den Bären mit den Drähten. Dann zerrte er das zottige Ungetüm mit aller Kraftanstrengung von dem Körper seines Gefährten hinweg und half diesem selbst auf die Beine.
Eliots linke Gesichtsseite hatte durch das Aufschlagen auf die Eismasse mehrere blutrünstige Schrammen davongetragen, im übrigen aber fanden sich keine Verletzungen vor.
»Der Bär ist tot,« sagte Reilly, »ich kam gerade noch zur rechten Zeit.«
Eliot faßte seinem Retter warm die Hände und rief tief ausatmend aus: »Ich verdanke Ihnen mein Leben, Mr. Reilly, ich werde es Ihnen niemals vergessen!«
»Es ist gut ... es ist gut, Sie würden in meiner Lage dasselbe getan haben. Freilich, wenn das Ding hier nicht gewesen wäre ...«
»Das ist wohl die elektrische Angel, mit der Sie dem Bären das Lebenslicht ausgeblasen haben?«
»Sie haben es erraten.«
»Ich bin wirklich außerordentlich erstaunt, daß der kleine Fangapparat eine solch furchtbare Kraft besitzt.«
»Ja, diese kleine Blechbüchse hier, ein Taschenakkumulator, enthält so viel Elektrizität aufgespeichert, daß ich jetzt noch imstande wäre, ein ganzes Dutzend solcher Untiere auf der Stelle zu töten.«
»Also ein echter und rechter elektrischer Hinrichtungsapparat ...«
»Ja, das wäre wohl die richtige Bezeichnung dafür. Eine elektrische Waffe, die sicherer wirkt als jede Schußwaffe oder eine Säbelklinge.«
Unterdessen war die Sonne über den Horizont gestiegen. Die kristallenen Abhänge des Berges schimmerten das auffallende Licht des Tagesgestirnes in wunderbaren Reflexen wieder.
»Wir wollen vor allem der Bestie das Fell abziehen, es wird uns immerhin vor der ärgsten Kälte schützen.«
»Ohne Messer?« frug Eliot. »Ich besitze wenigstens keins.«
»Ich auch nicht ... doch halt, oben in unserem Fahrzeug müssen mehrere sein.«
»Richtig ... ich werde sie sofort holen,« erwiderte Eliot und machte sich ungesäumt auf den Weg.
Reilly sah ihm verwundert nach, wie er so flink und behende den Abhang erklomm, freute sich aber von ganzem Herzen, daß sein Gefährte mit heiler Haut aus dem furchtbaren Kampfe mit dem Bären hervorgegangen war.
Wie wohl tat es den beiden Schiffbrüchigen, in der folgenden Nacht unter dem zottigen Felle eine warme Ruhestätte zu finden.
So vergingen wieder mehrere Tage und Nächte, und noch immer wollte kein Schiff in Sicht kommen. Und doch waren sie bereits so weit südwärts getrieben, daß sie über kurz oder lang eine der Dampferlinien, welche zwischen England und Nordamerika laufen, kreuzen mußten. Eine Ortsbestimmung konnte Reilly nicht vornehmen, da der Sextant und der Kompaß zertrümmert waren. Als die Nahrungsmittel zu Ende gingen, konnte man Eliot häufig damit beschäftigt sehen, mittels der elektrischen Angel an der Oberfläche des Meeres erscheinende Fische zu töten und für die Mahlzeiten zuzubereiten. Trinkbares Wasser lieferte das Auftauen abgehackter Eisstücke auf der glücklicherweise noch unversehrt gebliebenen Spirituskochmaschine zur Genüge.
Eines Mittags, es war nun schon der sechste Tag, den sie auf solche Weise zubrachten, hielt Reilly besonders scharfen Ausguck, da sich der Eisberg nach seiner Berechnung auf der Höhe von Irland befinden mußte. Endlich wurde des Beobachters Blick durch einen in der Ferne auftauchenden dunklen Fleck gefesselt. Das mußte ein Schiff sein. Wenige Minuten später erkannte Reilly auch wirklich am Horizont die leicht gekräuselte Rauchwolke eines sich nähernden Dampfers.
»Eliot, ein Schiff! Kommen Sie schnell herauf.«
Der Gerufene klomm freudig erregt zu Reillys Standpunkt empor. Dieser schwenkte aus allen Kräften sein an eine Stange gebundenes Taschentuch fortgesetzt hin und her, um dadurch die Besatzung des Schiffes aufmerksam zu machen.
»Ihre Blicke sind sicher nach hier gerichtet,« erklärte Eliot, der jetzt neben ihm stand, denn ein Eisberg, welcher die Fahrbahn des Dampfers kreuzt, wird vom Kapitän des letzteren immer sehr scharf ins Auge gefaßt. Ich wette, daß man uns bereits mit dem Fernglase entdeckt hat.«
»Ich fürchte nur, daß der Dampfer sich nicht heranwagen wird.« — »Verlassen Sie sich darauf, Eliot, man wird uns zu Hilfe kommen.«
Tatsächlich änderte das Schiff auch seinen bisher eingehaltenen Kurs plötzlich und dampfte auf den Eisberg zu, um dem letzteren von rückwärts beizukommen.
»Sehen Sie, lieber Eliot, jetzt können wir fest auf Rettung rechnen.«
»Aber wir werden die Flugmaschine im Stich lassen müssen,« erwiderte der Mechaniker.
»Bah — was liegt an dem zertrümmerten Kasten, wir bauen uns wieder eine neue Maschine.«
Eine Viertelstunde später stoppte der Dampfer bereits in der Nähe und setzte eine Schaluppe aus, welche auf den Eisberg zusteuerte. Als dies die beiden Schiffbrüchigen sahen, eilten sie noch einmal schnell zu ihrer Maschine hin und rafften die wichtigsten Instrumente und sonstigen unentbehrlichen Dinge zusammen, um sie mitzunehmen.
Mit vielen Schwierigkeiten vermochte die Schaluppe endlich anzulegen und die Schiffbrüchigen an Bord zu nehmen.
Reilly und sein Gefährte waren gerettet.
* * *
Reilly hat dann später nochmals eine Fahrt in die Arktis unternommen, um mit Eliot auf die Entdeckung des Nordpoles auszugehen; wohlverproviantiert und mit allem Nötigen versehen, hatten sie auch diesesmal wieder die Reise von Manchester aus angetreten. Jahr und Tag sind aber seitdem vergangen, und weder Reilly noch Eliot sind von ihrer abenteuerlichen Fahrt zurückgekehrt. Was aus ihnen geworden ist, darüber wird wohl niemand jemals Auskunft geben können.
Roy Glashan's Library
Non sibi sed omnibus
Go to Home Page
This work is out of copyright in countries with a copyright
period of 70 years or less, after the year of the author's death.
If it is under copyright in your country of residence,
do not download or redistribute this file.
Original content added by RGL (e.g., introductions, notes,
RGL covers) is proprietary and protected by copyright.