Roy Glashan's Library
Non sibi sed omnibus
Go to Home Page
This work is out of copyright in countries with a copyright
period of 70 years or less, after the year of the author's death.
If it is under copyright in your country of residence,
do not download or redistribute this file.
Original content added by RGL (e.g., introductions, notes,
RGL covers) is proprietary and protected by copyright.
RGL e-Book Cover
Based on an image created with Microsoft Bing software
Titelbildgestaltung: Dieter von Reeken
Oskar Hoffmann: "Unter Marsmenschen"
Breslau: Schlesische Verlags-Anstalt
von S. Schottlaender, 1. Tsd. 1905.
Einbanddeckel der gebundenen Ausgabe
Oskar Hoffmann: "Unter Marsmenschen"
Breslau: Schlesische Verlags-Anstalt von
S. Schottlaender/Leipzig: E.F. Steinacker/
New York: G. E. Stechert, 2. Tsd. 1905.
Einbanddeckel der broschierten Ausgabe
mit einer Zeichnung von Paul Telemann.
Oskar Hoffmann: "Unter Marsmenschen"
Breslau: Schlesische Verlags-Anstalt von
S. Schottlaender/Leipzig: E. F. Steinacker
New York: G. E. Stechert, 2. Tsd. 1905,
Titelseite (S. 3, unpaginiert)
Der hier vorgestellte Roman ist heute selbst antiquarisch kaum noch erreichbar. Abgesehen von dieser altersbedingten Seltenheit der Originalausgabe erschwert inzwischen auch die für weite Kreise nicht oder nur mit Mühe lesbare Frakturschrift den Zugang zum Text. Durch den vorliegenden Nachdruck im Neusatz in heute üblicher Antiqua-Schrift wird der Roman wieder allgemein zugänglich gemacht.
Diesem Nachdruck liegt die broschierte Ausgabe der 2. und letzten Auflage (2. Tsd. 1905) der im gleichen Jahr erschienenen 1. Auflage zugrunde, erschienen im gemeinsamen Verlag der Schlesischen Verlags-Anstalt v. S. Schottlaender in Breslau, E. F. Steinacker in Leipzig und G.E. Stechert in New York.
Der Text selbst bleibt, auch hinsichtlich der seit 1901/02 geltenden Rechtschreibregeln einschließlich der Zeichensetzung und veralteter oder aus heutiger Sicht missverständlicher Schreibweisen wie z. B. »da ß« statt »da s s«, »fr u g« statt »fr a gte« oder »H ü lfe« statt »H i lfe« usw., unangetastet.
O f f e n s i c h t l i c h e Drucksatzfehler im Original sowie falsche Schreibweisen bekannter Personen- und Ortsnamen sind stillschweigend berichtigt worden. Aus technischen Gründen erfolgte die Silbentrennung nach den seit 1996 geltenden neuen Regeln.
Die im Original gesperrt gesetzten Texte werden hier ebenfalls g e s p e r r t wiedergegeben.
Ich hoffe, dass dieser Nachdruck dazu beiträgt, Oskar Hoffmann und seine Werke vor dem Vergessen zu bewahren.
Schließlich bedanke ich mich bei Franz E. Katzer, Hans-Reinhard Kühnreich und Dr. Franz Rottensteiner, die mir für die Herstellung dieses Nachdrucks freundlicherweise Bild- und Textkopien zur Verfügung gestellt haben, sowie bei Thorsten Erker (1. Aufl.) und insbesondere Thorsten Grube (2. Aufl.) für das Korrekturlesen.
Oskar Hoffmann: "Unter Marsmenschen". Breslau:
Schlesische Verlags-Anstalt von S. Schottlaender/
Leipzig: E.F. Steinacker/New York: G. E. Stechert,
2. Tsd. 1905, Frontispiz (gegenüber S. 3, unpaginiert)
mit einer Zeichnung von Fritz Bergen zu Kapitel 24
Da die Mehrzahl der Leser mit den topographischen Verhältnissen des Planeten Mars wohl nicht näher bekannt sind und sich mit astrophysikalischen Studien kaum beschäftigt haben dürften, so hält es der Verfasser dieses Buches für angebracht, im nachstehenden eine Hypothese aufzustellen, welche der folgenden Erzählung als Basis unterlegt ist und die martischen Zustände so erklärt, daß alle vorkommenden Ausführungen durchaus glaubhaft und möglich erscheinen.
Der Planet Mars befindet sich in einem geologischen Stadium, welches die Erde vielleicht erst in Tausenden von Jahren erreicht. Der unausgesetzte Einfluß der Atmosphärilien hat auf die gesamte Oberfläche des Himmelskörpers derart zerstörend eingewirkt, daß die Gebirge allmählich verschwanden und völlig verflachte Kontinente neben Wasserbecken entstanden. Die letzteren wurden durch die Ausbreitung der ersteren derart eingeengt, daß die Gewässer bei erheblichen Niederschlägen, besonders aber bei Schneeschmelze in dem polaren Gebiete anschwollen und die Landmassen überfluteten, welchem Übel die Marsbewohner dadurch steuerten, daß sie gewaltige Kanäle zum schnellen Abfluß des Wassers erbauten. — Entsprechend dem vorgeschrittenen geologischen Stadium ist auch die Kultur ungemein hoch entwickelt. Da die Martier den Bewohnern der Erde um Jahrtausende in der Erkenntnis der Natur und ihrer Kräfte voraus sind, so repräsentieren sie eine Menschenrasse, deren Lebensverhältnisse von den unsrigen stark abweichen. Der Umstand, daß sich das Gehirn der Marsbewohner infolge des durch viele Generationen hindurch geübten Denkens physisch verändert hat — die Windungen desselben haben nach Lage und Form eine Wandlung durchgemacht — ferner auch die Benutzung eines den Gesichtssinn über das Spektrum hinaus erweiternden optischen Sehwerkzeuges, lassen den Martiern das Weltbild nicht so beschränkt erscheinen als uns; sie vermochten so der letzten Erkenntnis aller Dinge nahezukommen. Die Wissenschaft und Technik auf der Marswelt haben eine Stufe der Vollkommenheit erreicht, wie sich solche der irdische Mensch heute noch nicht träumen läßt. Die Sitten und Gebräuche der Martier entsprechen ihrem kulturellen Fortschritte. — Die Naturverhältnisse des Planeten ähneln denen der Erde sehr: es gibt eine Fauna und Flora, es existiert ein Jahreszeitenwechsel und auch die Tage und Nächte gleichen in ihrer Länge fast genau den irdischen.
Gesamtresultat ex hypothesi: Der Planet Mars ist ein um vieles älteres Gestirn als die Erde, welches Luft, Wasser und Lebewesen, analog der irdischen Natur, den Verhältnissen der vom Verfasser und im allgemeinen auch von der Astrophysik angenommenen geologischen Periode angepaßt, besitzt.
Am 1. April des Jahres 18-- herrschte in den gelehrten Kreisen der schottischen Universitätsstadt Edinburgh eine ungeheure Aufregung. Scharenweise strömten die Akademiker durch die Pforte des Gebäudes, in welchem die berühmte Royal Society ihre Sitzungen abhielt.
Die sich »Königliche Gesellschaft« nennende Vereinigung bestand durchweg aus Mitgliedern der Edinburgher Universität und aus korrespondierenden Mitgliedern fremder Hochschulen. Zweck: Pflege der Naturwissenschaften.
In ganz Europa war es bereits seit mehreren Wochen bekannt und Tagesgespräch, daß der berühmte Professor Mac Milford, ehemaliger Direktor des auf dem Caltonhügel in Edinburgh stehenden NationalObservatory, in einer am 1. April stattfindenden Sitzung der Royal Society Bericht über seine erste Fahrt ins Universum, über einen Besuch des Mondes ablegen werde.
Es muß hier zunächst vorausgesetzt werden, daß genannter Gelehrter im Laufe des Februar 18-- tatsächlich während elf Tagen von der Erde abwesend war und auf dem Monde geweilt hatte; dann aber nach seiner Rückkehr auf Veranlassung der Königin Viktoria, welcher er über seine erste Universumreise Vortrag hielt, seiner völlig unglaubwürdigen Angaben wegen als geistesgestört in eine Irrenanstalt interniert worden war. Es gelang ihm aber mit Hilfe seines Dieners und eines Flugapparates vom Dache der Anstalt aus zu entfliehen. In Edinburgh wieder angekommen, führte er sofort vor allen Kollegen und der gesamten Bürgerschaft der Stadt eine Anzahl Flugversuche mit seinem Antigravitationsvehikel aus, wodurch alle Welt in größtes Erstaunen versetzt, und Mac Milford nochmals zur Königin nach London beschieden wurde, wo man nunmehr seinen ungeheuerlich klingenden Angaben Glauben schenkte und bedauerte, daß der große Gelehrte vor kurzem noch verkannt und eingesperrt worden war.
Es war interessant zu sehen, was alles für erleuchtete Geister, Mitglieder fremder wissenschaftlicher Akademien, hier zu dieser so denkwürdigen Sitzung der Royal Society zusammenkamen. Da war außer den Vertretern der Regierung, dreier Minister, zunächst die Londoner Königliche Gesellschaft fast vollzählig vertreten, nicht minder stellten die Mitglieder der Dubliner Royal Irish Academy of sciences ein starkes Kontingent zu den herbeigeströmten Gelehrten; ferner sah man Vertreter der Berliner Akademie der Wissenschaften, der Pariser Akademie des sciences, der niederländischen Akademie van Wetenschappen, ja sogar Mitglieder der spanischen Academia Real das Sciencias waren unverzüglich, nachdem der Telegraph das schier Ungeheuerliche in alle Länder hin gemeldet hatte, herbeigeeilt. Wohin der Blick fiel, stand oder saß eine dichtgedrängte Menschenmasse Kopf an Kopf in dem großen Saale der Königlichen Gesellschaft, und alle lauschten atemlos der langen Rede des berühmten Professors Mac Milford, welcher, auf einer blumengeschmückten Tribüne stehend, in dreistündiger ununterbrochener Ausführung seine Universumfahrt schilderte.
Erst als der Redner darauf zu sprechen kam, daß ihm Amerika die für England in Besitz genommene Herrschaft des Mondes hatte streitig machen wollen, da störte ein lautwerdendes, unwillig klingendes Gemurmel die bisherige atemlose Stille. Das nationale Gefühl der Briten regte seine schwerfälligen Fittiche. Der unliebsame Nachbar jenseits des Ozeans gehörte eben zu den bestgehaßtesten; daß deshalb in der Versammlung einige Rufe allzulaut wurden, welche für Uncle Sam nicht gerade schmeichelhaft waren und die bittere, alte Feindschaft nur zu deutlich kennzeichneten, das war weder zu verwundern, noch störte es den Redner sonderlich.
Es muß ferner hier vorausgeschickt werden, daß diese große Sitzung der Royal Society nachts Punkt 12 Uhr begonnen hatte, und daß, als es nahe 3 Uhr war, die Gesichter der Anwesenden durchaus nicht abgespannt und übermüdet aussahen, vielmehr alle Physiognomien ein außerordentliches Interesse zur Schau trugen.
Die Rednertribüne befand sich in der Nähe eines der unverhüllten Fenster des Saales, und an dem Fenster selbst stand ein eigenartig montierter Refraktor, welcher mit seinem Okularende in das Innere eines etwa zwei Meter hohen und einen Meter breiten, rechteckigen Holzkastens mündete. Elektrische Batterien, Akkumulatoren und zahlreiche um die Holzzelle in vielen Spiralwindungen laufende Drähte von der Stärke eines Schiffstaues boten den Blicken der anwesenden Zuhörer des Seltsamen gar viel. Rechts von der Tribüne stand das Wunder aller menschlichen Erfindungen, das Antigravitationsvehikel. Durch die Fenster der einen Seite des Saales warf der Mond sein Silberlicht herein, während auf der gegenüber liegenden Seite, dort, wo der Fernrohransatz sein Objektivende gegen das sternfunkelnde Firmament richtete, das Sternbild des Skorpions, mit dem zur Zeit in seinem Bereich befindlichen rotstrahlenden Mars sichtbar war.
Hören wir jetzt die letzten Ausführungen des berühmten Redners an. »Ehe ich nun meinen Bericht schließe,« sprach Mac Milford, »will ich Sie, meine Herren, mit einigen Worten über die von mir bewirkte Art und Weise der Aufhebung der Schwerkraft bekannt machen. ... In dem magnetischen Fluidum, welches unsern Erdball in Form elektrischer Ströme durchzieht, habe ich die Antigravitationskraft gefunden und mit Hülfe eines von mir konstruierten Akkumulators vermag ich soviel magnetisches Fluidum aufzuspeichern, daß ich mit dessen Hülfe die auf mein Vehikel wirkende Schwerkraft der Erde zu neutralisieren, mit einem Worte aufzuheben imstande bin. Um den Aufstieg meines Fahrzeuges zu bewirken, richte ich eine parabolidisch gekrümmte, metallene Sichelfläche, die Antigravitationskathode, welche das magnetische Fluidum ausstrahlt, gegen die Erdoberfläche, wodurch die irdische Gravitation aufgehoben wird. Von diesem Augenblicke an wirkt nur die Anziehungskraft des Mondes auf das Vehikel, anfänglich zwar sehr schwach, bald aber mit dem Quadrat der Annäherung an das Gestirn rapid zunehmend ...« Der Redner wurde hier unterbrochen.
»Ah ... Ah!« tönte es von allen Seiten aus der Zuhörerschaft heraus.
»Ist dann die Gravitationsgrenze, wo sich die Schwerkraft der Erde und des Mondes gegenseitig aufheben, erreicht, so kehre ich die magnetische Kathode um — ich richte sie dem Monde entgegen, um nun die Schwerkraft dieses Gestirnes abzuschwächen.«
»Bravo! Bravo! — Wunderbar! — Großartig!« Viele solcher Rufe schwirrten durch den Saal. Die Menge wurde lebendig, und schon schien die Ruhe gestört zu sein, als der Präsident der Royal Society ein scharfes Klingelzeichen gab.
Jetzt kam Mac Milford zum Weitersprechen: »Meine Herren! Eine zweite Entdeckung, welche ich gemacht habe, übertrumpft noch entschieden meine Methode der Aufhebung der Schwerkraft.«
Wieder ertönten Bewunderungsrufe, und ein Flüstern zog durch die Menge.
Als nach abermaligem Klingelzeichen wieder Ruhe eintrat, fuhr der Edinburgher Gelehrte fort:
» ... Diese zweite Entdeckung — ich bezeichne sie mit Stolz als meine beste — ist das elektrolytische Zersetzungsverfahren anorganischer und organischer Körper in deren Atome und die Beförderung der letzteren mittels reflektierter Lichtwellen durch den Weltäther hindurch nach einem beliebig gewählten Gestirn. Ich vermag so nicht nur alle toten Stoffe, wie zum Beispiel Holz und Eisen, sondern auch lebende Körper in ihre Einzelzellen oder Atome aufzulösen, sie mit Hülfe des Lichtes nach einem anderen Orte zu versenden und dort sich im Augenblicke des Auftreffens blitzartig wieder zusammensetzen zu lassen, ohne daß die Lebensfunktionen auch nur für eine Sekunde gestört worden sind. — Meine physiologischen Untersuchungen haben mich zu dem Ergebnis gelangen lassen, daß der Körper eines jeden Lebewesens, also auch der des Menschen, ein Zellenstaat ist, welcher aus Myriaden von Einzelzellen zusammengesetzt ist, von denen jede für sich zu existieren vermag. Auf dieser Entdeckung basiert nun meine elektrolytische Körperzersetzung ...«
Hier wurde der Redner durch eine Stimme aus dem Zuhörerraum unterbrochen, welche rief: »Bei der Versendung durch den Weltäther könnten doch aber leicht eine Anzahl Zellen im Raume verloren gehen?«
»Ich will nicht bestreiten, daß dieser Fall eintreten kann,« fuhr Mac Milford fort; »ja, ich bin sogar bereits davon überzeugt, daß durch unbekannte Einflüsse die Körperatome leicht aus ihrer Bahn abgelenkt werden können. Das Abhandenkommen einer kleinen Anzahl Zellen würde für den Wiederaufbau des menschlichen Körpers kein Hindernis bilden; freilich würde der sich wieder zusammensetzende Organismus eine Veränderung erfahren. Beispielsweise möchte ich hier anführen, daß, wenn eine Partie Nervenzellen oder Gehirnzellen abhanden kämen, dies eine Veränderung des Charakters der betreffenden Person nach sich ziehen würde. So könnte möglicherweise das Verlorengehen von Gehirnrindenzellen zur Folge haben, daß das Individuum plötzlich an chronischer Gedächtnisschwäche zu leiden anfangen würde. — Da ich zur Beförderung der Atome magnetelektrische Lichtwellen benutze, welche geradlinig nach ihrem Bestimmungsort zielen, so ist im allgemeinen aber eine Ablenkung draußen im Raume durch magnetische Einflüsse nicht zu befürchten. Die Einzelzellen werden in den meisten Fällen vollzählig am Ziele ankommen ...«
Erneut wurde der Redner durch stürmische Beifallsrufe unterbrochen. Diesmal vermochte der Präsident die Ruhe nur schwer wieder herzustellen. Endlich gelang ihm dies, und Mac Milford fuhr fort:
» ... Auf solche Art kann ich den Menschen auf jedes Gestirn versetzen und zwar mit der Schnelligkeit der Lichtstrahlen. Da diese etwa 40 000 Meilen pro Sekunde beträgt, so würde der auf diese Weise reisende Mensch nur den siebenten Teil einer Sekunde benötigen, um den ganzen Erdball zu umkreisen.«
Wieder herrschte Aufgeregtheit und Unruhe unter den Versammelten.
»Den 50 000 Meilen von der Erde entfernten Mond,« fuhr der Redner lächelnd fort, »vermag man auf diese Art in ein und einviertel Sekunden zu erreichen, ... der Mars aber, — dort, meine Herren, schimmert er zu uns hernieder,« — Mac Milford zeigte dabei auf das Fenster, »der Mars würde, da er augenblicklich mit der Erde in günstiger Opposition steht und nur wenig mehr als acht Millionen Meilen von uns entfernt ist, in etwa 200 Sekunden, das ist in drei und ein drittel Minuten, von den Atomen erreicht werden.«
Hier wurde der Redner durch eine Stimme unterbrochen, die rief: »Diese drei Minuten würden aber doch hinreichen, das Leben zum Erlöschen zu bringen.«
»Und würde die Reisezeit der Atome Stunden dauern, so hätte dies auf die Lebensfunktionen des zersetzten Wesens keinerlei Einfluß. ... Will vielleicht einer der Herren den Versuch machen? ... Dort steht die Zersetzungszelle, mein Atomistikum!« Bei diesen Worten zeigte der große Gelehrte auf den am Fenster stehenden Apparat.
In diesem Augenblicke herrschte eine Stille, daß man eine Stecknadel hätte zu Boden fallen hören können. Niemand schien Lust zu haben, einen solchen Versuch zu unternehmen — auszuprobieren, ob er auf dem Mars nach drei Minuten wirklich noch lebendig ankomme.
»Meine Herren!« begann jetzt Mac Milford wieder. »Um meine Ausführungen zu beenden und dieselben auch durch Beweise zu bekräftigen, werden ich und mein Diener Tom jetzt sofort die Reise zum Planeten Mars antreten!« Bei diesen Worten verließ der Professor die Rednerbühne und schritt unter einem ungeheuren Tumult und Hochrufen der Menge auf sein Atomistikum zu. Dort stand Tom, der inzwischen die Apparate in Tätigkeit versetzt hatte, schon bereit. Mac Milford prüfte schnell alles noch einmal, visierte den Refraktoransatz zum Mars, öffnete die Tür der Zersetzungszelle und bat dann die aufgeregte Versammlung um Ruhe.
Erst nach vielfachen Klingelzeichen und Mahnrufen des Präsidenten kam die sich drängende Menge zur Vernunft. — Jeder wollte nun sehen, was Mac Milford anfing.
»Meine Herren!« begann der Professor, setzte seinen Hut auf, nahm eine vollbepackte Reisetasche in die Hand und schob Tom, der dasselbe getan hatte, in das geöffnete, von grellem Lichtschein durchflutete Atomistikum; dann klappte er hinter seinem Diener die Tür zu. »Meine Herren! Meine Uhr zeigt hier 3 Uhr 20 Minuten 10 Sekunden — es ist die Abfahrtszeit meines Dieners! ...« Weiter vermochte Mac Milford nicht zu reden.
Eine Unruhe ging durch die Versammlung, und lautes erregtes Gemurmel ertönte.
Nach einer Weile endlich fuhr der Edinburgher Professor fort: »Der Liliputmond, den ich entdeckt habe, ist die erste britische Weltallskolonie, unser alter Erdenmond die zweite, und nun werde ich auch den Mars dem Besitztum der englischen Krone einverleiben!« Bei diesen Worten sah er auf seine Uhr und sagte dann: »Meine Herren! Mein Diener ist auf dem Mars angekommen — drei und einviertel Minute sind vorüber!« — Darauf öffnete er das Atomistikum — es war leer, die Erde war um einen ihrer Bürger ärmer geworden.
»Jetzt werde ich die Reise antreten ... Good bye, meine Herren!«
In diesem Augenblicke entstand ein riesenhafter Lärm und ein ungeheures Gedränge; zahllose begeisterte Hochrufe überstürzten sich fast.
Mit Stentorstimme rief Mac Milford, als er die Holzzelle betrat: »Es lebe Königin Viktoria!«
»Es lebe Königin Viktoria!« erwiderte in brausenden Rufen die Menge. Der berühmte Gelehrte schloß darauf schnell die Tür hinter sich. — — — —
Die hier versammelten Männer der Wissenschaft und die unter ihnen weilenden Vertreter der Regierung waren über das Gehörte und Gesehene ebenso aufgeregt als verblüfft; dann aber brach ein Begeisterungssturm unter ihnen aus; Tausende von Stimmen schwirrten durcheinander. Die Menge drängte sich nach vorn. Jedermann wollte die Krone aller Erfindungen sehen: das Atomistikum.
Als der Präsident der Royal Society nach fünf Minuten die elektrische Zelle öffnete und in dieselbe einen Blick warf, fuhr er heftig erschrocken zurück. Die vordersten Reihen der Versammelten stutzten über das Gebaren des Vorsitzenden, und viele Augen richteten sich sofort nach dem Atomistikum. Als Professor Vane dann die Tür der Holzzelle schnell ganz aufriß, erbleichten die Gesichter der Nächststehenden, und der Beifallsjubel erstarb augenblicklich auf ihren Lippen.
Mac Milford lag, auf den Boden gesunken, anscheinend leblos da; das Experiment war mißglückt.
Sofort drang die Kunde davon durch den ganzen Saal. So helle Begeisterung eben noch geherrscht hatte, so machte diese jetzt einer beklommenen Stimmung Platz. Ein Flüstern zog durch die aufgeregte Versammlung. Mit einem Schlage schien sich auch eine Hochflut Zweifel heranzuwälzen, welche die Verwendbarkeit der Erfindung des großen Gelehrten in Frage stellten.
Mac Milford wurde jetzt von mehreren Herren aus der Umgebung des Präsidenten unter Anwendung denkbar größter Vorsicht aus dem Atomistikum herausgezogen.
Wohl summten noch die Apparate, welche der Holzzelle den zersetzenden elektrischen Strom lieferten, aber der grelle Lichtschein, welcher bei dem ersten Experiment das Atomistikum erfüllt hatte, war verschwunden. — Was war passiert? Nachdem der leblose Gelehrte in einen Sessel gelegt worden war, rief der Präsident einige Herren, welche ihm als Mitglieder der medizinischen Fakultät bekannt waren, herbei. Zwei Professoren und drei praktizierende Arzte eilten sogleich zur Tribüne hin und nahmen sich des Bewußtlosen an. Eifrig wurde zunächst die Herztätigkeit desselben untersucht. Der Puls schien völlig still zu stehen; nicht der schwächste Atemzug war zu bemerken, und schon wollten die Mediziner einstimmig das betrübende Urteil abgeben, daß ihr großer Kollege von der andern Fakultät aus dem Leben geschieden sei, als Mac Milford zur Freude aller Umstehenden plötzlich bemerkbar zu atmen anfing und kurz darauf die Augen aufschlug.
»Wo bin ich — — auf dem Mars —?« flüsterte der greise Gelehrte mit schwacher Stimme und fuhr mühsam mit der Hand über seine Augen.
»Sie befinden sich noch auf der Erde,« flüsterte ihm der Präsident zu. Tiefe Stille herrschte ringsumher; Zweifel und Sorge hielt die erregten Gemüter in Schach.
Als Mac Milford kurz darauf wieder in Bewußtlosigkeit verfiel, wurde er in ein anstoßendes Gemach getragen und dort auf eine bequeme Ruhestätte gelegt.
Nachdem eine neue Untersuchung stattgefunden hatte, äußerte Dr . Howards, der Älteste des Ärztekollegiums, die Ansicht, daß der Verunglückte aller Wahrscheinlichkeit nach eine außergewöhnliche starke Erschütterung des Nervensystems erlitten habe. Nachdem die ersten ärztlichen Hilfeleistungen erfolgt waren, ordnete der Präsident an, daß Mac Milford in seine Wohnung gebracht werde.
Indessen wurde im Saal der Royal Society eifrig weiter disputiert. Die Staatsmänner und Gelehrten vermochten ihrer starken Erregung nicht Herr zu werden; waren doch die seltsamen Ereignisse und der Unglücksfall so bedeutungsvoll, daß sie das größte Interesse und Mitleid jedes einzelnen herausforderten.
Erst mit Morgengrauen verlief sich die gelehrte Versammlung; die denkwürdige Sitzung der Edinburgher Royal Society vom 1. April war zu Ende.
Der nächtlichen Versammlung in der Royal Society hatten unter anderen auch nicht weniger als 59 Berichterstatter größerer Zeitungen und Journale beigewohnt, um ihren Redaktionen sofort nach Schluß der denkwürdigen Sitzung Drahtnachrichten über die Rede und die dabei vollzogenen Experimente des mit einem Schlage berühmt gewordenen Gelehrten Mac Milfords zukommen zu lassen. Unter diesen Zeitungsmenschen konnte man Mr. John Jenkinson, den ersten Berichterstatter der Times, sehen, ferner die Vertreter des Daily Telegraph, der Morningpost, des Figaro, des Standard, des New Yorker Herald und noch anderer tonangebender Blätter. Da die breiten Massen des Volkes von den Entdeckungen und Erfindungen des Edinburgher Professors, sowie von seiner ersten Universumfahrt zum Monde nur wenig und Unbestimmtes wußten, so beeilten sich die Herren Reporter jetzt, nachdem die Regierung und Wissenschaft die ungeheuerlich klingenden Angaben Mac Milfords eingehend geprüft hatten, um so mehr, sensationelle Nachrichten durch den Draht in die Welt hinauszujagen. Auf dem Telegraphenamt hatten die Beamten die ganze Nacht gewacht, um jeden Augenblick auf dem Posten zu sein, falls die, von den Vertretern der Presse bereits im voraus angemeldeten Berichte einlaufen würden. Erst mit Morgengrauen ging die Hatz los. Der Telegraph spielte stundenlang ununterbrochen nach allen Richtungen; das unausgesetzt ertönende Ticken der Morseschreiber mochte wohl selbst die daran gewöhnten, jetzt in fieberhafter Hast arbeitenden Beamten nervös machen. Das Material, welches den amtlichen Stellen und Zeitungsredaktionen noch vor Sonnenaufgang zufloß, mußte dort natürlich auch sofort wieder verarbeitet werden, um die pompöse, welterschütternde Tagesneuigkeit in die Morgenausgaben der großen Zeitungen aufnehmen zu können.
Auch die internationalen Telegraphenbureaus hatten von den Ereignissen, welche sich in der schottischen Universitätsstadt abspielen sollten, rechtzeitig Kunde erhalten und ihre findigsten Agenten dorthin gesandt. Einer derselben, welcher von Paris herübergeeilt war, in London aber unglücklicherweise den Expreß verpaßt hatte, kam in Edinburgh erst an, als die Sitzung zu Ende war; wie ungeheuer viel dem Mann daran gelegen haben mußte, seiner Mission gerecht zu werden, das kann der Leser an den Kosten ermessen, vor welchen Monsieur Neufville — so hieß der wackere Berichterstatter — nicht einen Augenblick zurückscheute. Er hatte sich in London eigens für seine Fahrt nach Edinburgh eine Lokomotive bestellt, welche ihn für das respektable Sümmchen von 225 Pfund Sterling — 5400 Fr. — annähernd 100 geographische Meilen weit als einzigen Passagier in die schottische Hauptstadt beförderte.
Die Edinburgh Review brachte als erste Zeitung in ihrer Morgenausgabe vom 1. April hinter einem längeren Artikel, welcher den Extrakt von Mac Milfords famoser Rede enthielt, folgende kurze Mitteilung:
»Unser großer und unsterblicher Mitbürger, Professor Mac Milford, unterstützte seine Ausführungen über die elektrolytische Körperzersetzung durch zwei Experimente, wovon das eine glänzend gelang — sein Diener Tom Smith wurde zum Planeten Mars befördert — während das andere leider von Mißerfolg begleitet war. Das Atomistikum versagte zum zweiten Male, und sein Erfinder wurde zur großen Bestürzung aller Versammelten aus der Zelle bewußtlos herausgezogen. Nach sorgfältigster Untersuchung des greisen Gelehrten sind die ihn behandelnden Ärzte zu dem traurigen Ergebnis gelangt, daß Mac Milford durch Einwirkung hochgespannter Elektrizität von einem eigentümlichen periodischen Schlafkrampf befallen worden ist, dessen Heilung sehr fraglich ist. Da die Regierung beschlossen hat, so schnell als möglich eine Expedition mittels des ›Antigravitationsvehikels‹ zum Mars abzusenden, und Mac Milford wohl schwerlich an der Fahrt teilnehmen kann, so wollen die Herren Ingenieur Morton, Hauptmann Palgrave, Professor Smith und H. Jenkinson, Berichterstatter der Times, die Reise zum Nachbarplaneten antreten. Wie verlautet, hat Ihre Majestät die Königin die Expedition zu genehmigen geruht. Über Tag und Stunde der Abfahrt hoffen wir in der Abendausgabe unseres Blattes Näheres angeben zu können.«
Zur neunten Morgenstunde desselben Tages versammelten sich in demselben Saale, welcher kurz zuvor eine so erleuchtete Schar Gelehrte und bedeutende Staatsmänner in seinen vier Wänden geborgen hatte, eine kleine Anzahl Männer verschiedener Stände, welche von dem Gedanken beseelt waren, eine Expedition zum Mars zu senden und einen Klub zu gründen, dem die große Aufgabe zufallen sollte, die Kolonisation der britischen Exklaven im Universum zu betreiben.
Unter diesen Männern, welche sämtlich der nächtlichen Rede des großen Gelehrten gelauscht hatten, befanden sich als Vertreter der Regierung:
Erster Lord des Schatzes, Edw. Stanley, Graf von Derby,
Staatssekretär des auswärtigen Amtes, Graf von Malmesbury,
Staatssekretär für Handel und Kolonien, Lytton Bulwer,
Kommissar im Indischen Amt, John Picton
Der erste Großwürdenträger. Graf von Derby, sonst ein sehr besonnener Kopf mit nüchternen Anschauungen, war an diesem Tage gar nicht wiederzuerkennen; er überblickte bereits im Geiste ein Zahlenbild, welches die Steuern und die sonstigen Einnahmen aus den Weltallkolonien darstellte, und das für die ersten Jahre etwa 10 Milliarden Pfund Sterlinge umfassen mochte — wahrhaftig eine Summe, die selbst den Finanzminister einer Großmacht schwindeln und berauscht machen mußte. Und gar erst der Staatssekretär, Lytton Bulwer, dem doch nun die Verwaltung der kosmischen Kolonien zufallen sollte, wie überzog sich sein Gesicht mit einem würdevollen Schmunzeln, als er überdachte, daß binnen kurzem viele Millionen Quadratmeilen Neuland unter britische Oberherrschaft kommen sollten. Und Graf von Malmesbury, der dritte im Bunde der machtvollen Regierungsvertreter, schwelgte bei dem Gedanken, daß das Reich, welches er nach außen hin vertrat, zu einer enorm großen Weltmacht anschwellen mußte, ohne daß ihm damit auch gleichzeitig diplomatische Schwierigkeiten und Verwicklungen zu nahe traten, die zu beseitigen seine Aufgabe gewesen wäre.
Der englische Handel mußte infolge des neuen Imports und Exports eine Riesenausdehnung gewinnen und gleichzeitig das Reich so kräftigen, daß es auf Erden in Bälde die erste tonangebende Macht wurde. Das war so ungefähr der kühne Gedankenflug der Großwürdenträger und Berater der britischen Krone. Wenn der Leser zu dieser Stunde in die Gesichter jener trefflichen Männer geschaut haben würde, so hätte er das Gesagte deutlich darin lesen können.
Außer den genannten Ministern hatten sich noch folgende respektable Herren zur Beratung im Saale der Royal Society ein gefunden:
G. Smith, Direktor des Observatoriums zu Greenwich,
Palgrave, Hauptmann der Royal Sappeur und Mineur a. D.,
J. Hume, Präsident der Discussion Rooms,
Mac Ellison, ein schottischer Großindustrieller,
H. Jenkinson, Berichterstatter der Times
William Morton, Ingenieur
Ferner sah man auch Vertreter großer Banken und Zeitungen, Leute mit schlauen Gesichtern, welche aber nur als passive Teilnehmer betrachtet werden konnten, da sie wohl mehr oder weniger private Zwecke in der schwebenden Angelegenheit verfolgten.
Die Versammelten ließen sich, als Graf Derby ein Zeichen zum Setzen gab, an der Rednertribüne nieder, und der Lord des Schatzes ergriff als erster das Wort. »Meine Herren!« begann er. »In Anbetracht der staatsumwälzenden Ereignisse, welche ein großer Mann der britischen Nation durch seine kühne Universumfahrt herbeigeführt hat, halte ich es unbedingt für nötig, im Namen unserer Königin Maßnahmen zu treffen, um die ungeheuren Vorteile, die uns jetzt in jeder Hinsicht geboten werden, dem Staate zu sichern, ehe uns Amerika in die Quere kommt! Ich bin für die sofortige Aussendung einer Expedition zum Mars und für die Gründung einer Vereinigung, welche Mac Milfords Bestrebungen unterstützt und das eroberte Feld gegen feindliche Bestrebungen schützt! ... Doch wollen wir, ehe ein weiterer Schritt getan wird, Mr. Smith, den Direktor der Greenwicher Sternwarte als Sachverständigen über die, eigentlich außer dem Bereich der Möglichkeit liegenden Fahrten Mac Milfords anhören, ob er allen Ausführungen seines großen Edinburgher Kollegen rückhaltlos Glauben schenkt.«
Allgemeiner Beifall der Versammelten bezeugte jetzt, daß man mit den Ansichten des Lordkanzlers einverstanden war.
Graf von Derby verließ die Tribüne, und Professor Smith betrat dieselbe. Mit einer sehr höflichen Verbeugung gegen die Großwürdenträger ergriff nun der behäbige Gelehrte das Wort:
»Meine Herren. Die Aufforderung, welche soeben an mich ergangen ist, beweist, daß an höchster Stelle noch immer Zweifel ob der Möglichkeit einer Universumfahrt herrschen ...« Hier mußte sich der Greenwicher Observator räuspern, fuhr dann aber hastig in seiner Rede fort: »Ich möchte diese Zweifel mit wenigen Worten beseitigen, indem ich erkläre, daß Mac Milford das größte Genie und der hervorragendste Gelehrte aller Zeiten ist und bleiben wird, und daß ihn seine Erfindungen und exakten Forschungen tatsächlich in den Stand setzen, den Erdball zu verlassen, um fremde Gestirne aufzusuchen. ... Ich habe die beiden Apparate unseres großen Landsmannes eingehend geprüft und würde keine Minute zögern, mittels des Vehikels ebenfalls eine Weltallreise zu unternehmen, falls Mac Milford mich dazu auffordern würde. ...«
»Herr Direktor, hätten Sie es auch gewagt, sich durch das Atomistikum zum Mars befördern zu lassen?« warf jetzt Graf von Derby dazwischen.
»Meiner Ansicht nach,« fuhr Mr. Smith fort, »ist die elektrolytische Körperzersetzung mittels des Atomistikums immerhin mit großem Risiko verbunden. Bedauerlicherweise hat Mac Milford selbst einen Unfall dabei erlitten; wenn auch das erste Experiment glänzend gelang, so ist doch das zweite völlig mißlungen — es ist ja möglich, daß dabei eine Vorsicht vergessen worden ist, welche ...«
»Aber bedenken Sie den großen Unterschied in der Schnelligkeit der beiden Beförderungsarten ...,« unterbrach jetzt Graf von Malmesbury den Sprecher.
»Diesen wichtigen Punkt habe ich wohl in Erwägung gezogen,« fuhr der Direktor in seiner bedächtigen Weise fort. »wenn ich aber an einer Expedition teilnehmen soll, so würde ich mich nur bereit finden lassen, falls das Antigravitationsvehikel dazu benutzt wird.«
Nachdem dann der bekannte und angesehene Leiter der Sternwarte zu Greenwich in längerer Ausführung die Mac Milfordschen Erfindungen vor den über die ungeheuerlichen Tatsachen noch immer stark verblüfften Ministern eingehend besprochen hatte, kam man allseits zu dem Entschluß, daß mit den Vorbereitungen zu der Expedition und mit der Gründung eines Weltallkolonialklubs unverzüglich begonnen werden müsse, damit die Sache »Hand und Fuß« bekäme, wie sich der bei der Angelegenheit am meisten beteiligte Staatssekretär der Kolonien Lytton Bulwer auszudrücken beliebte.
Die Großen des Reiches traten darum sofort zu einer geheimen Staatssitzung zusammen, um nach einer halbstündigen Beratung ihre Entschlüsse bekannt zu geben. Das Resultat der Sitzung war, daß zunächst ein provisorisches Ansiedlungskomitee geschaffen wurde, an dessen Spitze sich der Kolonialminister in höchsteigener Person setzte. Dann ging an Ihre Majestät Königin Viktoria ein amtliches Telegramm folgenden Inhalts ab:
»Majestät wollen geruhen, die Gründung eines Weltallkolonialklubs und die Absendung einer Expedition zum Mars huldvollst zu genehmigen. Majestät getreuer Untertan, Professor Mac Milford, hat leider einen Unfall erlitten, so daß er wohl nicht imstande sein wird, die geplante Weltallsfahrt zu unternehmen. Hingegen werden aber vier Herren die Reise in Bälde antreten. Majestät wollen befehlen, daß sich diese freiwilligen Mitglieder der Expedition vor ihrer Abreise nach London begeben, um Eurer Majestät vorstellig zu werden.
Edinburgh, Royal Society
Erster Lord des Schatzes, Graf von Derby
Graf von Malmesbury Lytton Bulwer.«
Auf diese Drahtnachricht ging von der Königin noch in derselben Stunde folgendes Antworttelegramm ein:
»Mögen die eifrigen Kolonisationsbestrebungen von bestem Erfolge gekrönt sein. Ich wünsche der Expedition ein gutes Gelingen und erwarte, daß die Mitglieder derselben nach ihrer Rückkunft aus dem Universum mir unverzüglich persönlich Bericht erstatten.
London, Buckingham Palace,
Viktoria.«
Nachdem sich dann die Großwürdenträger mit den vier mutigen Expeditionsteilnehmern bezüglich der Besitzergreifung des Nachbarplaneten in politischer, industrieller und wissenschaftlicher Hinsicht genügend ausgesprochen hatten, wurde für den folgenden Tag, den 2. April, noch eine Sitzung anberaumt, an welcher der Lord Mayor und der Präsident der Royal Society, Professor Vane, teilnehmen sollten; bis dahin mußten sich die Mitglieder der Expedition über alles schlüssig sein, was die Universumfahrt anbetraf.
Nach dem Fortgange der Minister entfernten sich auch die unbeteiligten Vertreter der Banken und Zeitungen; letztere besonders eilig, damit die Welt schnellstens von der stattgefundenen Gründung des Weltallkolonialklubs Kenntnis erhielt.
Unter den Zurückbleibenden entspann sich nun eine sehr lebhafte Debatte, bei der Mr. Palgraves und Smiths Ansichten meist miteinander konkurrierten; zuweilen deckten sie sich, andererseits gingen sie aber oft derart auseinander, daß der Wert beider eingehend geprüft werden mußte, um auf die richtige Basis zu stehen zu kommen. Smith kehrte den wissenschaftlichen Theoretiker, Palgrave den technischen Praktiker, oder vielmehr den praktischen Techniker heraus. Wie in ihren Ansichten, waren beide Männer auch in ihrem Charakter und in ihrer äußeren Erscheinung grundverschieden.
Smith, der Direktor, war eine kleine gedrungene Gestalt und mochte etwa 60 Jahre zählen. Sein Gesichtsausdruck ließ auf Gutmütigkeit schließen, und seine gemessenen Bewegungen zeugten von einem Phlegma, welches wohl selbst aufregende Momente nicht zu verscheuchen in der Lage waren. Wie es den Anschein hatte, ging dem tüchtigen Gelehrten aber eine gute Dosis Selbstvertrauen und Mut ab, denn die übrigen drei Expeditionsmitglieder hatten Mühe genug gehabt, ihn für die geplante Fahrt zum Mars zu gewinnen. Es mußte wohl allen daran gelegen haben, in der Gesellschaft eines Astronomen zu reisen, von dem man als Fachmann voraussetzen konnte, daß er draußen im Weltall Bescheid wußte, weil man sonst Gefahr zu laufen glaubte, den Weg zum Mars zu verpassen, so daß die Expedition dann möglicherweise statt auf den in Aussicht genommenen Planeten wer weiß wo auf welchem Gestirn gelandet wäre.
Hauptmann Palgrave, ein Mann von ungewöhnlich hoher Statur, sehr mager, aber ungemein sehnig, verkörperte den echten Typus eines Englishman. Zeigte sich Smith phlegmatisch, so war der frühere indische Soldat sanguinisch veranlagt. Immer schien er sichtlich bemüht zu sein, sein leicht entflammendes, nahe ans Cholerische grenzende Temperament zu zügeln, um nicht aus der Rolle des Gentlemans zu fallen. Das wurde ihm zwar oft recht schwer, besonders wenn er in seinem richtigen Fahrwasser war und seine Ansichten zur Geltung bringen wollte. Bei solchen Gelegenheiten kam es ihm selbst in Gegenwart hochstehender Persönlichkeiten auf ein Dutzend regelrechter Flüche nicht an. Als alter Soldat war er an Ausdauer und Pünktlichkeit gewöhnt, welche beide Tugenden, wenn man sie so nennen will, bei ihm stets dann ausgeprägt hervortraten, sobald er eine Sache in die Hand nahm oder sich an irgend etwas beteiligte. Die scharfgeschnittenen Gesichtszüge und die strengblickenden Augen dieses Mannes verrieten nur zu deutlich, daß sich Energie, Furchtlosigkeit und Unternehmungslust bei ihm paarten, und daß man keinen Augenblick daran zu zweifeln brauchte, daß er einmal Begonnenes auch vollenden werde. Auf die Schotten und die Iren war er im allgemeinen nicht gut zu sprechen; jetzt jedoch, wo es galt mit jenen größere Ziele gemeinsam zu verfolgen, war er nicht so kleinlich, sich an die Abstammung seiner zukünftigen Reisegefährten zu kehren. Über Palgraves Lebenslauf muß hier noch einiges erwähnt werden. Schon von Kindheit an hatte der respektable Hauptmann Hang zu Abenteuern besessen. Lange litt es ihn in seiner Jugend nicht in seiner Heimat; mit 18 Jahren schiffte er sich nach Indien ein, um dort in den englischen Dienst zu treten. Nachdem er einige Jahre der Bombayarmee angehört hatte, trat er zur Madrasarmee über, um dann später im Sappeur- und Mineurkorps der irregulären Truppen Dienste zu tun. Hier brachte er es, seine große Befähigung für den Geniedienst hervorkehrend, bald bis zum Hauptmann. Kurz darauf wurde er in gleicher Eigenschaft in die Bengalarmee versetzt und hatte dann das Unglück, im Streite mit einem untergebenen Hindusoldaten von diesem mittels der Waffe so am linken Arme verletzt zu werden, daß derselbe nur schwer wieder heilte und fortan steif blieb. Das war der Grund, weshalb Palgrave den Dienst in Indien quittieren mußte. In seine Heimat entlassen, erhielt er dort eine jährliche Pension und befaßte sich nun in seinen Mußestunden mit der Herausgabe strategischer Schriften, welche ihm eine Anerkennung seitens des Kriegsministeriums eintrugen. Niemals jedoch vermochte sich der ehemalige Soldat ganz wieder in das Zivilleben zu schicken; von seiner Uniform konnte er sich erst recht nicht wieder trennen. Kein Mensch der Welt hätte ihn dazu veranlassen können, einen schwarzen Rock anzuziehen und einen dito Zylinder aufs Haupt zu setzen. Ging der ehrenwerte Pensionär aus, so legte er stets, seiner alten Gewohnheit gemäß — nicht daß er sich damit brüsten wollte — seine drei Orden und Ehrenzeichen an; links den Bathorden, in der Mitte das Viktoriakreuz und rechts das indische Verdienstkreuz für Seapoys.
Bei der Debatte zwischen den beiden verdienstvollen Männern herrschte jetzt infolge fortgesetzter Meinungsverschiedenheiten ein lebhafter Wortwechsel; Morton und Mac Ellison schlugen sich auf Palgraves Seite, während Hume und Jenkinson dem Direktor sekundierten.
»Eine Kanone mitnehmen ist an sich kein übler Gedanke,« meinte soeben der Berichterstatter der Times, »aber, ein Jahr lang mit Lebensmitteln versehen zu sein, diesen Gedanken finde ich doch noch vorteilhafter. Der Magen ist ein viel zu rebellischer Geselle, und auch die Kehle verlangt ab und zu, daß sie mit einem guten Tropfen angefeuchtet wird.« Der Sprecher, ein Mann Anfang vierziger Jahre und von mittlerer Statur, besaß ein heiteres Temperament; wo es anging, war er zum Scherzen aufgelegt. Galt es einmal irgend eine ernste Sache ins Karikaturenhafte zu ziehen, so war er derjenige, dem eine solche Aufgabe nicht schwer fiel. In solchen Augenblicken waren seine Reden mit Sarkasmus und Ironie gewürzt, irgend ein beißender Witz bildete dann nur zu oft die Schlußpointe seiner Erwiderung. Als der erste Reporter der größten Zeitung der Welt führte Jenkinson eine gewandte Feder und verstand es, auch die nichtigste Sache in ein solches Licht zu setzen, daß sie in den Augen der Welt bedeutend an Wert gewann.
Der Ingenieur Morton dagegen besaß keinen besonders ausgeprägten Charakter; zu den Durchschnittsmenschen konnte man ihn aber keinesfalls rechnen. Wo es galt, große Dinge mit einfachen Mitteln zu erreichen, da war er der richtige Mann dafür. Im allgemeinen ernst veranlagt, konnte er zeitweise doch auch einen recht fröhlichen Gesellschafter abgeben.
So hatten sich also zu der Expedition vier Männer zusammengefunden, welche sich einander recht passend ergänzten. Kehrte der eine den wissenschaftlichen Theoretiker heraus, so verkörperte der andere den skeptischen Praktiker; war der eine eine ernste und berechnende Natur, so war der andere meist heiter und sorglos gestimmt.
»Wenn Hauptmann Palgrave mehr Kanonen als Nahrungsmittel mitnehmen will, so trete ich von der Expedition zurück,« erklärte soeben Jenkinson in bestimmtem Tone.
»Schwerenot! Ich finde, es ist eins so nötig wie das andere,« erwiderte erregt der Invalide und schlug zur Bekräftigung seiner Worte so mit der Faust auf den Tisch, daß der etwas nervöse Mac Ellison erschreckt auffuhr.
»Wir werden uns dergestalt verproviantieren müssen, daß wir ein volles Jahr lang zu leben haben. Kanonen können wir nicht verspeisen, darum wollen wir lieber möglichst viel Konserven, gedörrtes und geräuchertes Fleisch, Schiffszwieback und Wasser mitnehmen,« meinte Jenkinson. »Wenn wir dann noch alles das verfrachten, was wir zur Bequemlichkeit benötigen, so wird wohl schwerlich viel Platz in dem Vehikel übrig bleiben, um auch noch Kanonen unterzubringen. Ich denke es genügt, wenn wir mit Handwaffen ausreichend versehen sind.«
Mr. Hume zollte den Worten des Berichterstatters seinen Beifall. »Wenn die Herren bis an die Zähne bewaffnet den Boden des Mars betreten, wissen sie noch gar nicht, wie sie empfangen werden. Die Martier mögen vielleicht ein Volk sein, welches die Kriege längst abgeschafft hat und darum keine Waffen mehr besitzt, trotzdem aber kann es zu einer Gegenwehr furchtbare Mittel zur Verfügung haben. Mac Milford meinte, daß unsere Weltallsnachbarn möglicherweise mit intensiven Hitzewellen operieren und freche Fremdlinge damit bei lebendigem Leibe auf einige Meilen Entfernung zu rösten vermögen.«
»So — sagte das Mac Milford ...?« ergriff jetzt in bedenklichem Tone Morton das Wort.
»Ganz gewiß, meine Herren. Er erwähnte sogar noch andere Verteidigungsmittel.«
»Heraus damit!« rief Palgrave.
»Er sprach auch von elektrischen Lichtwellen, welche imstande wären, auf große Entfernung hin die Sehwerkzeuge lebendiger Wesen zu vernichten; mit anderen Worten, es könnten damit die Augen des Menschen, selbst wenn sie geschlossen sind, derart geblendet werden, daß sofort völlige Erblindung eintritt; — angenehme Aussichten, was?«
»Teufel!« brummte der Hauptmann vor sich hin, und seine buschigen Brauen zogen sich zusammen.
»Gegen solche Verteidigungsmittel wären wir machtlos,« meinte Morton.
»Darum halte ich eben die Mitnahme von Kanonen für überflüssig,« sagte Smith.
»Überflüssig?« fuhr Palgrave in seiner rauhen Art auf. »Es sind das doch keine Tatsachen, sondern nur Vermutungen, die Mac Milford ausgesprochen hat. Die famosen Hitze- und Lichtwellen gehören für mich einstweilen noch zu den wissenschaftlichen Fabeln!«
»Hm, es wäre angebracht, wenn Hauptmann Palgrave die Vermutungen unseres großen Gelehrten nicht so ganz und gar utopisch betrachten würde,« erwiderte Mr. Hume. »Es liegt sogar sehr nahe, anzunehmen, daß die Marsmenschen infolge ihrer weitvorgeschrittenen Kultur ...« Hier wurde der Sprecher einen Augenblick unterbrochen.
»Weitvorgeschrittene Kultur? — Ist auch nur eine leere Vermutung. Vielleicht gibt es auf dem Mars überhaupt keine Menschen,« warf Palgrave ein.
»Dann zweifeln Sie wohl auch an den Aussagen Mac Milfords, daß auf dem Monde Menschen leben — Wesen ganz unseres Schlages? — Haben Sie einmal den Mars durch ein Riesenfernrohr betrachtet?« frug jetzt Smith.
»Dazu hatte ich bisher keine Gelegenheit,« gab der Hauptmann zurück. »Sie werden doch damit nicht andeuten wollen, daß man die hypothetischen Bewohner durch optische Mittel gesehen haben will, ... das mögen Kinder glauben, ich nicht!«
»Nun, mein Lieber, die Marsmenschen können wir mit unseren Augen freilich nicht sehen, aber ihre gewaltigen Kunstbauten, die Kanäle, sind unseren Blicken nicht entgangen.« Der Direktor hatte diese Worte im gewichtigen Tone gesprochen; fast klang es daraus hervor, als wenn er in seiner Würde als Astronom etwas verletzt sei.
»Die entdeckten und vielgepriesenen Kanäle können ganz gut nur optische Trugbilder sein,« erwiderte Palgrave.
»Das sind sie nicht,« behauptete in festem Tone der Gelehrte. »Warum wollen Sie dann, wenn Sie die Existenz der Marsbewohner in so große Zweifel ziehen, überhaupt Waffen und besonders Kanonen mitnehmen?«
»Für alle Fälle. Etwas haben ist stets besser, als etwas nicht haben.«
»Meine Herren.« begann Smith wieder. »Wir wollen jetzt das Vehikel in näheren Augenschein nehmen, seine Dimensionen ausmessen und dann berechnen, ob nach Verstauung aller Sachen, welche wir zu unserem täglichen Bedarf unbedingt benötigen, noch genügend Raum bleibt, um zu willen unseres alle Zeit kriegerisch gesinnten Hauptmanns zu sein und eine Kanone mit zu verladen.«
»Bravo! Messen wir den Raum aus.« rief Morton erfreut und war der erste, welcher an das seltsame Fahrzeug, das fast die ganze Hinterfront des Saales einnahm, herantrat.
Die übrigen Herren folgten, der Ingenieur erklomm jetzt die angelegte Treppe, um durch die Einsteigluke des Vehikels im Innern desselben zu verschwinden. Einer nach dem andern stieg hinein, und alle waren erstaunt ob der Geräumigkeit des mächtigen Flugapparates.
»Hm ... ich glaube doch, daß wir für viele Dinge Platz haben, selbst wenn sie umfangreich sind,« ließ sich Jenkinson vernehmen, während Morton eifrig damit beschäftigt war, den Kubikinhalt des Vehikels auszumessen.
Mac Milfords Fahrzeug, welches den Namen »Sirius« trug, war ein an beiden Enden konisch verlaufender Zylinder, von Spitze zu Spitze acht Meter lang und nahe vier Meter hoch. Sämtliche Teile waren aus Metall hergestellt, und die Wandungen sollten, wie Smith versicherte, doppelt sein und ein Röhrensystem bergen, welches mit flüssiger Luft gefüllt war. Die Verwendung des letztgenannten Fluidums hatte den Zweck, die nach wissenschaftlicher Berechnung etwa 150 Grad Celsius betragende Kälte des Weltalls abzuhalten. Die Mitnahme verflüssigter Luft war an sich schon eine bewundernswerte Idee des genialen Astronomen. Auch die Anordnung, um zu erreichen, daß die Insassen des »Sirius« während ihrer Universumfahrt nicht durch die außerordentliche Abkühlung der Wände des Fahrzeuges, welche sich auch der Luft im Innern mitgeteilt hätte, erfrören, war eben so sinnreich als einfach. Das Röhrensystem mit seinem 200 Grad Celsius kalten Inhalt lag zwischen der Außen- und Innenwand so eingebettet, daß es von einem Vakuum, einem luftleeren Raum, umschlossen wurde. Einesteils wurde auf diese Weise die Weltallskälte abgehalten, andernteils konnte so die Verdampfung der zur beständigen Erneuerung der Atmosphäre im Vehikel mitgeführten flüssigen Luft verhindert werden.
Die Besichtigung der Armatur des Fahrzeuges entlockte Morton anfänglich manches Kopfschütteln. Sowohl die Konstruktion des Motors, als auch die merkwürdig geformten Hebel und die kompliziert aussehende Steuerung waren dem auf allen Gebieten der Ingenieurwissenschaften sonst sehr beschlagenen Manne ein Rätsel. Das Rädergetriebe zeigte eine eigentümliche Anordnung; Hyperbelräder mit zykloidisch geformten Zahnflanken, gebogene Schneckenwellen und zylindrische Metalltrommeln, welche an der Peripherie eines mächtigen Kegelrades saßen, boten insgesamt einen seltsamen Anblick.
»Auf die eigenartige Konstruktion verstehe ich mich nicht recht,« meinte Morton.
»Ja, mein Lieber, wenn Sie als Fachmann sich hier nicht zurechtfinden können, was sollen wir da erst anfangen,« ließ sich Mr. Jenkinson vernehmen.
»Vielleicht hat sich Mac Milfords Zustand bis zur Abfahrt der Expedition soweit gebessert, daß er die Leitung übernehmen kann,« sagte Smith.
»Hm, das wäre mir sehr erwünscht,« brummte Palgrave vor sich hin.
»Daran ist wohl schwerlich zu denken,« meinte Mr. Hume, »denn die Ärzte haben bei ihm einen hochgradigen Schlafkrampf konstatiert, und Dr. Holbrook ließ durchblicken, daß für das Leben des Kranken eine ernstliche Gefahr vorhanden sei.«
»Wenn es möglich wäre, daß Mac Milford wenigstens eine Aufklärung über den Antrieb und die Steuerung seines Vehikels machen könnte, so würde mir das schon genügen,« erwiderte der Ingenieur.
»Käme er nur wieder einmal zum Bewußtsein,« entgegnete Mr. Jenkinson. »Mac Milford hat vier volle Stunden hintereinander nicht ein Glied gerührt, und es steht wohl in sicherer Aussicht, daß wir auf seine Führung verzichten müssen.«
Nach einer gründlichen Besichtigung des Fahrzeuges verließen die Männer wieder den Saal und verabredeten untereinander, daß sie am Nachmittag gemeinsam Mac Milfords Krankenlager aufsuchen wollten, um, falls der Professor wieder zum Bewußtsein gekommen wäre, mit diesem über die Vorbereitungen zur Ausrüstung der Expedition zu beratschlagen.
Der am Nachmittag desselben Tages erfolgte Besuch bei dem verunglückten Gelehrten hatte den Mitgliedern der Expedition jede Hoffnung geraubt, daß der Professor an ihrer Fahrt werde teilnehmen können. Mac Milfords Zustand war so bedenklich, daß die Ärzte für sein der Welt so kostbares Leben fürchteten. Innerhalb acht Stunden hatte der Verunglückte nur einmal einige Minuten hindurch das Bewußtsein wiedererlangt und lag jetzt abermals im tiefen Schlafe. In Anbetracht der schlimmen Lage, in welcher sich der Erfinder des Antigravitationsvehikels befand, gab man sich also keiner Illusion hin, daß dieser die Expedition leiten werde. Auf ungewisse Zeit hinaus sollte die ungeheuer wichtige Sache auch nicht verschoben werden; es wäre ja in diesem Falle gewiß auch fraglich gewesen, ob Mac Milford dann noch am Leben war. Deshalb ging man nun unverzüglich daran, die Vorbereitungen zu der großen Universumfahrt zu treffen.
Während der erneuten Besichtigung des Vehikels kam es aber zu einer so lebhaften Auseinandersetzung unter den Expeditionsteilnehmern, daß Stunden vergingen und die Nacht herannahte, ehe auch nur das geringste zur Ausrüstung getan wurde. Betreffs der Entfernung und Größe, insbesondere aber über den Naturzustand des zum Ziel gewählten Planeten entspann sich eine heiße Debatte, in welcher der Direktor Smith seine Ansichten denen des ehrenwerten Palgrave gegenüberstellte. Wäre der Greenwicher Astronom nicht so gutmütig und phlegmatisch gewesen, und hätte der indische Hauptmann seinem sanguinischcholerischen Temperament völlig die Zügel schießen lassen, so wäre es wohl zwischen den beiden Männern zu einer Prügelei gekommen. Unter den Abgeordneten des französischen oder österreichischen Parlamentes konnte es nicht hitziger hergehen als hier. Wiederholt fühlte sich Smith in seiner Würde als Gelehrter gekränkt, weil Palgrave wissenschaftliche Fakten nur zu oft mit Füßen trat. Des Hauptmanns Stimmung bei der Debatte wechselte fortgesetzt. Bald schwoll ihm gewaltig der Kamm, wie einem gereizten Puterhahn, bald zeigte sein Gesicht ein verächtliches Lächeln, oder ein kaustischer Witz über das mit Theorien und Hypothesen verschanzte Gelehrtentum entschlüpfte dem Munde des allezeit schlagfertigen und opponierten Mannes.
»Die Entfernung des Mars von der Erde schwankt zwischen acht und sechsundfünfzig Millionen Meilen, je nachdem, wo der Planet in seiner elliptischen Bahn steht,« antwortete Smith, als Mr. Jenkinson über den Abstand des Gestirns näheres wissen wollte. »Am dritten April kommt Mars unserer Erde bis auf acht Millionen zweihundertundsechzigtausend Meilen nahe.« —
»Will ich nicht bestreiten,« warf Palgrave ein.
»Ich bin erstaunt, mein Herr Hauptmann, daß Sie dieses Faktum nicht auch anzweifeln,« wendete sich der Direktor seinem Gegner zu.
»Habe keinen Grund dazu,« versetzte dieser. »Die Mathematik achte ich als eine Wissenschaft, die beweiskräftig genug ist, ihre Angaben und Resultate durch Rechnungen zu belegen.«
»Acht Millionen zweihundertundsechzigtausend Meilen Wegs wären also zurückzulegen,« ließ sich Smith weiter vernehmen.
»Werden wir auf der Fahrt andern Himmelskörpern begegnen?« frug jetzt Morton. »Liegt nicht wischen Mars und Erde die Zone der Asteroiden?«
»Sie irren sich, mein Lieber; der Asteroidenring befindet sich jenseits der Marsbahn,« lautete die Antwort Smiths. »Wenn es aber in der Absicht der Herren liegt, die Expedition bis zum Jupiter auszudehnen, so könnten die vielen Miniatursterne des Asteroidengürtels doch ein Hindernis für unsere Fahrt bilden.«
»Bis zum Jupiter? ... Hurra!« rief Mr. Jenkinson und brannte sich eine duftende Upmannzigarre an, deren Dampf er in Ringeln aus dem Munde blies.
»Darf ich den Herren mein Rauchzeug anbieten? Bitte, sich gefälligst zu bedienen,« fuhr der allzeit höfliche und ruhige Berichterstatter der Times fort und präsentierte seiner Umgebung ein kostbares Schildpattetui, aus dem ein Dutzend Zigarren edelster Marke verführerisch herauslugten. Keiner der Herren verschmähte trotz des erregten Wortwechsels das angebotene Kraut. Selbst der geärgerte Hauptmann tat einen Griff darnach.
»Vom Mars zum Jupiter, dann zum Saturn, vielleicht gar noch zum Uranus und Neptun; das würde eine anständige Reise abgeben,« meinte Morton. »Ob wir aber durch den Asteroidenring so glatt hindurchkommen werden? Was meinen Sie, Herr Direktor?«
»Hm, hm, ... darüber bin ich mir eigentlich selbst nicht im klaren,« erwiderte der Gelehrte. »Dieser Schwarm kleiner Planeten könnte uns doch wohl Kopfschmerzen bereiten; gehen wir also nicht so gleichgültig über diesen Punkt hinweg.«
»Bah! Die Bahnen der Planetoiden sind doch, soviel ich von astronomischen Dingen weiß, alle berechnet,« warf Palgrave ein. »Man könnte also an einer geeigneten Stelle, welche zu finden natürlich Aufgabe der Herren Astronomen ist, durch den Asteroidenring schlüpfen.«
»Mein Herr Vorredner denkt sich die Sache so einfach,« erwiderte der Direktor; »er zieht die Attraktionskraft der vielen Miniaturplaneten nicht in Rechnung.«
»Nun, das wäre ebenfalls eine Aufgabe für das Rechenbureau einer Sternwarte,« versetzte Palgrave. »Man muß bei der Passierung des Ringes einfach mit dem Parallelogramm der Kräfte spekulieren.«
»Famose Idee!« warf Morton ein, dem der kluge Gedanke Palgraves sehr einleuchtete. Auch der Astronom gab durch ein Nicken zu verstehen, daß der Hauptmann diesmal den Nagel auf den Kopf getroffen habe und er dagegen nichts einzuwenden habe.
»Was ist es mit dem Parallelogramm der Kräfte? Ich bin seit zwanzig Jahren aus der Schule und vermag mich dieses physikalischen Gesetzes nicht mehr recht zu erinnern,« ließ sich jetzt Mr. Jenkinson vernehmen.
»Das kann ich Ihnen mit wenigen Sätzen plausibel machen,« erwiderte der Ingenieur. »Hören Sie. Wenn mehrere Kräfte von verschiedenen Seiten auf ein und denselben Körper einwirken, so folgt dieser im allgemeinen keiner derselben. Denken Sie sich ein Schiff mitten auf einem Flusse schwimmend, welches von zwei Seilen gezogen wird, von denen je eins zu einem der beiden Ufer führt. Das Fahrzeug wird sich weder nach rechts noch nach links fortbewegen, sondern seinen Weg immer in der Mitte des Flusses verfolgen. Die beiden Seile wären in diesem Falle die Komponenten, und der eingeschlagene Weg des Schiffes die Resultierende. Aus diesen drei Richtungslinien läßt sich dann leicht die geometrische Figur des Parallelogramms bilden, deren Diagonale die Resultierende ist.«
»Danke ... sehr deutlich dargelegt,« gab Mr. Jenkinson zurück.
»Bei der Fahrt durch den Asteroidenring werden wir aber nicht immer mit dem Parallelogramm der Kräfte allein rechnen können,« ergriff Smith von neuem das Wort.
»Warum nicht?« frug Palgrave.
»Weil es der Asteroiden zu viel sind, und es vorkommen kann, daß zwei auf das Vehikel wirkende Anziehungskräfte einander entgegengesetzt parallel verlaufen, dann würde die Resultierende gleich der Differenz der beiden Kräfte sein.«
»Man müßte es eben vermeiden, zwischen zwei Planeten zu kommen, welche in der Richtungslinie unseres Kurses liegen,« meinte der Hauptmann.
»Gut, wenn wir auch danach handeln, so könnte es andererseits doch wieder passieren, daß unser Vehikel mitten zwischen zwei außerhalb der Flugbahn rechts und links liegende Himmelskörper gelangt, deren Anziehungskräfte sich das Gleichgewicht halten.«
»Dann wäre die Resultierende gleich Null!« rief Morton.
»Ganz recht,« erwiderte Smith und sah den Hauptmann, welcher hierauf nicht sofort einen geeigneten Ausweg zu finden schien, triumphierend an. »Wir werden plötzlich wie festgenagelt stille stehen.«
»Halt! Verehrter Herr, Sie vergessen dabei die Größe der Attraktionskraft des Jupiter; sie wird die beiden seitlich wirkenden Kräfte einfach vernichten,« platzte nach einem Augenblick Stillschweigens Palgrave heraus.
Der Direktor erkannte zu seinem Ärger, daß sein schlagfertiger Gegner recht hatte, und es wurmte ihn, daß er sich selbst eine so große Blöße gegeben hatte.
»Übrigens käme noch eine vierte Art der Kräftewirkung in Frage,« warf jetzt Morton ein.
»Und die wäre?« frugen alle übrigen.
»Es könnte vorkommen, daß unser Vehikel so zwischen zwei ungleich große Asteroiden gerät, daß die Anziehungskraft des einen Gestirns für unsere Fahrt einen Nutzeffekt, die des anderen eine schädliche, das Vehikel aus seiner Flugbahn ablenkende Kraft darstellt.«
»Wie der Herr Hauptmann richtig bemerkte, ist die Anziehungskraft des Jupiters groß genug, alle Gegenkräfte aufzuheben, wenn wir uns nur hübsch in angemessener, wohlausgerechneter Entfernung von den Taschenplaneten halten,« meinte Smith und blies den Rauch seiner Upmann in wohlgeformten Ringeln über die Häupter der anderen hinweg.
»Warum verschwenden wir eigentlich wegen des Asteroidenrings unsere kostbare Zeit, er kommt doch bei der Fahrt nach dem Mars zunächst gar nicht in Betracht,« ereiferte sich Palgrave.
»Richtig, bleiben wir doch bei der Sache,« rief Morton.
»Es war die Frage aufgeworfen worden, ob wir auf unserer Reise Himmelskörpern begegnen werden,« ergriff Smith wieder das Wort.
»Jawohl, ich habe die Frage gestellt,« erwiderte der Ingenieur.
»Ich antworte mit ja und nein.«
»Kometen?«
»Schwerlich. ... zurzeit wird keiner unsere Flugbahn kreuzen. Über dies brauchen wir mit solchen lustigen Gesellen nicht zu rechnen, da wir durch die Gasmasse derselben wie durch eine Wolke schlankweg hindurchfahren können.«
»Sternschnuppen vielleicht?«
»Wären nicht ausgeschlossen ... doch auch diese Körper würden für uns infolge ihrer Kleinheit kaum ein merkliches Hindernis bilden.«
»Der Mond?«
»Kommt für uns gar nicht in Betracht, da er, wenn wir 50 000 Meilen von der Erde entfernt sind, auf einem entgegengesetzten Punkte seiner Bahn weilt.«
»Dann wüßte ich nicht, welchen anderen Himmelskörpern wir noch begegnen könnten.«
»Es wäre nicht ausgeschlossen, daß wir auf einige kleine noch unentdeckte Planeten stoßen, deren Bahnen zwischen der Ekliptik und der Marsbahn liegen.«
»Die Möglichkeit besteht also?« frug Morton.
»Teufel! Da könnten wir, wenn wir jetzt noch weiter nach Hindernissen suchen würden, mit xzähligen Möglichkeiten rechnen,« fuhr Palgrave auf. »Lassen Sie uns doch nicht so sehr von den Hauptsachen abschweifen. Ich möchte zunächst eine wichtigere Frage stellen.«
»Ich bin ganz Ohr, Herr Hauptmann,« erwiderte der Direktor.
»Wieviel Zeit werden wir zur Fahrt benötigen?«
»Nach den Angaben meines Kollegen vermag das Vehikel anfänglich rund 5000 Meilen in der Stunde zurückzulegen. Diese Geschwindigkeit steigert sich aber mit dem Quadrate der Entfernung von der Erde von Minute zu Minute, so daß wir jenseits der Mondbahn mit einer durchschnittlichen Schnelligkeit von rund 50 000 Meilen stündlich fahren werden. Dieses Tempo würde also etwa dasselbe sein, wie das, welches man anschlagen müßte, um den Weg von der Erde zum Monde in einer Stunde zu durcheilen. Mars ist jetzt 8 Millionen 261 Tausend Meilen entfernt; wir würden demnach, wie ich schon ausgerechnet habe, ungefähr 200 Stunden zu der Überfahrt benötigen. Diese Zahl durch 24 dividiert ergibt 8 Tage und ebensoviele Nächte.«
»Ich habe noch mehrere wichtige Fragen zu stellen,« begann der indische Hauptmann wieder.
»Lassen Sie diese hören,« versetzte Smith.
»Der Mond ist 50 000 Meilen von der Erde entfernt — ich irre mich doch nicht?« ließ sich Palgrave vernehmen.
»Stimmt!« erwiderte der Direktor.
»Gut. Wenn wir die irdische Weltscholle 50 000 Meilen im Rücken haben, werden wir doch unbedingt die Umlaufsbahn des Mondes kreuzen müssen; auf welchem Punkte seiner Bahn wird sich dann der Trabant befinden?«
»Das hat eine kurze Rechnung bereits ergeben. Die Abfahrt von der Erde muß einfach zu einer Stunde erfolgen, in welcher der Satellit in der letzten Quadratur steht und zum Neumond ausreift. Nach Verlauf von zehn Stunden, wenn die Kreuzung der Mondbahn durch unser Vehikel stattfindet, wird unser Nachtgestirn sich gerade im entgegengesetzten Punkte seiner Bahn befinden. Die Anziehungskraft des Mondes, welche Sie, mein werter Herr Hauptmann, in Rechnung zu ziehen scheinen, wird dann mit der Erdanziehung vereint auf uns wirken. Diese Verstärkung der irdischen Attraktionskraft würde einzig zur Folge haben, daß unser Vehikel statt 5000 Meilen vielleicht nur 4000 Meilen pro Stunde anfänglich zurücklegen wird.«
»Welche Garantie bietet die Wissenschaft, daß wir auf dem Mars Luft und Wasser antreffen werden? Luft von der Zusammensetzung wie sie die Lunge des irdischen Menschen braucht, Wasser von der Beschaffenheit, wie es ihm dienlich ist?« So lautete die zweite Frage des allzeit pessimistisch denkenden Invaliden.
»Daß die Beschaffenheit der Atmosphärilien, als die Bestandteile der Luft und des Wassers dieselben sind als wie bei uns, dafür liegen mehrere Beweise vor.«
»Wollen Sie mir dieselben nennen. Ich möchte prüfen, ob alle Argumente, welche Sie vorbringen werden, stichhaltig sind,« versetzte Palgrave und ließ sich, nachdem er bislang auf und ab geschritten war, in einem bequemen Lehnstuhl nieder; dann heftete er sein forschendes Auge auf die kleine Person seines Gegners. Er schien neugierig zu sein, welche Beweise der Astronom ins Feld führen würde.
»Für das Vorhandensein einer Atmosphäre vermag die Wissenschaft verschiedene Beweise zu erbringen. Erstens: der Rand der Marsscheibe weist im Vergleich zu den zentralen Partien eine bedeutend größere Helligkeit auf,« begann der Vertreter der Wissenschaft.
»Damit können Sie mich von der Existenz einer Lufthülle noch nicht überzeugen. Wollen Sie mir bitte einmal definieren, weshalb die Helligkeitsunterschiede für Sie ein Beweis sind?« antwortete Palgrave.
Smith erklärte nun seinem schwer zu überzeugenden Zuhörer, wie er den von ihm ins Treffen geführten Beweis zu verstehen habe.
»Ich möchte den Herrn Direktor bitten, mir doch gefälligst etwas Stichhaltigeres für seine Behauptung anzuführen,« warf Palgrave ein.
»Damit kann ich dienen,« erwiderte Smith. »Von Zeit zu Zeit machen sich an einigen Stellen der Planetenscheibe Trübungen bemerkbar; diese können nur auf Wolkenbildungen zurückgeführt werden. Wenn wir nun auch noch die großen polaren Schneeflecke, welche mit dem Fernrohr deutlich zu sehen sind, in Betracht ziehen, so können Sie nichts dagegen einwenden, wenn ich behaupte, daß, wo Wolken, Nebel und Schnee vorhanden sind, dort unbedingt eine Atmosphäre vertreten sein muß. Damit haben Sie noch gleichzeitig den Beweis, daß der Mars außer Luft auch Wasser besitzt.«
»Hm, hm,« machte Palgrave. Er schien durchaus noch nicht völlig überzeugt zu sein. »Ich möchte jetzt eine dritte Frage stellen. Welchen Beweis haben Sie dafür, daß der Mars von lebenden Geschöpfen bewohnt ist?«
Diese Frage schien den Greenwicher Astronomen etwas in Verlegenheit zu bringen, da er wußte, daß er hier nichts anführen konnte, was die Teilnehmer der Expedition und vor allem Palgrave hätte hinreichend überzeugen können.
»Wenn Sie denken, daß das famose Kanalsystem, welches die Herren Astronomen entdeckt haben, mich zu der Annahme zwingt, daß der Mars bewohnt sein muß, so irren Sie sich,« griff Palgrave der Antwort des Direktors vor.
»Warum sollte die Erde allein bewohnt sein?« ließ sich jetzt Smith vernehmen. »Nimmt unsere Weltscholle in Ihren Augen eine solche hohe Stellung im Universum ein, daß auf keinem anderen Gestirn die Möglichkeit einer Bewohnbarkeit vorhanden ist?«
»Ja, es wäre Torheit,« warf jetzt Morton hastig dazwischen, »vorauszusetzen, daß Millionen von Sonnensystemen nur dazu erschaffen sein sollten, um einen einzigen Planeten, unsere Erde, in den Stand zu setzen, daß menschliches Leben darauf gedeihen kann.«
»Ganz meine Ansicht,« stimmte Mr. Jenkinson bei.
»Ich habe durchaus nicht behauptet, daß die Erde das einzige Gestirn sei, welches Menschen beherbergt,« erwiderte Palgrave in einem Tone, welcher nur zu deutlich verriet, daß er wieder auf dem besten Wege war, sich zu erhitzen. »Ich nehme nur an, daß von den Planeten und Monden unseres Sonnensystems vermutlicherweise die Erde allein sich in einem Zustand der Bewohnbarkeit befindet. Allenfalls will ich auch dem Monde Natur und Leben nicht ganz absprechen. Ich möchte dagegen nicht anzweifeln, daß viele Planeten anderer Sonnensysteme in einem gleichen Abkühlungsstadium wie die Erde stehen und von Lebewesen bevölkert sind.«
»Trotzdem ich keinen unumstößlichen Beweis zu erbringen vermag, spreche ich hier nochmals meine Überzeugung aus, daß der Mars bewohnt ist,« antwortete Smith in bestimmtem Tone. »Ja, ich gehe in meiner Behauptung noch weiter und nehme an, daß die Martier uns um Tausende von Jahren in der Kultur voraus sind. Und wenn wir die Evolutionstheorie akzeptieren, so müssen die Marsbewohner eine unvergleichlich höhere Intelligenz als wir Erdenkinder besitzen.«
»Die vielen vagen Annahmen der Herren Astronomen sind für mich kein Evangelium,« meinte Palgrave. »Es gibt keine größeren Hypothesenschmiede, als die Observatoren der Sternwarten.« Wieder fühlte sich der kleine Gelehrte in seiner Würde gekränkt und wollte eben dem Hauptmann eine spitze Erwiderung zuteil werden lassen, als Morton das Wort ergriff.
»Wenn die Marsbewohner uns in der Kultur wirklich um Tausende von Jahren voraus sind und noch dazu nach der Evolutionstheorie eine höhere Intelligenz besitzen als ihre Nachbarn auf der Erde, so wundere ich mich, daß auf dem Mars noch nicht der Versuch gemacht worden ist, einen Verkehr mit uns anzubahnen.«
»Ich glaube bestimmt, daß die Martier mit Hülfe ihre superioren Teleskope unser Tun und Treiben schon seit Jahrhunderten beobachtet haben, und ich möchte hier nicht unerwähnt lassen, daß sich Mac Milford mir gegenüber geäußert hat, daß er Anzeichen von Verkehrsversuchen der Marsmenschen bereits beobachtet habe.«
»Welcher Art waren dieselben?« frug Morton, während Palgrave ungläubig den Kopf schüttelte.
»Mein genialer Kollege hat bei seinen Experimenten, welche er anstellte, um neue Methoden zur Nachweisung elektrischer Phänomene zu finden, wahrgenommen, daß dabei gewisse schwache elektrische Störungen auftraten, die aus keinerlei bekannten irdischen Quellen stammen konnten und sich nur auf einen planetarischen Ursprung zurückführen ließen.«
Gern hätte der Hauptmann hiergegen wieder Zweifel geäußert, wenn die erwähnte Beobachtung nicht von Mac Milford gemacht worden wäre. Vor diesem genialen Forscher hatte er denn doch einen gewissen Respekt, wenn er auch nicht alles für bare Münze hinnahm, was derselbe behauptete. Wenn Palgrave es nicht wagte, über irgend etwas Zweifel laut werden zu lassen, so konnte man deutlich auf seinem Gesichte lesen, daß es ihm schwer fiel, seinen Oppositionsgeist zu unterdrücken. In solchen Momenten zwirbelte er dann unruhig die Spitzen seines martialischen Schnurrbartes.
»Sie nehmen also an, daß jene beobachteten schwachen elektrischen Störungen vom Mars ausgesandte Signale oder Depeschen sind?« frug Morton hastig.
»Was könnte es anders sein? Es sind auf alle Fälle Zeichen, die wir nicht zu enträtseln vermögen.
»Leere Vemutungen,« brummte Palgrave vor sich hin.
In diesem Augenblicke ertönte ein heftiges Zischen, und ein mehrere Meter langer weißer Dampfstrahl brach aus der Wandung des Vehikels hervor. Bald waren die vier Männer, welche ihre Diskussion unmittelbar neben Mac Milfords Fahrzeug abhielten, in eine Nebelwolke eingehüllt, und eine eisige Temperatur machte alle erschaudern. Keiner vermochte in dem dichten Nebel den anderen zu sehen. Das alles war so schnell gekommen, man wußte nicht wie und woher.
Was war geschehen?
»Tod und Teufel!« fluchte der indische Seapoyhauptmann.
»Eine Explosion!« rief Jenkinson.
Die weiße, sich schnell in dem großen Raume ausbreitende Nebelwolke strahlte eine so eisige Kälte aus, daß die Männer gezwungen waren, in aller Hast den Saal zu verlassen, wollten sie nicht Gefahr laufen, zu erfrieren.
So eilten denn die vier einer entgegengesetzt liegenden Tür zu, wobei sie im Nebel mit Dutzenden von Stühlen in unliebsame Kollision kamen. Palgrave hatte sich jedoch in der Richtung zum Ausgange geirrt und lief eine Weile bald hier, bald dorthin, bis daß es auch ihm gelungen war, das Loch zu finden, welches der Zimmermann gelassen hatte; einige derbe Flüche ausstoßend, erreichte er endlich seine draußen auf dem Vorflur versammelten Gefährten.
»Ein Eiskeller ist ja der reinste Backofen gegen diesen Saal!« rief Palgrave pustend aus.
»Gibt wieder einen famosen Artikel für die Times ab,« meinte Jenkinson und rieb sich seine halberstarrten Hände.
»Was mag nur passiert sein?« frug Morton den Direktor, welcher nochmals durch die Tür in den Saal hineinlugte.
»Ich vermute, daß ein Defekt in dem Röhrensystem des Vehikels entstanden ist,« entgegnete der Gefragte.
»So war es also verflüssigte Luft, welche ausströmte?« versetzte Morton. »Puh, ich bin durch und durch naß geworden.«
»Das seltsame Fluidum überraschte uns wie ein Kobold,« sagte Smith. »Wir werden gut tun, sofort unsere nasse Kleidung zu wechseln.«
Der eisige Nebel im Saale hatte nämlich alle Feuchtigkeit, welche sich in der umgebenden Luft befand, wie einen Sprühregen auf die Anwesenden niedergeschlagen, so daß diese jetzt völlig durchnäßt waren und weidlich froren.
Da man doch füglicherweise in einem solchen Zustande eine längere und wichtige Beratung nicht fortsetzen konnte, so fand diese deshalb vorläufig ihren Abschluß. Man trennte sich auf kurze Zeit, um daheim einen Wechsel der Kleidung vorzunehmen; dann sollte die Versammlung von neuem stattfinden. Der Schaden am Vehikel mußte schnellstens untersucht, und das Leck verstopft werden. Da auch die Beratung betreffs der Ausrüstung zur Fahrt noch nicht zu Ende gediehen war und die Zeit gewaltig drängte, so konnten die Teilnehmer der Expedition für den Rest der Nacht nicht an Schlaf denken — mit Sonnenaufgang wollte und mußte man mit den Erörterungen über die Ausrüstung fertig sein.
Die Nacht war schon weit vorgerückt, als sich die vier unternehmungslustigen und getreuen Untertanen der Königin Viktoria zum zweiten Male im Gebäude der Royal Society zusammenfanden.
Der Kastellan des Hauses, welchem die Pflicht oblag, den vier Herren während ihrer Diskussion irgend welche von diesen verlangte Dienste zu leisten, war in einer Ecke des Saales eingeschlafen und erwachte erst, als der Hauptmann fluchend und polternd an ihm vorbeigestürzt war, um dem eisigen Nebel zu entrinnen. Für den Mann war es ein unliebsames Erwachen; heftig erschreckt und vor Frost zitternd erhob er sich und wußte im ersten Augenblick nicht wo aus noch ein. Laut gellte sein Hülferuf durch den mächtigen Saal, doch nur das Echo seiner Stimme antwortete ihm. Er tappte sich im Halbdunkel vorwärts. Das Licht des noch brennenden Gaskronleuchters war durch die Nebelschicht so gedämpft worden, daß nur ein sehr matter Schein die Stelle bezeichnete, wo etwa ein Dutzend Flammen ihre Strahlen aussandten.
Zu Tode geängstigt und halb erfroren erreichte der verschlafene Kastellan die Tür zum Vorflur, eben als die vier Herren das Gebäude durch das Hauptportal verlassen hatten. Hier stand nun der Hüter des Hauses und wußte sich keines Rats; war es nötig die Nachbarschaft zu alarmieren oder sollte er zunächst allein nach der Ursache des seltsamen Ereignisses forschen? — Wo waren die Herren geblieben? — Mit Entsetzen dachte er plötzlich daran, daß ihnen vielleicht drinnen ein furchtbares Unglück zugestoßen sein könne. Hastig riß er darum die Tür des Saales, welche er eben zugeworfen hatte, wieder sperrangelweit auf und schrie mit aller Kraft seiner Lunge hinein. — Nichts regte und rührte sich. Totenstille ringsum. Ein ungemein kalter Luftstrom quoll auf den Flur hinaus und kühlte auch dessen Temperatur bald bis unter Null Grad ab. Da durchzuckte den Mann ein Gedanke. Wenn die Herren der Versammlung sich aus dem Hause entfernt hatten, so mußte unten die Tür des Hausportals, welche verriegelt gewesen war, offen stehen. Im Nu eilte er die Treppe hinab und sah jetzt seine Vermutung bestätigt. Verwundert darüber, daß die Geflohenen keinerlei Lärm geschlagen hatten, eilte er zu der in der Nachbarschaft liegenden Wohnung des Präsidenten der Royal Society und überbrachte demselben die Kunde von dem stattgefundenen Unglücksfall.
Unterdessen kehrte einer nach dem anderen von den Expeditionsmitgliedern zu dem Gebäude der Königlichen Gesellschaft zurück. Fröstelnd betrat man, als sie alle vier wieder zusammen waren, den offenstehenden Saal. Der Eisnebel hatte sich inzwischen gänzlich niedergeschlagen, und man konnte bemerken, daß ein weiteres Ausströmen des seltsamen Fluidums nicht mehr stattfand. Ein Blick auf das Thermometer verriet, daß noch immer eine Kälte von fast zehn Grad unter Null herrschte. An ein Stillstehen war vorläufig nicht zu denken; alle trabten darum vor dem Vehikel auf und ab, um das vermutete Leck ausfindig zu machen. Eine dicke Eiskruste verriet denn auch bald die Stelle, wo der Defekt zu suchen war.
»Godddam!« ließ sich Palgrave eben vernehmen. »In dieser Nordpolkälte hole ich mir sicher wieder das verfluchte Podagra.«
»Wir können doch hier unmöglich unsere Beratungen fortsetzen,« meinte Morton und stampfte mit den kalten Füßen auf der Estrade, auf welcher die gigantische Flugmaschine lagerte.
Auch Mr. Jenkinson hatte seinen Humor verloren, ohne den er nur ein halber Mensch zu sein schien »Eisbärenklima!« murmelte er vor sich hin, als er zu seiner Erwärmung mit großen Schritten auf- und abwanderte.
Der kleine und behäbige Gelehrte mochte wohl weniger unter der tiefen Temperatur leiden, als seine Gefährten; das war auch leicht erklärlich, denn er hatte schon so manche Nacht in dem von kalter Winterluft durchströmten offenen Beobachtungsraum der Greenwicher Sternwarte stundenlang am Refraktor, Meridiankreis oder Kometensucher gestanden und war also an Kälte ziemlich gewöhnt; zudem schützte ihn auch sein Embonpoint und ein trefflicher Kastorpelzmantel, der unter Brüdern 50 Pfund Sterling Wert haben mußte.
Die Situation war also eine mehr als unbehagliche, weshalb schließlich Palgrave den Vorschlag machte, ins Innere des Vehikels zu steigen, und falls es da eher auszuhalten wäre, dort die Beratung fortzusetzen.
Das fand allgemein Anklang. Wenige Augenblicke später waren die Männer von der Bildfläche verschwunden und hatten ihr Quartier in dem bequem ausgestatteten Fahrzeug aufgeschlagen, wo im Gegensatz zum Saal eine wohlige Temperatur herrschte.
»Nun zur Sache, meine Herren!« sagte Palgrave, als alle beisammen waren.
»Zur Sache!« pflichtete Mr. Jenkinson bei.
Die Männer gruppierten sich auf den vorhandenen Sitzen um einen ovalen Tisch, auf welchem eine Sternkarte größten Maßstabes aufgeklebt war.
»Es ist 5 Uhr, der Morgen naht, und in betreff der Ausrüstung sind wir noch keinen Schritt vorwärts gekommen,« sagte Palgrave, nachdem er einen Blick auf seinen Chronometer geworfen hatte.
»Ehe wir darauf zu sprechen kommen ...« meinte Morton
» ... und uns die Köpfe dabei wieder erhitzen,« fiel ihm Mr. Jenkinson in die Rede.
»Also ehe wir die Frage der Ausrüstung anschneiden,« fuhr der Ingenieur fort, »wollen wir uns darüber klar werden, wer die Leitung der Expedition in die Hand nimmt.«
»Bravo. Gehen wir zur Wahl über,« rief der TimesReporter.
»Die Leitung wird kaum in einer Hand zu belassen sein,« meinte Smith.
»Warum nicht?«
»Weil der Betreffende gleichzeitig im Weltall Bescheid wissen und auch mit der Konstruktion und Führung des Vehikels völlig vertraut sein müßte.«
»Sehr richtig,« ergriff Jenkinson das Wort. »Wir brauchen also einen astronomischen und einen technischen Leiter. Den ersten repräsentiert unser verehrter Direktor, und den anderen können wir selbstverständlich nur Ihnen, Mr. Morton, übertragen. Sie sind Fachmann und müssen eben zusehen, wie Sie mit der Dirigierung dieser phänomenalen Himmelskutsche fertig werden. Ich, für meinen Teil, vertraue Ihnen und Ihrer technischen Geschicklichkeit meinen Leichnam ruhig an.«
Palgrave hörte man eben so etwas brummen, wie »Irrfahrten eines Odysseus«.
Der Seapoyhauptmann schien betreffs der Leitung des Vehikels kein unbedingtes Zutrauen zu seinem Gefährten zu haben. Er wollte aber die Fähigkeiten des Ingenieurs nicht schlankweg anzweifeln, deshalb machte er seinen Gedanken darin Luft, daß er sagte: »Beim Barte des Propheten, ich gäbe 1000 Pfund an die Armen Londons — notabene wenn ich über eine solche respektable Summe verfügen würde — könnte Mac Milford die Leitung der Expedition übernehmen.«
»Mein werter Herr Hauptmann, vermögen Sie die Rollen unter uns besser zu verteilen? Sie sind Militär und ich Federfuchser, Reporter, wie man uns abgehetzte Spürhunde der Presse nennt; keiner von uns beiden taugt für einen der Posten. Sehen Sie, lieber Herr Hauptmann, ich würde mich mit Händen und Füßen dagegen sträuben, falls es den versammelten Herren hier hinfallen sollte, mir eine leitende Stelle für die Fahrt zu übertragen.«
In diesen Augenblicke tauchten im Saale vor dem Fenster des Vehikels eine Anzahl Gestalten auf.
»Was ist das für eine Störung!« rief Palgrave etwas ungehalten aus.
Alle vier postierten sich sofort an der mächtigen Hartglasscheibe und schauten in den Saal hinein. Mehr als ein Dutzend Männer umstanden das Fahrzeug; als sie die Insassen desselben jetzt gewahrten, brach ein Halloh aus, und einer der Männer erstieg sofort das Dach des Vehikels und frug hinab, was eigentlich passiert sei und ob sich die Herren wohl befänden.
Jetzt dämmerte es den Expeditionsmitgliedern, was die Störer wollten. Palgrave erschien über der Deckenluke und rief den Umstehenden zu: »Wozu der Auflauf und die Störung? ... Es ist nichts von Bedeutung passiert!«
»Wie ... nichts passiert?« antwortete eine Stimme aus dem Kreise der Leute. Der Tonfall, in welchem diese Gegenfrage ausgerufen wurde, verriet deutlich, daß man sehr verwundert war, daß die Herren im Vehikel nichts von einem Unfall zu wissen schienen.
In diesem Augenblicke trat ein älterer, sehr würdig aussehender Herr eilig heran; es war Professor Vane, der Präsident der Royal Society.
Smith, welcher den Ankömmling bemerkte und ihn sogleich erkannte, entstieg nun dem Fahrzeug und trat auf Vane zu.
»Aber, bester Herr Kollege, was ist hier vorgegangen?« rief dieser dem Direktor erregt zu.
»Die Sache hat wirklich nichts auf sich,« versetzte Smith. »Seien Sie ganz beruhigt — es war völlig unnötig, daß man Sie, Herr Kollege, mitten in der Nacht hierher rief.«
»Aber die fabelhafte Kälte hier?«
»Rührt von dem Ausströmen verflüssigter Luft her,« fiel Smith ihm ins Wort.
»Interessant — sehr interessant. Also, es ist nirgends ein Schaden entstanden?«
..Nur ein Defekt an dem Vehikel.«
»So können die Leute, welche ich zur Hülfe mitbrachte, wieder gehen?«
»Sie würden uns in unserer wichtigen Beratung nur stören.«
Der Präsident schickte daraufhin die Leute mit Ausnahme des Kastellans fort und verabschiedete sich dann ebenfalls, nachdem er sich noch eingehend über den Stand der Dinge, wie sie jetzt betreffs der geplanten Expedition lagen, erkundigt hatte.
»Herr Kollege!« rief Smith Mr. Vane nach, welcher eben den Saal verließ. »Haben Sie etwas Näheres über das Befinden Mac Milfords gehört?«
»Auf meine Erkundigung in der zehnten Abendstunde erfuhr ich, daß noch immer keine Besserung eingetreten ist, ... man fürchtete sehr, daß ein Herzschlag eintreten konnte,« lautete die Antwort.
»Armer Freund,« murmelte Smith vor sich hin. Er schätzte seinen verunglückten Kollegen besonders, da er mit ihm seit seiner Studienzeit häufig verkehrt und seine trefflichen Charaktereigenschaften kennen gelernt hatte. »Bitte, meine Herren, lassen Sie uns nun nach dieser unliebsamen Störung die Beratung wieder aufnehmen.«
»Erörtern wir zunächst die Ausrüstungsfrage,« begann Palgrave, als sich die Herren wieder in das Vehikel zurückgezogen und auf den Sitzen niedergelassen hatten.
»Ad eins: Lebensmittel,« sagte Smith und erhob sich wieder von seinem Platze.
»Wir werden nur wenig frisches Brot und Fleisch mitnehmen können,« meinte Morton. »Es würde uns auf der Fahrt verderben.«
»Sie wären also für Pökelfleisch, Heringe und dergleichen?« versetzte Jenkinson und verzog sein Gesicht bei der Aussicht, wochenlang nichts anderes in seinen Magen zu bekommen, als solche unangenehme Kost. Er war besonders ein Freund der Tafel, und eine Verzichtleistung auf kulinarische Genüsse erschien ihm als das Schrecklichste alles dessen, was ihm hätte zustoßen können.
»So ganz auf frische Nahrung brauchen wir denn doch nicht zu verzichten,« erwiderte der Direktor; »wir können etwas lebendes Geflügel und dergleichen Schlachttiere mitnehmen, damit wir wenigstens einen Sonntagsbraten haben.«
»Das ist ein Gedanke,« rief Jenkinson aus. »Ich werde mich gern der Mühe unterziehen und das Viehzeug während der Fahrt füttern.«
»Mit dem Kochen und Braten wird es freilich so ein Ding sein,« ließ sich Morton vernehmen. »Werden wir es wagen dürfen, in unserem hermetisch abgeschlossenem Fahrzeuge ein Herdfeuer zu unterhalten?«
»Sapperlot!« versetzte Palgrave; »das können wir doch wohl nicht gut riskieren.«
»So wollen wir einen Gasherd mitnehmen,« sagte Morton.
»Und wo nehmen wir das Gas her?« frug Jenkinson.
»Ein Generator mit kombiniertem Gas ist hier leicht anzubringen,« versetzte der Ingenieur.
»Wovon hat Mac Milford gelebt, als er seine Fahrt zum Monde unternahm?« frug jetzt Palgrave.
»So viel mir bekannt ist, hat mein genialer Kollege es verstanden, aus konzentrierter Stärkemehlsubstanz ein schmackhaftes Brot herzustellen,« erwiderte Smith.
Der Reporter schüttelte sich bei dem Gedanken an eine solche Kost.
»Wie wäre es, meine Herren,« sagte Smith, »wenn wir unseren verehrten Reisegefährten, Mr. Jenkinson, zum Verwalter der Proviantkammer machten?«
Dieser Vorschlag fand bei Morton und Palgrave ungeteilten Beifall, und der Berichterstatter der Times nahm das ihm überwiesene Pöstchen erfreut an.
»Notieren wir jetzt den Bedarf unserer Lebensmittel,« begann Smith von neuem. »Auf alle Fälle müssen wir uns für ein Jahr versorgen. Rechnen wir pro Woche auf den Kopf 5 Pfund Fleisch und Wurst; macht auf vier Personen 20 Pfund mal zweiundfünfzig.«
»Teufel, da könnten wir unser Vehikel doch lieber gleich zu einer Fleischkammer umgestalten,« rief der ehemalige Seapoyhauptmann. »Wir müssen uns wohl oder übel etwas einschränken. Rechnen wir darum nur drei Pfund pro Mann auf die Woche, und nehmen wir nur für sechs Monate Nahrungsmittel mit; das genügt vollständig.«
Über diesen Vorschlag entstand jetzt eine sehr lebhafte Debatte. Schließlich aber einigten sich alle dahin, daß man in der Weise verfahren wolle, wie Palgrave es angeregt hatte.
»Ich bitte den Verwalter unserer Proviantkammer folgendes zu notieren. Drei Zentner Fleisch und Wurst, eingerechnet lebendes Geflügel; fünf Zentner Schiffszwieback; ein Zentner Konserven; fünf Gallonen Wasser; fünfzig Flaschen Wein und Rum. — Haben Sie das, Mr. Jenkinson?«
»Notiert!« lautete die lakonische Antwort.
»Die Nahrungsmittelfrage wäre somit erledigt,« begann Smith wieder; »gehen wir jetzt zu Punkt zwei, der Kleidungsfrage, über. Wie stellen sich die Herren zu derselben? Ich bitte um Vorschläge!«
»In dieser Sache wäre doch wohl nur eins zu berücksichtigen,« versetzte Morton.
»Und das wäre?« ließ sich der astronomische Leiter der Expedition vernehmen.
»Wir müssen für den Fall vorsorgen, daß, wenn auf dem Mars möglicherweise eine sibirische Kälte herrschen sollte, wir alle mit Pelzen versehen sind.«
Auch diese Frage gelangte bald zur Erledigung; man beschloß, warme Kleidung hinreichend mitzunehmen.
»Jetzt können wir zum dritten Punkte übergehen, dessen Erörterung unserem Herrn Hauptmann besonders am Herzen liegen dürfte.«
»Die Waffenfrage ... ganz recht,« fiel Palgrave dem Sprecher ins Wort und erhob sich von seinem Sitze, um eindrücklich für diesen ihm so wichtig erscheinenden Punkt zu sprechen.
»Halt!« rief Morton. »Zunächst wollen wir feststellen, wieviel Platz nach der Verstauung des Proviantes und der nötigen Effekten im Vehikel noch übrig bleiben wird.« Der Sprecher machte sich sofort daran, den Raum auszurechnen und kam bald zu dem Resultat, daß noch einige Quadratmeter freier Platz vorhanden waren. »Der leere Raum, der uns noch zur Verfügung steht, ist ziemlich beschränkt,« sagte der Ingenieur, nachdem er den Überschlag gemacht hatte.
»Zu welchem Resultat sind Sie gekommen?« frug Palgrave.
»Vier Quadratmeter sind noch frei,« erwiderte Morton. »Es ist bei der Benutzung dieses Platzes nicht außer acht zu lassen, daß wir auch noch einige wissenschaftliche Instrumente mitnehmen müssen.«
»Alle Wetter!« sagte Smith. »Sie haben recht, das ist sogar die Hauptsache. Wir müssen unbedingt einen Sextanten, ein Spektroskop, ein Fernrohr, und was mir auch nicht überflüssig erscheint, eine photographische Kamera mit uns führen.«
»Das würde zusammen etwa einen Quadratmeter in Anspruch nehmen,« versetzte Morton; »es blieben somit noch drei Quadratmeter zur Unterbringung von Waffen übrig.«
»Der Raum würde also gerade für ein Geschütz von anderthalb Rohrlänge genügen,« sagte Palgrave.
»Wir werden für die Kanone wohl schwerlich eine Verwendung haben,« meinte Smith.
»Das wird sich schon finden,« brummte Palgrave. »Natürlich benötigen wir auch noch andere Waffen. Karabiner, Säbel und Revolver. Auf die Mitnahme einer Lafette können wir, des Platzes halber, verzichten, wenn wir das Rohr auf ein Eisengestell montieren lassen.«
»Was für eine Sorte Geschütz werden Sie wählen? Würde nicht schon ein gewöhnlicher Mörser genügen?« warf Jenkinson ein.
»Ein Mörser?« frug der Hauptmann entrüsteten Tones zurück. »Warum nicht lieber gleich ein Blaserohr, um die Martier mit Erbsen zu beschießen? Nein, ich werde zwischen einer Armstrongkanone oder einer Lancasterkanone wählen, und zwar muß es ein mindestens 26 pfündiges Geschütz von etwa 20 Kugelkaliber Länge sein.«
»Wenn wir eine Kanone verladen wollen, so müssen wir auch eine genügende Menge Munition mit verfrachten,« meinte Morton.
»Jawohl; Vollkugeln, Kartätschen, Schrapnells und Granaten, und für die Handfeuerwaffen Patronen,« erwiderte prompt der Hauptmann.
»Wenn wir so viele Verteidigungsmittel mitnehmen wollen, so schlage ich vor, daß Hauptmann Palgrave zum Verwalter des Waffenarsenals ernannt wird.«
Morton und Jenkinson stimmten dem Vorschlag des Direktors sofort bei.
»Ich nehme den Posten mit Dank an,« erwiderte Palgrave würdevoll, »und werde dafür Sorge tragen, daß wir jede Minute schußbereit sind.«
Die vier Männer berieten noch eine Weile über dies und jenes und kamen dann endlich mit der Ausrüstungsfrage zu Ende. Jeder hatte einen Posten für die Dauer der Fahrt erhalten, und es lag dem einzelnen Mann nun ob, für sein Ressort das Nötige zu veranlassen.
Der Morgen graute bereits, als die vier Männer auseinandergingen, um einige Stunden der Ruhe zu pflegen. Punkt 10 Uhr wollte man wieder am Platze sein, um die Aufträge an die Lieferanten zu vergeben; darnach sollte dann ein Probeflug mit dem Vehikel unternommen werden.
Am Morgen des 2. April herrschte in Edinburgh ein außergewöhnlich lebhaftes Treiben. Bürger aller Stände, Frauen und Kinder wogten in den Straßen, welche dem Gebäude der Royal Society zunächst lagen, auf und ab. Das Morgenblatt der »Edinburgh Review« hatte mit einer Notiz, in welcher von dem probeweisen Aufstieg der Marsexpedition berichtet wurde, die gesamte Bevölkerung der schottischen Hauptstadt ziemlich früh auf die Beine gebracht. Schon Stunden vorher, während Smith, Palgrave und Genossen noch im tiefen Schlummer lagen, hatten sich viele Leute in der Georgestreet vor dem Hause Mac Milfords eingefunden und schauten mit fast andächtigen Blicken zu den Fenstern des weltberühmten Gelehrten empor. Freilich vermochte dort niemand etwas wahrzunehmen, weil sämtliche Fensterläden geschlossen waren. Als der Arzt, in dessen Behandlung sich Mac Milford befand, sich in frühester Morgenstunde aus dem Hause des Professors entfernte, eilte er sofort zu dem Präsidenten der Royal Society, um diesem die Mitteilung zu machen, daß sich das Befinden seines Patienten über Nacht unerwartet schnell gebessert habe. Professor Vane sandte nach Empfang dieser erfreulichen Nachricht einen Extraboten in das Hotel, in welchem Smith Quartier genommen hatte. Die unerwartete Nachricht jagte den kleinen Gelehrten rasch aus den Federn, und er konnte sich nicht schnell genug in die Kleider werfen, um seinen wiedergenesenen Kollegen spornstreichs aufzusuchen.
Nachdem er über eine Stunde lang bei Mac Milford geweilt und mit diesem vieles Wichtige besprochen hatte, beeilte er sich, die anderen Expeditionsmitglieder aufzusuchen. Zunächst begab er sich zu dem Berichterstatter der Times, um diesem die Nachricht, welche für die ganze Nation von höchster Bedeutung war, zuerst zu übermitteln, damit Mr. Jenkinson dieselbe sofort seinem Weltblatt übermitteln sollte.
»Lieber Freund, ich überbringe Ihnen eine sehr erfreuliche Nachricht,« sagte Smith, als er den Reporter im Hotel aufsuchte. Der beleibte Direktor war ganz außer Atem, als er ins Zimmer trat, um jenem die große Neuigkeit mitzuteilen.
Mr. Jenkinson, welcher noch zu Bette lag, schien von der frühen Störung nicht sonderlich erbaut zu sein; trotzdem aber harrte er mit einer guten Dosis Neugierde, die allen waschechten Pressevertretern eigen ist, auf die wichtige Neuigkeit, welche er zu hören bekommen sollte.
»Nun heraus mit der Sprache, was gibt's?«
»Freuen Sie sich,« lautete die Antwort. »Mac Milfords Befinden hat sich gebessert, so daß er daran denkt, die Leitung der Expedition zu übernehmen.«
»Sehr angenehm zu hören. Da dürfte ja unsere Sache einen ganz anderen Zuschnitt bekommen,« rief Jenkinson, und sprang mit einem Satz aus dem Bett, um sich schnell anzukleiden. »Entschuldigen Sie meine Toilette. — — So ist er aus dem Spital entlassen?«
Die Antwort lautete bejahend.
»Wir werden dann also zu fünf die Fahrt unternehmen?« meinte Jenkinson.
»Die Herren müssen nunmehr auf meine Person verzichten. Ich hatte mich nur zu der Fahrt bereit erklärt, weil mein verehrter Kollege nicht daran teilnehmen konnte, und von Regierungsseite gewünscht wurde, daß ein Astronom die Expedition begleiten sollte.«
»Was, Sie treten zurück?« rief Jenkinson aus.
»Ich habe mir eine andere Aufgabe gestellt,« erwiderte der Direktor.
»Und die wäre?«
»Ich werde Tag und Nacht auf der Sternwarte auf dem Posten sein, um die Fahrt des Vehikels mit meinem Refraktor zu kontrollieren. Sollte, was der Himmel verhüten mag, der Expedition ein Unglück zustoßen, zum Beispiel ein Zusammenstoß mit kleinen kosmischen Körpern oder eine Entgleisung vom Kurs, so werde ich sofort in London Alarm schlagen, und die Regierung müßte dann unverzüglich nach den vorhandenen Aufzeichnungen Mac Milfords ein zweites Vehikel bauen lassen, mit welchem ich der Expedition zu Hülfe zu kommen versuchen würde.«
»Das ist ein Gedanke,« versetzte Jenkinson. »Ich darf doch wohl Ihren Entschluß jetzt schon der Times bekannt geben?«
»Wie es Ihnen beliebt,« gab der Direktor zur Antwort.
»Ist Mac Milford bereits von allem unterrichtet?«
»Mein Kollege ist von unseren Beschlüssen in Kenntnis gesetzt worden. Als ich ihm eben von der Ausrüstung der Expedition Mitteilung machte, hat er unsere eifrigen Bemühungen diesertwegen belächelt und gemeint, daß das alles überflüssig sei, besonders was die Mitnahme des vielen Proviantballastes beträfe.«
»Der Proviant überflüssig?« fuhr Jenkinson auf.
»Mac Milford will die Herren mit ganz anderen Dingen bewirten.«
»Teufel. Er wird uns doch etwa nicht mit seinem famosen Stärkemehlkuchen aufwarten wollen?«
»Wenn ich nicht irre, ließ er davon etwas verlauten,« gab der Direktor zurück und vermochte nur schwer, ein boshaftes Lächeln zu unterdrücken.
Die beiden Herren beeilten sich nun, Palgrave und Morton aufzusuchen.
Schon auf dem Wege zu Jenkinsons Hotel war Direktor Smith von Scharen Menschen umgeben gewesen, welche ihm zujubelten, als bekannt wurde, daß der Astronom zu den Teilnehmern der Expedition gehörte. Kaum hatte sich der etwas beleibte Smith der Huldigung und dem Zudrange der Menge erwehren können und war froh gewesen, als er das Hotel erreicht hatte. Jetzt, auf dem Wege zu Palgrave, umtoste beide Männer wiederum ein großer Jubel und es fehlte wenig, so wären sie im Strom der Menschenmassen erdrückt worden. Als sie an dem Square vorüber kamen, auf welchem der Aufstieg des Antigravitationsvehikels in Bälde stattfinden sollte, sahen sie, wie bereits eine Anzahl Arbeiter mit der Abgrenzung beschäftigt waren. Auf der einen Seite des Platzes wurde eine Tribüne erbaut und hohe Masten in das Erdreich gepflanzt, welche Girlanden und Fahnen tragen sollten. Wohin der Blick der beiden Männer fiel, wurde mit fieberhafter Hast gearbeitet; es war übrigens zu verwundern, wie viel in wenigen Stunden schon geschafft worden war. Der städtische Baumeister, dem die Oberleitung über die würdige Herrichtung des Platzes oblag, mußte wohl sicher den Kopf voll haben, denn die Regierungsvertreter und das Stadtoberhaupt verlangten in einer kurzen Frist geradezu Unmögliches. Punkt zwei Uhr sollte der Festplatz fertig gestellt sein, und was es bis dahin noch zu tun gab, davon vermochten sich Uneingeweihte wohl keinen rechten Begriff zu machen.
Smith und Jenkinson waren am Square einen Augenblick stehen geblieben und überflogen mit einigen Blicken die Vorbereitungen, welche dortselbst getroffen wurden, dann setzten sie ihren Weg fort, so schnell als es die sich stauende Menge gestattete.
Die Edinburgher hatten sich an einigen Orten besonders zahlreich versammelt, so vor dem Gebäude der Royal Society, vor Mac Milfords Hause und vor den Hotels, in welchen die Expeditionsmitglieder ihr Quartier aufgeschlagen hatten; nicht zu reden von jenem Square, den die beiden Männer eben passierten.
Eine Viertelstunde später schritten Smith und Jenkinson die Stufen in dem Hotel empor, welche zu Palgraves Zimmer führten. Sie fanden den ehemaligen Hauptmann schon beim Morgenfrühstück, dem derselbe nach der langen, nächtlichen Sitzung besonders kräftig zuzusprechen schien. An Palgraves frühzeitigem Aufsein trug wohl die aufgeregte Bevölkerung, welche seit Beginn der Morgendämmerung die an dem Hotel vorbeiführende Straße durchwogte, allein die Schuld.
»Donner und Doria!« rief der Hauptmann, als er die Nachricht empfangen hatte, daß Mac Milford wieder genesen sei und die Leitung der Expedition übernehmen werde. »Ich muß sofort zu ihm!«
»Gemach, gemach!« versetzte der Direktor. »Sehen Sie jetzt, bitte, von einem Besuch ab; mein Kollege möchte ein Stündchen ungestört bleiben. Es wird niemand bei ihm vorgelassen werden.«
»Ärgerlich,« brummte Palgrave vor sich hin. »Darf ich die Herren dann zu einem kleinen Morgenimbiß einladen?«
Smith für seinen Teil verneinte und dankte bestens, während Jenkinson sich nicht lange nötigen ließ.
Palgrave befahl dem dienstbaren Geist allerlei Getränke und Speisen herbeizuschaffen, und vor dem mit nüchternen Magen hergekommenen Reporter tauchte alsbald eine Batterie Flaschen verschiedenen Inhalts auf. Außer Tee gab es Stout, Porter, Bordeaux und Champagner, sowie diverse Spirituosen, als Genèvre, Whisky und anderes mehr. Palgrave erfuhr jetzt von Smith Wort für Wort, was dieser mit Mac Milford verhandelt hatte. Daß der Direktor an der Expedition nach der jetzigen Lage der Dinge nicht mit teilnehmen wollte, das bekümmerte den Hauptmann nicht sonderlich; ja, im stillen freute er sich sogar darüber.
Als Smith dann darauf zu sprechen kam, daß Mac Milford über die geplante Ausrüstung der Expedition gelacht und gemeint habe, daß besonders die Mitnahme von Waffen überflüssig sei, da fuhr Palgrave mit einem Satz von seinem Stuhle auf und rief: »Was, Kanonen und Handwaffen wären überflüssig?«
Der Direktor unterdrückte ein Lächeln und erwiderte: »Ich bezweifle, daß Mac Milford die Mitnahme eines solchen Ballastes zulassen wird.«
»Ohne dem reise ich nicht,« versetzte in bestimmtem Tone der Hauptmann, brannte sich eine Zigarre an und ging mit den Händen in den Taschen in mächtigen Schritten im Zimmer auf und ab.
Smith zog jetzt ein Blatt Papier aus der Tasche und entfaltete es.
»Hier, meine Herren, unterbreite ich Ihnen das Menü für das Festmahl, welches die Royal Society der Marsexpedition zum Abschied gibt.«
Palgrave warf flüchtig einen Blick auf den ihm gereichten Speisezettel und gab denselben dann an Jenkinson weiter.
Es war ein recht seltsames Menü, welches der Festausschuß der Edinburgher Königlichen Gesellschaft zur Abschiedsfeier der Marsexpedition aufgestellt hatte. Die Idee, der Tafelkarte die Form eines geschweiften Kometen zu geben, stammte aus dem Hirn eines jüngeren, humorvollen Lektors der Glasgower Universität und hatte bei den Komiteemitgliedern ungeteilten Beifall gefunden.
Die Speisenfolge, welche auf dieser originellen Tafelkarte verzeichnet war, mußte wohl jedermann eigenartig, aber doch der denkwürdigen Feier angepaßt erscheinen.
Da gab's nächst den üblichen Austern auch Pastetchen nach martischer Art zubereitet. Das mochte wohl etwas ganz Apartes sein. Der Kochkünstler hatte gewiß, um ein solches kulinarisches Produkt zu erzeugen, seine gastronomische Erfindungsgabe und seine Phantasie in hohem Maße anstrengen müssen; und wer das Menü zu Gesicht bekam, mußte neugierig sein, in welcher Weise der Küchenchef seiner Aufgabe gerecht werden würde.
Die angekündigte Suppe à la Kopernikus mochte wohl auch ein außergewöhnliches Gericht sein. Der Jupiterlachs war dagegen sicher nur ein maskierter irdischer Fisch. Und was die MondkalbsFilets anbetraf, so hatte hier wohl ein gesunder Humor eine famose Bezeichnung für Lendenstücke großbritannischer Rinder erdacht. Die unvermeidliche Süßspeise ließ ihrem Namen nach auf einen kometenförmigen, rumbegossenen Plum-Pudding schließen. Das kosmische Dessert war sicher nichts anderes, als ein Konglomerat von Biskuit und Marzipan, welches in Form von Meteorsteinen auf die Festtafel kam. Dagegen schien das flüssige Lufteis, der letzte Gang des originellen Menüs, tatsächlich ein neues Produkt zu sein, welches aller Voraussicht nach einen Kältegrad besaß, der das Erfrischende des gewöhnlichen Speiseeises weit in den Schatten stellen mußte.
Faksimile der Speisenkarte zu dem
Festmahl der Royal Society zu Edinburgh.
Als Mr. Jenkinson das Verzeichnis dieser geplanten kulinarischen Genüsse sorgfältig durchgelesen hatte, legte sich ein Schmunzeln über die Züge des Feinschmeckers, und ein Nicken bezeichnete, daß er mit der raffinierten Zusammenstellung der Speisen sehr zufrieden war. —
Zur festgesetzten Stunde, nachmittags 2 Uhr, fand sich in dem ersten fashionabelsten Hotel der Stadt eine auserlesene Gesellschaft zusammen, um an dem Festmahl der Royal Society teilzunehmen.
Überfliegen wir mit einem Blick die gewaltige Tafelrunde. Den Ehrenplatz an der Stirn der hufeisenförmigen Tafel nahm selbstverständlich der Held des Tages ein. Mac Milford, der große Gelehrte, saß auf einem reich mit Rosen bekränzten Sessel; hinter ihm stand ein Hindu, bereit, jedem Wunsch des Ehrengastes nachzukommen. Zur Rechten des Gelehrten saß Graf Derby, der erste Lord des Schatzes, zur Linken Graf von Malmesbury, der Minister des Auswärtigen. Unmittelbar neben diesen beiden Großwürdenträgern waren die Teilnehmer der Expedition, Palgrave, Morton und Jenkinson placiert worden. Diesen gegenüber saßen Direktor Smith und Professor Vane. Außer dem LordMajor von Edinburgh waren auch noch andere städtische Körperschaften durch ihre Oberhäupter vertreten. Die übrigen Plätze wurden durch eine große Anzahl mehr oder weniger bekannter Gelehrten aller vier Fakultäten, sowie durch Vertreter technischer Hochschulen und höhere Offiziere der britischen Armee und Marine eingenommen.
Die Kapelle des schottischen HochlandInfanterieRegimentes lieferte die Tafelmusik und hatte, als Mac Milford, welcher von einem Regierungsvertreter und von Professor Vane aus seiner Wohnung abgeholt worden war, eine schmetternde Fanfare beim Eintreten dieser drei Herren in den Saal ertönen lassen.
Nachdem von seiten der Regierung, der Stadt und der Royal Society auf die Königin, den Leiter und die übrigen Teilnehmer der Expedition getoastet worden war, ergriff Mac Milford das Wort. Er schilderte in längerer Rede seine nationalen Bestrebungen im Weltall und dankte dann zum Schluß für das große Entgegenkommen, welches ihm die Regierung, die Wissenschaft und die Mitbürger bei seinen Unternehmungen zuteil werden ließen.
Während der greise Gelehrte sprach, herrschte Totenstille im Saale. Jedermann vergaß Essen und Trinken ob der Worte, welche eben gesprochen wurden. Man konnte daraus das Fazit ziehen, daß noch niemals eine Tischgesellschaft Mann für Mann ein so ungeheures Interesse an den Tag legte, daß keiner sich zu rühren wagte, ängstlich, es könnte ihm auch nur ein Wort aus dem Munde des berühmten Gelehrten entgehen.
Das Festmahl verlief ohne jede Störung und fand seinen würdigen Abschluß damit, daß Mac Milford vom Grafen von Derby für seine Verdienste um Staat und Wissenschaft in feierlicher Handlung mit mehreren hohen Orden dekoriert wurde. Die Brust des Mannes, dem aller Voraussicht nach Großbritanniens Zukunft noch viel zu verdanken haben mußte, schmückten nunmehr drei Auszeichnungen. Der von Eduard III. im Jahre 1349 gestiftete blaue Hosenbandorden mit der ominösen Devise »Honny soit qui mal y pense« (*), ein achtstrahliger silberner Stern mit dem roten Kreuz Georgs, dem das zugehörige, das erwähnte Motto tragende Knieband angehängt ist; des weiteren der Bathorden, ein am karmesinroten Bande getragener Ritterorden, bestehend aus einem ovalen Reife mit der Devise »Tria juncta in uno«, welcher ein Zepter zwischen drei Kronen mit einer Rose, einer Distel und einem Kleeblatt zeigt; die dritte Dekoration bildete der schottische Distel- oder Andreasorden, ein silberner Stern mit einer blühenden Distel im grünen Feld und der Devise »Nemo me impune lacessit«, — »Niemand fordere mich heraus«.
(*) »Beschimpft sei, wer schlecht von mir denkt!«
Graf von Derby verkündete bei der Dekoration, daß Mac Milford nach seiner Rückkehr vom Mars mit allen bestehenden Zeremonien bei den nächsten Ordenskapiteln als Ritter der drei Orden aufgenommen werden solle; die einstweilig verliehenen Insignien sollten ihn vorläufig nur der großen Huld der Königin versichern.
Jedermann gönnte dem Helden des Tages die hohen Auszeichnungen, die sonst nur Fürstlichkeiten und Peers erhielten; einige begeisterte Forscher der Wissenschaft ließen sogar verlauten, daß es für einen solchen genialen Mann überhaupt keinen Orden gäbe, der die ungeheuren Verdienste desselben auch nur annähernd ehre und belohne.
Nachdem die Feier der Ordensverleihung vorüber war, entfernte sich Mac Milford mit seinen zukünftigen Reisegefährten. Alsdann ging man unverzüglich daran, das Antigravitationsvehikel auf den der Feier entsprechend festlich dekorierten Square transportieren zu lassen, welche Arbeit in Anbetracht der Größe des Fahrzeuges mehr denn hundert Hände in Anspruch nahm. —
Dumpf dröhnten die mächtigen Glocken der St. MaryKathedrale, der United Presbyterian Church und noch einiger anderer Kirchen von Edinburgh. Die Abfahrt der Marsexpedition sollte auf Anordnung der Behörden besonders feierlich gestaltet werden. Sämtliche Geschäfte der Stadt waren an dem denkwürdigen Tage geschlossen; die ganze Bürgerschaft, alt und jung, auf den Beinen, jedermann wollte die Abfahrt Mac Milfords und seiner wagemutigen Genossen mit eigenen Augen sehen. Die Eisenbahn mußte wohl eine ungeheure Anzahl Fremder in die schottische Hauptstadt befördert haben; alle Hotels waren überfüllt. Die Polizei hatte einen schweren Stand, denn die inneren Stadtteile waren von Menschenmassen völlig überflutet; wie lebendige Mauern standen Einheimische und Fremde auf den Straßen und Plätzen, und in der Nähe des GeorgSquare kam es denn infolge des fürchterlichen Gedränges zu vielen Unglücksfällen. Auf den Dächern sieben Stockwerke hoher Häuser der Altstadt, sowie auf den erhabenen Punkten in- und außerhalb der Stadt, auf dem Caltonhügel, dem Crowhügel und auf dem 250 Meter hohen Arthursitz im Südosten Edinburghs, hatten sich viele Menschen schon Stunden vor der eigentlichen Abfahrt des Antigravitationsvehikels postiert. Aber auch in den Nachbarorten, besonders an der Meeresküste, in Porto Bello, Leith und Granton, blieben die Einwohner für diesen Tag untätig und richteten ihre Blicke nach der südlich liegenden Hauptstadt. Eine große Anzahl Dampfer und Segelschiffe ankerten im Forthbusen, an Bord zahllose Passagiere mit sich führend, welche den Aufstieg der Marsexpedition aus der Ferne beobachten wollten. Für einen Sitz im Mastkorb, dem Ausguck, hatten manche Leute den Kapitänen Hundertpfundnoten geboten. Selbst die Plattformen der beiden Leuchttürme auf der Insel May und auf Inchkeith waren mit Neugierigen dicht besetzt. Kurz, das ganze Land war am 2. April jenes Jahres, in welchem unsere Erzählung spielt, in Aufruhr.
Zahlreiche Vertreter von Wettagenturen, ehrliche und unehrliche Buchmacher fanden an jenem Tage in und um Edinburgh eine sehr lohnende Beschäftigung; in Voraussicht dessen entfalteten diese Leute eine Tätigkeit, wie solche noch bei keiner anderen Gelegenheit in so umfangreichem Maße stattgefunden hatte. Tausende und aber Tausende von Wetten über das Gelingen der Mission, welche die Expedition verfolgte, wurden abgeschlossen. Wie sich später herausstellte, waren an dem genannten Tage Wettumsätze gemacht worden, welche die respektable Summe von rund fünf Millionen Pfund Sterling erreichten. Ein Großindustrieller aus Manchester hatte dem Vernehmen nach eine viertel Million Pfund für seinen Kopf allein verwettet.
Auf der für die Spitzen der Behörde und für die anwesenden Vertreter der Regierung errichteten Tribüne, unmittelbar vor der Aufstiegsstelle des Vehikels, hatten sich, als die Stunde der Abfahrt gekommen war, die Großwürdenträger und die Mitglieder der Stadtverwaltung, bestehend aus dem Lordmajor, sechs Bailies und 32 Räten, sowie die hohe Geistlichkeit der schottischen Kirche, ein Erzbischof und zwei Bischöfe nach und nach eingefunden.
Die römischkatholische Geistlichkeit und alle in Schottland lebenden Katholiken hingegen mußten auf einen Erlaß vom Papst Leo XIII. der Feier fern bleiben, weil das römische Oberhaupt in dem Unternehmen Mac Milfords eine gottlose Handlung erblickte. »Es sei wider Gottes, unseres Herrn, Willen, daß sich ein irdischer Mensch unterfange, die Erdscholle, auf welche ihn der Schöpfer gesetzt habe, zu verlassen, um eine andere Welt zu betreten,« so lautete der begründende Satz des Verbotes, welches der heilige Vater seinen unterwürfigen Kirchenfürsten und Pfarrkindern noch rechtzeitig hatte zukommen lassen können.
Mac Milford, Morton, Palgrave und Jenkinson hatten sich ebenfalls auf die Tribüne begeben, nachdem jeder von ihnen reisefertig angekleidet, seine zur Mitnahme bestimmten Habseligkeiten im Vehikel untergebracht, und, eingedenk des bei den vorangegangenen Beratungen übernommenen Postens, geprüft hatte, ob alles Erforderliche für sein Ressort zur Stelle war. Nicht unerwähnt soll hier bleiben, daß Mac Milford hinsichtlich der Ausrüstung, besonders was die Bewaffnung und Verproviantierung anbetraf, völlig andere Dispositionen getroffen hatte, als wie solche von seinen Gefährten nach heißen Wortkämpfen vorgesehen waren — zum größten Kummer des kriegslustigen Seapoyhauptmanns a. D. und des allzeit auf einen guten Bissen und Tropfen bedachten Timesreporters.
Die vier Männer, von denen ihr Vaterland so unendlich viel erhoffte, nahmen, während die letzten Vorbereitungen zur Abfahrt getroffen wurden, auf die Einladung des Lordkanzlers hin, bei diesem auf der Tribüne Platz, und es entspann sich zwischen ihnen und den Großwürdenträgern des Reiches eine letzte Unterredung.
»Seien Sie, Herr Professor, der vollen Huld Ihrer Majestät allzeit versichert. Unsere erhabene Königin wird sich sehr freuen, wenn Ihre Mission auf dem Mars erfüllt ist und Sie und Ihre wackeren Reisebegleiter wohlbehalten den Mutterplaneten wieder erreicht haben. Vergessen Sie bei der Rückkunft nicht, die Regierung sofort telegraphisch davon zu verständigen und Ihrer Majestät Bericht zu erstatten,« sagte Graf von Derby und drückte Mac Milford die Hand.
»Ich werde dem Befehle Folge leisten,« erwiderte der Angeredete.
»Haben Sie Familie, die Ihrer gewagten Reise mit Bangen entgegensieht?« frug sodann der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes.
»Nur entfernte Verwandte,« entgegnete Mac Milford. »Mißglückt mein Unternehmen, was ich nicht hoffe, so wird mir niemand eine Träne nachweinen.«
»Und die anderen Herren?« Mit dieser Frage wendete sich der Minister Lytton Bulwer an Morton und die übrigen Expeditionsteilnehmer.
»Zu dienen, Herr Minister,« ließ sich der Ingenieur vernehmen; »ich für mein Teil bin verheiratet.«
»Befinden Sie sich in geordneten und auskömmlichen Verhältnissen, so daß Ihre Angehörigen während Ihrer Abwesenheit genügend versorgt sind? Andernfalls wird die Regierung die Pflicht standesgemäßen Unterhaltes Ihrer Familie übernehmen,« begann der Lordkanzler von neuem.
»Mein Vermögen schützt meine junge Frau auch für den Fall, daß das Unternehmen mein Leben kostet,« versicherte Morton, und der zitternde Ton, mit dem er die Worte leise sprach, ließ erkennen, daß er bei dem Gedanken, sein ihm erst kurz vorher angetrautes Weib vielleicht für immer verlassen zu müssen, erbebte.
»Herr Hauptmann, wie steht es mit Ihnen?«
»Bin Witwer, kann schon mein Leben für das Vaterland ohne Bedenken riskieren,« antwortete der Invalide.
»Und Sie, Mr. Jenkinson? Die Times wird ihren gewiegten Berichterstatter wohl schwerlich verschmerzen können, falls der Expedition ein Unfall zustoßen würde.«
»Junggeselle, Herr Lordmajor,« erwiderte der Vertreter der Presse mit feinem Lächeln.
In diesem Augenblicke ertönte der erste Kanonenschuß und gleich darauf das Geläut von sämtlichen Glocken der Staatskirchen, deren Edinburgh weit über hundert zählt.
Nach der Verabschiedung von den Großwürdenträgern begaben sich Mac Milford und seine Gefährten unter großem Tumult der Volksmenge, die ihnen begeistert zujubelte, zu dem Standort des Vehikels, wo sich bereits eine Anzahl Männer, Vertreter der Wissenschaft und Technik, unter ihnen auch der Direktor Smith und der Präsident der Royal Society, Vane, versammelt hatten.
»Ich werde mit meinen Assistenten unausgesetzt den Kurs Ihres Fahrzeuges verfolgen,« versetzte Smith, als ihn sein gefeierter Kollege darum bat, daß er doch das Vehikel, soweit die optische Kraft des Refraktors reiche, auf seiner Marsfahrt beobachten möchte, damit er in der Lage sei, alle diejenigen zu beruhigen, welche sich darum stark sorgen würden, daß die Expedition schon auf der Hinreise verunglücken werde.
»Bei der Kleinheit des Objektes wird unser Rohr wohl nur zu bald seinen Dienst versagen,« meinte Smith weiter.
»Nach meiner Berechnung werden Sie das Vehikel freilich nur während zweier Stunden nach der erfolgten Abfahrt im Kurse verfolgen können,« gab Mac Milford zurück. »Um Sie nun aber in die Lage zu versetzen, den Kurs meines ›Sirius‹ mehrere Tage und Nächte genau beobachten zu können, wollen Sie meinen MultiMikroapparat benutzen, den Sie im Laboratorium meiner Wohnung finden werden. ... Hier, verehrter Kollege, haben Sie die Schlüssel meines Hauses.«
»MultiMikroapparat?« versetzte fragenden Tones der Direktor.
»Ganz recht, ein Instrument, welches ich ersonnen habe, um die optische Kraft großer Refraktoren oder Reflektoren, sofern es die jeweiligen atmosphärischen Verhältnisse gestatten, um das hundertfache zu erhöhen.«
»Alle Wetter!« rief Mr. Smith; »auf das Ding bin ich aber neugierig; wohl noch ein Konstruktionsgeheimnis?« flüsterte er Mac Milford ins Ohr.
»Geben Sie die nützliche Erfindung nur ruhig der Öffentlichkeit preis. Die Handhabung des Apparates können Sie aus diesen Aufzeichnungen ersehen.« Mit diesen Worten übergab der Sprecher seinem Kollegen ein seiner Tasche entnommenes Papier. »Des Nachts über werde ich von Viertelstunde zu Viertelstunde durch einen an meinem Fahrzeuge angebrachten Scheinwerfer, welcher immer der Erde zugekehrt sein wird, elektrisches Anodenlicht aufblitzen lassen. Dieser Lichtschein vermag sich in einer Umgebung von rund 500 Meilen um das Vehikel auszubreiten, und läßt sich mit Hülfe des Refraktors und des MultiMikroapparates leicht wahrnehmen.«
»Trefflich ... trefflich,« stieß Mr. Smith hervor. »Sie werden also wie ein Komet am Himmel dahinziehen.«
»Wie lange dürfte die Überfahrt wohl an Zeit benötigen?« warf jetzt Palgrave dazwischen.
»Eine volle Woche, mein Lieber. Sieben Tage und ebenso viele Nächte,« antwortete Mac Milford, sich zu dem Frager wendend. »Das heißt, wenn ich die Anziehungskraft des Mars ungeschwächt auf das Fahrzeug einwirken lasse, was jedoch erst dann stattfinden kann, sobald der tote Punkt überschritten ist ...«
Das Tosen der Menschenmassen wurde in diesem Augenblicke so stark, daß keiner sein eigenes Wort mehr verstehen konnte. Die größte Ungeduld hatte die Menge ergriffen; vermochte doch niemand mehr seine fieberhafte Spannung zu beherrschen.
»Toter Punkt ... was ist ...« schrie Palgrave, um sich verständlich zu machen; doch seine Worte wurden bei dem ungeheuren Lärm, der herrschte, völlig erstickt.
Mac Milford traf nunmehr Anstalten, das Vehikel zu besteigen, seinen Gefährten winkend, daß sie ihm folgen sollten.
Noch eine allseitige herzliche Verabschiedung, und die Mitglieder der Expedition verschwanden im Innern des von der Menschenmenge angestaunten Fahrzeuges. Mac Milford bestieg jedoch unmittelbar darauf die Leiter, welche von der Einsteigluke in das Vehikel hinabreichte. Er wollte eben vom Dache seines kosmischen Schiffes ein letztes Wort an die Menge richten, als sich eine junge Frauengestalt durch die Menschenmauern drängte und wehklagend die Hände erhob.
Der Tumult dämpfte sich bei dem Anblicke der jammernden Frau so ab, daß die Teilnehmer der Expedition stutzig wurden und Morton sofort die Leiter bestieg, um gleich darauf oben neben Mac Milford sichtbar zu werden. Er hatte sein junges Weib erkannt, der er glauben gemacht, daß er nur eine längere Reise nach Frankreich und Deutschland unternehmen müsse. Jetzt half nun nichts mehr. Morton mußte die Untröstliche, welche den Namen ihres heißgeliebten Gatten als einen der mutigen Teilnehmer der Marsexpedition in verschiedenen Tageszeitungen genannt sah, in Empfang nehmen.
Der Ingenieur entstieg dem Vehikel vollends, und Mrs. Morton warf sich krampfhaft schluchzend in die Arme ihres Mannes.
»Unseliger, was tust du mir an?« brachte die junge Frau keuchend hervor.
»Aber, Liebste, tröste dich doch, das Unternehmen ist nicht gefahrvoller, als eine Meerfahrt,« erwiderte erschüttert Morton, sich nur mühselig beherrschend.
»Nein, nein,« rief Mrs. Morton mit erstickter Stimme aus; »du versuchst dich und mich zu täuschen. O, ich werde dich nie wiedersehen ... entsetzlich ... furchtbar! Stehe ab von dem Unternehmen ...«
Das Publikum nahm an dem erschütternden Vorgange den wärmsten Anteil; wenigstens die Näherstehenden, welche sich die Szene zu erklären vermochten. Der bisherige Lärm in der Umgebung verstummte, und man vernahm nur noch ein dumpfes Murmeln.
»Bleib' bei mir!« jammerte die junge Frau.
»Liebste, es ist jetzt zu spät. ... Wir werden uns bestimmt wiedersehen ... in zwei oder drei Monaten,« antwortete Morton mit verhaltenem Schmerze und wendete sich an den der Abschiedsszene mit feuchtem Auge stumm zuschauenden Mac Milford mit der Bitte, er solle seiner Frau doch auch bestätigen, daß die Expedition sicher und unversehrt in längstens der von ihm angegebenen Zeit zur Erde zurückgekehrt sei.
»Mrs. Morton, Sie werden uns heil an Leib und Seele wiederschauen, ... acht Wochen, vielleicht auch etwas länger, dann ...« Der greise Leiter der Expedition stockte bei dem letzten Worte; er glaubte schon zu viel versprochen zu haben, und doch drängte es ihn, dem im Leben so einsam dastehenden Mann, der nur seine Wissenschaft und seine Bücher kannte, einem verzweifelten Herzen Trost zukommen zu lassen. Der Alte zerdrückte eine Träne in seinem Auge, als er sah, wie krampfhaft die Frau ihr Liebstes auf Erden fest umschlungen hielt.
Inzwischen hatte sich Professor Vane mit seiner Gattin dem Ehepaar genähert, und es stand in der Absicht der beiden, während der Dauer der Abwesenheit Mortons, sich dessen junger Frau anzunehmen.
Als Mrs. Morton sah, daß sich ihr Gemahl trotz aller Liebe zu ihr von seinem Entschluß, die Expedition zu begleiten, nicht abbringen ließ, verfiel sie in eine tiefe Ohnmacht.
Schweren Herzens bestieg Morton wieder das Vehikel und setzte sich, in Schmerz versunken, auf einen Sitz, unbekümmert darum, was in den nächsten Minuten vorging.
»Meine hochverehrten Mitbürger,« begann darauf Mac Milford; »der ernste Augenblick des Abschieds ist gekommen. Vier Männer stehen im Begriff, eine Reise zu einer fernen, unbekannten Welt anzutreten. Ob die Expedition zum Mars gelingen wird, das hängt von mancherlei unvorhergesehenen Zufällen ab; jedenfalls bewahren Sie denen, die jetzt von Ihnen scheiden, Ihr Angedenken. Sollte unser Fahrzeug irgendwo im ewigen, unermeßlichen Universum Schiffbruch erleiden, so haben wir uns heute zum letzten Male gesehen. ... Ihre Majestät, unsere erhabene Königin Viktoria hat die Huld gehabt, uns zu dem Unternehmen alles Glück zu wünschen. Sie verfolgt die Expedition mit größtem Interesse und hofft, daß es uns gelingen wird, einen Verkehr mit der Marswelt anzubahnen, um die dortigen Bewohner dereinst, wie die Seleniten, die Menschenstämme des Mondes, zu britischen Untertanen zu machen, und den Planeten Mars dem Länderbesitz der englischen Krone einzuverleiben ... Ehe ich und meine treuen Gefährten nun scheiden, wollen wir noch einmal in Ehrfurcht und Untertänigkeit Ihrer Majestät der Königin gedenken. ... Königin Viktoria, sie lebe!« Die letzten Worte schrie der greise Expeditionsleiter mit aller Kraft seiner Lunge.
Aus tausend Kehlen hallte der Hochruf wider, der sich dann durch die Menschenmassen weiter fortpflanzte, bis in die entlegensten Straßen der Stadt.
Mac Milford gab nun schnell noch einige Befehle, damit die Arbeiter die letzten Hindernisse für den Aufstieg beiseite räumten, und verschwand dann, mit einem Schwenken seines Hutes, im Innern des Fahrzeuges.
Nunmehr wurde das Zeichen zum eigentlichen Abschiedssalut gegeben. Donnernd krachten darauf die auf verschiedenen Höhen Edinburghs aufgestellten Kanonen.
Das Getöse und Brüllen der Volksmenge, die zahllosen Salven der Böller und das hundertfache Glockengeläute war ohrenbetäubend; ein ähnlicher Lärm hatte wohl noch nirgends, bei keiner Gelegenheit stattgefunden. Seinen Höhepunkt erreichte er, als sich das Vehikel langsam vom Boden erhob und seine mutigen Insassen, die nach Ansicht aller Zuschauer unbedingt mit dem Leben abgerechnet haben mußten, winkend an der Glasverschalung des Fahrzeuges sichtbar wurden.
Langsam war anfänglich das Vehikel gestiegen, doch ehe sich's dann alle versahen, sauste das Fahrzeug mit der Schnelligkeit einer Kanonenkugel in einer etwa 30 Grad vom Zenit abstehenden Richtungslinie hinauf — — hinein ins Weltall.
Bereits nach drei Minuten war Mac Milfords Himmelskutsche, wie ein Spaßmacher das Antigravitationsvehikel getauft hatte, den Blicken aller Menschen entschwunden, und die Menge zerstreute sich wieder; doch blieb das Ereignis noch für die ganze nächste Zeit Gesprächsstoff von alt und jung. Die Abendzeitungen brachten spaltenlange Berichte über die erhabene Feier, voll von Lobeserhebungen über ihren großen Landsmann und dessen wagemutige Gefährten. Man forderte von der Regierung schon im voraus, daß sie Mac Milford zum Vizekönig der britischen Weltallskolonien ernennen solle, das wäre England sich und seinem genialen Untertanen schuldig.
Mitten in Edinburgh erhebt sich der Caltonhügel, eine Anhöhe, auf welcher sich das Nationaldenkmal, das Nelsonmonument und das Observatorium befinden. Als langjähriger Leiter des letztgenannten wissenschaftlichen Institutes hatte früher Mac Milford fungiert; nach seinem Rücktritt wurde der dem Leser bereits bekannte G. Smith der Sternwarte als Direktor zugeteilt, welcher jedoch bald darauf an das Greenwicher Observatorium berufen wurde.
Smith war gezwungen, wollte er dem Kurs des Vehikels folgen, unverzüglich die Stätte seiner früheren Wirksamkeit auf dem Caltonhügel aufzusuchen, was er auch ohne Verzögerung tat. Zuvor hatte er sich jedoch in die Wohnung seines gefeierten Kollegen begeben, um dort den MultiMikroapparat ausfindig zu machen.
In Begleitung des Präsidenten der Royal Society betrat der Direktor das Haus Mac Milfords und hatte bald das Laboratorium aufgefunden.
»Die Werkstätte unseres großen Naturforschers,« bemerkte Vane, als er den Experimentierraum betrat.
Staunend sahen sich die beiden Gelehrten in dem geräumigen Gemache um. Was war hier nicht alles aufgestapelt. Seltsame Instrumente und Geräte, wie solche sonst in anderen Laboratorien nicht zu erblicken waren. Darunter den gesuchten Apparat sofort zu finden, das war keine Kleinigkeit.
Smith zog deshalb das Papier aus der Tasche, welches Aufzeichnungen über die Beschaffenheit des Instrumentes enthielt.
»In einem metallenen, konisch geformten Zylinder befindet sich ein verschiebbarer Okularansatz mit einer Prismenanordnung ...« las Smith von dem Papiere laut ab.
»Dort vielleicht ...«
»Um die Peripherie des Ansatzes ist ein Deklinationskreis angebracht, dessen Ablesung ein über demselben befindliches Mikroskop ermöglicht ...« fuhr der Direktor im Lesen fort und sah von dem Papier auf. »Hier wahrscheinlich,« rief Vane und trat auf ein Tischchen zu, auf dem sich ein eigenartig ausschauendes Instrument befand.
»Lieber Herr Kollege, Sie irren.«
»Nein — nein, sehen Sie, hier ist der Teilkreis ... hier der Okularansatz.«
»Richtig ... der konisch geformte Zylinder läßt auch keinen Zweifel mehr übrig; wir haben das Ding gefunden. ...«
»Verspüren Sie nicht, daß die Luft hier recht sauer von Geruch ist?« meinte Vane.
»Mac Milford erzählte mir von einem neuen Ozonierungsverfahren, ... möglich, daß hier ein Apparat dafür aufgestellt ist. Es riecht tatsächlich nach Ozon ...,« antwortete Smith. »Doch ich habe jetzt keine Zeit mehr zu verlieren; ich muß schleunigst zum Observatorium.« Mit diesen Worten ergriff er den kleinen MultiMikroapparat und eilte, so schnell es seine kurzen Beine gestatteten, aus dem Laboratorium hinaus und ließ den Kollegen zurück.
Dieser konnte es nicht über sich gewinnen, den so vieles Sehenswerte bietenden Raum gleichfalls schon zu verlassen. Er betrachtete zunächst einen riesigen Glasbehälter, der ein Schild mit der Aufschrift »Wasserstoffsuperoxyd« trug, und in dessen flüssigen Inhalt elektrische Leitungsdrähte mündeten, die an ihren Enden Metallkappen trugen. Des weiteren interessierte ihn dann ein Gefäß, welches die Aufschrift »ZellenReinkulturen« besaß, und noch vieles andere mehr. —
Doch verlassen wir jetzt den in die Betrachtung der Laboratoriumsgegenstände versunkenen Gelehrten und folgen dem spornstreichs davongeeilten Direktor zur Sternwarte.
Smith war noch nie in seinem Leben, am allerwenigsten in den letzten Jahren, wo er an Korpulenz zugenommen hatte, so schnell gelaufen, als soeben. Er kam keuchend und pustend an seinem Ziele auf dem Caltonhügel an und mußte einige Augenblicke verschnaufen, bis er fähig war, den mitgebrachten Apparat mit Hülfe eines Assistenten, den Vorschriften der in seinen Händen befindlichen Aufzeichnungen gemäß, an dem großen Refraktor des Observatoriums anzubringen.
»Ich habe das Vehikel von seinem Aufstieg an bis jetzt mit dem Kometensucher verfolgt,« sagte der Assistent und blickte neugierig auf das Instrument, welches der kleine Direktor auf den Tisch gestellt hatte.
»Schön ... pu ... was bin ich geeilt ...« Smith wischte sich einige Schweißtropfen von der Stirn. »Haben Sie eine Ortsbestimmung gemacht, so daß wir den Refraktor gleich in richtige Rektaszension und Deklination einstellen können?«
»Nein, aber ich werde sofort den Ort, an welchem sich das Fahrzeug jetzt befindet, feststellen.« Mit diesen Worten eilte der Assistent in den zweiten Beobachtungssaal.
Smith holte die Aufzeichnungen aus seiner Tasche und überflog dieselben schnellen Blickes; dann ging er daran, den Okularteil des Fernrohres abzunehmen und den MultiMikroapparat an dessen Stelle zu bringen.
»Herr Direktor,« rief der Assistent, welcher inzwischen wieder herbeigeeilt kam, »das Vehikel ist jetzt völlig aus dem Gesichtsfeld des Rohres entschwunden, und es ist mir auch nicht möglich, es wieder aufzufinden.«
»Fatal ... sehr fatal!« brummte Smith. »Auf welchen Ort war das Instrument eingestellt, als Sie bei meiner Ankunft die Beobachtung aufgaben?«
»308 Grad, 9 Minuten, 16 Sekunden Rektaszension und 44 Grad, 6 Minuten, 23 Sekunden nördliche Deklination.«
»Das wäre so ungefähr in der Faciallinie zum Alpha im Cygni.«
»Sehr wohl, Herr Direktor; Deneb steht in unmittelbarer Nähe.«
»Wollen Sie mir schnell etwas behülflich sein. Versuchen Sie, ob sich dieser Okularansatz an das Rohr schrauben läßt ... drehen Sie links; die Mikrometerschraube muß nach oben zu stehen kommen.«
»Ein neues Okular?« erlaubte sich der Assistent bei der Arbeit zu fragen.
»Ein neues Okular ...« wiederholte bestätigend der Direktor.
Kaum war es gelungen, das Instrument in der vorgeschriebenen Weise an dem Refraktor zu befestigen, als der kleine Direktor mit fieberhafter Hast auch schon die Einstellung des Fernrohres auf Grund der von dem Assistenten gegebenen Ortsbestimmung bewirkte. Mittels des auf dem großen Tubus montierten Sucherrohres sondierte Smith die Himmelszone, in welcher das Vehikel schweben mußte.
»Mit dem Sucher ist nichts zu sehen,« murmelte der Astronom und machte sich daran, durch den seltsamen Okularansatz die Beobachtung fortzusetzen; doch auch mit diesem erhielt er ein negatives Resultat, die Spur des Vehikels schien völlig verloren zu sein.
Der Assistent war eben so ratlos als sein Meister.
»Bitte um die Zeit, zu welcher Sie die letzte Ortsbestimmung gemacht haben,« wandte sich der Direktor zu dem Gehülfen.
3 Uhr, 46 Minuten, 5.9 Sekunden,« lautete die Antwort.
»Jetzt haben wir?«
»58 Minuten und 35 Sekunden.«
Smith nickte und schien im stillen zu rechnen. Hierauf bewegte er die feinen Mikrometerschrauben des Refraktors und betrachtete von neuem die Himmelsgegend, in welcher er das gesuchte Fahrzeug vermutete. Dann jubelte der Direktor auf. »Gefunden!« Noch eine kurze Weile verfolgte er das wiedergefundene Objekt und ließ darauf den Assistenten ans Instrument, damit er bestätige, daß der aufgefundene dunkle Punkt im Weltall das Vehikel sei.
»Unzweifelhaft!« rief jener.
»Mac Milford scheint aber die Richtungslinie zum Mars nicht haarscharf einzuhalten, denn ich bemerke deutlich, daß der Kurs des Fahrzeuges um mehr als 40 Bogenminuten vom Ziel abweicht.«
Auch dieses konnte der Assistent nur bestätigen.
Smith drehte jetzt wieder an einigen Schrauben des MultiMikroapparates und machte zu seinem Erstaunen die Entdeckung, daß sich das im Gesichtsfelde unterhalb des Fadenmikrometers befindliche Objekt plötzlich bedeutend vergrößerte, so daß der Astronom die Umrisse des Vehikels deutlich zu erkennen vermochte. »Großartig ... herrlich!« rief er aus. »Sehen Sie doch nur, wie das neue Okular das Objekt plastisch aus dem Raume heraushebt!«
Der Assistent beeilte sich, einen Blick durch den Refraktor zu werfen. »Alle Wetter! — Wirklich ein echtes und rechtes stereoskopisches Bild.«
Nachdem der Direktor wieder seinen Platz am Fernrohre eingenommen hatte, verfolgte er eine Weile hindurch die Fahrt seines genialen Kollegen.
Einige Minuten später hörte man plötzlich Lärm auf dem Vorflur.
»Was ist das für eine Störung?« frug Smith aufgeschreckt.
In diesem Augenblick, der Assistent konnte nicht schnell genug die Ursache ergründen, drängte sich durch die Tür eine junge Frauengestalt. Es war Mrs. Morton, gefolgt von einigen Herren.
»Können Sie das unglückselige Fahrzeug noch sehen? O, antworten Sie, schnell!« rief die Hereinstürzende dem von seinem Beobachtungsstuhl aufgescheuchten Direktor mit bebender Stimme zu.
»Mrs. Morton, es geht alles glatt ab. Schauen Sie nur einmal durch dies Rohr und Sie werden zu Ihrer Freude meine Worte bestätigt finden,« antwortete Smith, welcher die junge Frau sofort wiedererkannt hatte.
Mrs. Morton war hastig an den Refraktor geeilt, wo ihr der Direktor das Okularrohr des Instrumentes vor das Auge zu bringen bemüht war.
»Ich sehe nichts ... o mein Gott,« jammerte die Frau.
»Doch, doch ... blicken Sie nur genau hinein,« ließ sich Smith vernehmen, und der Ton seiner Stimme verriet, daß er einerseits Mitleid für die Verlassene empfand, anderseits aber über die Störung ärgerlich war. —
»Der dunkle Punkt?« frug Mrs. Morton hastig.
»Sehr wohl,« gab Smith zurück.
»So ist ihnen also noch kein Unglück zugestoßen?«
»Nein .... beruhigen Sie sich nur; die Expedition wird sicher glücken.«
»Der MultiMikroapparat scheint ja Erstaunliches zu leisten.« Der Sprecher dieser Worte war Professor Vane, welcher Mrs. Morton zum Observatorium geleitet hatte.
»Ich bin davon entzückt,« erwiderte Smith; »es ist ein Wunderinstrument, das tatsächlich ein stereoskopisches Sehen im Weltenraume ermöglicht.«
Mrs. Morton schrie plötzlich auf. »Allmächtiger! Das Fahrzeug ist verschwunden ... es wird einen Unfall erlitten haben ...« Bei diesen Worten sank die Frau im Beobachtungssessel zurück und schloß für einige Sekunden die Augen.
Smith und der Assistent sprangen an den Refraktor.
»Nur Ruhe ... das Objekt wird nur aus dem beschränkten Gesichtsfelde des Instrumentes gekommen sein ... werden's gleich wieder haben.« Der Direktor drehte dabei an den Mikrometerschrauben des Refraktors und blickte aufmerksam durch letzteren.
»O, ich werde noch wahnsinnig ...« preßte Mrs. Morton hervor.
»Sagte ich's nicht; nur eine kleine Verschiebung. Das Vehikel fährt unversehrt seinem Ziele zu,« sagte Smith, zu den Umstehenden gewendet.
»Wann wird die Expedition auf dem Mars ankommen?« frug einer der anderen Begleiter, welche mit Vane erschienen waren, und in dem der Leser den bei der Gründung des Weltallkolonialklubs zugegen gewesenen schottischen Großindustriellen Hume wiedererkennt.
»Rund in einer Woche ... sieben Tage und ebensoviel Nächte,« gab Smith zur Antwort und ließ die junge Frau durch den Refraktor blicken.
»Ich sehe sie ...« rief soeben Mrs. Morton und schien sich etwas beruhigt zu haben.
Auch Vane warf jetzt einen Blick durch das Rohr.
»Es ist fabelhaft, mit welcher Schnelligkeit das Vehikel den unendlichen Raum zu durchqueren vermag,« meinte Vane. »Wie weit mögen sie sich wohl schon von der Erde entfernt haben?«
»Das dürfte sich schwer bestimmen lassen. 3 Uhr 30 Minuten fand die Abfahrt statt, jetzt ist es 4 Uhr 25 Minuten; also etwa eine Stunde unterwegs. Das dürfte ungefähr einer Entfernung von 5000 geographischen Meilen entsprechen, also dem zehnten Teil des Abstandes des Mondes von der Erde gleichkommen.« Smith zog hierauf seinen Kollegen beiseite und bat ihn, er möge doch Mrs. Morton auffordern, das Observatorium, jetzt, nachdem sie sich doch überzeugt hätte, daß das Vehikel unversehrt sei, zu verlassen.
Vane nickte und tat wie ihm geheißen.
»Lassen Sie mich hier bleiben,« flehte die Frau.
»Verzeihen Sie, Mrs. Morton, das ist aber nicht möglich,« bedeutete ihr Vane.
»Ich werde mich totenstill verhalten, Herr Direktor.«
»Bedauere, aber das würde trotzdem nicht angehen,« gab der Angeredete höflich zurück.
Der Überredung Vanes gelang es schließlich, die trostlose Gattin Mortons zum Verlassen der Sternwarte zu bewegen, nachdem ihr die Versicherung geworden, daß sie alltäglich über das Beobachtungsresultat des Observators den genauesten Bericht empfangen solle.
Als Mrs. Morton sich mit ihren Begleitern entfernt hatte, glaubte Smith, daß er nun endlich mit der erforderlichen Ruhe daran gehen könne, die für rechnerische Zwecke nötigen Elemente zur Bahnbestimmung des Vehikels zu ermitteln, um auf solche Weise kontrollieren zu können, ob das Fahrzeug seinen Kurs in der Gesichtslinie auch einbehielt.
Doch wurde Mr. Smith bald wieder durch das Erscheinen einer Anzahl Herren, Gelehrte aus allen Teilen des Landes und Berichterstatter großer englischer Tageblätter, in seinen Beobachtungen gestört. Brummend empfing er die vielen Ankömmlinge.
»Verzeihen Sie die Störung, Herr Kollege; wir erhielten davon Kenntnis, daß Mac Milford einen seltsamen Apparat hier aufgestellt hat, welcher es ermöglicht, das Fahrzeug der Expedition bis zum Mars genau verfolgen zu können.« Diese Worte richtete ein bekannter Physiker, um den sich der kleine Trupp Besucher geschart hatte, an den ob der erneuten Störung recht unwilligen Direktor.
»Es muß doch ein eigenartiger Anblick sein, das Vehikel so im unendlichen Raume schweben zu sehen,« warf, ehe Smith antworten konnte, ein sich bereits dem Refraktor genähert habender Vertreter der Londoner Morning Post dazwischen. Der Sprecher betrachtete das große Fernrohr mit der Neugierde eines Knaben.
»Geht die Fahrt glücklich von statten?« frug dann hastig ein Geschichtsforscher.
»Wie weit mag die Expedition bereits von der Erde entfernt sein?« rief ein jüngerer Lektor der Glasgower Universität.
Mr. Smith mußte, wollte er nicht in den Geruch großer Unhöflichkeit gegenüber seinen Kollegen kommen, wohl oder übel die gestellten Fragen beantworten und den Herren einzeln die Beobachtung am Fernrohre gestatten.
»Vortrefflich ... sehr deutlich zu sehen ...« bemerkte einer der Herren, den der Assistent durch das Rohr hatte schauen lassen.
Sofort drängten sich die übrigen Herren zu dem Instrument hin; jeder wünschte einen Blick ins Weltall zu werfen. Besonders die Vertreter der Tagespresse wollten soviel wie möglich sehen und befleißigten sich daher nicht allzu großer Zurückhaltung und Bescheidenheit.
Alle Anwesenden waren von dem deutlichen Bilde im Fernrohre entzückt, und die Herren Reporter machten in ihren Notizbüchern überschwengliche Berichte über das Gesehene.
»Wird die Expedition unterwegs nicht einmal mit irgend einem Himmelskörper kollidieren?« frug der Vertreter des Daily Telegraph, hoffend, eine Antwort zu erhalten, die ihm dazu Spielraum gelassen hätte, irgend einen, die Nerven der zahlreichen Leser seiner Zeitung kitzelnden Artikel abzufassen, um die an und für sich schon als ein welterschütterndes Ereignis dastehende Sache noch sensationeller aufzubauschen.
»Morgen früh gegen 6 Uhr wird sich die Expedition in etwa gleichem Abstande von der Erde befinden, wie der Mond,« orientierte Smith die Neugierigen.
Die Frage des Daily TelegraphVertreters erfuhr sodann ihre Beantwortung dahin, daß ein Renkontre mit dem zunächststehenden Mond ausgeschlossen sei, weil der Satellit der Erde um jene Zeit, zu welcher die Expedition seine Umlaufsbahn schneide, sich fast genau in entgegengesetzter Richtung befände.
»Aber die Kometen, die Kometen ...,« rief einer der Herren, der für diese luftigen Weltallsbummler nicht sonderlich eingenommen zu sein schien.
»Bah — Kometen! — Erstens kommen nach der geschehenen Berechnung keine in Betracht, welche die Flugbahn des Vehikels kreuzen könnten, und wäre dies seitens eines der Wissenschaft noch unbekannten, plötzlich aus weiter Ferne auftretenden Schweifsternes doch der Fall, so würde das Fahrzeug ein solches gasiges Gestirn unbeschädigt durchfahren können.« Mit diesen Worten begab sich der Direktor wieder an den Refraktor, um seine Beobachtungen fortzusetzen; es kostete ihm aber einige Mühe, den neugierigen LordMayor von Manchester, der sich ebenfalls unter den Besuchern befand, vom Rohre wegzubekommen.
Smith gab sich jetzt den Anschein, als wenn er eifrig mit rechnerischen Aufzeichnungen am Refraktor beschäftigt wäre, und ließ darum verschiedene an ihn gestellte Fragen gänzlich unbeantwortet, hoffend, so den Anwesenden fühlen zu lassen, daß sie hier eigentlich recht störten. Mit innerlicher Freude bemerkte er denn auch, daß man allseits den nicht schwer zu verstehenden Wink beachtete und Anstalten zum Fortgehen traf.
Kaum hatten sich die Besucher entfernt, als der Direktor den Assistenten anwies, niemand, wer es auch sein möge, mehr vorzulassen.
Eifrig ging er nun ans Beobachten. Nach und nach häuften sich die Notizen, welche die Elemente zur Bahnberechnung des Vehikels abgeben sollten. Smith hatte schon bereits den Eindruck gewonnen, daß der Kurs Mac Milfords zuweilen stark von der geneigten Vertikalen abwich; war das vorgesehen oder war es unerwartet eingetretenen Einflüssen kosmischer Natur zuzuschreiben, die das Vehikel aus der geraden in eine nahezu zickzackförmige Bahn geraten ließen?
Die Nacht war schon längst hereingebrochen, und noch immer saß Smith im Beobachtungsstuhl; doch hatte er mit Beginn der Dunkelheit die Kontrolle aufgeben müssen, weil das Fahrzeug nicht mehr erkennbar war.
Seit mehr denn fünf Stunden harrte der kleine Gelehrte auf den mit Mac Milford verabredeten Lichtschein. Doch war nicht die geringste Spur davon wahrzunehmen. Sollte das Anodenlicht in seiner Wirkung aus etwa 40 000 Meilen Entfernung hin zu schwach sein, um sich im Instrument zu zeigen? Oder versagte vielleicht der Mechanismus des Vehikels in bezug auf die Ausstrahlung der Lichtflut?
Mr. Smith saß grübelnd über diese sich ihm aufdrängenden Fragen da, nur von Zeit zu Zeit einen Blick in das Rohr werfend.
Holla ... was war das? Der Lichtblitz ...
Der Direktor entdeckte endlich eine Lichtspur am vermutlichen Orte des Vehikels. Doch nur einen Bruchteil einer Sekunde hatte das Phänomen gedauert. Trotz weiterer andauernder und sorgfältiger Beobachtung konnte die Erscheinung nicht wieder wahrgenommen werden. Schließlich hielt Smith das fernere Beobachten für zwecklos und gab sich deshalb ein wenig dem ihn übermannenden Schlummer hin.
Er mochte einige Zeit geschlafen haben, als der die Nachtwache habende Observatoriumsdiener eintrat.
»Was wollen Sie?« fuhr ihn Smith, aus dem Schlummer erwachend, an.
»Ich glaube ... ich glaube, das Ding dort im Schwan ist soeben explodiert,« erwiderte in unsicherem Tone der Aufseher und zeigte mit der Hand nach dem Sternbild Cygni.
»W—a—as ...?« meinte Smith und rieb sich die Augen.
Der Diener wiederholte, was er soeben gesagt hatte.
Hastig warf Smith einen Blick in das Rohr, und als er nichts gewahr werden konnte, brummte er: »Ja, Sie faseln wohl?«
»Nein, Mr. Smith; da mich die Neugierde so plagte, habe ich das Fahrzeug mit dem Kometensucher verfolgt, und des Nachts über ab und zu einen Blick in das Instrument geworfen. Vor wenigen Minuten sah ich plötzlich einen hellen Lichtschein im Rohre aufblitzen, wie eine Feuerkugel strahlend ... dann wie eine Bombe platzend, und verschwunden war alles.«
Der Direktor horchte auf.
»Sie haben einen Lichtschein bemerkt? Vielleicht war's wohl nur ein Meteor?«
»Nein, Herr Direktor, so 'n Ding sieht anders aus; habe genug davon gesehen,« beteuerte der Aufseher.
Smith, der stutzig geworden war, widmete sich jetzt wieder der Beobachtung am Rohre. »Setzen Sie Ihre Betrachtung am Kometensucher fort, und sollten Sie wieder eine ähnliche Erscheinung wahrnehmen, so rufen Sie mich.«
Der Diener folgte der erhaltenen Weisung und begab sich in den Nebenraum.
Smith wurde nach einer kleinen Weile durch das Aufblitzen eines ziemlich intensiven Lichtes im Gesichtsfelde seines Instrumentes überrascht.
Die Erscheinung wiederholte sich dann zur Freude des Gelehrten von Viertelstunde zu Viertelstunde; daß es das Anodenlicht des Vehikels war, das stand für Mr. Smith bombenfest.
So vergingen mit der ständigen Kontrolle mehrere Tage und Nächte. Smith und der Assistent wechselten sich mit der Nachtwache ab. Fast jeden Tag kamen Berichterstatter, Gelehrte und sonstige neugierige Leute zur Sternwarte herauf, jeder wollte genau wissen, wie es um die Expedition stände, und alle erhielten eine beruhigende Antwort.
Da, eines Nachts, es war um die zweite Morgenstunde, ließ sich ein Herr auf dem Observatorium melden und bat um Vorlassung.
Smith war nicht anwesend, und der Assistent glaubte niemand empfangen zu dürfen.
»Weisen Sie den Herrn ab; er soll morgen mittag wiederkommen,« bedeutete der junge Astronom dem Aufseher.
»Der Herr läßt sich nicht abweisen, er sagt, er müsse Sie sprechen,« erklärte der Diener.
»So lassen Sie ihn in drei Teufels Namen ein!« Der Aufseher verschwand, und wenige Sekunden später betrat ein hochgewachsener Mann den Beobachtungsraum. Sein Kopf war von einem mächtigen Schlapphut à la Südwester bedeckt, dieser und der aufgeschlagene Kragen des Paletots verhinderten, daß man das Gesicht des Eintretenden zu erkennen vermochte.
»Nehmen Sie diese nächtliche Störung nicht übel,« begann der Fremde und näherte sich dem Assistenten mit einer kurzen Verbeugung.
»Wollen Sie mich gefälligst damit bekannt machen, was Sie hierher führt,« entgegnete der Angeredete höflich.
»Mein Name ist Schoonmaker,« fuhr darauf jener fort und ließ sich unaufgefordert in einem der nachstehenden Sessel nieder. »Ich bin gekommen, um Sie mit einer Erfindung bekannt zu machen, die Ihnen die Mittel an die Hand gibt, mit dem Vehikel, dessen Kurs zu kontrollieren Ihre Aufgabe ist, in unausgesetztem telegraphischem Verkehr zu bleiben.«
Der Assistent horchte auf.
»In unausgesetztem telegraphischem Verkehr?« wiederholte er und sah sein Gegenüber kopfschüttelnd an.
»Ganz recht. Zweifeln Sie an der Möglichkeit? — Ja, ich sehe, Sie zweifeln daran.«
»Da müßte doch Mr. Smith mit Ihnen verhandeln ... Bedauere, daß er aber erst morgen zu sprechen ist.«
»O, Sie sind nicht Mr. Smith?«
Der Fremde hatte sich bei diesen Worten wieder erhoben und schaute sich mit einem schnellen Blick im Gemache um.
Das Gebaren kam dem Assistenten etwas sonderbar vor.
»Mein Herr!« sagte jetzt unvermittelt der fremde Besucher und zog einen Revolver aus der Brusttasche und hielt ihn dem heftig erschrockenen Astronomen vor die Brust. »Geben Sie keinen Laut von sich und setzen Sie sich mit abgewendetem Gesicht dort auf jenen Sitz. Wagen Sie sich nicht umzudrehen. ... Mr. Schoonmaker, als welchen ich mich Ihnen vorzustellen beliebte, versteht keinen Spaß,« fuhr der Fremdling fort und deutete auf einen abseits stehenden Sessel.
Der verblüffte Assistent wußte nicht, was er denken sollte; hatte er es mit einem frechen Räuber oder mit einem Irrsinnigen zu tun? Da ihm nichts anderes übrig blieb, als dem Befehle des geheimnisvollen Fremden Folge zu leisten, so tat er, wie ihm geheißen, und setzte sich auf den ihm bezeichneten Sessel, indem er schnell noch einen Blick auf den Vermummten warf, um dessen Vorhaben zu ergründen.
Der Fremde machte sich nun unverzüglich am Refraktor zu schaffen; er schraubte den MultiMikroapparat ab und ließ denselben unter seinem weiten Mantel verschwinden.
»Ich werde mich jetzt in den Nebenraum begeben,« sagte sodann Mr. Schoonmaker zu dem sich aus Furcht nicht rührenden Assistenten. »Falls Sie sich unterstehen sollten, sich von Ihrem Sitze eher zu erheben oder einen Ruf auszustoßen, bis ich hier wieder eintrete, werden Sie, mein Herr, ohne weiteres mit meiner geladenen Pistole Bekanntschaft machen. Übrigens möchte ich noch bemerken, daß Ihr Aufseher von mir bereits unschädlich gemacht worden ist, Sie also auf seine Hülfe nicht zu rechnen haben.«
Der Fremde entfernte sich nach diesen Worten.
Der Astronom sann jetzt hin und her, was den Mann wohl zu dem nächtlichen Besuche auf der Sternwarte, in deren Räumen er Bescheid zu wissen schien, veranlaßt haben könne. Er erinnerte sich, daß jener von einer telegraphischen Verbindung mit dem im Weltenraume schwebenden Vehikel gesprochen hatte. Vielleicht war das nur ein Vorwand gewesen, um irgend welche Räubereien auszuführen. Doch was hätte der Eindringling mit fortnehmen können?
Der Assistent wagte einen Blick hinter sich zu werfen und sah, daß der MultiMikroapparat vom Refraktor abgenommen worden war.
Also das war der Beweggrund gewesen, weshalb dieser Mr. Schoonmaker nächtlicherweile dem Observatorium einen Besuch abgestattet hatte.
Als nach fast einer Viertelstunde der Fremde noch immer nicht ins Gemach zurückgekehrt war, wagte sich der Astronom von seinem Platze zu erheben und zur Tür, welche in den Nebenraum führte, zu schleichen. Er lauschte dort mit angehaltenem Atem. — Nichts war vernehmbar. Kein Laut störte die Stille der Nacht. — — Sollte der Einbrecher mit seiner Beute vielleicht schon längst entwichen sein?
Vorsichtig öffnete er ein wenig die Tür und sprang dann, als er das Gemach leer sah, mit einem Satze hinein. In diesem Augenblick lugte der Aufseher durch die andere Tür und war sehr verwundert, als er den Assistenten gewahrte.
»Sie leben noch?« frug letzterer erstaunt.
»Hat er Ihnen auch mit dem Dinge vor dem Gesicht herumgefuchtelt?«
»Mit dem Revolver ? Freilich. — Doch, wo ist er?«
»Wahrscheinlich längst über alle Berge.«
»Er hat den neuen Apparat gestohlen, der Schurke.«
»Ich will nicht Gallatin Whitney heißen, wenn wir uns nicht von einem schuftigen Yankee übertölpeln ließen.«
»Woraus schließen Sie das?«
»Sein AngloAmerikanisch muß Ihnen doch auch aufgefallen sein, ... ein Yankee war's vom reinsten Wasser.« Bei dieser Behauptung blieb der Aufseher.
»Seien wir noch etwas vorsichtig,« meinte der Assistent.
»Der Mann ist sicher längst am Fuße des Caltonhügels.«
»Ob wir Lärm schlagen?«
»Ich werde sofort das Polizeiamt benachrichtigen,« erwiderte Gallatin Whitney.
Eine weitere Beobachtung konnte, jetzt, nachdem der raumdurchdringende Okularansatz entwendet worden war, nur noch mit Hülfe des Kometensuchers vorgenommen werden. In Gedanken bangte es dem Assistenten bereits, was wohl Direktor Smith zu dem Raube sagen würde. Unerklärlich war es dem jungen Astronomen, woher der Fremdling von der Existenz des MultiMikroapparates Kenntnis erhalten hatte, und was er mit dem Raube bezweckte.
Am andern Morgen fand sofort eine Konferenz zwischen Smith, Vane und noch anderen Mitgliedern der Royal Society statt. Eingehend erörterte man den nächtlichen Einbruch auf dem Observatorium, und es dämmerte bei dem einen oder anderen, daß hier wohl die amerikanische Politik ihre Hand im Spiele habe.
Natürlich war sofort seitens der Polizeiorgane das Nötige getan worden, doch alle Bemühungen schienen erfolglos zu sein. Mr. Schoonmaker war und blieb verschwunden, und mit ihm das kostbare Instrument.
Noch zwei Nächte hindurch gelang es mittels des Kometensuchers den Lichtschein, welchen das Vehikel in bestimmten Intervallen aufblitzen ließ, wahrzunehmen; dann aber — es war die fünfte Nacht nach der Abfahrt — wurde jedes weitere Beobachten unmöglich. Vermutlich war die optische Kraft des Kometensuchers zu gering, um dem Kurse der Expedition weiter folgen zu können.
Damit erreichte die Wacht auf der Sternwarte ihr Ende, und die neugierige Welt mußte sich bis zur Rückkehr der Expedition gedulden, um über den Verlauf derselben weiteres zu erfahren. Am schmerzlichsten empfanden dies die alltäglich auf der Sternwarte vorsprechenden Vertreter der Presse, welche doch gar zu gern fortgesetzt sensationelle Nachrichten über die Marsexpedition ausgestreut hätten.
Die Schnelligkeit, mit welcher das Vehikel im Weltenraume dahinsauste, vermochte keiner der Insassen des Fahrzeuges zu verspüren. Um sie her war eine absolute Ruhe. Weder der Widerstand einer Atmosphäre noch sonst irgend etwas verriet, daß man mit einer Geschwindigkeit fuhr, die etwa tausendmal größer war, als die einer abgeschossenen Kanonenkugel.
Zu Beginn des Kapitels befand sich die Expedition bereits jenseits der Mondbahn. Nach Zurücklegung der ersten 50 000 Meilen Weges, welcher rund zehn Stunden in Anspruch genommen hatte, weil anfänglich die Anziehungskraft der Erde noch zu stark auf das Vehikel einwirkte, erhöhte sich das Fahrttempo mehr und mehr in dem Verhältnis, als wie die irdische Gravitation mit dem Quadrat der Entfernung abnahm.
Der Mechanismus des Vehikels funktionierte unter der Leitung seines genialen Erfinders vortrefflich. Auch die zur Bereitung frischer Atmungsluft und zur Aufsaugung und chemischen Bindung der von den Insassen des Fahrzeuges ausgeatmeten Kohlensäure dienenden Vorrichtungen ließen in ihrer Tätigkeit nichts zu wünschen übrig.
»Sapperlot!« sagte der Seapoyhauptmann, als er eben damit beschäftigt war, sich eine seiner voluminösen Zigarren anzuzünden, und Mac Milford ein Votum dagegen einlegte. »Wenn ich nicht mehr rauchen darf, dann gehe ich elend zugrunde.«
»Bedauere, mein Lieber. Sie verderben mir hier die ganze Atmosphäre,« erwiderte der auf alles sorgsam bedachte Leiter der Expedition.
»Dann wird meine geistige Spannkraft bald nachlassen,« brummte Palgrave.
»Das Rauchen ließe sich nur ermöglichen, wenn Sie genau nach meinen Vorschriften verfahren,« meinte Mac Milford, indem er seinen Reisegenossen auf die Schulter klopfte.
»Vorschriften? ... Alle befolge ich!«
»Ich werde Ihnen einen Behälter zur Verfügung stellen, welcher etwas verflüssigte Luft enthält. Sobald Sie dann Rauchlust verspüren, öffnen Sie den Verschluß des Gefäßes und blasen die Rauchwolken gegen die Öffnung. — Verstanden?«
»Und dann?« frug Palgrave etwas verwundert.
»Sehr einfach; der Rauch wird sich, wenn er über die verdampfende Luft dahinstreicht, als Kohlensäureschnee sofort niederschlagen und ist so für unsere Lungen unschädlich gemacht.«
»Pech und Schwefel!« rief der Invalide; »das nenne ich eine feudale Idee.«
»Vortrefflich!« stimmte Jenkinson bei, der auch nie ein Verächter eines guten Krautes gewesen war und ebenfalls Rauchlust verspürte.
»Ich hätte große Lust, ein dreifaches kräftiges Hurra auf Sie auszubringen,« ließ sich Palgrave vernehmen.
»Schonen Sie Ihre Lunge, mein lieber Hauptmann,« meinte Mac Milford lächelnd und reichte diesem einen Behälter, den er mit flüssigem Fluidum gefüllt hatte.
Neugierig scharten sich jetzt alle um das Oberhaupt der Expedition, der den Behälter öffnete und Palgrave nunmehr das Entzünden seiner Zigarre gestattete.
Wie vorausgesagt, wurde der Dampf der Zigarre durch die fabelhafte Kälte, welche dem Gefäße entströmte, zu einer schneeigen Masse niedergeschlagen; ein Schauspiel, das sich seltsam ausnahm und an das Ausströmen der flüssigen Luftwolken an jenem Abend im Saale der Royal Society lebhaft erinnerte.
»Die flüssige Luft ist ein wahrer Zauberer,« versetzte Jenkinson.
»Wenn es den Herren Vergnügen macht, die Wunder, welche mit Hülfe des Fluidums vollbracht werden können, kennen zu lernen, so bin ich gern bereit, gelegentlich einer Stunde, wo uns alle die Langeweile plagt, dieselben ad oculos vorzuführen,« sagte der Gelehrte.
»Arrangieren Sie nur eine solche Zaubervorstellung, und Sie werden in mir sicher einen vergnüglich dreinschauenden Zuhörer finden,« erwiderte Jenkinson.
Palgrave und Morton stimmten bei. Letzterer schien noch immer nicht der Stimmung Herr geworden zu sein, in welche ihn der Abschied von seiner Gattin versetzt hatte.
Während sich nun Palgrave dem Genusse des Rauchens hingab und lustig die blauen Wolken gegen das Gefäß blies, studierte Jenkinson die letzten Ausgaben verschiedener englischer und amerikanischer Zeitungen, welche ihm kurz vor der Abfahrt als geistige Lektüre mit auf den Weg gegeben waren. Morton dagegen starrte eine Zeit hindurch in die unermeßliche Ferne des Weltalls hinaus; es schien fast, als ob ihn jetzt die Teilnahme an der Expedition reue.
Mac Milford richtete seine Aufmerksamkeit unausgesetzt auf den Kurs des Fahrzeuges, weil er vor wenigen Minuten ein leichtes Pendeln des Vehikels zu verspüren geglaubt hatte; eine Bewegung, die er sich nicht zu erklären vermochte.
»Wir fahren jetzt schon vierzehn Stunden,« meinte der Professor, als er seinen Chronometer betrachtete.
»Und w e l c h e n Weg haben wir bereits zurückgelegt?« frug Morton, aus seinem Sinnen auffahrend.
»Da sich die Fahrgeschwindigkeit von Minute zu Minute gesteigert hat, so dürfte der Abstand von der Erde 80 bis 90 000 Meilen betragen.«
»Nette Tour schon,« versetzte Jenkinson.
»Auf irdische Verhältnisse übertragen, würde die zurückgelegte Strecke etwa 18 mal dem Umfang unserer geliebten Mutter Erde entsprechen,« gab Mac Milford zurück.
»Acht Tage und ebensoviel Nächte werden wir also in diesem Kasten zubringen,« ließ sich nun des weiteren Palgrave vernehmen und versuchte einen Ringel aus Tabakrauch zu blasen, um diesen dann, als eisigen Reif langsam zu Boden fallend, zu betrachten.
»Ja, mein Lieber, wir müssen so gut wie möglich versuchen, der Langeweile Herr zu werden.«
»Wenn ich wenigstens Waffen revidieren und Munitionen prüfen könnte ...« murmelte der Seapoyhauptmann.
»Und ich würde mich gern mit dem Zubereiten pikanter Mahlzeiten beschäftigen,« äußerte der Reporter.
»Ja, meine Herren, in dieser Hinsicht kann ich weder dem Wunsche des einen noch des andern gerecht werden, denn ich habe, wie Sie wissen, Waffen sowohl wie gewöhnlichen irdischen Proviant als unnötigen Ballast betrachtet.« Mit diesen Worten schaute der Leiter der Expedition durch einen kleinen Tubus, der auf einem besonderen Tischchen in der Nähe der Glasverschalung, welche den Blick ins Weltall gestattete, montiert war.
Es herrschte nach den letzten Worten fast zehn Minuten hindurch tiefes Schweigen, bis die Insassen des Fahrzeuges plötzlich durch einen Stoß und dumpfen Ton aufgeschreckt wurden.
»Was war das?« riefen Jenkinson und Palgrave wie aus einem Munde. Beide waren dabei von ihren Sitzen aufgesprungen und schauten Mac Milford an. Auch Morton wendete sich fragenden Blickes um.
»Vermutlich ein Meteorit, der die Flugbahn unseres Vehikels kreuzte,« erwiderte im beruhigenden Tone der Alte.
»Wenn nun einmal eine solche kosmische Kanonenkugel unser Fahrzeug verletzt?« frug ängstlichen Tones Jenkinson und schaute in den Weltenraum hinaus, um den vermutlichen Störenfried zu entdecken.
»Hm ... hm ...« meinte Mac Milford. »Wir werden immerhin mit solchen Kobolden zu rechnen haben. Solange die Boliden klein sind, können sie uns nicht viel anhaben; einen Zusammenstoß mit einem größeren muß man eben nach Möglichkeit zu vermeiden suchen.«
»Donner und Doria!« rief der Seapoyhauptmann. »Einer solchen Kanonade ständen wir hier freilich völlig machtlos gegenüber.«
»Bei dieser Gelegenheit möchte ich die Herren darauf aufmerksam machen, daß uns die Passierung eines Sternschnuppenschwarmes auf dem weiten Wege zum Mars sicherlich kaum erspart bleiben wird,« bemerkte der Gelehrte, und sein forschendes Auge schien die Tiefen des Weltalls in der Richtung der Flugbahn durchbohren zu wollen.
»Famose Aussichten,« meinte Jenkinson zu Morton.
Morton zuckte mit den Achseln und erwiderte nichts.
»Wenn die Fahrt durch einen Sternschnuppenschwarm glatt vor sich geht, will ich Indien nie gesehen haben,« rief der Seapoyhauptmann.
»Nicht gleich das Schlimmste befürchten,« erwiderte Mac Milford. »Auf meiner Fahrt zum Monde habe ich ebenfalls einen Meteoritenschwarm passiert.«
»Und er hat Ihnen nichts geschadet?« ließ sich Jenkinson vernehmen. »Ja, zum Kuckuck, wie groß sind denn die Dinger eigentlich?«
»Verschieden groß, mein Lieber. Bald wie ein Ei, bald wie eine Faust, bald wie ein Mannskopf; jedoch sind Boliden von der Größe unseres Fahrzeuges und darüber hinaus auch gerade keine Seltenheiten,« belehrte der Alte seinen Reisegenossen.
»In Anbetracht dessen tragen wir unsere Haut doch wirklich zu Markte,« ließ sich Jenkinson vernehmen.
»Na, mir soll's gleich sein, wo mich mein Schicksal ereilt,« sagte Palgrave. »Sterben wir, so sterben wir für eine gute Sache.«
»Schön gesagt,« meinte Jenkinson. »Sehr schmackhaft finde ich die Sache freilich nicht.«
Eine Weile hing nun jeder seinen Betrachtungen über die in Aussicht stehenden Gefahren nach. Währenddessen sondierte Mac Milford eifrig das Weltall; die scharfe Linse seines Tubus ließ aber nach Verlauf einer Viertelstunde keine weiteren kosmischen Störenfriede gewahr werden.
»Meine Herren!« sagte Mac Milford nach einiger Zeit. »Ich vermute, daß bei Ihnen der Appetit auf eine Mahlzeit rege sein wird.«
»Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen,« rief Jenkinson.
»Ich vermute, Sie wollen uns mit Ihrem Stärkemehlkuchen aufwarten. — Gegessen habe ich die Dinger zwar noch nicht, doch verspreche ich mir nicht gerade Gutes von ihrem Geschmack,« sagte Morton, der tatsächlich Appetit verspürte.
»Besonders verdaulich sollen Ihre Hungerstiller auch nicht sein,« pflichtete der Invalide den Worten des Ingenieurs bei.
»Sie haben eine treffliche Meinung von dem konzentrierten Proviant, den ich mitführe,« entgegnete der Gelehrte und konnte sich eines Lachens nicht enthalten. Der ernste Mann lachte eigentlich nur selten; die Ansicht über seine Kuchen fand er aber doch zu komisch.
»Ein gebratenes Huhn wäre mir lieber,« hörte man den Reporter sagen.
»Nun, ich denke, während der Überfahrt können wir kulinarische Genüsse schon acht Tage entbehren,« meinte Morton.
»Da unser Freund Jenkinson die Bewirtung mit der konzentrierten Nahrungsform, welche ich in Aussicht gestellt habe, recht barbarisch zu finden scheint, will ich ihn damit trösten, daß ich für einige Mahlzeiten allerlei Sachen mitgenommen habe, die ihm gewiß munden werden.«
Bei diesen Worten des Professors blickte Jenkinson erfreut auf.
»Ich führe allerlei Delikatessen mit; viel zwar nicht, aber hinreichend, um den Magen nicht ganz von irdischen Dingen zu entwöhnen.«
»Zum Beispiel?« platzte Jenkinson heraus.
»Gänseleberpastete ...«
»Eine ausgezeichnete Speise,« erwiderte der Reporter und schnalzte dabei mit der Zunge.
»Fleischaufschnitt aller Art,« fuhr Mac Milford fort. —
»Hoffentlich überraschen Sie uns auch mit einem guten Tropfen,« meinte der Hauptmann.
»Stout ... Porter, wäre ganz nach meinem Geschmack,« pflichtete Jenkinson bei.
Mac Milford nickte und machte sich daran, einen Behälter zu öffnen, dem er allerlei appetitliche Dinge entnahm. Jenkinson war ihm dabei nur zu gern behülflich. Schnell wurde dann auf dem Mitteltische eine kalte Mahlzeit hergerichtet. Wenige Minuten später saß die kleine Gesellschaft und tafelte fleißig.
Nach der vierzehnstündigen Fastenzeit mundete es allen trefflich; die Stimmung eines jeden hob sich, besonders die Jenkinsons.
Während man eifrig dabei war, den Gerichten und Getränken zuzusprechen, ertönte plötzlich ein Poltern und Prasseln an den Wänden des Fahrzeuges, und letzteres geriet gleichzeitig in eine solche schwankende Bewegung, daß einige Gläser, angefüllt mit Stoutgebräu, das Übergewicht bekamen, und der braune Trank sich über den Tisch ergoß.
Alle sprangen auf. Was war wieder passiert?
Mac Milford eilte an die Glasverschalung und blickte hinaus.
»Die Kanonade ist eröffnet,« rief der Seapoyhauptmann. »Empfehlen wir unsere Seele dem Teufel.«
»Was ist los?« schrie Jenkinson.
Auch Morton schien das Schlimmste zu befürchten.
»Ruhe, meine Herren, Ruhe!« rief der alte Gelehrte dazwischen, nachdem er mit einem Blick die ganze Situation überschaut hatte. »Wir sind soeben allem Anschein nach in einen Meteorschwarm geraten. Jetzt heißt es, den Kurs des Fahrzeuges so zu ändern, daß wir mit den Meteoriten ziemlich eine Richtung und eine Geschwindigkeit innehalten.« Mit diesen Worten setzte der Lenker des Fahrzeuges einen Mechanismus in Bewegung, indem er einige Hebel auslöste, wodurch eine Richtungsänderung im Kurse erzielt wurde.
»Wenn wir den Schwarm durchqueren, durchbohren uns die Dinger sicher wie Geschosse,« meinte Palgrave und betrachtete die seitlich von dem Vehikel vorbeisausenden dunklen Körper.
»Durch müssen wir,« meinte Mac Milford, »sonst verlieren wir zu viel Zeit, bis der Schwarm vorüber ist.«
»Nun, ich denke, wir schlagen unser Leben nicht so leicht in die Schanze,« preßte Jenkinson hervor, dem es bereits zumute war, wie jemandem, der gehängt werden sollte.
»Durch müssen wir,« wiederholte Mac Milford, »selbst auf die Gefahr hin, daß das Fahrzeug kleine Defekte erleidet.
»Hoffentlich erstrecken sich diese Defekte nicht bis auf meine Gliedmaßen,« sagte der Berichterstatter.
Trotz der gefahrvoll aussehenden Lage konnte es der Invalide nicht über sich bringen, das feige und angstvolle Benehmen seines Reisepartners zu rügen. »Man hätte Sie mal so sechs Monate als Kriegsberichterstatter in das Schlachtengetümmel schicken sollen. Hei! wie wären Ihnen da die Kugeln um die Ohren herumgepfiffen, und wie hätten die platzenden Granaten ...« Hier wurde der Sprecher durch einen heftigen Ruck, den das Vehikel erlitt, und durch ein krachendes Getöse unterbrochen. Es hatte den Anschein, als wenn sich alles Unterste zu oberst kehrte; das Fahrzeug neigte sich nämlich in diesem Augenblick völlig auf die Seite, so daß alle, selbst der kaltblütige Seapoyhauptmann bestürzt waren und zu Boden geworfen wurden. Bei dieser Gelegenheit hatte sich auch der Behälter mit flüssiger Luft über Jenkinson und Palgrave geleert.
»Tod und Teufel!« fluchte der Seapoyhauptmann, dem die Glieder zu erstarren begannen.
Jenkinson wand sich wie ein zertretener Wurm in der eisigen Flut auf dem Boden.
Mac Milford sprang sofort hinzu und riß mit Mortons Hülfe seinen Gefährten die von der flüssigen Luft benetzte Kleidung vom Körper. Nur weniger Augenblicke bedurfte es, um die beiden halberstarrten Genossen vor dem völligen Erfrieren zu bewahren. Pustend und stöhnend ob der fabelhaften Kälte, welche sie bis ins Mark ihrer Knochen erschauern machte, hatten sich Palgrave und Jenkinson mühsam wieder vom Boden erhoben und flüchteten in die Ecken des Fahrzeuges.
Bald war nun die entleerte flüssige Luft so weit verdampft, daß alle in einen eisigen Nebel gehüllt wurden, der es nicht gestattete, daß man die Hand vorm Auge sehen konnte. Die Kälte, welche mit einem Male im Innern des Fahrzeuges herrschte, spottete einer Nordpoltemperatur. Zähneklappernd und mit starren Gliedern vermochte keiner irgend etwas zu tun, um die Lage zu verbessern.
Erst nach einigen Minuten gelang es Mac Milford den Thermophor, einen Wärmespender, welcher sich an dem einen Ende des Fahrzeuges befand, zu erreichen und durch Öffnen eines Ventils hochgradig erhitzte Luft austreten zu lassen. Bald wurde nun die Temperatur wieder so weit erträglich, daß man die erstarrten Glieder zu bewegen vermochte.
Inzwischen hatte das Getöse und die fortgesetzte Erschütterung von außen her noch immer nicht nachgelassen. Es war eine verzweifelte Situation, in der sich die Insassen des Vehikels befanden; dazu kam noch der Höllenlärm, der fast jedes Wort unverständlich machte.
»Uff!« stöhnte Mr. Jenkinson aus einer Ecke.
»Brr!« machte Morton in dem anderen Winkel.
»So eine Hundekälte,« stieß Palgrave hervor, als sich auch seine Lebensgeister wieder zu regen begannen.
»Ein kleiner unvorhergesehener Vorfall,« sagte Mac Milford mit erzwungenem Lächeln. »Meine Herren, das hätte uns um Haaresbreite umgebracht.«
Nachdem sich der eisige Nebel durch die Wirkung des Thermophors ganz niedergeschlagen hatte, widmete sich Mac Milford wieder der Leitung seines Fahrzeuges.
»Seien Sie nunmehr unbesorgt, liebe Freunde, wir werden nicht noch einmal in eine solche Situation geraten. Und was es den Meteoritenschwarm anbetrifft, so wird er uns nur wenig anhaben.«
»Schade um den Stout, der jetzt statt durch unsere Kehle auf dem Boden fließt,« ließ sich Jenkinson vernehmen, als er wieder durch die erhöhte Temperatur in die frühere Behaglichkeit zurückversetzt wurde.
Das Kreuzen des Sternschnuppenschwarms gelang wider Erwarten besser, als man gedacht hatte; freilich dauerte der Anprall noch stundenlang an, denn man war gezwungen, mitten im Strome der Meteoriten bei nur allmählicher seitlicher Ausweichung so lange zu verharren, bis das Vehikel jenseits aus dem Bereich der Flut so unendlich vieler Körperchen gelangte.
Kurz nach Passierung des Meteoritenschwarmes ordnete Mac Milford an, daß sich immer zwei von ihnen dem Schlummer, der sie allmählich überkam, hingeben sollten.
Während sich nun Jenkinson und Palgrave zum Schlafe niederließen, unterwies Mac Milford den Ingenieur in der Leitung des Vehikels und machte ihn mit der Armatur und allen Mechanismen seines Fahrzeuges vertraut. Morton versuchte sich in einigen praktischen Übungen, indem er bald diesen, bald jenen Hebel auf Geheiß seines Lehrmeisters bewegte, um so die Wirkung kennen zu lernen.
Nachdem sich der Ingenieur mit dem Nötigsten bekannt gemacht hatte, gab er sich dem Studium der auf dem Tische ausgebreiteten Himmelskarte hin. Auf derselben war von Mac Milford der Kurs zum Mars mittels einer weißen Linie genau eingezeichnet worden; alle die Stellen, wo man Kometenbahnen oder Meteorschwärme kreuzen mußte, hatte der Professor mit einer roten Kurve bezeichnet.
Eine Zeit hindurch herrschte nun Totenstille im Innern des Fahrzeuges; nur die Atemzüge der beiden Schlafenden ließen sich vernehmen.
Es war just in dem Augenblicke, wo der Invalide mit einem kräftigen Schnarchen einsetzte, als auch Morton von großer Müdigkeit befallen wurde und seine Augen sich bald im Schlummer schlossen.
Wie lange er geschlafen haben mochte, darüber konnte sich Morton, als er wieder erwachte, keine Rechenschaft geben. Als sein Blick auf den alten Gelehrten fiel, bemerkte er, daß auch diesen der Schlaf übermannt hatte. Mac Milford saß mit nach vorn übergebeugtem Körper in seinem Lehnsessel.
Erschreckt sprang der junge Ingenieur plötzlich auf. War doch das Vehikel ohne Aufsicht im Weltenraume dahingesaust; konnte es nicht an irgend einem Gestirn, welches möglicherweise die Flugbahn des Fahrzeuges querte, zerschellen? Der Gedanke spannte jeden Nerv Mortons an. Seine Müdigkeit war im Nu verflogen. Er hielt es nunmehr für geraten, so gern er auch Mac Milford den verdienten Schlaf gönnte, diesen zu wecken. Sanft berührte er ihn mit der Hand. Der Alte schien aber in sehr tiefen Schlummer gefallen zu sein, denn auch ein wiederholter Zuruf weckte den Schläfer nicht. Morton fiel die Regungslosigkeit und das schwache Atmen des völlig in sich zusammengesunkenen Professors auf. Das machte den jungen Ingenieur stutzig und ängstlich. Er ergriff schließlich mit der unbestimmten Ahnung, daß Mac Milford wohl nicht von einem natürlichen Schlaf übermannt worden sei, die schlaff herabhängende Hand desselben und suchte die Schläge des Pulses festzustellen. Heftig erschreckt bemerkte er, daß fast gar keine Pulstätigkeit zu verspüren war. Angesichts dessen hielt er es für geraten, sofort die beiden anderen Schläfer zu wecken, um sie auf den ohnmachtsähnlichen Zustand Mac Milfords aufmerksam zu machen.
»Was ist?« Mit diesen Worten fuhr der Invalide aus seinem Schlummer empor, als er von Morton sanft gerüttelt wurde.
Ohne sofort eine Antwort zu geben, weckte der Ingenieur auch Jenkinson, welcher sich verschlafen die Augen rieb und von der Störung nicht sonderlich erbaut war.
»Ich mußte Sie wecken,« sagte Morton zu Palgrave gewendet. »Mir bangt darum, daß unserem alten Freunde etwas zugestoßen ist. Sehen Sie nur, wie in sich zusammengesunken er dasitzt. Ein Pulsschlag ist bei ihm gar nicht zu verspüren, und wenn nicht ein schwaches Atmen vorhanden wäre, würde ich glauben, daß er nicht mehr am Leben sei.«
»Alle Wetter!« Mit diesen Worten sprang Palgrave in die Höhe und eilte auf den Schlafenden zu.
Inzwischen hatte sich auch Jenkinson erhoben und wurde von Morton über die Situation verständigt.
»Fatal, sehr fatal, wenn unserem lieben Freunde etwas zugestoßen sein sollte. Der Gedanke ist mir entsetzlich, denn ohne seine Leitung werden wir den Mars nie erreichen, und in alle Ewigkeit hinausfahren bis uns Luft und Nahrung ausgeht und wir unser Leben quittieren müssen.«
Morton beachtete das Lamento des jammernden Reporters nicht; mit Hülfe des Hauptmanns suchte er den Oberkörper des Alten im Sessel aufzurichten und den Kopf nach hinten zurückzulegen.
»Seltsam,« meinte Morton, »ich kann den Kopf nicht zurückbiegen, der Hals scheint steif zu sein.«
Palgrave zog seine Stirn in Falten. Ihm schien der Fall recht bedenklich. »Vielleicht hat ihn ein Schlaganfall getroffen,« sagte er.
»Ich vermute eher, daß es eine Nachwirkung der Nervenerschütterung ist, welche er bei dem Experiment im Atomistikum erlitten hat.«
»Sie mögen das Richtige getroffen haben,« pflichtete Palgrave bei und untersuchte Puls und Atmung des Schläfers.
»Nun?« frugen Morton und Jenkinson gleichzeitig.
»Nur ganz schwache Lebenszeichen,« erwiderte der Invalide. »Was hier zu tun ist, das weiß ich nicht, ich verstehe mich auf die Medizin ebensowenig, wie Brahma, Vischnu und Schiwa auf eine katholische Messe.«
Jenkinson meinte, daß Einflößen von Wein oder ähnlichem vielleicht die Lebensgeister des Alten wieder zurückrufen würde.
»Ach was,« brummte der Invalide, »Alkohol hilft keinem Kranken auf die Beine.«
»Da seid Ihr aber schlecht unterrichtet, bester Freund,« gab Jenkinson zurück. »Wein wird schon von alters her als Belebungsmittel geschätzt.«
»Erstens haben wir keinen Wein, und zweitens halte ich absolute Ruhe für viel vorteilhafter,« erwiderte der Seapoyhauptmann in etwas gereiztem Tone, denn er konnte es nicht recht vertragen, wenn man ihm fortgesetzt Widerspruch entgegenbrachte.
So verging eine Viertelstunde, ohne daß sich der Zustand des Alten auch nur im geringsten änderte; die tiefe Apathie, in welche er versunken war, schien doch länger anzuhalten.
Morton fand die Lage jetzt natürlich recht bedenklich, wenngleich er auch kurz zuvor von Mac Milford mit der Dirigierung des Fahrzeuges näher vertraut gemacht worden war.
»Wie steht's mit unserem Kurs?« frug Palgrave.
»Vom Mars ist gar nichts mehr zu sehen,« warf Jenkinson ein, der eifrig das Gestirn im Tubus suchte, welches, wie Mac Milford hatte verlauten lassen, stets im Gesichtsfelde des Fernrohres bleiben mußte. »Wir sind vom Kurse abgekommen.«
Morton warf einen Blick durch das Rohr und nickte. »Böse Sache!« meinte er dann. »Sind wir nach links oder rechts abgewichen, nach oben oder unten? Das ist schwer zu beurteilen.«
»Tod und Teufel!« rief Palgrave. »Darüber müssen wir uns bald einig werden. Wir können doch nicht ins Blaue hineinfahren.«
»So müssen wir den Mars mit dem Tubus aufsuchen,« erwiderte Morton.
»Verstehen Sie sich darauf,« gab der Invalide zurück. »Es ist das eine schwierige Sache, ein Stern sieht aus wie der andere.«
»Wir haben einen Sextanten. Sie, als Ingenieur, müssen doch mit der Handhabung eines solchen Dinges etwas vertraut sein.«
»Mein lieber Mr. Jenkinson, die Benutzung des Instrumentes zur Ortsbestimmung des Planeten erfordert so mancherlei, was wohl ein Astronom oder ein Seemann weiß, aber nicht ein simpler Ingenieur.«
»Verfluchte Lage!« knurrte der Invalide.
»Wenn ich nicht schon mein Testament gemacht hätte, würde ich es jetzt tun,« sagte Jenkinson.
»Studieren wir die Himmelskarte,« schlug Palgrave vor.
Alle drei neigten sich nunmehr über die auf dem Tischchen ausgebreitete Sternkarte.
»Mars ... Mars ..., wo ist der vermaledeite Planet?« rief Palgrave und fuhr mit dem Finger suchend über die Karte.
»Hier, im Sternbilde des Skorpions,« bedeutete ihm Morton.
»Die lange weiße Linie ...«
» ... ist die Flugbahn unseres Fahrzeuges,« fiel ihm der Ingenieur ins Wort.
»Aus dem Sterngewimmel werde ich nicht klug.«
»Ich auch nicht,« stimmte Jenkinson bei.
»So bleibt uns nichts anderes übrig, als das Vehikel so lange seinem Schicksale zu überlassen, bis unser alter Freund wieder erwacht ist.«
»Was wollen wir aber tun, wenn Mac Milford das Zeitliche segnen sollte?« meinte Morton.
Der Gedanke ließ allen den Ernst der furchtbaren Lage erkennen.
Jenkinson entsetzte sich. »Es ist nicht auszudenken,« meinte er. »In Gesellschaft einer Leiche in die fernen Tiefen des Weltalls führerlos hinauszufahren.«
»Wir würden über kurz oder lang sicher auf irgend einem Gestirne Schiffbruch erleiden,« sagte Palgrave, und der Ton seiner Stimme ließ darauf schließen, daß er bereits kurzer Hand mit dem Leben abgerechnet zu haben schien.
Es gingen nun Stunden dahin, ohne daß irgend ein Hemmnis die Fahrt des Vehikels störte. Die Lage war und blieb aber eine kritische, solange nicht Mac Milford wieder zum Bewußtsein zurückkehrte.
Ratlos standen die drei Männer an der Glasverschalung des Fahrzeuges und blickten hinaus in die dunkeln Tiefen des unermeßlichen Weltalls. Jeder schien seinen Gedanken nachzuhängen, nur von Zeit zu Zeit sprach der eine oder andere einige Worte oder blickte auf den noch immer regungslos in seinem Sitze verharrenden greisen Gelehrten.
»Was ist die Uhr?« frug Palgrave nach einiger Zeit.
»Drei Uhr zwanzig Minuten,« entgegnete Morton, einen Blick auf seinen Chronometer werfend.
»Nacht oder Tag?«
»Tageszeit ... wir sind jetzt rund vierundzwanzig Stunden unterwegs.«
»So hätten wir den achten Teil der Strecke bereits zurückgelegt,« ließ sich Jenkinson vernehmen.
»So etwa.«
»Dreißig Millionen Meilen dividiert durch acht gibt annähernd vier Millionen Meilen; das wäre also unsere jetzige Entfernung von der Erde.«
»Hm, man sollte doch meinen, daß nach Zurücklegung einer solchen Wegstrecke Vater Mars uns erheblich größer erschiene, als die Gestirne in seiner Nachbarschaft.«
»Mr. Jenkinson, Sie können, da sich der Planet noch immer weiter von uns entfernt befindet, als wie die Sonne von der Erde, unmöglich damit rechnen, daß Mars, der noch dazu bedeutend kleiner ist als unser Erdball, Ihrem Auge auch nur eine Spur heller erscheint, als die vielen Fixsterne erster Klasse,« belehrte Morton den Vertreter der Presse.
Wieder verging eine Weile, während welcher keiner ein Wort sprach. Endlich bemerkten sie aber, daß sich der Schläfer in seinem Sessel rührte. Wie der Blitz drehten sich die Männer herum und richteten ihre Blicke auf Mac Milford.
»Er hat sich soeben bewegt.«
Alle drei näherten sich jetzt dem Alten, welcher tatsächlich zum Bewußtsein zu kommen schien. Wenige Augenblicke später öffnete er denn auch die Augen und sah verwundert seine Reisegefährten an.
»Er ist uns erhalten geblieben,« murmelte freudig bewegt Morton und ergriff Mac Milfords Hand.
»Habe ich geschlafen?« frug der Alte und hob sich empor, was ihm aber ziemliche Mühe verursachte.
»Sie waren in einen ohnmachtsähnlichen Schlummer versunken,« erwiderte Morton. »Doch dem Himmel sei Dank, daß Sie wieder wohlauf sind.«
»Wir glaubten schon ...« ließ sich Jenkinson aufatmend vernehmen.
»Sie glaubten doch nicht etwa, daß mich der Tod hier ereilen könnte? — Freilich, gegen diesen Gesellen ist niemand gefeit.« Der Alte erhob sich von seinem Sitze, und ein erster Blick hinaus ins Weltall überzeugte ihn, daß das Vehikel völlig vom Kurse abgewichen war.
»Wissen Sie, meine Herren, wo Sie gelandet wären, wenn ich das Bewußtsein nicht wieder erlangt hätte? — — Auf der Wega, im Sternbild der Leyer, und zwar wären Sie in etwa fünf- bis sechshundert Jahren dort angekommen. Das Fahrzeug hätte sich in die glutflüssige Masse dieser gewaltigen Sonne mit unermeßlicher Geschwindigkeit hineingestürzt und wäre verbrannt.«
»Sechshundert Jahre ... danke. Eine solche Dauerfahrt überstände kein Methusalem,« meinte Jenkinson, dessen gute Laune wiedergekehrt war.
Der Alte machte sich sofort damit zu schaffen, das Vehikel auf sein Ziel zu dirigieren.
»Mars befand sich bereits unter unseren Füßen,« bemerkte er lächelnd.
»Da haben wir ihn freilich nicht gesucht,« erwiderte der Invalide.
»Es ist unerklärlich, wie das Fahrzeug so aus seinem Kurse geraten konnte.«
»Wahrscheinlich wirkte die Anziehungskraft gewisser Gestirne auf uns ein,« sagte Morton.
»Ich wüßte nicht, welche ..., doch halt! Sollte bereits der kleine Planet Eros, dessen Bahn wir auf alle Fälle in den nächsten Tagen kreuzen werden, schon irgend welchen größeren Einfluß auf uns ausüben?«
»Das ist aber nicht gut möglich. Eros ist ein Sternlein, dessen Oberfläche bei weitem nicht das Areal einnimmt, welches England umfaßt.«
»Also ein Liliputaner unter den Sternen,« meinte Palgrave.
»Sie haben den richtigen Ausdruck gewählt,« erwiderte Mac Milford.
»Würde es sich nicht verlohnen dem Miniatursternchen einen Besuch abzustatten?« frug Jenkinson.
»Ich möchte nicht gern von dem getroffenen Programm abweichen,« erwiderte der Alte. »Zudem, was wollen Sie dort? Entweder befindet sich das Gestirn noch in seiner Jugendepoche ...«
»Sie meinen, Eros ist noch nicht erkaltet,« fiel ihm Morton ins Wort.
»Entweder das, oder der Planet repräsentiert sich in dem Zustand der Erstarrung wie der Erdenmond. — Eisig, unwirtlich, und vielleicht längst ohne jedes Lebewesen.«
Erneut weihte jetzt Mac Milford sowohl Morton als seine beiden Reisegefährten in die Steuerung seines Vehikels ein und belehrte sie in einem längeren Vortrage über alles, was mit der Lenkung und Einhaltung des Kurses in Verbindung stand. Er machte sie auch damit bekannt, wie Mars leicht wieder in den Tubus einzustellen sei, falls das Vehikel durch irgend welche unerklärliche Gravitationswirkung von unbekannten Zentren her in seiner Flugbahn abgelenkt würde.
»Passen Sie genau auf, meine lieben Freunde; behalten Sie alles, worüber ich Sie belehrt habe, denn es ist leicht möglich, daß Sie über kurz oder lang meine Leitung wieder entbehren müssen; die tiefen Ohnmachtsanfälle scheinen bei mir periodisch wiederzukehren. — Übrigens möchte ich Sie auch noch darauf aufmerksam machen, daß mein Kollege Smith auf der Erde die Fahrt unseres Vehikels unausgesetzt verfolgt. Tagsüber benutzt er dazu ein von mir konstruiertes Instrument, das ich MultiMikroapparat getauft habe. Es stellt eine eigenartige Prismenkombination dar, welche eine ins Hunderttausendfache gehende Vergrößerung gestattet, unabhängig davon, daß die bewegte Erdatmosphäre, welche sonst immer bei zu hochgetriebener Vergrößerung der okularen Beobachtung einen Strich durch die Rechnung macht. Nachtsüber versagt der Apparat natürlich; damit jedoch Smith unserm Kurs trotzdem zu folgen vermag, habe ich eine Vorrichtung am rückwärtigen Ende dieses Fahrzeuges angebracht, welche wie ein Riesenscheinwerfer grellleuchtende elektrische Wellen mehrere hundert Meilen weit nach allen Richtungen aussendet. Dieses Anodenlicht, meine lieben Freunde, zuckt aber nur von Viertelstunde zu Viertelstunde auf; das elektrische Fluidum ist zu kostbar, um es unausgesetzt ausstrahlen zu lassen.«
Mac Milford öffnete in der Rückwand des Fahrzeuges, dort, wo sich die Antikathode des Vehikels zur Aufhebung der Schwerkraft befand, eine Metallplatte, welche eine Hartglasscheibe verdeckt hatte.
Sofort strahlte eine grelle Lichtflut in die Augen der Insassen des Vehikels, so daß alle einen stechenden Schmerz in den Augen verspürten, der sie zwang, die Lider zu schließen.
»Sehen Sie das Anodenlicht?«
»Donner und Doria! — Das reine Blendwerk der Hölle!« schrie Palgrave, der sich zu nahe an die Öffnung gewagt und in die intensive Lichtflut hineingeschaut hatte, so daß ihm die Augen ganz mörderisch zu brennen anfingen.
»Das Anodenlicht scheint Sie stark geblendet zu haben?« frug teilnehmend Mac Milford. »Man schaut leider nicht ungestraft in eine Lichtfülle von etwa zwanzig Millionen Kerzenstärke.«
»Das ist schmerzhafter, als hätte man mir Vitriol in die Augen gespritzt. — Pech und Schwefel! Wie das brennt.« Der Invalide rieb sich dabei fortgesetzt die Augen.
Vier Tage nach den Geschehnissen — die Fahrt war während dieser Zeit glücklicherweise ohne jede nennenswerte Störung verlaufen — änderte sich unerwartet die Szenerie im Weltenraume. In den pechschwarzen Fernen tauchten unvermutet rechts und links, oben und unten eine kleine Zahl Weltkörper auf, die von den Strahlen der Sonne getroffen, je nach ihrem Stande zu der letzteren, bald den Anblick einer vollerleuchteten Scheibe, bald den einer Mondsichel boten.
Dieses überraschende Schauspiel zeigte sich den Insassen des Vehikels nach ihrem Erwachen aus einem langen und tiefen Schlafe. Es muß hier vorausgeschickt werden, daß sowohl der Leiter des Fahrzeuges als auch seine Reisegefährten unerwartet schnell in einen Betäubungszustand verfallen waren, der sie alle des Denkens und Handelns unfähig machte. — Was war die Ursache gewesen?
Die vier Männer waren alle ziemlich zu gleicher Zeit wieder zum Bewußtsein gelangt, noch aber lag es jedem wie ein Alb auf der Brust, und ihre mühsamen Atemzüge verrieten, daß wohl die Luftverhältnisse im Vehikel schuld daran trugen.
»Ich weiß nicht ... mir ist so schwindlig ...« preßte Morton zwischen den Lippen hervor und richtete sich mit einiger Mühe von seinem Sitze auf.
»Auch mir fällt das Atmen schwer,« stieß Jenkinson keuchend hervor.
»Wir werden ... ersticken ...« ließ sich ächzend der Invalide aus seiner Ecke vernehmen.
Mac Milford dagegen war nicht imstande, seine Lippen zu einer Erwiderung zu öffnen. Es war ihm just so, als wenn über seine Augen ein dichter Schleier gezogen wäre und ein Knebel ihn am Sprechen hindere. Der Kopf drohte ihm zu springen, kaum vermochte er einen richtigen Gedanken zu fassen.
Dieser qualvolle Zustand hielt noch einige Minuten an. Die Gesichter der Männer zeigten eine leicht bläuliche Hautfarbe, und die Augen quollen mehr oder weniger stark bei den einzelnen heraus.
Das waren alles Anzeichen, die Morton, welcher allein noch fähig zu sein schien, klare Gedanken zu fassen, verrieten, daß es sich hier um Erstickungsanfälle handle.
»Die Luft ist ...« stieß er so laut, als es seine Lunge gestattete, hervor und richtete seine Blicke auf den ihn mit halberstarrten Augen ansehenden Alten.
Mac Milford war nicht fähig, den Sinn dessen, was sein Gefährte soeben durch die paar Worte auszudrücken versuchte, zu erfassen. Erst nach einer halben Minute mochte wohl der Ausruf Mortons in seinem Gehirn Wurzel fassen und ihm die Bedeutung desselben dunkel zum Bewußtsein kommen. »Luft ... ja ... Sauerstoff ...« preßte der alte Mann zwischen den kaum geöffneten Lippen hervor.
Morton, der, wie gesagt, noch am denkfähigsten war, überkam es mit einem Male wie eine Beruhigung, daß derjenige, welcher allein Hülfe zu schaffen in der Lage war, die Ursache des qualvollen Zustandes, in dem sich alle befanden, erkannt zu haben schien. Mit Freude bemerkte er nach einer Weile, daß der Alte ihm mit zitternder Hand winkte.
Der Ingenieur trat, so schnell, als es seine matten Glieder erlaubten, zu Mac Milford hin.
Dieser erhob sich mit Hülfe Mortons von seinem Sitze und wankte auf eine Stelle zu, wo sich an der Wandung des Fahrzeuges ein durchlöchertes Metallgehäuse angebracht befand.
Jeder Schritt, den die zwei Männer taten, verursachte große Anstrengung. Es war beiden, als wenn ihnen bei der Bewegung die Luft völlig ausgehen sollte. Die Füße waren jedem schwer wie Blei; kurz, alles Anzeichen, wie sie Luftschiffer haben, wenn diese in zu hohe Regionen geraten, wo die Atmosphäre eine derartige Verdünnung besitzt, daß es den Lungen an dem nötigen Sauerstoff mangelt.
»Kurbel drehen!« entquoll es dem Munde des Alten, und er versuchte den Arm zu heben, um eine an dem Metallgehäuse befindliche Kurbel zu bewegen. Doch kraftlos und schlaff sank die Hand wieder herab, und es fehlte nicht viel, so wäre Mac Milford auf seinem Platze zusammengesunken, wenn ihn nicht der Ingenieur mit eiserner Willensstärke unter Anspannung aller schwachen Kräfte aufrecht gehalten hätte.
Jenkinson und Palgrave waren wieder in den betäubungsähnlichen Zustand wie vorher gefallen; sie lagen in sich zusammengesunken in ihren Sitzen, und nur der keuchende Atem verriet, daß noch Leben in ihnen war.
Morton versuchte nun, die bewußte Kurbel zu drehen, was auch mit großer Mühe gelang. Einmal, zweimal — bis es nicht mehr weiter ging.
Mac Milford nickte, als er dies gesehen, und gab dann Anzeichen von sich, die darauf hindeuteten, daß er zu seinem Sitze zurückzukehren wünschte. Morton begriff dies und geleitete den Alten zum nächststehenden Sessel.
Eine kleine Weile verstrich. Dann verspürten Morton und Mac Milford, daß sich ihr Zustand besserte. Es war wie mit einem Schlage; beide vermochten sich wieder mit alter Kraft aufzurichten, und das Atmen verursachte keine Beschwerden mehr.
»Es wird mir wohl,« ließ sich Morton, nachdem er einigemal recht tief aufgeatmet hatte, vernehmen.
»Wir sind der Gefahr des Todes entronnen,« sagte darauf Mac Milford, der, neu aufgelebt, seine Sprache wiedergefunden hatte.
Morton tat einige Atemzüge mit voller Lunge und bemerkte dann mit einem Blick auf die beiden bewußtlosen Gefährten: »Gott sei Dank, daß wir wieder zu Kräften gekommen sind, nun können wir auch ihnen helfen.«
»Wir wären unzweifelhaft erstickt,« meinte Mac Milford.
»Aber, um aller Welt willen, wie konnte das nur passieren?«
»Die Sauerstoffproduktion im Oxydgenerator hat versagt,« erwiderte der Alte.
»Wie ist das möglich?«
Der Professor zuckte mit den Achseln. Er schritt zu dem Apparat hin, um nach der Ursache zu forschen.
»Wir wollen uns um unsere Gefährten kümmern,« meinte der Ingenieur.
Kaum waren die Worte ausgesprochen, als sich Jenkinson und Palgrave die Augen rieben, und das schnelle Heben und Senken ihrer Brust verriet, daß sie die frische sauerstoffgeschwängerte Luft mit Behagen einsogen.
»Sie werden munter, und ich hoffe, daß es uns allen nichts geschadet hat,« sagte Mac Milford und trat zu dem Seapoyhauptmann hin, der eben im Begriffe stand, sich zu erheben.
»Uff!« rief Palgrave. »Ich glaube, wir waren betäubt ... und ich will nie einem verdammten Kuli oder Hindu das Exerzieren beigebracht haben, wenn ich nicht nahe daran war, daß mir die Luft ausging. Zum Kuckuck, hier muß doch etwas nicht in Ordnung gewesen sein.«
»Ja, lieber Hauptmann, um Haaresbreite wären wir alle Kinder des Todes gewesen,« erwiderte Mac Milford, indem er sich mit der Prüfung des verhängnisvollen Oxydgenerators eingehend beschäftigte.
»Wäre mir die Kehle nicht wie zugeschnürt gewesen, so hätte ich sicher noch vor fünf Minuten gerufen: Ein Königreich für einen Liter Sauerstoff!« sagte Morton.
Jetzt begriff der Invalide die Ursache des Unfalles.
»Holla, schauen Sie hinaus, meine Herren!« rief Mac Milford soeben. »Wenn ich nicht wüßte, daß sich der Ring der Asteroiden jenseits des Mars befände, so würde ich glauben, daß wir jetzt im Bereiche dieser kleinen Taschenplaneten sind. Nun heißt's aufpassen, und nicht kollidieren.« Schnell sprang der Alte an die Steuerung. Es war die höchste Zeit, daß er die Situation erkannt hatte, denn schon nahte man sich einer in gewaltiger Größe in der Kurslinie auftauchenden Weltkugel, die sich als riesenhafte, silberglänzende Scheibe vom tiefschwarzen Firmament abhob.
Die kleine Welt wurde von Minute zu Minute größer. Mit unverhohlenem Erstaunen betrachteten alle das Gestirn.
»Eros?« frug Jenkinson, welcher wieder vollauf munter war.
»Nein,« lautete die bestimmte Antwort des Alten.
»Dann ist es vielleicht einer der Marsmonde?« frug Morton.
»Deimos oder Phobos kann es auch nicht sein,« meinte Mac Milford. »Wir haben noch eine geraume Zeit zu fahren, bis wir in deren Nähe kommen. Es scheinen aus dem Ringe der Asteroiden versprengte Mitglieder zu sein.«
»Erwähnten Sie nicht einmal, daß auch Eros ein solches Gestirn sei?« frug Morton.
»Ganz recht,« lautete die Antwort des Professors. »Doch die Himmelskörper hier müssen weit kleiner sein, als der Eros.«
»Woraus schließen Sie das,« meinte Palgrave.
»Einfach daraus, weil wir diese versprengten Asteroiden mit unseren optischen Mitteln daheim noch nicht entdeckt haben.«
»So ...?« erwiderte in gedehntem Tone Palgrave.
Der Kurs des Fahrzeuges war von Mac Milford dergestalt geändert worden, daß der in der Richtungslinie des Vehikels fliegende Weltkörper in weitem Bogen umfahren wurde.
Kaum war man aus dem Bereich des Gestirns gelangt, so kam man in den eines anderen. Es wurden mehr denn ein Dutzend kleiner Weltkugeln umschifft. Mac Milford hütete sich, keinem zu nahe zu kommen, damit nicht die Anziehungskraft dieses oder jenes Asteroiden so stark auf das Vehikel einwirkte, daß man gezwungen war, die Antigravitationskathode fortwährend in eine andere Lage zu bringen, was stets ein heftiges Schwanken zur Folge hatte.
Nachdem man aus dem Bereich der kleinen Gestirne gekommen war, ohne eine Kollision gehabt zu haben, machte Mac Milford seine Gefährten darauf aufmerksam, daß sie den Mars bereits als große, leuchtende Scheibe sehen könnten, sobald sie einen Blick durch den Tubus werfen würden.
Einer nach dem anderen schaute durch das kleine Fernrohr. Der Planet war tatsächlich in einer Größe sichtbar, die etwa der des Mondes, von der Erde gesehen, entsprach. Deutlich erblickte man Kontinente und Meere, sah die beiden Schneekappen der Pole, und bei genauerem Hinsehen konnten auch die vielen sich kreuzenden, schnurgeraden Linien des künstlichen Kanalsystems mit Deutlichkeit erkannt werden. Der Anblick war überaus interessant.
»Da fällt mir eben ein,« rief Morton Mac Milford zu, »daß wir die Schwerkraftsscheide zwischen Erde und Mars doch längst überschritten haben müßten.«
»Richtig, der tote Punkt; davon haben wir gar nichts verspürt,« warf Palgrave ein.
»Da die Herren zu jener Zeit, wo ich unser Fahrzeug über die schwerkraftslose Stelle im Weltall lanzierte, dem süßen Schlummer huldigten, so haben Sie natürlich nicht bemerkt, wie das Vehikel eine kurze Zeit im Weltall still lag. Die Fahrt hatte sich vorher schon immer mehr verlangsamt. — Es ist nicht leicht, über einen solchen toten Punkt hinwegzukommen.«
»Schade, sehr schade, daß ich das Manöver nicht gesehen habe; es muß eine interessante Sache gewesen sein,« meinte Jenkinson.
»Hm —« versetzte Mac Milford. »Vom physikalischen Standpunkt aus betrachtet, ist der tote Punkt gewiß ein interessanter Ort, der aber durchaus nicht als ein absoluter Ruhepunkt im Weltall zu betrachten ist; denn wenn sich an einer solchen Stelle auch die Schwerkräfte zweier Planeten völlig aufheben, so treten doch von vielen Seiten mehr oder weniger schwache Fernwirkungen von Gravitationskräften verschiedener Gestirne auf.«
»Ich bin gespannt zu hören, wie Sie eigentlich über den toten Punkt hinweggekommen sind,« sagte Palgrave, welcher der Schwerkraftsscheide ein ungewöhnliches Interesse entgegenbrachte.
»Das Richten der Antigravitationskathode ist in diesem Falle ein wahres Kunststückchen,« versetzte Mac Milford. »Man weiß nicht, woher der Wind weht, den man abfangen und ausnutzen will.«
Nachdem der Alte noch einige Belehrungen, die das Thema betrafen, gegeben hatte, setzten sich alle wieder zu einer einfachen Mahlzeit nieder, die aber diesmal nur in übrig gebliebenen und aus konzentrierten Nahrungsmitteln bestand.
»Stärkemehlkuchen,« sagte Jenkinson mit eigentümlicher Betonung, als er der Dinge ansichtig wurde, die der alte Gelehrte einer Blechbüchse entnahm.
»Was die Herren Martier uns auftischen werden,« sagte Mac Milford, »das dürfte meiner Ansicht nach in noch konzentrierterer Form geschehen. Ich vermute, daß Sie meinen Stärkemehlkuchen weit mehr Geschmack abgewinnen werden, als den Kohlehydrattablettchen und Eiweißpastillen der Marsleute.«
Es stellte sich dann auch heraus, daß die Kuchen des Alten eigentlich gar nicht so übel schmeckten; auffallend war, daß sie ungemein schnell sättigten.
»Hoffentlich verraten Sie uns das Geheimnis der Zusammensetzung dieser seltsamen Universalspeise,« ergriff Jenkinson wieder das Wort. »Werden wir bei dieser Kost nicht abmagern?«
»Der fortgesetzte Genuß dieser Kuchen wird Sie körperlich immer in gleichem Gewicht erhalten ...« versetzte Mac Milford.
»Mit einem Worte, ich würde es dann nie nötig haben, eine Entfettungskur durchzumachen,« fiel der behäbige Zeitungskorrespondent dem Alten ins Wort.
Dieser nickte lächelnd. »Sie werden nach dem Genusse meiner konzentrierten Nahrungsform alle Stoffe in den Magen bekommen, die zur Erhaltung Ihres Körpers nötig sind.«
»Also Eiweiß, Kohlehydrate ...« sagte Jenkinson.
»Phosphor und was sonst noch zum Aufbau unseres Körpers notwendig ist,« fuhr der Professor fort. —
»Hoffentlich geht's ohne Magendrücken ab,« meinte Palgrave.
Jenkinson und Morton mußten über diese in ernsthaftem Tone hingeworfene Bemerkung herzlich lachen.
»Schwerenot,« rief der Seapoyhauptmann. »Mit meinem Magen stehe ich immer auf dem Kriegsfuß; wenn es nach mir ginge, würde ich überhaupt nichts mehr essen; trinken — — ja, das macht mir keine Beschwerden, da kann ich schon einen ordentlichen Hut voll vertragen.«
»Glaub's schon,« versetzte mit einem unterdrückten Lachen Jenkinson und schielte sein Visavis verschmitzt an. Der Blick des Sprechers richtete sich insbesondere auf die etwas stark ins Rötliche schimmernde Nase des Invaliden.
Dieser mochte das wohl gemerkt haben, denn er sann bereits darüber nach, wie er dem Reporter für seine hämische Bemerkung einen passenden Hieb auswischen könne.
»Ich habe einmal in meinem Leben Pinguine gesehen ... wissen Sie, was das ist, mein werter Herr Jenkinson,« wendete sich der geärgerte Invalide zu seinem Nachbar.
»Pinguine — hm, das sind doch Vögel,« gab Jenkinson zurück.
»Ganz recht; eine Art großer, flügellahmer Fettgänse, die, wie manche Menschen, sehr gefräßig sein sollen, und man behauptet, daß sie infolgedessen unter den Lebewesen in geistiger Hinsicht nicht gerade hervorragen,« fuhr Palgrave mit vielsagendem Blick auf Jenkinson fort.
Morton konnte sich ein Gelächter nicht verkneifen; er hatte das, worauf der Sprecher hinaus wollte, nur zu schnell erfaßt.
Auch Jenkinson war nicht so schwer von Begriff, um zu merken, was der Invalide mit seiner boshaften Rede gewollt hatte. Er wollte eben eine geharnischte Antwort darauf geben, als Mac Milford ein anderes Thema anschlug. Er äußerte, daß das Vehikel nach seiner Berechnung in etwa zehn Stunden in den Bereich der Marswelt kommen würde, und darum halte er es für angebracht, die wenigen Stunden noch, bis man den Mond Deimos erreiche, seine Begleiter über die Natur des Mars, dessen Areographie und andere von den irdischen Astronomen erforschten Dinge in bezug auf die Oberfläche des Planeten aufzuklären.
»Wir werden Ihren Belehrungen mit Vergnügen zuhören,« versetzte hierauf Morton.
Palgrave und Jenkinson nickten ebenfalls beistimmend.
Mac Milford wollte nun alle seine Kenntnisse über die Marswelt zum besten geben, als Jenkinsons Blick auf eine Notiz der vor ihm liegenden Zeitung fiel. Es war ein Artikel des »New York Herald«. Zwei Worte darin hatten den Berichterstatter stutzig gemacht. Sie lauteten: »Englische Weltallkolonisation«. — Schnell überflog Jenkinson den Artikel, dessen Überschrift die beiden Worte bildeten. »Das ist stark, meine Herren!« rief er aus.
»Was haben Sie?« frug Mac Milford.
Morton und Palgrave wurden auch aufmerksam.
»Die verflixten Yankee wollen uns ins Handwerk pfuschen,« rief Jenkinson, und der sonst so behäbige, nicht leicht aus seiner Ruhe zu bringende Mann war sichtlich stark entrüstet.
»So lesen Sie doch!« brummte Palgrave.
»Telegramm. — Dem Vernehmen nach wird der Schotte Mac Milford am 2. April als Leiter einer Expedition zum Mars fahren, um im Auftrage seiner Regierung diesen Planeten, wie vordem den Erdenmond, als koloniale Besitzung der britischen Krone einzuverleiben. Da die Erfindung des Antigravitationsvehikels, jenes Fahrzeuges mit dem die Schwerkraft aufgehoben werden kann, im Grunde eigentlich Mr. Edison gebührt und das englische Fahrzeug eine unberechtigte Nachahmung der von unserem großen Landsmanne ersonnenen Konstruktion ist, so müssen wir hiergegen völkerrechtlich Einspruch erheben. Wir werden unseren besitzgierigen Nachbarn jenseits der großen Pfütze den Mars entschieden streitig machen. Edison hat das Prioritätsrecht an der Erfindung des Antigravitationsvehikels, und unsere Nation somit auch das Vorrecht, fremdplanetarische Gebiete unter ihr Sternenbanner bringen ...«
»Hoho!« unterbrach Mac Milford Jenkinson beim Lesen. »Das ist eine ungeheuerliche Anmaßung der Yankee; die Sache verhält sich gerade umgekehrt. Jener Edison hat auf Grund der von mir gemachten Aufzeichnungen über die Konstruktion des Vehikels ein derartiges Fahrzeug nachgeahmt. Wie ich in meiner Rede in der Royal Society berichtet habe, bin ich bereits auf dem Monde mit einem Yankee zusammengeraten.« Man merkte es dem Alten an, daß er über die unverfrorenen Amerikaner recht empört war.
»Pech und Schwefel über diese Yankee!« rief der Invalide und schlug dabei mit der Faust so auf den Tisch, daß Jenkinson erschrocken zusammenfuhr.
»Wir werden es ihnen schon noch heimzahlen,« meinte der wenig aus der Fassung gekommene Morton.
»Ich wünschte jetzt, ich hätte ein solches Erfindungstalent, um eine Kanone konstruieren zu können, die mit einem Schuß immer gleich tausend Yankee wegputzte,« rief der auf die Amerikaner allzeit schlecht zu sprechen gewesene Seapoyhauptmann.
»Bitte, lesen Sie doch den Artikel zu Ende,« bat der Professor, zu Jenkinson gewendet.
Der Reporter nickte und fuhr fort: »Wie wir hören, sind bereits im Weißen Hause eingehende Beratungen gepflogen worden, wie man den Bestrebungen der Engländer im Weltall in gebührender Weise einen Riegel vorschieben kann. Unser Spezialberichterstatter in Washington wird in Kürze das Ergebnis der Sitzungen des hohen Hauses an dieser Stelle zur Kenntnis unserer Leser bringen.« So weit las Jenkinson aus dem »New York Herald« vor, dann warf er das Blatt grimmig beiseite und trommelte mit den Fingern an die Glasverschalung des Fahrzeuges, darauf wartend, was wohl die anderen jetzt sagen würden.
»Ich sehe schon,« begann Mac Milford, »die Amerikaner kommen uns auch auf dem Mars in die Quere.«
»Ich werde mit Uncle Sams Kindern umspringen, daß sie ein für allemal die Lust verlieren, fernerhin mit England anzubinden,« wetterte der alte Soldat.
»Hoffentlich bringt die Times eine recht geharnischte Entgegnung. Schade, ich hätte gern ein halbes Liter Tinte verbraucht, um dem Otterngezücht einmal gründlich die Wahrheit zu sagen,« versetzte Jenkinson.
Die vier Briten ereiferten sich noch eine ganze Weile über ihre unverfrorenen Vettern jenseits des Ozeans. Unterdessen gelangte das Vehikel in die Nähe des Mondes Deimos. Nun hielt es Mac Milford an der Zeit, seinen Gefährten die ihnen in Aussicht gestellte Belehrung über den Marsplaneten, deren Extrakt wir im nächsten Kapitel bringen, zuteil werden zu lassen.
Um den Leser dieser Erzählung ein wenig mit den astronomischen Fakten über die Planeten, insbesondere über den Mars, bekannt zu machen, sei hier kurz folgendes erwähnt.
Die Wissenschaft teilt die Planeten in untere und obere. Die unteren, Merkur und Venus, sind diejenigen, deren Bahnen von der Ekliptik*) eingeschlossen werden. Die oberen sind die außerhalb der Erdbahn liegenden Planeten, deren Umlaufsbahnen die der Erde einschließen; zu ihnen gehört auch der Mars. Da er uns am nächsten liegt, ist er der erste der oberen Planeten. Sein mittlerer Sonnenabstand beträgt 30 Millionen Meilen. Der Erde kann er bis auf acht Millionen Meilen nahe kommen, sich aber auch bis auf sechsundfünfzig Millionen Meilen von ihr entfernen. Diese sehr unterschiedliche Entfernung liegt an der Form seiner Bahn, welche eine ausgesprochene Ellipse ist, also stark vom Kreise abweicht. Zu einem Umlauf um die Sonne benötigt der Mars ein Jahr dreihundertzweiundzwanzig Tage, hieraus ergibt sich eine Umlaufsgeschwindigkeit von über drei Meilen in der Sekunde. Der Durchmesser des Mars beträgt neunhundertzwölf Meilen, der Planet ist also etwa halb so groß wie die Erde und doppelt so groß als der Mond. Seine Masse ist zehnmal geringer, als die der Erde und beträgt ¹/323000 derjenigen der Sonne. Die Achsendrehung des Mars beziffert sich auf 24 Stunden 37½ Minute, beträgt also wenig mehr als die der Erde. Wie schon früher erwähnt, beziffert sich die Neigung der Erdachse zu ihrer Umlaufsbahn auf 23½ Grad, beim Mars ist diese Schiefe höher, sie beträgt gar 27 Grad. Die Jahreszeiten auf dem Mars besitzen verschiedene Längen; so ist der Frühling 191 Tage, der Sommer 181 Tage, der Herbst 150 Tage und der Winter 147 Tage lang. Die Durchschnittslänge müßte, entsprechend
*) Umlaufsbahn der Erde um die Sonne. der Größe der Marsjahre (687 irdische Tage) etwa 167 Tage sein. Die Dichtigkeit der Masse des Mars beträgt nur etwa sieben Zehntel der Erde. Die Fallgeschwindigkeit eines Gegenstandes wäre dort demnach kaum zwei Meter in der Sekunde, während ein fallender Körper auf der Erde nahe fünf Meter in der Sekunde durcheilt. Die Verteilung von Wasser und Land auf dem Mars ist eine andere, als die irdische. Während bei dieser das Wasser den größten Teil der Oberfläche bedeckt, ist auf dem Mars das Umgekehrte der Fall. Seine Oberfläche umfaßt etwa zwei Drittel Land und ein Drittel Wasser. Das Land bildet hier nicht große Kontinente, wie solche bei uns die fünf Erdteile darstellen, sondern es ist inselartig gegliedert. Die Meere sind, wie auf der Erde, mehr auf der Südhemisphäre anzutreffen. Die Durchfurchung der Ländermassen von Wasserläufen, sogenannten Kanälen, bildet für die irdischen Astronomen ein Rätsel. Die meisten dieser sonderbaren Wasserstraßen, denn als solche glaubt man sie betrachten zu müssen, verlaufen schnurgerade und haben oft tausend und mehr Kilometer Länge und eine Breite bis zu 300 Kilometer. Das Merkwürdigste an diesen Kanälen ist, daß sie zeitweise sich verdoppeln, sodaß, wo bisher eine dunkle Linie lief, plötzlich parallel zwei auftreten, und diese Verdoppelung geht gewöhnlich in wenigen Tagen, ja Stunden vor sich und bleibt während der ganzen Jahreszeit bestehen. Die Wissenschaft nimmt an, daß die Meere des Marsplaneten eine stärkere Ebbe- und Flutbewegung besitzen, als solche auf Erden herrscht. Dadurch müssen häufig, besonders im Frühling zur Schneeschmelze, große Überflutungen der sehr niedrigen Ländermassen stattfinden. Um diesen Überschwemmungen etwas zu steuern, hat man angenommen, daß die Kanäle von Menschenhänden künstlich angelegt seien, um zur Ableitung der Gewässer zu dienen. Derartige Überflutungen sind von Schiaparelli besonders bei der Landschaft Lybia, welche vom Äquator durchzogen, zwischen dem 260. und 280. Grad Länge liegt, gesehen worden. Was ferner noch besonders auffällt, sind die am Nord- und Südpol sich ausdehnenden weißen Flecke, sogenannte Eis- oder Schneekappen. Die südliche ist größer als die nördliche. Diese Schneekappen sind beständig Veränderungen unterworfen. Zu gewissen Zeiten nehmen sie an Größe zu oder ab, besonders die Nordpolkappe verschwindet oft ganz. Dies hängt mit dem Wechsel der Jahreszeiten zusammen. Hat die Nordhalbkugel Sommer, so schmilzt die Schneedecke, und das Wasser fließt zum Teil zum Äquator hinab. Wenn der Winter eintritt, vereist wiederum alles. Verschiedene Astronomen wollen beispielsweise den Wechsel der
Jahreszeiten deutlich beobachtet haben. Sobald die Schneemassen geschmolzen waren, also die weiße Kappe immer kleiner geworden war, sollten die Ländermassen eine grünliche Färbung angenommen haben, welch letztere dem sprossenden grünen Pflanzenreich zugeschrieben wurde.
So weit ging die Belehrung Mac Milfords, welche dieser den Mitgliedern seiner Expedition vor Erreichung des Reisezieles zuteil werden ließ. Es waren die wesentlichsten Fakten aus der Areographie des Mars.
Armselige irdische Kreatur! Wie so nichtig mußt du dir vorkommen, angesichts der Unermeßlichkeit des Universums. Du und dein angestammter Mutterplanet, die Erde, was seid ihr anders als Staubkörnchen unter den unzähligen Billiarden von Weltkörpern, die aus kosmischen Nebelmassen geboren werden, als glutflüssige Sonnen Trillionen von Jahren existieren, Planeten erzeugen, um dann wieder in völliger Erstarrung zerbröckelnd unterzugehen, neuen Gestirnen Platz machend.
So ähnlich mochte wohl der Gedankengang der vier Männer sein, die es gewagt, die Scholle, auf der sie das Licht erblickt hatten, zu verlassen und nun hier draußen inmitten eines Chaos von großen und kleinen Welten, Millionen Meilen von der Erde entfernt, weilten.
Mac Milford und seine Gefährten waren eben aus einem längeren Schlummer erwacht und schauten erstaunt, keine Worte findend, hinaus ins Weltall, dessen Szenerie jetzt in seiner ganzen Erhabenheit urplötzlich vor ihren Blicken auftauchte. Mehr denn hundert Weltkörper wandelten hier ihre Bahnen. Unter ihnen hob sich einer durch seine gewaltige Größe besonders hervor; eine mächtige, silberglänzende Scheibe mit vielen dunklen Flecken und Linien. — Majestät Mars. In seiner Nähe kreisten mit großer Geschwindigkeit zwei Gestirne, dem Gewaltigen auf seiner Bahn um die Sonne als getreue Trabanten folgend: Phobos und Deimos, die Monde des Planeten.
»Wunderbar!« rief Morton seinen Gefährten zu.
»Heiliger Brahma, deine Werke sind groß!« ließ sich der Seapoyhauptmann in begeistertem Tone vernehmen.
»Britisches Sternenreich, ich grüße dich!« rief Jenkinson mit emphatischer Stimme aus.
Mac Milford schwieg, obgleich auch er über den erhabenen Anblick mit Bewunderung erfüllt war. Seine Sorge, das Fahrzeug inmitten dieses Weltenchaos so zu lenken, daß es den Mars unbehelligt erreichte, war zu groß, um sich ebenfalls der Begeisterung über die Herrlichkeit des Weltalls, welche sich seinen Blicken aufgetan hatte, hinzugeben.
Wenngleich die Anziehungskraft des Mars gewaltig auf das Vehikel einwirkte, so machten sich doch auch jetzt von allen Seiten her gleiche Kräfte geltend, die der Leiter der Expedition vorher nicht in seine Rechnung gestellt hatte. Die Antigravitationskathode, welche schon seit geraumer Zeit gegen den mächtigen Planeten gerichtet war, mußte bald nach rechts, bald nach links um etliche Grad verschoben werden, um die Fernwirkungen der vielen kleinen Gestirne aufzuheben.
»Ja, zum Kuckuck, sind wir denn in den Ring der Asteroiden geraten?« frug, nachdem sich das Erstaunen allseits etwas gelegt hatte, Palgrave den Professor und sah ihn erwartungsvoll an.
»Darüber tappe ich selbst im Finstern,« lautete die Antwort des Gefragten.
»Sicherlich befinden wir uns unter Kollegen des Eros,« meinte Jenkinson.
»Möglich ... vielleicht sogar wahrscheinlich,« erwiderte Mac Milford. »Helfen Sie mir doch ein wenig, lieber Freund; mein Arm erlahmt fast bei dem fortwährenden Richten der Kathode.« Diese letzten Worte waren an Morton gerichtet, der sich nun beeilte, dem Wunsche Folge zu leisten.
»Achten Sie nur auf die Skala ... ich gebe Ihnen die Grade minus oder plus an. Verschieben Sie den Hebel entsprechend auf dem Teilkreise,« kommandierte der Alte.
»Nun noch ein Nebel und ein Komet, dann hätten wir ein richtiges Welttheater vor uns,« äußerte sich Jenkinson, der den Blick unabgewendet auf die vielen in der Nachbarschaft befindlichen Gestirne richtete.
»323 Grad ... 319 Grad ... 325 ... halt, ein Grad wieder retour ...,« so ertönten unausgesetzt die Kommandos aus dem Munde des Expeditionschefs, der das leichte Pendeln des Vehikels sorgfältig verfolgte und daraus seine Schlüsse zog, welche auftretenden seitlichen Kräftewirkungen vernichtet werden mußten.
»Sehen Sie nur, wie deutlich schon alle Kontinente auf dem Mars hervortreten,« sagte Jenkinson zu Palgrave, indem er mit der Hand gegen dunkle Flecke auf der strahlenden Planetenscheibe zeigte.
»Das sind Meeresbecken und keine Festländer,« belehrte der Hauptmann.
»Unsinn, wie kann man nur Land mit Wasser verwechseln,« gab der andere sarkastischen Tones zurück.
»Man ist es gewöhnt, daß ihr Herren von der Presse immer da Licht seht, wo Schatten ist, und umgekehrt,« erwiderte spitz der Invalide.
»Und es sind doch Kontinente,« blieb Jenkinson beharrlich bei seiner Ansicht.
»Faselei! — Meere sind's; echte, rechte Seebecken!« rief der Invalide, der sich schon wieder zu erhitzen begann.
»Lächerlich, mein Herr, daß Sie bei einer Behauptung bleiben, die mit dem Augenschein in direktem Widerspruche steht.«
»Pech und Schwefel!« schrie Palgrave, den die Sache bereits zum Zorne reizte. »Meinetwegen nehmen Sie an, daß es Kartoffelfelder sind.«
»Ruhe, meine lieben Freunde,« warf jetzt Mac Milford dazwischen. »Um was dreht sich denn der Streit?«
»Ich behauptete, daß die dunklen Flecken auf der Marsscheibe Festländer sind,« sagte Jenkinson.
»Und ich bleibe dabei, daß es Wasserbecken sind,« knurrte der Invalide.
»Hm ... es sind allerdings Kontinente, doch ...« versetzte Mac Milford.
»Sehen Sie ...,« rief triumphierend Jenkinson.
»... doch repräsentieren einige Stellen, und zwar die etwas helleren, auch Wasserbecken,« fuhr der Alte fort.
»So, da haben wir's ja,« meinte der Invalide.
Die Reibung zwischen den beiden Männern ließ eine Zeit hindurch keine Unterhaltung wieder aufkommen, wenngleich auch Jenkinson von neuem versuchte, den sich gekränkt fühlenden Invaliden in ein Gespräch zu ziehen.
»Ich denke, daß wir in längstens einer Stunde freie Fahrt bekommen,« meinte Mac Milford, nachdem er die Umgebung des Vehikels einer genaueren Betrachtung unterzogen hatte.
»Und wann wird der Mars erreicht?« frug Morton.
»In etwa vierzehn Stunden.«
»Werden wir vorher die Monde berühren?«
»Die Landung auf denselben würde uns Schwierigkeiten bereiten.«
»Warum?«
»Je nun ... die Monde sind so klein, so außerordentlich winzig an Umfang, und dabei ist ihre Umlaufsgeschwindigkeit so groß, daß wir möglicherweise mit einer glatten Landung kein rechtes Glück haben werden.«
»Ist Ihnen der Umfang der Monde bekannt?« frug Morton.
»Phobos hat nur wenig mehr als zehn Kilometer Durchmesser, und Deimos dürfte in dieser Hinsicht ein Zwillingsbruder von ihm sein.«
»Deimos scheint aber weiter vom Mars abzustehen als Phobos.«
»Wenn es mir nicht schon genau bekannt wäre, so würde es der Augenschein hier lehren. Deimos rollt um den Mars in einem Abstande von 2600 Meilen; Phobos in einem solchen von etwa 700 Meilen. — Sehen Sie nur, wie rasend schnell Monsieur Phobos seinen Vater umkreist.«
»Sie haben recht. Der Satellit huscht dahin wie ein flinkes Wiesel,« versetzte Morton und betrachtete aufmerksam den Ort, wo sich der innere Mond des Mars befand.
»In rund siebenundeinhalber Stunde ist der kleine Kerl einmal um den großen Planetenball herum.«
»Das besagt also so viel, daß Phobos den Herren Martiern in einer Nacht dreimal auf- und untergeht.«
»Dieses Schauspiel werden wir noch oft genießen können,« meinte der Alte und blickte schärfer zu der Stelle hin, wo er soeben Deimos hinter der Marskugel hervortreten sah.
Mac Milford warf einen Blick auf seinen Chronometer und machte dann einige Notizen ins Tagebuch, ein kleines Journal, in welches der Professor schon so manches für die Wissenschaft ungemein Wichtiges eingetragen hatte.
»Sie sind doch auch der Ansicht, daß auf diesen beiden Miniaturtrabanten keine Menschen leben?« warf jetzt Jenkinson in die Unterhaltung.
»Bezweifle das auch,« erwiderte der Alte.
»Könnten dort nicht Liliputaner hausen?« meinte Palgrave.
»Nein,« lautete die bestimmt klingende Antwort des greisen Leiters der Expedition. »Wenn Sie, wie es mir scheint, annehmen, daß die Größe der auf irgend einem Gestirne existierenden Menschen immer im Verhältnis zu dem Volumen ihrer Weltscholle steht, so sind Sie auf dem Holzwege, mein werter Freund.«
»Aber liegt denn der Gedanke daran nicht sehr nahe?« rief der Invalide.
»Nicht zu verkennen. Doch hat mich der Erdenmond mit seinen Bewohnern eines besseren belehrt; denn die Seleniten hätten nach dieser Rechnung fast viermal kleiner sein müssen, als die Bewohner der Erde; doch sind sie, was ihre Größe angeht, durchaus keine Zwerge.«
Nach dieser Belehrung richtete der Alte die Kathode des Fahrzeuges gegen den Nordpol des Mars, weil er vermutete, daß von diesem Zentrum aus die Gravitation am stärksten einwirke. Und er hatte sich darin nicht getäuscht.
»Wie doch der Sonnenball immer mehr zusammenschrumpft,« meinte Morton, zu Palgrave gewendet.
»Ja,« pflichtete der Angeredete bei; »kaum, daß er uns noch ein Drittel der Größe, wie wir ihn auf Erden zu sehen gewohnt sind, erscheint.«
Sieben Tage und sechs Nächte — Pardon, Nächte gab es im Universum überhaupt nicht, da das Tagesgestirn für die Reisenden niemals unterging — fast siebenmal vierundzwanzig Stunden war die irdische Expedition unterwegs, und nun galt es nur noch eine letzte kleine Etappe zurückzulegen. Acht Millionen zweihundertunddreißigtausend Meilen waren mit mehr oder weniger Gefahren durchschifft worden. Noch dreißigtausend Meilen, und das heißersehnte Ziel war erreicht. — — — —
»Wie weit ab sind wir noch?« frug Jenkinson, nachdem man wiederum fünf Stunden Fahrt ohne Unfall zurückgelegt hatte.
Mac Milford rechnete ein wenig nach und erwiderte dann: »Hm — ungefähr noch 8000 Meilen, mein Lieber.«
»Ich sehne mich danach, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen,« meinte Palgrave.
»Hurra. Ein Komet!« rief Jenkinson dazwischen und wies mit der Hand nach einer Stelle im Weltall, welche weit außer dem Bereich des Kurses lag.
Schnell richteten sich die Blicke der anderen nach dem bezeichneten Orte.
Wo war dieser Weltenbummler mit einem Male hergekommen? Er zeigte sich in einer solchen Größe und Pracht, daß jeder den Kopf schüttelte, ihn nicht schon längst bemerkt zu haben.
»Sapristi! Bei meiner Ehre, dieser beschweifte Kobold überrascht uns wie ein Dieb in der Nacht,« rief der Invalide.
»Wenn der Komet nicht schon von meinen Kollegen daheim getauft worden wäre, so würde ich ihn jetzt dem Entdecker zu Ehren mit dessen Namen belegen,« versetzte Mac Milford. Dann schlug er hastig in einem Buche nach und bemerkte: »Es ist der TempelSwiftsche Komet, meine Herren. Ein Schweifstern, dessen Umlaufszeit um die Sonne nur sechs Jahre beträgt.«
»Es würde mir ein wahres Heidenvergnügen gewähren, wenn er dicht an uns vorbeistreifen würde,« sagte Palgrave und verfolgte den schnell dahineilenden Kometen.
»Beim Zeus! Herr Professor, es würde sich doch sehr verlohnen, wenn wir ein wenig vom Kurse abwichen und den Kometen in unmittelbarer Nähe betrachteten ... ob wir ein Stündchen früher oder später auf dem Mars ankommen, das verschlägt doch nichts,« meinte Morton, der ein großes Interesse für den Schweifstern zeigte.
»Bei Leibe nicht! Wo denken Sie hin,« rief Jenkinson. »Wollen Sie bei lebendigem Leibe verbrennen? Wer garantiert uns dafür, daß die Kometen nicht glutflüssig sind?«
»Bah ... Dunst, nichts weiter als Nebeldunst,« erwiderte Palgrave und schlug ob der Worte des ängstlichen Reporters eine helle Lache an. »Lächerlich ... so'n Luftikus, wie der dort, sollte uns versengen können?«
Jetzt mischte sich Mac Milford dazwischen, befürchtend, daß sich seine beiden Genossen abermals erhitzen könnten. »Wir werden unseren Kurs nicht ändern. Überdies befinden wir uns bereits viel zu weit im Bannkreise des Mars, der das Vehikel mit einer solchen enormen Kraft anzieht, wie es Milliarden großer Magnete nicht imstande wären.«
Nach Verlauf von kaum einer Stunde war der gewaltige und herrliche Schweifstern den Blicken aller wieder entschwunden. Das Ziel, dem er zustrebte, war die Sonne.
Deimos! hieß jetzt, nachdem weitere vierundeinehalbe Stunde verstrichen waren, die Parole. In unbeschreiblicher Pracht lag der riesige Marsball mit seinen beiden Satelliten vor den Reisenden. Mit Entzücken betrachteten diese die neue Welt, welche sich ihren Augen klar und bis in die kleinsten Details deutlich präsentierte. Länder, Seen und Kanäle zeigten sich in ihren Konturen so scharf, daß man wähnte, nur wenige hundert Meilen davon entfernt zu fein, und doch war immer noch eine Strecke von etwa 3000 Meilen zu durchschiffen. Keine Wolken trübten das Bild, nur ein schwacher Dunstschleier schien sich über die gesamte Oberfläche des Planeten auszubreiten.
»Ob die Marsmenschen unser Vehikel schon entdeckt haben mögen?« frug Morton.
»Ich bin außerstande, Ihnen hierauf eine Antwort geben zu können,« erwiderte Mac Milford.
»Vermutlich werden die Martier über kurz oder lang unser Fahrzeug sichten und sich zu dem Empfange der Fremdlinge, denen sie sicher Böses zutrauen, rüsten,« meinte Palgrave.
»Man wird uns mit pneumatischen, hydraulischen, elektrischen und Gott weiß mit was noch für mörderischen Kanonen beschießen, werter Hauptmann,« sagte Jenkinson zu Palgrave in einem Tone, der nicht recht erkennen ließ, ob der Reporter eine seiner beliebten Anspielungen vom Stapel brachte oder ob er tatsächlich derartige feindliche Kundgebungen erwartete.
Palgrave war aber geneigt, die Antwort als eine Spöttelei seines sarkastisch angehauchten Genossen zu betrachten, und wollte eine passende Erwiderung darauf abgeben, als Mac Milford plötzlich bewußtlos zu Boden sank, ehe ihn noch die Umstehenden auffangen konnten.
»Tausend Teufel! — Jetzt ist Holland wieder in Not!« stieß der Invalide hervor und starrte den am Boden liegenden Alten an.
Morton und Jenkinson beeilten sich, Mac Milford aufzuheben und in den nächsten Sessel zu placieren.
»Das macht uns einen gewaltigen Strich durch die Rechnung,« rief Morton erschrocken und sah recht trostlos darein.
»Ja, was nun?« erwiderte Jenkinson und zeigte ein nicht minder bekümmertes Gesicht.
Als man davon überzeugt war, daß der Alte wieder einmal von einem tiefen Ohnmachtsanfalle heimgesucht worden war, legte sich auf aller Stirn eine Wolke Unmut. Ratlos schauten sich die drei Männer einander an.
»Ich möchte jetzt keinen Schilling verwetten, daß wir den Mars, so nahe er vor uns liegt, mit heiler Haut erreichen werden,« sagte der Invalide und erfaßte die Hand des Ohnmächtigen, um die Pulstätigkeit zu prüfen.
»Wenn ich auch mit der Steuerung des Vehikels einigermaßen vertraut bin, so weiß ich doch nicht, in welcher Form eine glückliche Landung zu bewerkstelligen ist,« meinte der Ingenieur und beeilte sich, den Kurs, den das Fahrzeug einhielt, vorsorglich so zu ändern, daß man nicht in gerader Linie auf den gewaltigen Planetenball zufuhr. Morton beabsichtigte, über den Nordpol des Mars hinwegzugleiten, um so auf alle Fälle einem gefahrvollen Zusammenstoß mit dem Planeten auszuweichen.
Das Richten der Antigravitationskathode verursachte jedoch Schwierigkeiten. Die Folge war eine so heftige Pendelbewegung des Vehikels, daß alle befürchteten, jeder Augenblick könne ihr Schicksal besiegeln.
»Himmel und Hölle!« schrie Palgrave. »Wie soll denn das noch enden? — Mr. Morton, Sie steuern falsch. Sehen Sie denn nicht, daß wir uns in der Fahrtrichtung weit ab vom Mars bewegen?«
»Das liegt in meiner Absicht,« erwiderte in ruhigem Tone der Angerufene.
»Pech und Schwefel. Sie haben wohl die löbliche Absicht, zum Jupiter zu fahren?«
»Nicht im geringsten, werter Reisegenosse,« gab Morton zurück, der innerlich froh war, daß das Vehikel nicht mehr in rasendem Tempo dem Marsball direkt zueilte; entging man doch so der furchtbaren Gefahr des Zerschellens bei einem in solchem Falle unvermeidlich eintretenden Absturz auf die Oberfläche des Planeten. »Wir werden über Mars dahingleiten, und dann erst eine Landung versuchen, sobald eine solche uns möglich erscheint.«
»Recht so, lieber Morton,« stimmte Jenkinson dem Ingenieur bei. »Nur Vorsicht, nochmals Vorsicht und zum dritten Male Vorsicht.«
»Trotzdem ich glaube, mit der Kursänderung das Richtige getroffen zu haben, wollen wir uns immerhin auf das Schlimmste gefaßt machen. Nur den Mut nicht verlieren.« Mit diesen Worten gab der Ingenieur der Kathode wieder eine kleine Drehung.
Bums! — Das Fahrzeug erhielt unmittelbar darauf einen hörbaren Ruck und drehte sich wie ein Kreisel, so daß seinen Insassen für einen Augenblick Hören und Sehen verging.
»Matthäi am letzten!« rief Palgrave, der über seinen gleichfalls zu Boden geworfenen Freund Jenkinson fiel.
Was in dem Fahrzeuge nicht niet- und nagelfest war, das wurde jetzt in tollem Wirbel herumgeworfen.
Morton suchte eiligst die Ursache zu beseitigen, die seiner Ansicht nach in der von ihm zuletzt vorgenommenen Drehung der Kathode lag. Ein Griff, und der Skalahebel wurde in seine frühere Lage gebracht, was aber sogleich neben dem Aufhören der pendelnden Bewegung auch eine Verdoppelung der Fahrtgeschwindigkeit zur Folge hatte.
»Sie waren so freundlich, mir mit Ihrem Stiefelabsatze eins auszuwischen,« bemerkte Jenkinson, als er sich vom Boden erhob, mit einem Blick zum Seapoyhauptmann.
»Lag ganz und gar nicht in meiner Absicht, — das verdammte Vehikel spielt uns eben böse mit,« entschuldigte sich Palgrave, mit einer Miene, die verriet, daß er innerlich erfreut war, dem Reporter einmal eins ausgewischt zu haben.
»Mac Milford rührt sich noch immer nicht ... entsetzlich; was soll nun werden?« seufzte Jenkinson.
»Wir haben ein höllisch rasendes Tempo angenommen,« meinte Palgrave, und sah bedenklich hinaus.
»Ich kann es nicht ändern. — Doch halt! Freunde, was sehe ich! Deimos naht sich uns mit erschreckend großer Schnelligkeit ... ein Zusammenstoß wäre furchtbar,« rief Morton erschrocken aus, als sein Blick zufällig auf den Rand der Marskugel fiel.
»Deimos ... wo?« Mit diesem Ausrufe starrte Jenkinson ins Weltall hinaus.
»Soeben ist er hinter dem Mars hervorgetreten. Sehen Sie ihn nicht?« antwortete Morton und seine Worte überstürzten sich fast.
»Er wird unser Fahrzeug in Atome zerschmettern,« versetzte Palgrave mit großer Seelenruhe.
»Und das sagen Sie so hin, als wenn es sich hierbei um nichts handelte,« fiel Jenkinson erregt dem Invaliden ins Wort.
»Zum Teufel, wenn ich bei jedem neuen Ereignis, das uns gefahrdrohend erscheint, Angst und Sorge um mein bißchen Dasein aufstecken wollte, so käme man ja gar nicht mehr aus der Aufregung heraus,« antwortete gelassen Palgrave und sah dem von Sekunde zu Sekunde immer näherkommenden Satelliten gefaßt entgegen.
»Was soll nun geschehen?« meinte Morton und blickte erst seine beiden ratlos dastehenden Gefährten und dann den noch immer bewußtlosen Alten an. »Versuchen wir es doch einmal, Mac Milford durch Rütteln und Rufe zum Bewußtsein zu bringen.«
»Ich werde ihm von dem Rest Kognak, den ich bei mir führe, etwas in den Mund flößen,« meinte Jenkinson und beeilte sich, das zu tun.
»Schrecklich, der furchtbare Geselle stürmt geradenwegs auf uns los. ... Ob ich doch nicht lieber die Kathode gegen Mars richte?« Morton tat dies, ohne eine Antwort abzuwarten.
Doch schien es ihm, als wenn diesmal die Steuerung schmählich versagte. Der eingeschlagene Kurs blieb, wie er war.
»Fatal ...« rief Morton. »Wir sind dazu verurteilt, mit dem Deimos ein Rencontre zu erleben.«
»Mac Milford ist nicht zum Bewußtsein zu bringen,« jammerte der hilflose Reporter.
»So gehe denn, Verderben, deinen Gang!« sagte Palgrave und setzte sich nieder, um den unabwendbar scheinenden Zusammenprall mit vollendeter Seelenruhe, wie solche nur ein in vielen Kämpfen ergrauter Soldat zur Schau tragen konnte, abzuwarten.
»In längstens zehn Minuten haben wir aufgehört zu atmen; furchtbarer Gedanke!« rief Jenkinson mit verzweifelter Stimme aus.
»Sie sagten in zehn Minuten; ich wette mit Ihnen, Mr. Jenkinson, daß Sie bereits in fünf Minuten Ihren Geist aufgegeben haben,« erwiderte Palgrave mit stoischem Gleichmut und streckte seinem entsetzten Nachbar die Rechte hin.
»Mensch. Sie behandeln die Sache wie einen Pappenstiel ... So etwas ist mir noch nicht vorgekommen,« gab Jenkinson zurück, und man konnte es seiner Stimme und seinem Gesicht anmerken, daß er sich in einer schrecklichen Gemütsverfassung befand.
»Mein armes, liebes Weib ...« hörte man jetzt Morton vor sich hin sprechen, und ein aufmerksamer Beobachter hätte bemerken können, wie der junge Mann dabei einige Tränen in den Augen zerdrückte.
Schon war Deimos so nahe herangekommen, daß nach Ansicht der Insassen des Vehikels der Zusammenprall in jeder Minute erfolgen mußte. — Da geschah etwas Unerwartetes.
Ehe es sich plötzlich alle versahen, sauste die große, lichtbestrahlte Kugel des Deimos so nahe an dem irdischen Fahrzeug vorbei, daß dieses eine Strecke weit aus seiner Flugbahn gerissen wurde; eine Folge des ungeheuren Druckes der atmosphärischen Hülle, welche den Miniaturmond umgab, vielleicht war es auch zum Teil der unvermittelt auf das Vehikel einwirkenden Anziehungskraft des Gestirnes zuzuschreiben. Starr blickten die drei Männer auf die Oberfläche des vorbeistürmenden Deimos; wie im Traume sahen die Reisenden grünende Landschaften und glitzernde Seen vor ihren Augen auftauchen und mit Blitzesschnelle wieder verschwinden.
Eine Welt war vorbeigezogen. Wie die Bilder in einem Panorama. — Deimos hatte es gnädig gemacht. — — —
Eine ganze Weile sahen die Männer wortlos dem Gestirne nach; sie konnten es nicht gleich fassen, daß sie einer Gefahr entgangen waren, die nach aller Ansicht jedem den sicheren Tod in Aussicht stellte.
»Da wären wir doch also mit heiler Haut davongekommen. Hätte es nicht geglaubt,« nahm als erster der Hauptmann das Wort. »Donnerwetter, da würde ich bald eine Wette verloren haben.«
»Wir sind entschieden vom Glück begünstigt,« meinte Morton und atmete tief auf.
»So furchtbar der Augenblick war, so herrlich war doch der Anblick,« ließ sich nun auch Jenkinson vernehmen. »Nie sah ich ein köstlicheres Panorama. Eine Welt, so klein, daß man vermeinte, sie mit den Armen umspannen zu können.«
Noch eine Zeit hindurch ergossen sich alle drei in Äußerungen über das gehabte Schauspiel. Inzwischen kam man dem Gewaltigen, dem Vater Mars, immer näher. Schon bot sich den Reisenden ein Ausblick, wie ihn Luftschiffer haben, wenn sie aus der Vogelperspektive hinab auf die Landschaften der Erde schauen. Deutlich konnte man bereits menschliche Ansiedelungen wahrnehmen.
»Nun, Mr. Palgrave,« wendete sich Jenkinson zu dem in die Betrachtung der Marsgefilde versunkenen Invaliden; »jetzt werden Sie wohl überzeugt sein, daß der Planet von Menschen bevölkert ist. Sie zweifelten doch an der Existenz der Martier.«
»Bah ... ich sprach nur einmal die Vermutung aus, daß man sich möglicherweise in betreff der Bewohnbarkeit irren könnte. Rundweg habe ich die Existenz der Marsmenschen nie bestritten. Beweis, sonst hätte ich nicht so sehr auf die Mitnahme von Waffen gedrungen.«
Fünfundvierzig Minuten nach dem verhängnisvollen Rencontre mit dem Deimos kam man, nach oberflächlicher Schätzung des Ingenieurs, dem Mars auf etwa 1000 Meilen nahe und damit auch in die verhängnisvolle Nähe des zweiten Mondes Phobos.
Zum Glück für die, noch immer ihres gewiegten Leiters entbehrenden Reisenden, war Phobos soeben mit unheimlicher Schnelligkeit in einer Entfernung von kaum 300 Meilen vorübergejagt; er schien es sehr eilig zu haben, aus dem Gesichtskreis der Erdenbürger zu kommen. Schon nach wenigen Minuten war er hinter der Riesenscheibe seines Mutterplaneten verschwunden.
»Diesmal können wir uns wieder gratulieren. Monsieur Phobos läßt uns ebenfalls in Ruhe,« meinte Morton.
»Der Aufregungen waren es bislang auch gerade genug,« versetzte Jenkinson.
»Aufregungen stählen die Nerven,« sagte Palgrave.
»Asaph Hall, der berühmte Entdecker der beiden Marsmonde, konnte wahrhaftig keine besseren Namen finden, als Deimos und Phobos,« rief Morton aus.
»Meinen Sie? Nun, ich kann in beiden Benennungen nichts sonderlich Passendes entdecken,« erwiderte Palgrave.
»Aber ich, mein werter Herr Palgrave,« warf Jenkinson dazwischen. »Man muß eben die griechische Sprache verstehen, um die Taufnamen der Marssatelliten deuten zu können.« Das klang recht gewichtig aus dem Munde des Sprechers, vermutlich wollte der Reporter, was Sprachkenntnisse anbetraf, dem Invaliden ein wenig imponieren.
»Furcht und Schrecken ist die Übersetzung,« sagte Morton. »Konnte man dem Zwillingspaar bessere Namen geben?«
»Nein ... bei der Taufe dieser losen Gesellen hat man wahrhaftig den Nagel auf den Kopf getroffen,« antwortete Palgrave.
Mac Milford kam zur unaussprechlichen Freude seiner Gefährten wieder zum Bewußtsein, als es Morton eben gelungen war, das Vehikel so zu steuern, daß es seinen Kurs über den Nordpol des Mars hin zu nahm. Durch die haarscharfe Gegenüberstellung der Kathode wurde die Gravitationswirkung des Planeten geradezu aufgehoben. In verlangsamtem Fahrttempo kam das Vehikel der neuen Welt näher und näher. Nach einer oberflächlichen Schätzung war man aber immer noch 500 Meilen vom Ziel entfernt.
»Meine Freunde,« begann der Alte, als er mit einem Blick die Lage, in welcher sich das Fahrzeug befand, überflogen hatte. »Es scheint in der Tat diesmal auch ohne mich gegangen zu sein. ... Ich muß wohl wieder eine geraume Weile bewußtlos gewesen sein, denn ich sehe, daß wir fast am Ziele sind.«
»Mehr als drei Stunden lagen Sie in tiefem Schlafe,« erwiderte Jenkinson.
»Um ein Haar wären wir nie zum Mars gelangt,« versetzte Palgrave.
Mac Milford ließ sich schnell alles berichten, was inzwischen vorgegangen war und prüfte dann den Kurs seines Fahrzeuges.
»Vierhundert Meilen noch, und unser Fuß betritt die fremde Weltscholle,« sagte der Professor.
»Das wären also rund 30 000 Meter,« meinte Morton.
»So ... jetzt ist alles vorbereitet,« ließ sich Mac Milford vernehmen. »Unser Kurs führt uns geradenwegs auf die Landschaft Gorgones.«
»Gorgones?« frug Jenkinson zurück.
»Ganz recht ... direkt unter dem Äquator.«
»Warum gleich in eine solche bombenheiße Gegend?«
»Bombenheiß? ... Nicht im geringsten. Eine ganz gemäßigte Zone.«
»Meinen Sie?« erwiderte zweifelnd Jenkinson.
»Puh, wie wird es da in den höheren Breiten kalt sein,« sagte Palgrave.
»Hurra! ... Ich sehe Städte ... Häuser, Menschen ...« rief Mac Milford aus, der eben einen Blick durch das Fernrohr geworfen hatte. »Also doch bewohnt ... nun, es war ja auch nicht anders zu erwarten ... die Kanäle ...«
»Was, Menschen bemerken Sie schon?« unterbrach ihn der Invalide.
Der Professor nickte und ließ nun einen nach dem andern durch das Rohr schauen. Jeder konnte dann nur bestätigen, daß der Alte recht gesehen hatte.
»Wahrhaftig ... Menschen wie wir ...« rief Palgrave aus.
»Mit einem Kopf, zwei Beinen, zwei Armen ...« unterbrach Jenkinson den Ausruf Palgraves.
»Ich glaube gar, Sie haben sich die Martier als Geschöpfe mit doppelten Köpfen, vielfach bebeint und bearmt vorgestellt,« gab der Hauptmann, hell auflachend, zur Erwiderung.
Eifrig machte sich jetzt Jenkinson daran, in sein Taschenbuch eine Notiz aufzunehmen.
Majestätisch wie ein Kondor senkte sich das Vehikel zur Oberfläche des Mars hinab und zwar auf die nördliche Hemisphäre.
Je näher man der neuen Welt kam, desto kräftiger traten alle Details derselben hervor, stellenweise oft recht in die Augen springend. Der leichte Dunstschleier, welcher sich zwischen dem Vehikel und der Oberfläche des Planeten ausbreitete, trübte im allgemeinen den Anblick nur wenig.
»Zehntausend Meter,« sagte Mac Milford, als er einen prüfenden Blick auf die Steuerungsskala geworfen hatte.
»Ich wette hundert Pfund gegen eins,« rief der Hauptmann, welcher in der letzten Zeit fortgesetzt das kleine Fernrohr in Anspruch genommen hatte, »daß wir bereits von unseren neuen Weltbürgern entdeckt worden sind.«
»Nun, dann werden die Herren Martier jetzt eifrig damit beschäftigt sein, ihre Kanonen aus den Arsenalen zu ziehen und sie zu unserem Empfange aufzustellen,« meinte Jenkinson, dem der alte Humor in Anbetracht dessen, daß alles so glatt von statten ging, wiedergekommen war. Bei diesen Worten streifte sein Blick Palgrave.
Dieser tat, als wenn er die kleine Stichelei, welche seiner Ansicht nach doch nur für ihn berechnet war, nicht hörte.
»Eins scheint Vater Mars vor der Mutter Erde voraus zu haben,« meinte nach einer kleinen Weile Jenkinson.
»Und das wäre?« frug Morton.
»Die Martier leben sicher immer unter einem blauen Himmel.«
»Sie meinen, es regnet bei ihnen nicht?«
»Zum wenigsten bemerke ich über der ganzen uns zugewendeten Halbkugel nirgends eine Wolkendecke.«
»Ich vermute, daß die Marsmenschen ausgezeichnete Meteorologen sind,« warf Mac Milford in die Rede.
»Wieso?« frugen Jenkinson und Morton fast gleichzeitig.
»Weil sie, wie ich annehme, die Bildung größerer Wolkenkomplexe trefflich zu verhindern verstehen.«
»Ja, in dieser Beziehung könnten unsere Wettermacher daheim noch gar vieles lernen,« platzte Palgrave heraus.
Kaum hatte er dies gesagt, als die Insassen des Vehikels einen heftigen Ruck empfanden, und zu ihrem heillosen Schrecken sahen, daß ihr Fahrzeug plötzlich in ein rasend schnelles Tempo geriet und sich in wenigen Augenblicken so rasch der Oberfläche des Planeten näherte, daß sie fürchten mußten, bei ihrer Ankunft in Tausende Stücke zu zerschellen.
»Herr Professor ... Herr Professor!« riefen Morton und Jenkinson wie aus einem Munde.
»Ich weiß nicht, die Kathode scheint zu versagen,« lautete die hastige Antwort Mac Milfords, welcher fieberhaft bestrebt war, der schnellen Fahrt auf irgend eine Art Einhalt zu tun.
Seine drei Genossen starrten unterdessen durch die Glasverschalung auf den Mars hernieder, jeden Augenblick den Aufsturz erwartend.
»Meer, Meer!« schrie Palgrave. »Wir stürzen in die See!«
Keiner vermochte es, noch ein Wort zu sprechen, denn allen verging Hören und Sehen.
Draußen war ein lautes Pfeifen und Zischen vernehmbar, was seine Ursache darin hatte, daß das Vehikel mit der Geschwindigkeit eines Blitzes die Marsatmosphäre durcheilte. Plötzlich wurden die Wände des Fahrzeuges so heiß, daß Morton und Jenkinson entsetzt zurückprallten. Es war eine Folge der furchtbaren Reibung der Luft; das Fahrzeug wurde glühend wie ein Meteorstein, der als Feuerkugel niederfällt.
Im letzten Augenblicke des Absturzes sahen die Männer, welche sich krampfhaft hier und dort festhielten, wie die äußere Glasverschalung schmolz.
Noch einen Moment, und die Expedition erreichte den unter ihr sich ausbreitenden Wasserspiegel. ... Ein Brausen und ein Zischen! — Haushoch spritzten die Wellen empor, und in dem weißen Gischt verschwand das Vehikel. Sausend fuhr es in die Tiefe hinab.
Bums! — Ein Aufprall auf den Meeresboden. Dann lag das Fahrzeug still.
Als die Insassen desselben kurz darauf zum Bewußtsein kamen, herrschte ein Halbdunkel um sie. Die Männer erhoben sich vom Boden und tasteten an der Wandung des Fahrzeuges entlang, wobei Morton mit Palgrave zusammenstieß.
»Sind Sie es, Mr. Jenkinson?« frug Morton erregt.
»Machen wir Licht,« rief Palgrave.
»Wir sind auf dem Grunde des Meeres,« ließ sich Mac Milford vernehmen.
»Ein fürchterlicher Absturz,« preßte Jenkinson hervor. »Wir werden nun ertrinken.«
»Ein Glück ist's, daß nur die äußere Glasverschalung zerschmolz,« sagte Mac Milford.
»Was nun?« frug Palgrave.
Der Alte gab keine Antwort, sondern versuchte das Anodenlicht wieder zur Strahlung zu bringen. Seine Bemühungen waren aber erfolglos.
»Nun möchte ich bloß wissen, ob wir uns in einem richtigen Meere oder nur in einem seichten Süßwassertümpel befinden. Und wer uns aus dieser verwetterten Lage befreien wird?« meinte der unerschrockene Invalide.
»Können Sie schwimmen?« frug Mac Milford.
»Habe mehr als einmal den Indus und Ganges durchschwommen,« erwiderte der indische Hauptmann, und der Klang seiner Stimme verriet, daß er auf diese Leistungen stolz war.
»Und meine anderen Freunde?«
Morton versicherte ebenfalls, daß er schwimmen könne; Jenkinson dagegen jammerte, daß er die edle Kunst nie erlernt habe.
»Ich für mein Teil,« sagte Mac Milford, »bin ebenfalls nicht fähig, mich über Wasser zu halten. In Anbetracht der Sachlage, daß wir hier unten doch nicht bleiben können, falls wir das Fahrzeug verlassen wollten ... in Anbetracht dessen also, möchte ich den Vorschlag machen, daß entweder Mr. Palgrave oder Mr. Morton zur Oberfläche des Seebeckens, in dem wir uns befinden, emportauchen, sodann versuchen, die Küste zu erreichen und die Marsleute auf unsere verzweifelte Lage aufmerksam zu machen.«
»Eine gewagte Sache,« meinte Morton.
»Glauben Sie nicht, daß unser Fahrzeug wieder flott wird und von selbst emportreibt?« frug Palgrave Mac Milford.
Ehe der Alte antworten konnte, wurden alle durch das Aufstrahlen des Anodenlichtes überrascht. Ein Blick genügte, um die Männer jetzt über ihre Lage aufzuklären.
Der starke Lichtschein durchflutete das Wasser, welches das Vehikel von allen Seiten umspielte.
»Das Fahrzeug hat sich in den Grund eingebohrt,« sagte der Alte, nachdem er einen Blick ins Meer hinausgeworfen hatte.
»O weh, dann ist wohl auch die Kathode zerbrochen?« rief Morton.
»Leider,« bestätigte der Professor.
»So ist uns also eine Rückkehr zur Erde abgeschnitten,« mischte sich Jenkinson darein.
»Wenn es nicht gelingt, den Schaden wieder zu reparieren, so werden wir wahrscheinlich auf dem Mars unsere Tage beschließen.«
Ab und zu sah man durch die silberbeleuchtete Wasserflut eigenartig gestaltete Meerestiere vorbeischwimmen, doch keiner der Männer achtete darauf.
»Da wir sicherlich auf eine Erlösung aus dieser verzweifelten Lage nicht rechnen können, so erkläre ich mich bereit hinaufzuschwimmen,« sagte Palgrave. »Wie aber, wenn wir uns inmitten einer See befinden, deren Küste ich nicht zu erreichen vermag?«
»Dann wäre unser Schicksal freilich besiegelt,« meinte Mac Milford, und seine Stimme zitterte etwas.«
»So oder so!« rief Palgrave. »Entweder ende ich hier unten oder dort oben.«
Während die Männer noch eine geraume Zeit die Sache besprachen, hin und her überlegten, ob man nicht vielleicht auch den Versuch machen sollte, das Vehikel zum Auftrieb flott zu bekommen, sahen sie zu ihrem maßlosen Erstaunen plötzlich seltsam geformte Fahrzeuge in ihrer unmittelbaren Nähe niedertauchen.
»Hurra!« riefen Jenkinson und Palgrave wie aus einem Munde. »Rettung naht!«
»Bei meiner Ehre, es sind wahrhaftig Unterseeboote,« sagte mit freudig erregter Stimme Mac Milford und preßte die Stirne gegen die faustdicke Glasscheibe, um das, was sich eben näherte, recht scharf in Augenschein zu nehmen.
»Und ich hatte schon ein Kismet (*) auf den Lippen,« meinte Jenkinson und tanzte vor Freude in dem Vehikel umher.
(*) Bedeutet soviel wie: Ergib dich in dein Schicksal.
»Glück im Unglück,« erwiderte Morton bewegt.
Inzwischen hatten die martischen Fahrzeuge, es waren ihrer drei, dicht an den Seiten des Vehikels beigelegt, und wenige Augenblicke später entstiegen denselben menschliche Gestalten.
»Es sind Taucher ... was wird nun geschehen?« ließ sich Palgrave vernehmen.
»Vermutlich wird man unser Fahrzeug hinsichtlich seiner Auftriebsfähigkeit untersuchen und es dann durch irgend welche sinnreiche Mittel, welche den Martiern sicher zu Gebote stehen, zur Oberfläche der See emporheben.«
Die Taucher, zehn an der Zahl, brachten einige röhrenartige Gegenstände herbei und wollten dieselben an den Außenwänden des Vehikels befestigen, als sie dessen Insassen gewahrten. Lebhaft gestikulierend stellten sie sich vor die Glasverschalung und versuchten in das Innere des Fahrzeuges zu blicken. Dann gingen sie schnell an die Arbeit.
Mit fieberhafter Spannung folgten unsere Helden den Vorkehrungen, welche die Marsleute zu ihrer Rettung trafen.
Zehn Minuten später wurde eine Bewegung am Vehikel verspürt, und kurz darauf erhob sich die irdische Flugmaschine und tauchte rasch zur Oberfläche des Wasserbeckens empor.
»Es steigt!« rief Jenkinson.
»Ihre Majestät unsere erhabene Königin wird den edlen Rettern eine Auszeichnung zuteil werden lassen,« sagte Palgrave.
»Hierzulande wird niemand einen Orden zu schätzen wissen,« erwiderte Mac Milford. »Die Martier würden derartige Dinge sicher als Firlefanz betrachten; verlassen Sie sich darauf.«
Wie ein aus der Tiefe emporschnellender Gummiball erreichte das Vehikel den Spiegel des Sees, auf dem es dann ruhig schwamm. Unmittelbar darauf tauchten auch die martischen Unterwasserboote auf.
»Unser Fahrzeug mit dem intensiven Scheinwerfer wird sicherlich großes Aufsehen erregen,« sagte Mac Milford und musterte die Umgebung des Sees.
»Ich möchte doch gern wissen, auf welchem Punkte geographischer Länge und Breite wir uns eigentlich befinden,« versetzte der Alte nach einer kleinen Weile, während welcher sein Fahrzeug von den Marsleuten ins Schlepptau genommen und dem nahen Strande zugeführt wurde.
Die Erdenbürger bemerkten an der Küste eine sich weithin erstreckende menschliche Ansiedlung, welche aber infolge der herrschenden Dämmerung nicht deutlich wahrgenommen werden konnte.
»Es ist ein höllisches Glück, daß wir nicht eine Stunde später angekommen sind,« meinte Palgrave.
»Warum?« frug Morton.
»Aber, mein Lieber, das ist doch sehr einfach zu begreifen ... unser Absturz wäre in der Dunkelheit möglicherweise nicht bemerkt worden, und wir säßen jetzt noch auf dem Grunde der See.«
Das Vehikel erwies sich als ein wassertüchtiges Schifflein; völlig aufrecht und ohne zu schwanken glitt es über die spiegelglatte Fläche der See dahin und kam bald dem Ufer nahe.
»Jetzt werde ich es wagen, die Luke zu öffnen,« sagte Mac Milford und stieg die kleine Treppe, welche zur Decke emporführte, hinauf.
Das Verschieben eines Hebels, ein Druck auf einen Knopf, und der Verschlußdeckel des Fahrzeuges flog auf.
»So, wackere Freunde,« rief Mac Milford, »füllet zum ersten Male eure Lungen mit martischer Luft!«
Wenige Sekunden genügten dazu, um im Vehikel einen völligen Luftwechsel herbeizuführen. — Ach, wie unendlich frisch und erquickend war doch die hereinströmende Atmosphäre gegen die dicke, kohlensäurehaltige irdische Luft. Mit wonnigem Behagen atmeten die vier Männer, und es zog wie neues Leben durch ihre Adern.
Mac Milford stellte sich auf die oberste Sprosse der Leiter und blickte aus der Luke heraus. Sein weißer, wallender Bart, auf den das grelle Anodenlicht strahlte, mochte für die Marsleute eine gar seltsame Erscheinung sein, denn als sich auch jetzt die Unterwasserboote seitlich über der Wasserlinie öffneten und mehrere Gestalten sichtbar wurden, schien Mac Milford zu gewahren, daß er diesen eine bis zum Entsetzen gesteigerte Verwunderung einflößte.
»Sehen Sie, Mr. Jenkinson, Menschen sind's wie wir; mit einem Kopf, zwei Armen und zwei Beinen,« sagte Palgrave.
»Endlich!« rief der Reporter, ohne auf des Hauptmanns Äußerung irgend wie zu reagieren. »Soweit wäre unsere Mission also geglückt.«
»Für alle Fälle werde ich meinen Revolver zu mir stecken,« versetzte der Invalide, nahm die in einem Kasten befindliche Waffe heraus und vergrub sie mit einer Schachtel Patronen in einer seiner Taschen.
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können,« sagte Mac Milford. »Nötig wird es nicht sein.«
»Friede herrscht auf Mars und den Menschen ein Wohlergehen!« rief wohlgelaunt Jenkinson.
Wenige Minuten später betraten dann die Sprößlinge der fernen Erde den Boden der neuen Welt.
Im Namen Ihrer Majestät, unserer erhabenen Königin Viktoria, ergreifen wir Besitz von dem Planeten Mars!« rief Palgrave, als er nach dem Chef der Expedition den Fuß auf martischen Boden setzte.
»Machen wir die Rechnung nicht ohne den Wirt,« erwiderte Mac Milford, und seine forschenden Augen durchdrangen die in Dämmerung gehüllte Gegend, um unmittelbar darauf auf den in der Nähe befindlichen Marsmenschen haften zu bleiben.
»Am liebsten gäbe ich einen Freudenschuß ab,« ließ sich der Invalide weiter vernehmen.
»Immer derselbe ... wollen Sie uns hier von vornherein in Mißkredit bringen?« meinte Morton, der als dritter das Antigravitationsvehikel verlassen hatte.
Ihm war dann Jenkinson gefolgt. »All right! Da wären wir!«
Nun kam der große Augenblick, der weihevolle Moment, wo denkfähige Geschöpfe zweier Welten einander gegenübertraten.
Dieses erhabenen Augenblicks wurden sich die Söhne der Mutter Erde bewußt, als ihnen soeben einige männliche Wesen der Marswelt entgegenkamen.
Die Situation und Stimmung auf beiden Seiten mochte etwas der ähneln, als der spanische Großadmiral Kolumbus zum ersten Male den Boden Amerikas betrat, um den neuen Erdteil in den Besitz der kastilischen Krone zu bringen, und ihn die grenzenlos erstaunten Eingeborenen wie ein überirdisches Wesen anstarrten.
Mehrere Bewohner des Mars hatten sich der irdischen Expedition genähert. Es waren Menschen, die, soweit die Dunkelheit zu sehen gestattete, ausgenommen die Kleidung, sich in nichts von ihren Weltallsbrüdern unterschieden.
Etwas entfernt stehender, erblickten unsere Helden eine große Gruppe Marsleute, männlichen und weiblichen Geschlechtes; auch Kinder mochten sich darunter befinden.
Waren die Erdenbewohner überrascht, so schienen es die Marsmenschen noch mehr zu sein. In ihren Blicken spiegelte sich Erstaunen, Schrecken und noch manche andere Seelenregung wieder, die erkennen ließen, daß den friedsam ausschauenden Eingeborenen dieses erdfernen Gestirns die vier Fremdlinge als überaus seltsame Wesen vorkamen, wenngleich diese körperlich von ihnen gar nicht unterschieden waren.
Ehe die herangetretenen Martier zu Worte kamen, strahlte hinter ihnen ein so intensives Licht auf, daß die Szenerie viele hundert Meter weit im Umkreise fast tageshell beleuchtet wurde.
Mac Milford und seine drei Gefährten ließen ihre Blicke über ihre Umgebung schweifen und bemerkten, daß sie sich in unmittelbarer Nähe einer großen Stadt, welche dicht am Gestade des Sees lag, befanden.
Die vier vor ihnen stehenden Bürger des Mars waren in kleidsame Gewänder gehüllt, die sich in Form und Farbe nicht allzusehr voneinander unterschieden. Peinlich sauber nahm sich die farbig zart abgetönte und dem Körper anschmiegende Kleidung aus. Die Madame Mode mußte sich hier auf dieser anscheinend abgeklärten Welt den alles umspannenden Armen einer hochentwickelten Kultur gefügt und zu einem durch und durch reformierten aber willenlosen Wesen herauskristallisiert haben.
»Good evening!« sagte der Chef der britischen Expedition, als die Empfangsdelegation der Martier ihm entgegentrat.
Der englische Gruß, die zwei Worte der auf Erden verbreitetsten Sprache, blieben natürlich, wie das vorauszusehen war, unverstanden.
»Versuchen wir es einmal mit einigen anderen Sprachen,« meinte Jenkinson, der als Berichterstatter der größten Zeitung daheim auf Erden weit herumgekommen war, und notdürftig verschiedene Idiome beherrschte.
Guten Tag! Bon jour! Buon giorno! Buenos dias! Servus! Sdrawsdwujtje! — Keine dieser Grußformen wurde verstanden. Kopfschüttelnd hörten die Vertreter des Marsvolkes sie an.
Aus ihrem Munde klang jetzt ein Godi. Das war das erste Wort, das die Söhne der Erde zu hören bekamen. Es wurde mit eigentümlicher Akzentuierung und klangreicher Stimme ausgesprochen.
»Haben Sie etwas verstanden?« frug Mac Milford seine Begleiter.
Diese schüttelten den Kopf, wie vordem die Martier.
»Hindostanisch, Malaiisch, Sanskrit und Chinesisch ist es nicht,« meinte der Seapoyhauptmann, dem diese Idiome während seines langen Aufenthaltes in Indien nicht ganz unbekannt geblieben waren.
Als die Martier sahen, daß keine Verständigung mit den Fremdlingen zu erzielen war, verlegten sie sich auf die Gebärdensprache. Und als auch damit so viel wie nichts erreicht wurde, berieten sich die vier Söhne der Marswelt mit ihren Mitbürgern.
Nun harrte die Expedition darauf, was jetzt folgen sollte.
»Der Empfang läßt keine direkten Feindseligkeiten gewahr werden,« sagte Morton zu dem Alten.
»Wie ich das vorausgesehen habe,« erwiderte Mac Milford.
»Es strömen immer mehr Leute herbei ... sehen Sie dort. Die ganze Stadt scheint alarmiert zu sein,« ließ sich Palgrave hören.
»Man hat uns wie Wundertiere angestaunt. Vermutlich sind die Martier jetzt kopflos und wissen nicht, wie sie sich uns gegenüber verhalten sollen.«
Während dieser Äußerung des Reporters drangen viele Stimmen zu der Expedition herüber, die ihrem Klange nach auf eine große Erregung der Marsbevölkerung schließen ließen.
»Glauben Sie, daß wir das martische Kauderwelsch über kurz oder lang kapieren werden?« frug der Invalide den Professor.
»Das ist schwer zu beantworten, mein lieber Freund. Jedenfalls werden wir uns zunächst mit dem Idiom vertraut machen müssen, wenn wir unserer Mission in jeder Beziehung gerecht werden wollen.«
»Ich werde acht Tage und ebensoviele Nächte unausgesetzt büffeln, bis ich in die Elemente der Marssprache eingedrungen bin,« meinte hierauf Jenkinson.
»Nur wenn wir die Sprache unserer neuen Mitbürger beherrschen, werden wir ihre Werke und Wunderdinge begreifen und diese ihrem wahren Wesen nach kennen lernen. Darum also wollen wir vor etwaigen linguistischen Schwierigkeiten nicht zurückschrecken. Eiserner Fleiß wird unser Vorhaben krönen,« sagte der Alte und blickte den soeben zurückkehrenden Martiern erwartungsvoll entgegen.
Das tageshelle Licht wurde von einem auf hohen Rädern ruhenden Apparat ausgesandt. Die intensiv leuchtenden Strahlenkegel entsprangen, soweit sich dies ergründen ließ, einem in Rotation befindlichen Riesenscheinwerfer, der von einem Manne bedient wurde. Horizontal und vertikal schossen die Lichtmengen hervor und durchfluteten die Umgebung bis zur Grenze der Stadt hin, die äußere Reihe der Gebäude noch beleuchtend.
Auf breit angelegten Wegen eilten immer neue Scharen der martischen Bevölkerung herbei, und umstanden wie lebende Mauern den Ankunftsort der Fremdlinge. Lautes Stimmengewirr durchhallte die Luft.
Die Abordnung des Volkes trat jetzt zu den Reisenden wieder heran, und einer der Martier winkte in so bezeichnender Weise, daß die Expedition daraus entnahm, daß sie jenem folgen solle.
Mac Milford und die Seinen schritten nun den vorausgehenden Martiern nach, bis sie auf die sich stauende Menge stießen, welche in fast ehrerbietiger Weise zurückwich.
Es war in der Nähe des Strahlenapparates, als ein schriller Pfiff ertönte und eine Flugmaschine über den Häuptern unserer Helden sichtbar wurde. Das martische Vehikel senkte sich geräuschlos auf den Boden herab. Und nun wurde den Erdenbürgern durch nicht mißzuverstehende Zeichen angedeutet, daß sie sich in das Fahrzeug begeben sollten.
»Tun wir, was man von uns wünscht,« sagte der Prosessor und bestieg als erster das Flugvehikel, welches er mit Interesse musterte.
»Nicht übel ... man transportiert uns in einer Art und Weise, die mir gefällt. Respekt vor unseren neuen Mitmenschen; sie wissen uns gentlemanlike zu behandeln,« meinte Palgrave und folgte dem Alten.
»Ich bin von den größten Hoffnungen betreffs unseres Besuches erfüllt,« erwiderte Jenkinson.
»Hoffnungen werden nur zu leicht zuschanden, mein werter Freund und Reisegenosse,« versetzte Morton.
Als die Mitglieder der Expedition in der geräumigen Flugmaschine Platz genommen hatten, gesellte sich ihnen auch einer der Martier bei.
Während nun das von einem älteren Manne geleitete Luftfahrzeug gleich einer Schwalbe sanft, aber schnell vertikal aufstrebte, löste sich das Schweigen, welches die Menge einige Minuten hindurch bewahrt hatte. Unter großem Tumult, hocherregt, zogen die Menschenmassen wieder der Stadt zu; das Stimmengewirr klang noch eine Weile bis zu dem Fahrzeug herauf, wurde dann allmählich schwächer und verlor sich schließlich in der Ferne.
Der die Expedition begleitende Martier mochte nach oberflächlicher Schätzung etwa 60 Jahre zählen. Wohlproportioniert von Gestalt, besaß er ein fein geschnittenes Gesicht, aus dem ein Paar dunkle Augen blickten, die Geist und Gemüt verrieten. Die Farbe der Haut war nicht von der eines Europäers unterschiedlich, kaum, daß sie um eine Nuance bräunlicher erschien. Noch zeigte sich in dem nußbraunen Haupthaar kein Silbersträhnchen, und keine Falte im Gesicht deutete an, daß der Mann bereits an der Schwelle stand, wo auf Erden das Greisenalter zu beginnen pflegt. Das bartlose Antlitz verriet auch keine Spuren von Sorge oder Kummer; es zeigte einen weltzufriedenen Ausdruck, der jetzt freilich mit Neugierde und Mißtrauen vermischt war.
Der Flugapparat wurde nun von den Weltallsreisenden in näheren Augenschein genommen.
Das Vehikel besaß eine zigarrenähnliche Form; an beiden Enden spitz zulaufend und in der Mitte ausgebaucht. Seine Länge betrug 5 und seine größte Breite 3 Meter. Das Metall, aus welchem die Luftmaschine hergestellt war, hatte ein dem Aluminium ähnelndes Aussehen und schien ein Leichtmetall zu sein, das die Chemiker der Erde noch nicht entdeckt hatten. Über den unten völlig geschlossenen Raum, welcher die Sitze barg, wölbte sich ein Gestänge, das einen freien Ausblick nach allen Seiten hin gestattete. Am Stern des Fahrzeuges war der Führerstand. Dort befand sich eine schwarze Platte, auf welcher eine kleine Zahl Druckknöpfe hervorragten. Der Lenker regulierte mit deren Hülfe den Kurs, die Geschwindigkeit und das Auf- und Absteigen des Luftvehikels. Von einer Antriebsmaschine war nirgends etwas zu sehen; vermutlich befand sich dieselbe unter dem Boden des Fahrzeuges, oder die Luftschrauben wurden durch Akkumulatoren in Umdrehung versetzt. Vor dem Führerstand war eine hellstrahlende Lampe eigentümlicher Konstruktion angebracht, die ihr schneeweißes Licht weithin voraussandte.
»Das Problem der Luftschiffahrt ist hier also glatt gelöst,« raunte Morton dem Alten zu.
Dieser nickte. »Wie wir es nicht anders erwarten konnten.«
»Unser Antigravitationsvehikel ...« Hier wurde der Ingenieur von dem Professor plötzlich unterbrochen.
»Sapperlot, da fällt mir soeben ein, daß ich das Fluidventil nicht geschlossen habe,« erwiderte der Alte, und man konnte es ihm deutlich anmerken, daß er über diese Entdeckung bestürzt war.
»Ist das von irgendwelcher Bedeutung?« frug der Reporter.
»Ob das von Bedeutung ist? — Das ganze Fluid verlieren wir!«
»Alle Wetter!« rief der Ingenieur.
»Wo sollen wir dann neues hernehmen?« Jenkinson fühlte sich recht beunruhigt.
»Hm — wenn wir dem Mars welches abzapfen könnten ... doch damit hat's noch gute Wege. Vielleicht opponieren die Herren dieser Welt dagegen. — Was dann?«
»Ja, was dann?« wiederholte Palgrave und sah seine drei Genossen fragenden Blickes an.
»Lassen wir ob des Umstandes den Mut nicht sinken. Wer weiß, wie sich unser Hiersein noch gestalten wird. Mit der Rückreise zur Erde hat's vorläufig sowieso noch gute Weile,« meinte der Professor.
»Ein Lichtschein!« rief soeben Morton.
»Wo?«
»Wir nähern uns einer Stadt,« sagte Mac Milford, der den am dunklen Horizont auftauchenden Lichtstreifen bemerkte.
»Hoffentlich sind wir bald am Ziel. Mein Appetit wird immer reger; habe seit rund sechs Stunden nichts genossen,« ließ sich der Reporter vernehmen.
»Sie sind der reinste Sklave Ihres Magens. An Ihnen ist wahrhaftig kein Hungerkünstler verloren gegangen.«
Jenkinson würdigte die Äußerung des Invaliden keiner Antwort; er schaute den ihm gegenübersitzenden Martier mißgestimmt an.
Wenige Minuten darauf schwebte das Fahrzeug über einem in eine Lichtflut getauchten Häusermeere.
Der Anblick war unbeschreiblich schön. Aus einer Höhe von etwa 200 Metern fiel das Auge unserer Weltallsreisenden auf zahllose Gebäude, die ihrem Aussehen nach sich nicht allzu sehr von den Häusern einer Großstadt auf Erden unterschieden. Auffallend war in erster Linie, daß die Bauwerke sämtlich von gewaltiger Höhe waren. Gegen diese martischen Bauten mußten die amerikanischen »Wolkenkratzer« mit ihren zwanzig Stockwerken völlig verschwinden, denn die martischen Häuser repräsentierten wahre Kolosse. Mit durchweg hundert Stockwerken, mochten sie eine Höhe von mindestens 120 Meter haben. Eine Stadt voll Türme! Tausend — nein, zehntausend solcher babylonischen Kolosse ragten zum Himmel empor. Soweit die irdischen Insassen im Flugschiffe bei der Dunkelheit gewahren konnten, besaßen die Häuser flache Dächer, Plattformen, welche den Vehikeln, die den Luftverkehr vermittelten, ein bequemes Niederlassen gestatteten. — Die ganze Stadt war in eine Lichtflut getaucht. Wie illuminiert nahmen sich ihre Gebäude aus.
Über dem Häusermeer flimmerten in der Luft zahlreiche Lichtpunkte, die wie gespenstische Irrwische kreuz und quer, durcheinander und übereinander huschten. Es waren die Flugmaschinen, welche mit Hereinbrechen der Dunkelheit intensiv leuchtende Signallampen am Bug wie am Stern führen mußten, damit Zusammenstöße vermieden wurden.
Auf den Straßen wogten Menschenmassen. Es war ganz das Bild, wie es Weltstädte auf Erden bieten.
Die Flugmaschine senkte sich jetzt auf die Plattform eines Hauses nieder, welches in unmittelbarer Nähe des Platzes lag, auf dem sich ein umfangreiches Gebäude mit einer dasselbe krönenden Riesenkuppel befand.
Das flache Dach war ringsum von einer Bordwand umgeben und trug in seiner Mitte einen runden Kiosk.
Nachdem der Martier mit den Mitgliedern der Weltallsexpedition das Fahrzeug verlassen hatte, wurde der Kiosk betreten. Das Innere desselben ließ nicht sogleich erkennen, welchen Zwecken der Raum diente. Doch schon in der nächsten Minute wurde es unseren Erdensöhnen klar, daß sie sich in einem Fahrstuhl befanden, der sich geräuschlos und schnell durch viele Etagen hindurch niedersenkte.
Plötzlich stand das Beförderungsmittel still.
Vor den Augen der Expedition öffnete sich eine Rollwand, hinter der ein breiter, tageshell erleuchteter Raum sichtbar wurde.
Der Marsmensch verließ nunmehr den Fahrstuhl und winkte den anderen, daß sie ihm folgen möchten.
»Ich platze bald vor Neugierde, was nun geschehen wird,« flüsterte Jenkinson Morton zu.
»Wir haben keinesfalls Unhelligkeiten zu befürchten,« versetzte der Angeredete und musterte das Gemach, in welchem soeben Halt gemacht wurde.
»Er verläßt uns ...« meinte Palgrave, als der Martier eine Rollwand zur Seite schob und verschwand.
Die vier Männer betrachteten jetzt ihre Umgebung.
»Sapperlot, das nenne ich guten Geschmack. Schauen Sie nur das Meublement an. Wie das alles kunstvoll gestaltet ist; es spiegelt und blitzt ... ob es Ebenholz ist?« frug der Invalide.
»Beileibe nicht,« erwiderte Morton, der einen eigenartig geformten Sitz mit der Hand befühlt hatte. »Holz auf keinen Fall. Ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich annehme, daß die Dinge hier alle aus Hartgummi angefertigt sind.«
Mac Milford nickte beistimmend. Auch er hatte eins der Möbel befühlt und war derselben Ansicht wie Morton.
»Wie wunderbar die Decke und die Wände ausgestattet sind,« versetzte Palgrave.
»Ihr Belag scheint aus einer eigentümlichen Glasmasse hergestellt zu sein. Farbiger Glasstuck oder so etwas Ähnliches,« gab der Professor zur Antwort.
Von irdischen Wohnräumen unterschied sich das Gemach vor allem dadurch, daß es keine Fenster besaß. Und trotzdem war es tageshell erleuchtet. Seltsam. — Nirgends erblickte man einen Leuchtkörper. Woher mochte das milde, bis in jeden Winkel dringende Licht stammen? Hierüber entspann sich zunächst eine kleine Debatte.
»Man könnte fast annehmen, daß irgendwo monströse Geißlerröhren verborgen angebracht sind, die ihr Vakuumlicht unbemerkt ausstrahlen,« meinte schließlich Morton, als die Sache nach verschiedenen Seiten hin erörtert worden war.
»Phlogiston vielleicht?« ließ sich Jenkinson hören, der einmal etwas über sogenannten Lichtstoff gelesen hatte. —
»Das Problem des Ideallichtes, dem unsere Techniker daheim mit allerlei Ideen zu Leibe rücken, haben die Herren Martier trefflich gelöst,« versetzte Mac Milford. »Es scheint mir fast, als wenn die Lichtquelle hier eine Verwandtschaft mit meinem Anodenlicht habe. Jedenfalls aber ist sie elektrischen Ursprungs.«
»Woraus schließen Sie das?« frug Jenkinson.
»Weil die Vermutung sehr nahe liegt. Ich erinnere mich eines Versuches, den ein amerikanischer Physiker in bezug auf Schaffung einer idealen Beleuchtungsform anstellte.«
»Welcher Art war dieser?«
Der Professor räusperte sich auf die Frage Mortons und sann einige Augenblicke nach. »Hm ... wenn ich nicht irre, lief der originelle Versuch darauf hinaus, zunächst ein elektrisches Feld zu schaffen ...«
»Pardon, wenn ich Sie unterbreche,« sagte Palgrave. »Elektrisches Feld — was hat man darunter zu verstehen?«
»Einen Raum, in dem die darin befindliche Luft elektrisch leitend gemacht worden ist. Wie Ihnen wohl bekannt sein dürfte, ist die Atmosphäre einer der schlechtesten Leiter der Energie, kurz gesagt, ein Nichtleiter. — In ein solches Feld, das zum Beispiel der Luftraum in diesem Zimmer sein könnte, sandte jener Physiker elektrische Energie, welche eine Spannung von fünfzig Millionen Volt besaß. Diese ungeheuer große Spannung erzeugte Lichtschwingungen, die denen ähnelten, welche die Sonne aussendet.«
Mac Milford mußte seine Ausführungen jetzt abbrechen, denn soeben traten drei Martier in das Gemach.
Die Ankömmlinge blieben bei dem Anblick der vier Fremdlinge aus dem Weltall höchlichst überrascht stehen und starrten sie mit grenzenloser Verwunderung an.
Noch war zwischen beiden Parteien kein Wort und kein Zeichen gewechselt worden, als jener Martier, welcher die Erdenbürger hierher geleitet hatte, in der Rollwand sichtbar wurde. Er trat auf seine Stammesgenossen zu und gab sodann auf die ihm von diesen gestellten Fragen Antwort.
Kopfschüttelnd standen die drei zuerst Eingetretenen da. Sie schienen die Sachlage nicht recht fassen zu können.
»Der hohe Rat vermutlich,« flüsterte Jenkinson Palgrave zu.
»Vielleicht auch der Potentat des Marsreiches und seine Adjutanten,« antwortete der Invalide lauten Tones.
Die Martier horchten bei dem Klange von Palgraves Stimme auf. Dann traten sie den Söhnen ihrer Nachbarwelt entgegen.
Der Älteste der vier Marsbewohner war ein sehr würdig aussehender Herr mit glattrasiertem Gesicht und graumeliertem Haupthaar. Seine blitzenden Augen standen mit dem Alter, in welchem er sich befand, in lebhaftem Widerspruch. Der forschende Blick verriet noch viel Geistes- und Körperfrische. In der Kleidung unterschied er sich von seinen übrigen Gefährten dadurch, daß er einige farbige Abzeichen auf dem rechten Arm hatte, und daß auch der Überrock von anderem Schnitt war.
Die beiden ihm zur Seite stehenden Martier trugen einige Mappen aus lederartigem Stoff, welchen sie nunmehr graue Papierstofftafeln entnahmen.
»Jetzt werden wir zu Protokoll vernommen,« raunte der Reporter Morton zu.
Nach einer Weile fruchtloser Bemühungen, die Herkunft der Fremdlinge zu erforschen, ließ der Älteste der Martier die Erdensöhne in ein anderes Gemach abführen, während er und seine Begleiter im Zimmer verblieben, um über das Schicksal dieses seltsamen Besuches aus dem Weltall zu beraten.
Die vier Mitglieder der Expedition harrten nun dessen, was weiter mit ihnen geschehen sollte.
Einige Minuten später erschienen wiederum die Martier, und es entspann sich dann zwischen Mac Milford und dem Grauköpfigen eine Gebärdensprache, welcher alle, die im Gemach waren, aufmerksam folgten.
Der Sohn der Erde suchte dem Sohne des Mars begreiflich zu machen, daß er von einem anderen Planeten herübergekommen sei. Das gelang ihm diesmal unerwartet schnell; freilich tat dabei eine Sternkarte, welche der Sprecher aus der Tasche gezogen hatte, ihr übriges.
Anfänglich hatte der Martier die Karte erstaunt angesehen und das Material, aus welchem dieselbe gefertigt war, sorgfältig mit der Hand geprüft, dann erst war sein Blick über die blaue, weißbesternte Fläche geglitten und auf einer Sternkonstellation haften geblieben, in welcher Mac Milford einen Punkt des näheren bezeichnete. Wenn der Martier sich wohl auch nicht darüber im klaren war, welchem Gestirne seine Besucher entstammten, so stand es doch bei ihm bereits fest, daß er Menschen einer anderen Welt vor sich hatte.
Nachdem noch eine Weile hin und her gestikuliert worden war, und die Marsmänner darauf eine kurze Beratung pflogen, konnte Jenkinson sein Hungergefühl nicht mehr länger verbergen. Er machte den Martiern mit einer Handbewegung, welche unmöglich verkannt werden konnte, klar, daß er etwas zu genießen wünsche.
Nichts verstanden die Marsleute schneller, als diese Gebärde.
Das grauköpfige Oberhaupt traf mit Bezug auf Jenkinsons Wunsch sofort einige Anordnungen, und gleich entfernten sich zwei der Martier.
»Ein Königreich für eine gute Mahlzeit,« sagte Jenkinson zu seinen Gefährten gewendet.
»Ich glaube, daß uns allen der Magen schief hängt,« versetzte Morton.
»Nur keine konzentrierte Nahrung mehr,« brummte Jenkinson.
»Ich werde mich kaum irren,« sagte Mac Milford, »wenn ich annehme, daß man uns jetzt Eiweißpastillen, Kohlehydrattabletten und ähnliche Nähr- und Sättigungssubstanzen auftischt.«
»Noch nie habe ich einer Mahlzeit so erwartungsvoll entgegengesehen, wie der kommenden. — Glauben Sie wirklich, Herr Professor, daß wir auf die Dauer unseren Magen irdischer Nahrung gänzlich entwöhnen können?«
»Gewiß,« lautete die Antwort. »Sehen die Martier nicht gut genährt aus?«
Ehe Mac Milford hierauf eine Antwort erhielt, traten die beiden Männer wieder ins Zimmer und statteten dem Grauköpfigen Bericht ab, der dann allen ein Zeichen gab, daß man ihm folgen solle.
Die kleine Gesellschaft begab sich nun in ein Nebengemach, es war der Speiseraum. Die Augen der Erdenbürger glitten hier über die Einrichtung hin und sahen gar mancherlei, aber nichts von einer wohlgedeckten Tafel. Das Gemach war prächtig ausgestattet. Die Masse, aus der hier das Meublement bestand, konnte auch kaum etwas anderes sein, als eine Art Hartgummi. An der Wand entlang lief im ganzen Umfange des Gemaches eine Brüstung, über welcher sich fachähnliche Vorrichtungen befanden. Die Brüstung, von Meterhöhe, zeigte viele Abteilungen, vor denen überall hohe Sitze aufgestellt waren. Die erwähnten Fächer enthielten je zwei metallene Büchsen von verschiedener Größe, vor denen sich Schläuche befanden, welche an ihrem einen Ende ein vielfach durchlöchertes Mundstück, aus weißer, spiegelnder Substanz hergestellt, besaßen. Neben jedem Sitze waren an der Wand eine Reihe Druckknöpfe angebracht, sämtlich mit Zeichen versehen, die auf eine Numerierung hindeuteten. Unter den Metallgefäßen waren schwarze Tafeln befestigt, die, von seltsamen weißen Schriftzeichen bedeckt, den sie betrachtenden Erdenbürgern so vorkamen, als seien sie Speisenkarten. Freilich, die Hieroglyphen zu enträtseln, das war bei der völligen Unkenntnis der martischen Sprache keinem unserer Helden möglich.
Als die Martier bemerkten, daß die Fremdlinge nicht wußten, was sie nun beginnen sollten, ließen sie sich auf den Sitzen nieder und luden jene durch Handbewegungen ein, sich gleichfalls zu placieren.
Nachdem sich alle niedergelassen hatten, schauten die Erdenbürger mit fast andächtigen Blicken den weiteren Bewegungen der Marsleute zu.
»Sie drücken auf den obersten Knopf,« flüsterte Jenkinson Morton zu.
»Machen wir's auch so,« erwiderte dieser.
Beide berührten den ersten Knopf neben ihrer Tafel und setzten dann, dem Beispiele der Marsleute folgend, das Mundstück des Schlauches an den Mund.
Mac Milford und Palgrave taten das gleiche.
Was jetzt über die Lippen der vier Söhne Albions floß, war eine flüssige, warme Speise von eigenartigem, aber überaus gut mundendem Geschmack.
»Nicht übel,« sagte Jenkinson und schnalzte mit der Zunge, nachdem er den Schlauch abgesetzt hatte. »Man könnte sich hier in die Speisekammer eines Zauberkünstlers versetzt fühlen.«
»Hm — hätte nicht gedacht, daß die Bewohner des Mars ihre Mahlzeiten in so schmackhafter Form und so bequem genießbar herstellen,« sagte Mac Milford zu Morton.
»Mit den Eiweißpastillen und Kohlehydratpastillen bleiben wir anscheinend verschont,« erwiderte dieser.
»Ich vermute, daß diese konzentrierten Nahrungsformen hier auf dem Mars schon ein überwundener Standpunkt sind.«
»Sie nehmen damit an, daß diese eine bereits übergangene Zwischenstufe in der Ernährungsweise der Urahnen und der heutigen Marsbevölkerung gebildet haben?«
»Ganz recht,« lautete die Antwort im Flüstertone.
Nach und nach wurden durch Druck auf weitere Knöpfe noch andere Speisen eingenommen; alle aber waren sie flüssig oder breiförmig. An Wohlgeschmack ließ keine zu wünschen übrig. Zum Schluß kam der zweite Schlauch an die Reihe. Er lieferte ein Getränk von angenehm kühlender Temperatur, dessen Geschmack fast dem eines bukettreichen Weines alten Jahrganges glich, und der zwischen süß und säuerlich die Mitte hielt.
Nach Beendigung des seltenen Mahles erhoben sich die Martier, und die Erdenbürger warteten nun neugierig darauf, was mit ihnen jetzt weiter geschehen würde.
Wieder fand eine kurze Beratung statt, dann gesellte sich zu Mac Milford ein jüngerer Martier und gab durch Zeichen zu verstehen, daß er ihm folgen möge.
Während nun seine drei Gefährten in einen Raum, der in dem obersten Geschosse des Hauses lag, abgeführt wurden, betrat der alte Professor mit dem Martier ein Nebengemach.
Beide ließen sich hier an einem umfangreichen Tische nieder. Auf letzterem befanden sich verschiedene Instrumente, Bücher und Schriften, ähnlich wie solche der Professor daheim auf Erden zu sehen gewohnt war. Ähnlich, ja, — — doch mußte man bei näherer Betrachtung dieser Dinge bemerken, daß die Apparate aus einem Metall und die Druckwerke und Schriften aus einem Stoffe hergestellt waren, dessen Natur und Bearbeitung Mac Milford auffallen mußten.
Der Marsbewohner, welcher höheren Befehl erhalten zu haben schien, den Fremdling in gewissen Dingen zu unterweisen, war ein Mann, dessen Alter der Professor auf etwa zwanzig Marsjahre schätzte. Während der Martier nun eifrig damit beschäftigt war, unter den Schriftwerken verschiedenes herauszusuchen, betrachtete ihn Mac Milford mit großem Interesse.
Von Gestalt nicht groß, war sein Körperbau doch ebenso wohlproportioniert, wie der eines Erdenbewohners. Sein Haar mochte blond sein, soweit dies einzelne unter der grauen Kopfbedeckung hervorlugende Härchen verrieten. Das bartlose Gesicht war blaß. Die ernstblickenden Augen, welche nur schwach bewimpert waren, sowie der ganze übrige Ausdruck des Gesichtes ließen Mac Milford erkennen, daß er hier einen weit über sein Alter hinaus gereiften Menschen vor sich hatte. In dem Auge lag so manches, was auf hohe Intelligenz und ausgeprägtes Gefühlsleben schließen ließ. Auffallend war und blieb ein auf den flüchtigen Blick hin nicht gleich bemerkbarer Gesichtszug, den Mac Milford trotz seiner Menschenkenntnis nicht recht auszulegen vermochte. Deutete er auf eine gewisse Schwermut oder auf einen tiefen Lebensernst hin? — Die scharf gebogene Nase gab dem Gesicht des Martiers einen unverkennbaren energischen Ausdruck, der sich jedesmal steigerte, sobald der junge Mann die Brauen emporzog. Ein dem Professor besonders auffallendes Merkmal war es, daß jener in seinen Bewegungen eine Gemessenheit und Ruhe zeigte, die man gravitätisch nennen konnte. Aus alledem vermochte der Alte die Analyse zu ziehen, daß die Bewohner des Mars, zum wenigsten die männlichen, wenn diese ihrem Mitbürger ähnlich waren, zweifellos eine Menschenklasse repräsentierten, deren Charaktereigenschaften durch eine zur höchsten Potenz gesteigerte Intelligenz vortreffliche sein mußten. Die Kleidung des Martiers, welche sich eng an die schmiegsame und schlanke Gestalt anlegte, war nach des Professors Meinung sicherlich das Produkt einer in der Bekleidungsfrage stattgefundenen allgemeinen Reform gewesen.
Es dauerte eine geraume Weile, bis daß der Marsbewohner alles dasjenige zurechtgelegt hatte, was ihm erforderlich schien in Anbetracht der Weisung, die er von dem Grauköpfigen erhalten hatte. Als er endlich fertig war, ging er zu dem Versuche über, Mac Milford in die Elemente der martischen Weltsprache einzuweihen. Mit Hülfe kleiner Stifte schrieb der Unterrichtende eigenartig aussehende Zeichen, welche fast auf ein Haar den in der Stenographie üblichen Sigeln glichen, auf weiße, aus einer der Zellulose ähnlichen Substanz verfertigte Tafeln. Nachdem dies geschehen, reichte der Martier Mac Milford eine der Tafeln und beobachtete, ob dieser erfaßte, was die Schriftzeichen ausdrücken sollten.
Kopfschüttelnd betrachtete der alte Gelehrte die Hieroglyphen der Marssprache. Nichts, gar nichts konnte er entziffern. Da verfiel er plötzlich auf den Gedanken, mittels gezeichneter Bilder eine Verständigung mit dem Marsbewohner zu erzielen, und zu seiner Freude konnte er gewahren, daß es ihm gelang.
Was er zuerst durch diese Bildersprache mitzuteilen versuchte, sei im nachfolgenden kurz angegeben:
Erstes Bild: Die Sonne, ein Kreis, von dem aus er Linien zog, welche die Lichtstrahlen darstellen sollten.
Zweites Bild: Die Erde, ein kleiner Kreis, welcher am Ende der von der Sonne gezogenen Linien markiert wurde.
Drittes Bild: Der Mond, als ganz kleiner Kreis in die Nähe der Erde gezeichnet, dessen Bahn um die Erde er in einer punktierten Linie andeutete.
Mac Milford reichte nunmehr diese Tafel mit seinen Zeichnungen dem am Tische sitzenden Martier, deutete mit dem Finger der einen Hand auf den die Sonne darstellenden Kreis und mit dem Finger der anderen Hand gegen die Decke empor. Ein verständnisvolles Nicken mit dem Kopfe zeigte Mac Milford an, daß er wohl verstanden worden war. Schnell beeilte er sich nun, sich noch weiter verständlich zu machen. Er zeigte erst auf den die Erde darstellenden Kreis und dann sogleich auf sich selbst. Diesmal schien ihn der Marsmensch jedoch nicht verstanden zu haben. Mac Milford zeigte nun auf den von ihm markierten Mond und bedeutete, indem er mit dem Finger einen Kreisbogen um die gezeichnete Erdkugel beschrieb, daß dieser Trabant den Erdkörper umkreise. Plötzlich ließ der Martier ein lautes »Ah!« ertönen; er schien der Sache auf den Grund gekommen zu sein. Kurzer Hand zog er aus seinem Gewand eine um ein Stäbchen schmal aufgewickelte, äußerst dünne Karte hervor und rollte diese auf. Mac Milford erkannte zu seiner Freude, daß es eine Orientierungskarte des sich über dem Mars ausdehnenden Himmelsgewölbes war. Hastig überflog er dieselbe mit seinen Blicken. Sein in der Astronomie geschultes Auge erkannte ohne Mühe die Stellung der einzelnen Gestirne, so die mit einigen Hieroglyphen bezeichnete Sonne; er fand dann auch seine irdische Heimat: die Erde. Schnell zeigte er dem Marsmenschen mit dem Finger den Ort, welchen die Erde auf der Karte einnahm — und wieder ertönte ein lautes »Ah!«. Dieser Ausruf der Verwunderung war also derselbe wie auf der Erde gebräuchliche, der einzige Laut, welchen Mac Milford zu deuten wußte. Jetzt betrachtete der Alte die martischen Hieroglyphen, welche neben dem Erdstern auf die Karte gezeichnet waren und versuchte sie auf einem Papier nachzumalen, tippte dann nochmals mit seinem Stift auf diese Zeichen und dann auf sich selbst. Ein wiederholtes Nicken und Lächeln des Martiers überzeugte ihn, daß dieser die Sache erfaßt habe und damit nun auch über die Herkunft der Fremdlinge vollständig klar war.
Der Sohn des Mars zeichnete jetzt auf eine zweite Tafel eine Anzahl verschiedener Bilder und schrieb die Namen derselben in der Schrift seiner Sprache. Alsdann reichte er Mac Milford die Tafel hin. Dieser studierte eifrig die ihm vorgemalten Bilder und Zeichen, und sein scharfer Geist hatte bald Sinn und Zweck derselben erraten. Er wußte jetzt, daß der Martier sich bemühte, ihm die Anfänge der neuen Sprache auf diesem Wege beizubringen, um eine Verständigung mit ihm erzielen zu können. Nachdem er die Tafel eine Weile betrachtet und die Bilder mit den Zeichen verglichen hatte, malte er ebenfalls einige bildliche Darstellungen auf die Tafel und reichte sie darauf seinem Lehrer mit einer bezeichnenden Geste, er möge ihre Benennung in Marsschrift darunter schreiben, wieder zurück. Dieser verstand seinen Wunsch und machte sich sogleich eifrig über die Tafel her. Beide tauschten nun gegenseitig Worte aus und schrieben dann ihre Zeichen unter die Bilder. So lernte Mac Milford schnell eine Art Silbenalphabet der Marssprache kennen; zwar war es nur die Schriftsprache, aber das genügte ihm vorläufig denn er hoffte, daß er, sobald er dieser erst mächtig sei, auch bald die Lautsprache erlernen würde.
Stunden hindurch sah man nun die beiden fortgesetzt eifrig beschäftigt. Das Resultat am Schlusse des ersten Unterrichtes war für beide Teile ein sehr erfreuliches, denn es gelang ihnen bereits, sich über vielerlei zu verständigen.
Gegen Mitternacht wurde dann Mac Milford zu seinen Gefährten geleitet, welche aber bereits auf ihren Lagerstätten in tiefen Schlummer versunken waren.
Am folgenden Morgen berichtete Mac Milford, daß er sich mit den Martiern schon so weit zu verständigen verstehe, daß, wenngleich sein Auffassungsvermögen bei Erlernung fremder Sprachen kein großes sei, er doch bestimmt hoffe, binnen kurzem das seltsame Idiom zu erlernen.
»Was die Sprache der Martier anbetrifft, so haben wir es mit einer durch die vieltausendjährige Kultur abgeschliffenen und vereinfachten Einsilbensprache zu tun,« erwiderte Mac Milford, als er von Jenkinson gebeten wurde, ein linguistisches Urteil über das martische Idiom abzugeben. Der Alte wollte eben noch weiter darlegen, daß die Marssprache hinsichtlich der Einsilbigkeit ihrer Worte respektive der durch diese ausgedrückten Begriffe dem Chinesischen und Japanischen nicht unähnlich sei, und daß auch die Schriftzeichen der asiatischen Idiome den martischen Schnörkeln verwandt waren. Die weiteren Auseinandersetzungen unterbrach jedoch Palgrave, indem er plötzlich das Thema auf des Professors Diener Tom brachte. »Was mir da eben einfällt — — wie steht es denn nun eigentlich mit Ihrem Diener? Ob ihn das Atomistikum glücklich hierher befördert hat?« —
Mac Milford, an den die Frage gerichtet war, erinnerte sich nun auch seines Faktotums wieder. »Richtig, an den Burschen habe ich gar nicht mehr gedacht. — Meine Krankheit, die Gefahren der Reise und sonst noch vieles, was mir durch den Kopf ging, haben mich ganz vergessen lassen, daß mein Diener, vorausgesetzt, daß er hier glücklich gelandet ist, unter den Marsbewohnern weilen muß.«
»Wo mag er aber stecken?« frug Jenkinson.
»Befindet er sich wirklich auf dem Mars, so wird man uns mit ihm sicher konfrontieren,« meinte Morton. »Ich möchte aber bald bezweifeln, daß das wunderbare Experiment, welches unser verehrter Freund und Gefährte am Schluß seiner großen Rede in der Royal Society vorgenommen hatte, völlig gelungen ist.«
»Am Ende spazieren seine Atome noch im Weltall herum,« erwiderte belustigt Jenkinson. »Dieser Vorfall gäbe eigentlich einen famosen Stoff zu einer Skizze für die Times ab.«
»Ihr Reporter seid doch herzlose und abgebrühte Gesellen. Der arme Bursche wäre in diesem Falle doch nur zu bedauern,« sagte der Invalide.
»Ein Opfer des Vaterlandes und der Wissenschaft,« gab Jenkinson achselzuckend zurück.
Nachdem die Angelegenheit noch eine Weile allerseits besprochen worden war, beschlossen die Expeditionsmitglieder, daß einer von ihnen beständig Tagebuch führen solle, um alle wichtigen Vorfälle und sonstiges Interessante aufzuzeichnen.
Dieses Amt zu übernehmen erbot sich Jenkinson; war doch die Anfertigung von Berichten sein Beruf.
Der Raum, in welchem sich die Erdenbürger augenblicklich befanden, sollte, wie alle bald gewahr wurden, längere Zeit der Ort eines unfreiwilligen Aufenthaltes für sie werden.
Was jeder bisher vermißt hatte, war, daß nirgends ein Gegenstand erblickt wurde, zu dessen Herstellung Holz gedient hatte. An Stelle dieses Materials schien überall die schon erwähnte Hartgummimasse verwendet zu werden; ein Ersatz oder vielmehr ein Surrogat, welches das Holz in jeder Beziehung entschieden übertraf. Mit Hartgummi waren die Wände getäfelt, das Meublement bestand daraus, und auch der Bodenbelag mochte vulkanisierte Gummimasse sein. Bei der Untersuchung ihrer Lagerstätten fanden die Söhne der Erde, daß sie nicht auf schwellenden Daunenpfühlen, sondern auf luftgefüllten Kissen, welche ihrer Lage nach durch mechanische Vorrichtungen verstellt werden konnten, die Nacht über gelegen hatten.
Mitten in einer lebhaften Diskussion, welche sich um den Punkt drehte, wie man den Marsleuten schnellstens klar machen könnte, daß sie nicht gekommen seien, ihren Weltfrieden zu stören, erschien unerwartet der grauköpfige Martier mit jenem Manne, der am Tage vorher Mac Milford in der Marssprache unterrichtet hatte.
Der nun folgende Gedankenaustausch, der sich weniger auf Laute, als auf Gesten beschränkte, ließ das Oberhaupt der Weltallexpedition schließlich begreifen, daß er und seine Gefährten vorläufig in Gewahrsam gehalten werden sollten.
Daß Mac Milford alles, was die Martier ihm soeben mitzuteilen bemüht gewesen waren, dem Sinne nach richtig verstanden hatte, das bewies die nächste Zeit, während welcher keiner der Erdensöhne das Gebäude verlassen durfte.
Zehn Tage hindurch waren die Martier eifrig bestrebt, die vier Besucher des Mars in die Mysterien ihrer Sprache einzuweihen. Auf welche Weise das geschah, das hat der Leser schon bei der ersten Lektion, welche Mac Milford von seinem Lehrmeister erhalten hatte, erfahren.
Eine Reihe Tage ersprießlicher Tätigkeit lag hinter den vier Mitgliedern der Weltallsexpedition. Mit Eifer und großem Interesse hatten sich auch Morton und Jenkinson dem Studium des martischen Volapüks hingegeben; weniger aber Palgrave, dem jedes Lernen im Grund der Seele verhaßt war. Wider Erwarten hatten die Erdenbürger die Elemente der Wort- und Schriftsprache bald so weit erfaßt, daß jeder seinen Gedanken und Wünschen, wenn auch nicht immer so ganz klar, Ausdruck zu geben vermochte.
Während der Zeit ihrer Internierung hatten sie alltäglich Gelegenheit, neue Bewohner des Planeten kennen zu lernen, welche gekommen waren, um die Fremdlinge anzustaunen. Hatte sich doch die Nachricht von der Ankunft der irdischen Expedition längst über den ganzen Marsball verbreitet, und fortgesetzt eilten Martier aus allen Teilen des Reiches in die Zentralstadt, dem Regierungssitze der Staatenleitung, um die fremden Weltallsmenschen von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Auch der weibliche Teil der Bevölkerung stellte unter den Besuchern ein starkes Kontingent, gewiß waren sie mit einer ebenso großen Dosis Neugier behaftet, wie ihre irdischen Schwestern.
Als die Erdenbürger die ersten martischen Evastöchter zu Gesicht bekamen, mußten sie sich gestehen, daß diese feingeistig dreinschauenden Geschöpfe mit ihrer überaus kleidsamen Tracht, die die schlanken Gestalten noch ätherischer machte, als sie schon erschienen, den weiblichen Individuen des Erdballes bei einer Schönheitskonkurrenz sicherlich den Rang abgelaufen hätten.
Nachdem sich also die vier kühnen Reisenden vom Nachbarplaneten ihren neuen Mitbürgern einigermaßen verständlich zu machen vermochten, wenngleich sie bei der Aussprache martischer Worte und Laute betreffs der rhythmischen Betonung gar oft arge Schnitzer verbrachen, verspürten die Erdensöhne den ersten Hauch der geistigen Überlegenheit der Martier. Die grandiose Kultur, zu welcher sich die Bevölkerung des irdischen Nachbarplaneten im Verlaufe von Jahrtausenden emporgeschwungen hatte, wehte ihnen bereits bei diesen und jenen Anlässen während ihrer Haft entgegen. Welcher Genuß mußte es sein, bei Beherrschung der Marssprache die vertieften Weltanschauungen von Menschen kennen zu lernen, die auf einem geistigen Niveau standen, zu welchem sie nur eine viertausendjährige Kultur emporzuheben vermocht hatte? — — Menschliche Wesen mit einer bis zur höchsten Potenz gesteigerten Intelligenz mußten ihnen, den Erdenbürgen, Dinge zu offenbaren vermögen, welche irdische Anschauungen ins Reich des Mystischen und Übersinnlichen verwiesen. Sicherlich waren die Martier große Philosophen, gewiegte Mathematiker und Naturforscher, denen das Rätsel des Lebens, das größte Weltproblem, dem die Erdenmenschen hinsichtlich seiner Lösung noch so unendlich fern standen, längst enthüllt war. Die den Werdegang des Menschleins im Ei in allen seinen Phasen genau zu verfolgen in der Lage waren; denen keine Vorgänge im Mikrokosmos gleich wie im Makrokosmos unbekannt sein mußten. Die über die Lebensfunktionen der Urzelle, der Amöbe, ebenso unterrichtet waren, wie über die Natur aller kosmischen Körper. Denker und Forscher, denen der wahre Raum- und Zeitbegriff zum Bewußtsein gekommen sein mußte; die weder über die vierte und noch andere Dimensionen, wie auch über den wirklichen Begriff der Ewigkeit im unklaren waren. Kurz, Lebewesen, die voll und ganz das Endprodukt einer Weltschöpfung repräsentierten.
Das waren so ungefähr die Gedankengänge der Erdenbürger, nachdem sie zehn Tage hindurch Umgang mit Martiern gehabt hatten. — Eine Überraschung sollte ihnen aber noch aufgespart bleiben. Nämlich die, daß sie, ohne die vielen Etappen einer ungeheuer großen Kulturperiode einzeln durchlaufen zu müssen, schnell die geistige Höhe und das Erkenntnisvermögen der Martier sich zu eigen machen konnten, um sodann diesen nahezu ebenbürtig zu werden. — Welcher Art die Überraschung war, wird der Leser im Verlaufe der folgenden Kapitel erfahren.
Es mochte nach martischer Zeitrechnung gegen 8 Uhr morgens sein — die Sonne hatte sich noch nicht hoch über den Horizont erhoben, als der den Unterricht gebende junge Mann erschien und Mac Milford bedeutete, daß er und seine Gefährten sich zu einem Gange ins Silo, dem Staatsparlament, bereit halten sollten. Die Fremdlinge sollten dort dem Staatenleiter und seinem Stabe vorgestellt werden.
»Goddam!« rief Palgrave aus. »Endlich kommt etwas Abwechslung in das öde Einerlei der vergangenen Tage.« Das Studium der Marssprache, welches besonders Mac Milford und Jenkinson eifrig betrieben hatten, war für ihn eine Beschäftigung gewesen, bei der seine Schwerfälligkeit und sein schlechtes Gedächtnis ihn weit hinter seinen Genossen herhinken ließen.
»Hoffentlich machen wir Eindruck auf den gewaltigen Mikado des Marsreiches,« meinte Jenkinson, der soeben Tag und Stunde dieses neuen Vorfalles in das Tagebuch der Expedition eintrug.
»Wir wollen frei und keck vor den martischen Potentaten hintreten,« sagte Palgrave.
»Wir werden es mit einem einsichtigen Präsidenten zu tun haben und keinem Willkürherrscher,« erwiderte der Professor, für den es bereits eine feststehende Tatsache war, daß auf diesem Planeten schon längst mit dem monarchischen Prinzip aufgeräumt war und alle martischen Länder eine einzige republikanische Staatsgemeinschaft bildeten.
Das Silo, das Parlament des Marsreiches, lag inmitten eines großen Platzes im Zentrum der Regierungsstadt. Ein quadratischer Bau, der seinem Umfange nach die größten Pyramiden Ägyptens in den Schatten stellte. Die gewaltige Kuppel, welche ihn krönte, stellte eine Rotunde dar, die nach oberflächlicher Schätzung sicher 50 000 Personen auf einmal zu fassen vermochte.
Der Weg zu dem Silo wurde zu Fuß zurückgelegt. Dort angekommen führte der junge Martier seine irdischen Begleiter sofort in den Sitzungssaal, jene oben erwähnte Rotunde.
Hier waren an die tausend Männer versammelt. Um den in einen weißen Talar gekleideten Volkspotentaten scharten sich die Abgeordneten aller Städte des Reiches. So manche derselben hatten die Fremdlinge von der Erde noch nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen, darum hefteten sie ihre verwunderten Blicke unausgesetzt auf die Weltallsreisenden, welche so keck gewesen waren, zum Mars herüberzukommen.
»Hoffentlich geht's uns nicht an den Kragen,« flüsterte der Reporter dem neben ihm stehenden Palgrave zu.
Dieser gab keine Antwort darauf, denn der Volkspotentat forderte in diesem Augenblicke Elhel auf, ihm über die Fremdlinge eingehenden Bericht zu erstatten.
Inzwischen betrachteten die vier Söhne Albions ihre Umgebung.
Der Sitzungsraum zeigte nichts von der ausgesuchten Pracht, mit welcher ähnlichen Zwecken dienende Räume auf der Erde oft ausgestattet sind. Die weißen, fensterlosen Wände zeigten keinerlei Schmuck, nur hier und da waren große Tafeln angebracht, auf welchen lange Reihen martischer Schriftzeichen sichtbar waren. Der Saal wurde, wie es die Martier mit ihren meisten Räumen hielten, von jenem milden, tageshellen Lichte durchflutet, dessen Quelle nirgends zu entdecken war. Um einen erhöhten, kanzelartigen Sitz, der wohl der Thronsessel des Regierungsverwesers sein mußte, waren im Halbkreis eine große Menge bequemer Sessel aufgestellt. Kurz, die ganze Einrichtung des Saales ließ erkennen, daß der martische Reichsrat hier seine Beratungen über die Wohlfahrt des Staates abhielt.
Da der Regierungsvertreter nach einigen Versuchen, sich dem Haupte der irdischen Expedition verständlich zu machen, keinen Erfolg hatte, weil Mac Milford der schnellen Rede des Martiers nicht zu folgen vermochte, so mußte Elhel den Dolmetscher spielen.
Nach einem wahren Kreuzfeuer von Fragen und Antworten wurden die vier Mitglieder der fremdplanetarischen Expedition vorläufig entlassen.
Eine Abordnung Martier geleitete Mac Milford und seine Gefährten, denen sich Elhel wieder beigesellt hatte, zu einem in der Nachbarschaft des martischen Parlamentes liegenden Gebäude, welches die Erdenbürger so lange bewohnen sollten, bis die Staatenleitung weitere Maßregeln beschlossen hatte.
Es vergingen einige Tage, während welchen die Erdenbürger bewacht und in der üblichen Weise verpflegt wurden. Am dritten Tage verkündete Elhel dem Professor, daß die Staatenleitung vorläufig beschlossen habe, den Fremdlingen freie Hand zu lassen. Sie konnten also gehen, wohin sie wollten.
Das begrüßten die vier natürlich mit großer Freude.
Die Staatenleitung hatte sich aber zweierlei ausbedungen. Zum ersten sollte Elhel stets in ihrer Begleitschaft bleiben, um der Regierung täglich über das Tun und Treiben der Erdenbewohner eingehenden Bericht abstatten zu können. Zum zweiten durften die Fremdlinge das in Staatsgewahrsam genommene Antigravitationsvehikel nicht ohne höhere Erlaubnis benutzen.
Der letztere Punkt weckte verschiedene Gefühle unter den vier Weltallreisenden. Empfanden sie bei dem Gedanken, daß ihnen ihr Fahrzeug wohlverwahrt erhalten blieb, eine gewisse Beruhigung, so beschlich sie anderseits wieder Unruhe, wenn man erwog, daß auf solche Weise der Rückzug zur Erde von dem Willen der Martier abhing. Was konnte nicht alles passieren, das eine schnelle Flucht erforderlich machte?
»Es gilt jetzt zweierlei,« sagte Mac Milford zu seinen Genossen.
»Und das wäre?« frug Palgrave.
»Erstens müssen wir durch Elhel zu erfahren suchen, wohin unser Vehikel gebracht worden ist.«
»Sehr richtig,« pflichtete Jenkinson bei.
»Zweitens müssen wir jeden Tag gewärtig sein, daß eine amerikanische Expedition erscheint.«
»Pech und Schwefel!« entfuhr es den Lippen des Seapoyhauptmanns. »An die verdammten Yankee habe ich nimmer wieder gedacht. Denen muß natürlich der Weg schlank verlegt werden.«
»Wir tun am besten, wenn wir die Martier auf ein Erscheinen unserer Konkurrenten im voraus aufmerksam machen,« meinte hierzu Morton.
»Tun wir dies jetzt, so laufen wir entschieden Gefahr, in festen Gewahrsam genommen zu werden,« erwiderte der Professor.
»Warum?« lautete die Frage Jenkinsons.
»Weil die Marsleute dann allen Erdenbewohnern mißtrauen.«
»Ganz recht kombiniert. Was wissen die Martier davon, daß es auf Erden Nationen gibt, die ständig miteinander auf dem Kriegsfuße stehen,« versetzte Palgrave.
»Worauf zielen Sie eigentlich hin?« ließ sich Jenkinson vernehmen.
»Das Marsvolk wird sicher glauben, daß, wenn neue Erdenkinder plötzlich auftauchen, der Zuzug so fortgeht; sie werden uns böse Absichten zutrauen,« fiel der Professor seinem Gefährten in die Rede.
»Der Umstand ist nicht zu verkennen,« sagte Morton.
»Nun, wenn wir die Martier auf die Yankees aufmerksam machen und sie bewegen, dieselben samt ihrem Fahrzeug zu vernichten, so müssen die Herren von der Staatenleitung meines Erachtens nach zu der Überzeugung gelangen, daß wir mit neuen Ankömmlingen keinerlei Gemeinschaft und Interesse haben.«
Mac Milford mußte der Ansicht des Invaliden zustimmen.
Es wurde nun zwischen den Mitgliedern der Entschluß gefaßt, die Martier bei passender Gelegenheit von dem in Aussicht stehenden Besuch der Amerikaner zu unterrichten.
Dann einigten sich die vier dahin, die ihnen von der Staatenleitung gewährte Freiheit nach Möglichkeit auszunützen, und vor allem sofort die wichtigsten Institute der interessanten Zentralstadt zu besichtigen.
Beginnen wir jetzt unsere Streifzüge durch die Zentralstadt,« sagte Mac Milford, nachdem er mit Elhel und seinen Genossen das Parlament verlassen hatte. —
»Wird sich das verlohnen?« frug Palgrave.
»Unser martischer Cicerone hat mir mitgeteilt, daß hier die Schätze einer vieltausendjährigen Produktion aufgespeichert seien.«
»All right! Besichtigen wir dieselben,« meinte Jenkinson.
»Ich habe bereits mit Hülfe Elhels ein Programm entworfen. Suchen wir zunächst einmal das Staatsobservatorium auf. Ich bin ungeheuer neugierig, welcher optischen Mittel sich diese Weltbürger bedienen.«
Da dem Vorschlage niemand widersprach, machte sich der kleine Trupp auf den Weg, um die Sternwarte zu besichtigen.
Unter der Führung Elhels kreuzte man verschiedene Straßen und gelangte schließlich zu einem freien Platz, auf welchem sich ein großer, turmähnlicher Bau erhob, der dem Äußeren nach nicht verriet, daß in seinem Innern das ganze Universum durchforscht wurde.
»Hoffentlich sind hier Instrumente vorhanden, die uns einen Blick zur Erde gestatten,« meinte Jenkinson.
»Ich glaube, daß wir uns auf Überraschungen gefaßt machen können,« erwiderte Mac Milford.
Durch eine sich automatisch öffnende Pforte traten die fünf Männer in ein kleines Gemach. Wenige Augenblicke später war zu verspüren, daß sich der Raum bewegte. Es war ein Aufzug, der die Insassen schnell nach oben beförderte.
Bald standen die Erdensöhne in einer kreisrunden Halle, in welcher weder von einem Tubus, noch von sonst einem Instrument etwas zu erblicken war, das astronomischen Zwecken hätte dienen können; und doch sollte hier nach Elhels Angabe der Hauptbeobachtungsraum sein.
In der Mitte der Decke des etwa zwanzig Meter hohen Gemaches befand sich eine kreisrunde Öffnung, welche, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte, unbedeckt war.
Doch hierin täuschten sich alle. Nach Elhels Aussage war die Öffnung durch eine gewaltige Linse aus Syk, einer durchsichtigen Masse, verschlossen.
»Syk ...« murmelte der Alte, »diese Substanz muß ich kennen lernen.«
Elhel verließ darauf den Raum, um sofort wieder mit einem Manne zurückzukehren, der in einem hohen Alter stehen mußte. Sein Gesicht war von vielen Falten bedeckt und das Haupthaar schneeweiß.
»Ein Methusalem des Marsvolkes,« raunte Jenkinson Morton zu.
»Kommen Sie,« sagte Mac Milford soeben zu seinen Gefährten. »Bewundern wir die Erzeugnisse martischer Optik.« Mit diesen Worten schritt der Profefsor dem in der Mitte des Raumes befindlichen Tische zu, von wo aus ihm Elhel gewinkt hatte.
Die vier Erdenbürger gesellten sich zu den Martiern und harrten nun gespannt der Dinge, die da kommen sollten.
Elhel war von Mac Milford verständigt worden, daß der Astronom die optischen Sehwerkzeuge zunächst auf den Erdplaneten einstellen sollte, damit es ihnen vergönnt sei, einen Blick auf ihr Heimatsgestirn zu werfen.
Bei näherer Betrachtung der Tischplatte war zu bemerken, daß über derselben eine mehrere Zoll hohe, durchsichtige Schicht einer gelatineähnlichen Masse ausgebreitet war. Sonst sah man keinerlei weitere Vorrichtungen, mit Ausnahme einer Reihe um den Tischrand herum angebrachter Klemmen.
Der greise Astronom der Marswelt bewegte einen konisch geformten Hebel, welcher unter dem Tische im Fußboden sichtbar war. Sogleich senkte sich von der Decke ein auf Drähten hängendes Gestell herab, welches aus einer Anzahl im Kreise angeordneter Metallstäbe bestand, über die sich eine schwarze Stoffdecke spannte. In der Mitte der letzteren strebte ein trichterförmiger Ansatz in Meterhöhe empor. Die Achse desselben korrespondierte genau mit der optischen Achse der Riesenlinse, welche die Deckenöffnung des Beobachtungsraumes verschloß.
Wieder bewegte der Astronom eine Armatur, und nun enthüllte sich den erstaunten Blicken der Besucher ein gar seltsames Bild.
Die Gelatineschicht schien mit einem Male Leben zu gewinnen. Allmählich tauchten dunkle und helle Flecke in verschiedenen Tiefenlagen der Schicht auf. Waren es zuerst nur verschwommene Konturen, die sich wie ein feines Geäder in der farblosen, lichtdurchlässigen Masse darstellten, so nahmen sie von Sekunde zu Sekunde an Schärfe zu und repräsentierten nach Verlauf einer Minute ein Bild, welches die reliefartige Wiedergabe der dem Mars augenblicklich zugekehrten Erdhemisphäre war. Den Lippen der Briten entrang sich ein Ausruf der Bewunderung. Entrollte sich ihnen doch hier ein Bild ihrer irdischen Heimat. Die Kontinente und Meere der Erde lagerten in der Gelatineschicht, und ein aufmerksamer Beschauer konnte selbst kleinere Binnenseen gewahren; sogar einige der Riesenströme der Erde, die sich als sehr feine mehr oder minder gekrümmte helle Linien aus den dunklen Kontinentmassen heraushoben, konnten nicht den Blicken der Beschauer entgehen.
»Wunderbar!« rief Jenkinson aus.
»Die Erde, wie sie leibt und lebt,« meinte Palgrave.
»Das amerikanische Festland,« bemerkte der Professor und war über das sich ihm darbietende Bild aufs höchste überrascht.
»Eine Landkarte oder noch besser ein Reliefglobus könnte uns die Sache nicht besser veranschaulichen,« versetzte der Ingenieur.
»Sehen Sie, selbst die großen Seen im nordamerikanischen Kontinent sind wahrnehmbar,« sagte Mac Milford.
»Ja, sehr deutlich,« erwiderte Morton; »der Komplex der oberen Seen, der Huronsee, Michigansee und der Eriesee bilden in ihrem Zusammenhange einen deutlichen hellen Fleck, und ich glaube, wenn man noch schärfer sondierte, würde man sogar die Riesenstädte New York und Chikago entdecken können.«
»Der Golf von Mexiko und daneben die westindischen Inseln ... der PanamaIsthmus ...«
»Holla!« rief der Seapoyhauptmann, ehe noch Jenkinson zu Ende reden konnte.
»Was haben Sie?« frug Mac Milford.
»Ich will nicht John Palgrave heißen, wenn ich nicht einen Vulkan entdeckt habe,« versetzte hierauf der Gefragte.
»Einen Vulkan ... wo?« frug Mac Milford und ließ seine Augen über die Stellen des Reliefbildes gleiten, wo sich feuerspeiende Berge befinden konnten. »Hm, da käme doch nur der Cotopaxi in Ekuador und der Popokatepetel in Mexiko in Betracht.«
Der Hauptmann wies mit der Fingerspitze auf eine Stelle der Gelatineschicht, wo sich ein dunkler Punkt befand, von dem ein leuchtender, unruhiger Schein ausging.
»Das kann nur der Cotopaxi sein,« meinte der Professor. »Ich bin zufällig mit der geographischen Lage der hohen Berge in den südamerikanischen Anden bekannt. Blicken Sie einmal genauer hin. Nordöstlich von dem Vulkan, den ich auch als solchen anerkennen muß, können Sie einen hervorragenden Punkt bemerken, das ist der Sincholagua; und südöstlich werden Sie ebenfalls einen Punkt finden, welcher aus seiner Umgebung aufragt, das ist der Quilindania, beides Berge, welche sich in der Nähe des westlichen Randes der Ostkordillere befinden. ... Ja, ja, ohne Zweifel, es ist der Cotopaxi, denn ihm gegenüber sehe ich noch gewisse Stellen, welche die imposanten Schneepyramiden des Ilinisa sein müssen, und nordwestlich glaube ich sogar auch den Ruminahuikrater zu bemerken.«
»Hurra, ich habe den Nordpol entdeckt!« rief in diesem Augenblick Jenkinson dazwischen, und tippte mit dem Finger auf eine helle Fläche am Rande des Reliefbildes.
Der Professor betrachtete die Polargegend, welche sich oberhalb des amerikanischen Festlandes präsentierte, und prüfte, ob sein Gefährte recht gesehen hatte. »Der Pol ist tatsächlich sichtbar; er läßt sich mit ziemlicher Sicherheit als ein Stück Festland erkennen.«
»Zweifellos,« warf Morton ein; »denn unter dem Pol sehe ich deutlich die Umrisse Grönlands.«
Der martische Astronom ließ durch Elhel seine Besucher fragen, ob sie noch andere Oberflächenbilder von Gestirnen zu betrachten wünschten.
Eifrig sagte Mac Milford zu. Sein Herz war von Begeisterung für die großen Fortschritte der astronomischen Wissenschaft erfüllt.
Im Verlaufe einer weiteren Viertelstunde zogen vor den Augen der vier erstaunten Männer eine Reihe Planetenbilder vorbei. Zunächst stellte der Astronom die Venus ein.
Wieder war es das Bild einer Welt, welche, wie die Erde, den Blicken der Beschauer Land- und Wasserflächen bot.
»Das überrascht mich aufs höchste,« rief der Professor aus. »Venus, der Lucifer der Alten, scheint ebenfalls von Lebewesen bewohnt zu sein.«
»Woraus schließen Sie das?« frug Jenkinson interessiert.
»Der Augenschein hier lehrt uns, daß die Venus sich in einem Naturzustand befindet, der eine Bewohnbarkeit des Planeten nicht nur möglich erscheinen läßt, sondern auf das bestimmteste voraussetzt.«
Die vielen großen Wasserbecken, welche in dem Reliefbilde sichtbar waren, nahmen fast zu vier Fünfteilen die gesamte Oberfläche des Planeten ein, woraus Mac Milford den Schluß zog, daß auf Venus noch die vorsintflutliche Periode, die Diluvialzeit, herrsche.
»Der Planet steckt noch in den Kinderschuhen,« meinte der Alte scherzhaft zu seinen Gefährten.
»Frau Venus im tropischen Gewande!« rief Jenkinson belustigt aus.
»Mastodons, Saurier und sonstige Echsen einer grauen Vorzeit der Erde werden Venus in Masse bevölkern,« sagte Mac Milford.
Wenige Sekunden darauf verschwand das Reliefbild der Venus, und das des Merkurs entrollte sich den Blicken der Erdenbürger.
Eine andere Welt! — Ein unfertiges, in der ersten Phase der Erstarrung stehendes Gestirn. Alles ein Chaos. Durch schwere Dunstmassen lugte hier und da ein Stückchen der halberstarrten Oberfläche hervor. — Merkur noch eine Welt, wie eine solche die Erde vor vielleicht Millionen von Jahren gewesen war. —
Ein neues Bild des Weltpanoramas. — Jupiter, der Gewaltige; der Gigant unter seinen Brüdern.
Eine feurige Kugel, über deren Äquatorgegenden sich streifenförmige Wasserdampfwolken ausdehnten. Hier und da auf der noch brodelnden Oberfläche des Riesenplaneten präsentierten sich schwimmende Gebilde — Schlacken, von einem Umfange, der den eines Erdkontinentes bei weitem übertraf. — — —
In schneller Folge zogen nun noch die Reliefbilder des Saturns mit seinen Ringen, des Uranus, des Neptuns und die eines transneptunschen und intramerkuriellen Planeten vor den Augen der vor Erstaunen fast sprachlosen Männer vorüber.
Saturn in einem Zustande wie Jupiter, nahm sich mit seinem Ringsystem wunderbar aus. Uranus und Neptun zeigten Reliefbilder, aus denen leichthin der Schluß gezogen werden konnte, daß diese Planeten erst in der zweiten Phase des Erstarrungsprozesses standen, also in einer geologischen Periode, die wir die archaische nennen und welche die älteste Gesteinsbildungsepoche darstellt.
Der intramerkurielle Planet, den die Astronomen der Erde, ohne ihn je gesehen zu haben, als vorhanden vermuten und mit dem Namen Vulkan belegten, entpuppte sich, ebenso wie der transneptunsche Planet, dessen Existenz man ebenfalls für möglich hält, als ein völlig erstarrter Weltkörper. Infolge des geringen Volumens war er längst erkaltet und ohne jedes Lebewesen. Der eisige Weltäther drang bereits in die im Reliefbilde der Gelatineschicht deutlich wahrnehmbaren klaffenden Sprünge der Oberfläche und förderte so den Zerstörungsprozeß, dem der Miniaturplanet Vulkan verfallen war.
Den Schluß des astronomischen Weltpanoramas bildeten die Sonne und der Mond der Erde. Erstere, ein glutflüssiger Ball. Über dem brodelnden Gischt seiner Oberfläche lagerten leuchtende Metalldämpfe. Zahllose große und kleine Schlackengebilde schwammen auf feuerflüssigem Magma. — Riesenhafte Protuberanzen, Feuergarben von vielen Tausenden Meilen Höhe, erhoben sich wie Fontänen über das wogende Flammenmeer der Oberfläche. Alles — das ganze Konterfei des Sonnenballes in der Gelatineschicht schien völlig in Glut getaucht.
Wie ganz anders präsentierte sich der Mond, der getreue Trabant der Erdkugel. — Kalt und starr, eine halbe Leiche unter den Gestirnen unseres Sonnensystems.
Mac Milford interessierte das Reliefbild des Erdsatelliten am meisten, hatte er doch schon einmal in seinem Leben auf diesem Gestirn geweilt. Bei der ersten Universumfahrt war der Mond sein Ziel gewesen; es war darum nicht zu verwundern, daß jetzt in dem Alten die Erinnerung an seine lunarischen Erlebnisse wieder wachgerufen wurden.
»Wie gern würde ich den Versuch machen,« sagte Mac Milford zu Elhel, »einen Verkehr mit dem Monde und der Erde anzubahnen. — — Seid ihr Söhne einer hochkultivierten Welt noch nicht auf den Gedanken gekommen, eine Verbindung mit anderen von Menschen bewohnten Welten anzuknüpfen?«
Der Gefragte bedeutete dem Professor, daß im letzten Säkulum verschiedenfach derartige Versuche von hervorragenden Gelehrten und Technikern auf Veranlassung der Staatenleitung vorgenommen worden seien. Meist war es die elektrische Energie, welche als Vermittlerin benutzt wurde. Nach der Aussage Elhels und des alten Astronomen sollten zu verschiedenen Zeiten ungeheure elektrische Wellen aus dazu besonders konstruierten Apparaten hinaus in das Weltall gesandt worden sein, welche, wenn sie auf ihrem Wege ein von Menschen bewohntes Gestirn berührten, dort unbedingt sich in irgend einer Form bemerkbar gemacht haben mußten.
Mac Milford wurde bei diesen Mitteilungen stutzig. Ein Gedanke blitzte in ihm auf. Er zweifelte nicht mehr daran, die Ursachen gewöhnlicher Naturerscheinungen, wie solche von Zeit zu Zeit die Erde heimgesucht hatten, gefunden zu haben. Er ließ sich schleunigst von Elhel und seinem martischen Kollegen genauere Angaben über die Zeit machen, in welcher elektrische Verkehrsversuche seitens der Martier stattgefunden hatten. Der greise Astronom war in der Lage, durch Nachschlagen in Schriftwerken, welche in einem Nebenraume untergebracht waren, die genauen Daten anzugeben.
Mac Milford fand zur Überraschung seine Vermutungen bestätigt. Soweit er die einzelnen Zeitpunkte, in denen gewaltige Erdbeben, Sturmfluten und Kraterausbrüche, vor allem aber ungewöhnliche Ablenkungen der Magnetnadel vorgekommen waren, im Gedächtnis hatte, stimmten dieselben mit den von dem alten Martier angegebenen Daten.
Auch die in letzter Zeit auf der Erde von Physikern mehrfach wahrgenommenen elektrischen Störungen, die aus keinerlei bekannten Quellen stammen konnten, waren zweifellos fremdplanetarischen Ursprungs, Folgeerscheinungen martischer Verkehrsversuche mit der Erde gewesen.
Der Besuch des Staatsobservatoriums hatte über drei Stunden Zeit in Anspruch genommen; und da die Expedition auch noch das Museum besichtigen wollte, so brach die kleine Gesellschaft auf, voll von den erhabenen Eindrücken, die sie in dem unscheinbaren Gebäude erhalten hatte.
Elhel ließ verlauten, daß die Staatenleitung in den nächsten Tagen einen neuen planetarischen Verkehrsversuch durch die physikalische Zentralstelle veranstalten wollte.
Dies kam dem schottischen Gelehrten sehr erwünscht; er äußerte den Wunsch, bei dem Experiment zugegen sein und auch seinerseits Versuche machen zu dürfen.
Der junge Martier versprach, bei der Staatenleitung vermittelnd wirken zu wollen.
»Meine Herren,« sagte Mac Milford, als er mit seinen Gefährten das Observatorium verließ, »ich hoffe, daß wir binnen kurzem mit der Erde Grüße austauschen können. Wenigstens soll der Versuch gemacht werden, durch elektrische Wellen den benachbarten bewohnten Planeten Zeichen zukommen zu lassen.«
»Da bin ich aber begierig, wie sich unsere Welt daheim die elektrischen Zeichen auslegt,« meinte Jenkinson lachend.
»Ich rechne mit dem Umstande, daß die elektrischen Wellen das gewaltige Telegraphennetz der Erde treffen und beeinflussen werden.«
Elhel zog jetzt ein breites Etui aus seinen Gewande und entnahm demselben einige brillenähnliche Gegenstände.
Die Blicke aller lenkten sich auf den jungen Martier; man war neugierig, was dieser nunmehr beabsichtigte.
»Kannst du, Sohn der Erde, die Farbe jener Platte dort mir genau bezeichnen?« frug Elhel Mac Milford, indem er dabei auf eine Tafel im Portal des Observatoriums zeigte.
»Rot,« erwiderte der Professor.
»Weit gefehlt — es sind vier Farben, von denen die letzte nur rot ist. Mein Erdenbruder hat einen schwachen Gesichtssinn,« versetzte lächelnd Elhel und reichte dann Mac Milford einen der Gegenstände, die er in der Hand hielt.
Der Gelehrte wußte anfänglich nicht, was er aus dem ihm unbekannten Instrument machen sollte. Die Form desselben ließ auf eine Art Brille schließen, und da der Martier soeben über die Sehkraft seiner Augen gesprochen hatte, so blieb kein Zweifel mehr übrig, daß der ihm zugereichte Gegenstand nur ein optisches Mittel sei, um den Gesichtssinn zu schärfen.
»Sehen Sie dort vier Farben auf der roten Platte?« frug jetzt Mac Milford seine Gefährten.
»Nur rot.« riefen diese wie aus einem Munde. Da blitzte dem Professor ein Gedanke durch den Kopf. Er hatte früher einmal in seinem Laboratorium bei spektralanalytischen Versuchen die seltsame Entdeckung gemacht, daß, wenn er seine Augen verdampfendem Ammoniak näherte, er bei Betrachtung des farbigen Spektrumbandes mehr als die sieben Komplementärfarben gewahrte. Er hatte über Rot hinaus und auch jenseits der violetten Grenze noch Farben unbestimmten Tones zu erblicken vermocht. Die Entdeckung schienen auch die Martier gemacht zu haben. Ob nun die chemische Substanz, welche der optischen Glasmasse der Ultrachromobrillen beigemengt sein mochte, Ammoniak oder ein noch besser wirkender Stoff war, das konnte Mac Milford natürlich jetzt nicht feststellen. Auf alle Fälle waren die Ultrachromobrillen, wenn sie den Gesichtssinn des Menschen so erweiterten, daß unsichtbare Lichtregionen mit ihren unbekannten Farbeerscheinungen deutlich wahrgenommen werden konnten, als das Kardinalstück martischer Optik zu betrachten.
Elhel zeigte nunmehr, in welcher Weise die seltsamen Sehwerkzeuge vor den Augen zu befestigen seien.
Als Mac Milford und seine Gefährten ihre Augen mit den Ultrachromobrillen bewaffnet hatten, waren sie alle überrascht. Des alten Professors Vermutungen erwiesen sich als richtig. Das Tageslicht erschien ihnen mit einem Male bedeutend weißer und heller, und die erwähnte rote Platte im Portal erglänzte in vier prächtigen, ultraroten Farben. — Aber weitere Überraschungen ähnlicher Art sollte allen der Besuch des Museums bringen.
Das Staatsmuseum, die wissenschaftliche Speicherkammer der Martier, war ein Monumentalbau. Von der gigantischen Front zogen sich die Seitenfassaden in schier endlos erscheinender Länge dahin. Eine gewaltige Kuppel krönte das architektonisch einfach gehaltene Gebäude. Das aus Syenithgestein bestehende Portal wölbte sich in kühnen Bogen über der Eingangspforte, einer Rolltür, welche sich vor jedem Eintretenden automatisch öffnete.
Elhel schritt seinen irdischen Begleitern voran. Diese waren entzückt, an der Quelle des Wissens der Marsmenschen zu sein, an dem Orte, wo ihrer Ansicht nach viele Tausende Wunderdinge einer auf der Stufe der Vollkommenheit stehenden Technik und Wissenschaft aufgestapelt waren. Hier sollte es ihnen verstattet sein, einen tiefen Blick in die geistigen Fähigkeiten der Martier zu tun.
Elhel erklärte beim Eintritt durch die Pforte, daß das Staatsmuseum gegen 500 Räume besitze, die zu durchpilgern Tage in Anspruch nehmen würde.
Den Eintretenden gesellte sich jetzt ein älterer Martier zu, der wie Elhel angab, ihnen als Führer in dem Labyrinth des Baues dienen würde.
Nachdem eine Vorhalle durchschritten war, an deren Wänden man herrliche Erzeugnisse einer zur vollsten Blüte entfalteten Skulptur angebracht sah, gelangte der kleine Trupp in eine riesengroße Halle, angefüllt mit Tausenden von in metallenen Spannrahmen befindlichen Bildern.
»Die Gemäldegalerie,« flüsterte Mac Milford seinen Gefährten zu.
Elhel riet nun seinen Begleitern, daß sie bei der Besichtigung der Erzeugnisse der Malkunst sich der Ultrachromobrillen bedienen möchten.
Die vier Männer kamen der Aufforderung nach; sie zogen die Zelluloseetuis, welche die Brillen enthielten, heraus und befestigten letztere vor ihren Augen.
Der Führer berührte nunmehr einen kleinen Kontakt, welcher sich in der Nähe der Eingangspforte befand, und sogleich wurde der ganze Raum, der bisher nur schwach beleuchtet war, von einer intensiven Lichtmenge durchflutet. Mit Hülfe der Ammoniakbrillen vermochten die Erdenbürger die farbenprangenden Gemälde mit Genuß zu studieren.
Wenn sich die Malkünstler des Erdballes nur der Farben bedienten, aus denen sich das Sonnenlicht zusammensetzt und die das Prisma im Spektrum zeigt, also von Rot bis Violett, so wurden sie von den martischen Künstlern entschieden übertrumpft. Denn diese bewegten sich mit ihrem Pinsel weit über die irdische Farbenskala hinaus, weil ihr durch optische Mittel erweiterter Gesichtssinn sie befähigte, noch eine Reihe Farbentöne zu sehen, welche in den Bereich des Ultrarot gehören.
Ohne die ammoniakhaltigen Brillengläser hätten die Erdenbürger die wunderbaren Effekte, welche die martischen Maler gerade in der Farbenlage zum Ausdruck brachten, deren Schlußglied Rot bildet, nie und nimmer erblicken können.
»Herrlich ... entzückend!« rief Jenkinson begeistert aus, als er vor einem Bilde stand, welches eine historische Begebenheit darstellte. Die in eine satte Farbenpracht getauchten Gewänder der mittelalterlichen martischen Gestalten waren so natürlich wiedergegeben, wie es kein Rubens, kein Rembrandt und kein Tizian je vermocht hatten. »O, ihr irdischen Meister, welche Stümper waret ihr, gegen die Künstler dieser Welt!«
Die anderen konnten den Worten Jenkinsons nur beistimmen.
»In der Wiedergabe vollster Natürlichkeit sind die Martier entschieden bewundernswerte Meister ... Das erinnert mich übrigens an eine Episode,« versetzte Mac Milford. »Hörten Sie jemals von dem Wettstreit, den die beiden berühmten Maler des grauen Altertums, die Hellenen Zeuxis und Parrhasius, untereinander veranstalteten? ... Zeuxis malte Weintrauben so natürlich, daß die Vögel herzuflogen, um davon zu naschen. Parrhasius lobte die Kunst seines Gegners und wurde dann von diesem aufgefordert, sein Probestück vorzuzeigen. Parrhasius brachte sein Bild herbei; es schien mit einer dünnen Leinwand überhängt zu sein. »Nun, so nimm den Vorhang weg!« rief Zeuxis; aber der andere lachte und erwiderte, der Vorhang sei das Gemälde selbst.«
»Die Episode ist vortrefflich,« meinte Palgrave. »Der eine Künstler hatte also bloß Vögel, der andere aber Menschen getäuscht.«
Von Bild zu Bild wanderten die Erdenbürger, und jedes Kunstwerk weckte ihre Bewunderung immer wieder von neuem. Hier sahen sie Stilleben, dort Porträts, weiterhin Landschaften und Szenen aus der Vorzeit martischen Lebens. Als der kleine Trupp vor einem Gemälde stehen geblieben war, welches eine Landschaft darstellte, da gerieten Morton und Jenkinson förmlich in Ekstase. Die Wunderbrillen, welche den Blick ihrer Augen erweiterten, zeigten ihnen Geheimnisse der Mutter Natur, wie solche zu sehen sonst keinem Menschen der Erde verstattet ist.
Nicht nur, daß die Ultrachromogläser eine ins Bereich des Fabelhaften gehende Farbenpracht zeigten, nein, sie ließen auch die Lebensvorgänge an allen organischen Gebilden erkennen und verfolgen; selbst die Verschiedenfarbigkeit der Bestandteile der Atmosphäre, des Sauerstoffes, Stickstoffes und der noch übrigen Beimengungen, konnten bemerkt werden. Und alle diese Erscheinungen hatten die martischen Künstler im Bilde zum Ausdruck gebracht; es mußte eben jeder von ihnen auch ein Forscher sein, der das Leben und Weben in der Natur getreulich aufzufassen und wiederzugeben in der Lage war.
Nach Durchpilgerung der die Malkunstgegenstände aufspeichernden Halle gelangten die Helden unserer Erzählung in einen zweiten, noch größeren Saal, dessen Wände mit Bücherschränken bedeckt waren.
»Das Archiv für Literatur,« sagte der alte Gelehrte zu seinen Gefährten, als er über den Zweck, dem diese Halle diente, von Elhel Auskunft erhalten hatte. »Hier ist der wahre Born der martischen Weisheit.«
Wie die irdischen, so waren auch die martischen Erzeugnisse geistiger Tätigkeit in Gestalt von Büchern festgelegt. Welche ungeheure Gehirnarbeit in diesem Raume schlummerte, das ahnten die Söhne der Erde nicht, wenngleich sie auf die höchsten Errungenschaften menschlichen Geistes gefaßt waren.
»Wer jetzt der Schriftsprache dieser Welt doch völlig mächtig wäre,« rief der Professor aus, und seine Augen schienen vor Wissensdurst zu leuchten.
Da die Kenntnisse der Marssprache bei allen aber noch zu gering waren, so hatte ein längerer Aufenthalt in dem Archiv keinen größeren Zweck. Dies begriff auch Elhel. Und weiter geleitete er sie in eine dritte Halle, die mit zahllosen, merkwürdigen Instrumenten angefüllt war. Auf langen Tischreihen standen hier durchsichtige Kästen, in denen die sonderbarsten Tiergestalten, Gesteinsformationen und Pflanzen untergebracht waren.
Elhel drückte jetzt auf einen Knopf am Eingang des Saales, und sofort sprang der Verschluß eines Faches in der Wand auf. In demselben waren viele hundert weiße Täfelchen, alphabetisch angeordnet, aufgestapelt.
Elhel nahm einige derselben heraus, reichte sie seinen irdischen Begleitern und versuchte es Mac Milford klar zu machen, daß jede Tafel die vollständig Beschreibung eines ausgestellten Gegenstandes enthalte. Die martischen Lettern zu entziffern, gab sich der Professor nicht die Mühe, denn die Zeit war jetzt viel zu kostbar.
Auf dem Rundgange durch die Halle, welche die Produkte martischer Technik und Wissenschaft aufgespeichert hielt, war der erste Gegenstand, der auffiel, ein durchsichtiger, ovaler Kasten, in dem sich viele Tausende, äußerst feine Fäden befanden, die silberglänzend aussahen und, untereinander symmetrisch und kunstvoll verknüpft, zusammen das Bild eines riesengroßen Spinngewebes darstellten.
Elhel ergriff die zu diesem Instrumente gehörige Tafel, las die darauf stehenden Aufzeichnungen flüchtig durch und belehrte nun die Erdenbürger, daß jener Kasten ein Elektrizitätsaufspeicherungsraum sei.
»Nach unseren Begriffen also ein Akkumulator,« sagte der Alte zu Morton und ließ sich dann noch weiter von Elhel über die Zusammensetzung des Apparates instruieren.
Wie plump war doch ein Elektrizitätssammler, wie ihn irdische Techniker zu konstruieren pflegten, gegen diesen Akkumulator hier. Dieser Gedanke mochte sowohl Mac Milford als auch Morton überkommen sein, als beide das Ding sinnenden Blickes ansahen.
Waren die schwerfälligen Bleiakkumulatoren auf der Erde nicht elende Machwerke gegen diese höchst sinnreiche und einfache, dabei ungeheure Kräfte aufsparende Vorrichtung?
Alle jene Tausende von Fäden, welche sich in dem Kasten befanden, waren aus einer mineralischmetallischen Masse hergestellt, und indem sie kreuz und quer, nach oben und unten hin verlaufend, den ganzen Raum des Glasgefäßes durchzogen, vermochten sie in den vielen, sich zwischen den Fäden befindenden kleinen Hohlräumen elektrische Kraft aufzuspeichern, so daß in einem einzigen Kubikzentimeter des Innenraumes ebensoviel Elektrizität vorhanden war, wie in einem der größten Akkumulatoren der Erde. Nach Elhels Angaben besaß jedes Beförderungsmittel, ob Flugschiff, Wasserboot oder Fahrstuhl, einen solchen durchsichtigen Elektrizitätssammler.
Der nächste Apparat, der nun in Augenschein genommen wurde, war ebenfalls ein Akkumulator, und zwar ein solcher, welcher zur Aufspeicherung gewaltiger Menge besonders hochgespannter Elektrizität diente; zum wenigsten konnte er nach den Aussagen als Sammler verwendet werden, seiner eigentlichen Bestimmung nach aber war er eine direkte Elektrizitätsquelle. Im Prinzip beruhte diese Kraftaufspeicherungsmaschine darauf, daß durch elektrolytische Zersetzung von Wasser der hierbei freiwerdende Sauerstoff und Wasserstoff in dem Akkumulator getrennt in komprimierter Form aufgespeichert wurden. Durch die Wiedervereinigung beider hochgespannter Gase mittels einer sehr sinnreichen mechanischen Vorrichtung konnte eine aus viele Tausende von Pferdestärken bemessene Kraft erzielt werden. Man sah es dem kleinen, kaum einen Meter langen und einhalb Meter breiten zylindrischen Akkumulator nicht an, daß er ein Kraftreservoir war, mit dessen Hülfe eine Maschine jahrelang in Betrieb gehalten werden konnte.
Einige Schritte weiter und man gelangte zu einem Apparate, der die Form einer langen Röhre besaß, die aus dem auf dem Mars fast überall zur Verwendung gelangenden Leichtmetalle hergestellt war.
Elhel holte die zur Erklärung dienende Tafel herbei und bedeutete seinen Begleitern, daß das Instrument eine Wettermaschine sei, die, wenn sie sich bis zu der Luftschicht erhoben habe, wo eine Wolkenbildung stattfindet, sich dort selbst entlade und den Wasserdunst meilenweit im Umkreise zerstreue. Damit war also das Problem der Wetterregulierung gelöst. Jede Stadt der Marswelt war in der Lage, sich auf solche Weise das ganze Jahr hindurch trocken zu halten.
»Sapperlot!« rief der Invalide; »das ist eine geniale Erfindung.«
»Nun, mein Lieber,« wir haben daheim auch Wetterkanonen,« erwiderte Morton.
»Oho, das möchte ich aber doch bezweifeln; habe wenigstens nie etwas von solchen Dingern gehört.«
»So ist Ihnen eben das Wetterschießen in deutschen Landen unbekannt. Wenn ich nicht irre, ist es in Bayern oder Tirol, wo man Hagelwolken durch den Luftdruck eines vertikal gegen die Wolken abgefeuerten Böllers zerstreut.« Nach diesen Worten trat Morton zu dem nächsten ausgestellten Gegenstand hin. Die anderen folgten ihm, und Elhel drehte ein kleines Rädchen an dem hohen und durchsichtigen Kasten, welcher äußerlich ziemlich unscheinbar aussah.
Sogleich flammten im Innern des Apparates einige nach obenhin verlaufende, feuerähnliche Strahlen auf, die durch die den Kasten oben abschließende metallene Decke emporzüngelten. Elhel erklärte Mac Milford, daß die Flammen dieses Thermophors eine enorm hohe Temperatur besäßen, und der alte Gelehrte berechnete nach der erklärenden Tafel, daß ihr Hitzegrad wohl etwa fünfundzwanzig bis dreißigtausend Grad betragen müsse. Es dauerte denn auch keine halbe Minute, so schien die ungeheuer große Halle siedend heiß zu werden. Rasch stellte der Martier den Apparat wieder ab, schritt zu einem danebenliegenden Kasten, drehte an einer an diesem angebrachten Kurbel, und Mac Milford sah, wie aus dem Apparat weiße, dampfähnliche Wölkchen emporstiegen. Eine weitere Minute verging, und der Saal hatte sich schnell so sehr abgekühlt, daß es den Erdenbürgern fast fror. Zu welchem Zwecke die Maschinen dienten, wußte man jetzt; die eine war imstande, die größten Hitzegrade hervorzurufen, während die andere im Gegenteil das tiefste Kälteniveau erzeugen konnte.
»In zwei Minuten vom Äquator zum Nordpol,« sagte Jenkinson; »von einer Siedehitze, in der man Krebse rot kochen könnte, bis zu der Kälte eines Eisbärenklimas nur ein Schritt.«
Im Verlaufe der Wanderung durch das technische Museum gelangten die Erdenbürger mit ihren Führern vor einen metallglänzenden mit vielen kleinen Schrauben versehenen, auf einer Art Ständer stehenden Kasten. Dieser vermochte, wie die zu dem Apparate gehörende Erläuterungstafel besagte, photographische Bilder zu liefern, welche den ausgenommenen Gegenstand vollkommen naturgetreu wiedergaben. Mit dieser Kamera war nicht bloß das Problem der Farbenphotographie, sondern auch gleichzeitig ein Problem gelöst, welches bislang auf Erden niemand kannte, beziehungsweise als solches aufgestellt hatte. Es war das Problem der Reliefphotographie, einer neuen plastischen Lichtbildkunst. Die zu dem Apparat gehörige Erläuterungstafel besagte, daß, wenn man den Mechanismus der Kamera in Betrieb setzte und man sich vor das Visierglas derselben stelle, man binnen wenigen Sekunden sein Bildnis erhalten könne. Der Versuch wurde seitens Jenkinsons gemacht, und in nicht mehr als zwanzig Sekunden nach der Aufnahme erhielt Jenkinson von Elhel ein viereckiges Scheibchen. Auf diesem sah er seine ganze Gestalt plastisch und scharf, wie in einem Spiegel, wiedergegeben; jedem Teil des Bildnisses schien Leben innezuwohnen. Sah er deutlicher hin, so gewahrte er selbst die zarten, feinen Wimpern seiner Augenlider; und fast hätte er sie mit der Hand ergreifen mögen, so naturgetreu standen diese Härchen im Bilde hervor. Dazu war die ganze Photographie in naturgetreuen Farben. Wie der Professor später noch herausbekommen sollte, wurden bei dieser Momentphotographie weder Licht noch Silbersalze oder andere sonst gebräuchliche, lichtempfindliche Substanzen verwendet; das ganze Verfahren beruhte vielmehr auf der Verwendung von Körpern, durch deren bloße Gegenwart andere chemische Körper zu einer Verbindung gezwungen werden, ein Prozeß, den die irdischen Chemiker mit dem Namen Katalyse belegt haben.
Die Erdenbürger verfielen von einem Staunen ins andere, und selbst Mac Milford, der doch gewiß genial veranlagt war und die martische Technik in Punkto Aufhebung der Gravitation übertrumpft hatte, kam sich wie eine Null gegen die Erfinder und Entdecker der Marsbevölkerung vor.
Wieder stand man vor einem seltsamen Gegenstande. Es war ein langes, kupferfarbiges Röhrchen.
Elhel drückte an das untere Ende desselben, und aus dem siebartigen Deckel desselben strömte ein wunderbar süßer Geruch, der an Lieblichkeit alles tausendfach übertraf, was die Erde an Wohlgerüchen hervorzubringen imstande ist. Der junge Martier erklärte, daß dieses Parfüm in zwei verschiedenen Geruchsarten auftrete, und zwar sei die eine Geruchsform, unter der Einwirkung hoher Hitzegrade gewonnen, von der anderen, durch tiefe Kältegrade erzeugten, äußerst verschieden. Eine kleine Büchse voll wäre imstande, der Luft in einem großen Gebäude lange Zeit hindurch den einen oder anderen Wohlgeruch zu verleihen.
Daß dieses intensive, herrliche Parfüm nichts anderes als ein chemisches Produkt, die gasförmige Zersetzung eines teerähnlichen Derivates war, das sollte Mac Milford späterhin erfahren.
Die Wanderung der Erdenbürger durch einen Teil des Museums nahm fast den ganzen Tag in Anspruch. Voll von Bewunderung, aber auch hungrig und durstig kehrten sie in Begleitung Elhels zu dem Gebäude zurück, wo man sie stationiert hatte. Trotzdem sie mehr als ein Dutzend Ausstellungsräume besucht hatten, war ihnen noch unendlich vieles unbekannt geblieben. Wie gern hätte man die Abteilungen für Naturwissenschaft und noch anderes mehr besichtigt, wenn Mac Milford nicht so sehr über Ermüdung, und Jenkinson über die Leere seines Magens geklagt hätten.
Kurze Zeit später, nachdem der Abendimbiß eingenommen worden war, legten sich die vier Expeditionsmitglieder auf ihre Gummistoffpfühle, und der Schlaf schloß bald ihre Augen.
Wie Jenkinson am nächsten Morgen versicherte, hatte er die ganze Nacht von einer Abteilung des Museums geträumt, in welcher viele moderne Inquisitions- und Hinrichtungsapparate vertreten gewesen waren, die dann die Martier der Reihe nach alle an ihm, wie an einem Vivisektionskaninchen ausprobiert hätten.
Der neue Tag brachte unseren Weltallsforschern wieder neue Überraschungen. Es sollte ihnen verstattet sein, einen Blick in die gewaltigen technischen Betriebe, in die Arbeitslaboratorien und Kraftzentralen der Marsleute zu werfen.
Kurz nach Einnahme des Morgenimbisses verständigte Mac Milford seinen Hausgenossen Elhel, daß er gar zu gern einmal einen Rundgang durch die Arbeitsstätten der Zentralstadt machen möchte.
Der Martier schien erst einige Bedenken zu hegen; wahrscheinlich fürchtete er, daß der Volkspotentat dies nicht billigen könnte. Schließlich aber erklärte er sich doch bereit, den Führer zu spielen und den Fremdlingen zu willen zu sein.
Der kleine Trupp, voran Elhel, begab sich zunächst zu den Krafterzeugungszentralen, jenen Reservoiren, welche die Marswelt mit Kraft und Licht versorgen. Hier sollten die irdischen Besucher so recht empfinden, wie die Martier die Naturkräfte in einer Art und Weise in ihre Dienste zu stellen wußten, von der die Techniker und Wissenschaftler der Erdenwelt kaum einen Schimmer hatten.
»Welche Zentrale werden wir zunächst besichtigen?« frug Morton, der ein brennendes Verlangen hatte, die ihn so außerordentlich interessierenden Betriebe kennen zu lernen.
,,Das Slinslok,« erwiderte Elhel mit feinem Lächeln.
»Slinslok?« wiederholte Morton.
,,Slinslok ...« murmelte auch Jenkinson und sann über die etymologische Abstammung des Wortes nach.
»Vermutlich ist es eine Erzeugungsstelle für elektrische Energie irgend welcher Form,« meinte der Professor. »Die erste Silbe des Wortes Slinslok verrät mir dies.«
Elhel, der die Vermutung des Alten jetzt bestätigte, führte die vier Männer in den Vorhof eines Gebäudekomplexes, der in unmittelbarer Nähe des Parlamentes lag.
Das Slinslok war eine Rotunde, welche in zwei Abteilungen zerfiel: die Krafterzeugungsstätte und das Energieaufspeicherungsreservoir.
Die eingehenden Belehrungen Elhels setzten die Erdenbürger nun in Kenntnis, daß die Marstechniker die beiden Probleme, welche den irdischen Technikern als schier unlösbar erscheinen, dasjenige der direkten Umwandlung der chemischen Arbeit der Kohle in Elektrizität unter Umgehung der Dampf- und Dynamomaschine, und das der direkten Umsetzung der strahlenden Sonnenenergie in elektrische Energie ohne lästige Zwischenglieder, schon vor mehr als tausend Jahren gelöst hatten. Auch die Sonnenmotore, welche das Problem der direkten Umwandlung der strahlenden Energie des Tagesgestirnes in mechanische Arbeit lösten, waren bereits seit vielen Säkulums erfunden.
Den Martiern standen also zur Gewinnung großer Mengen elektrischer Energie viele Quellen offen, welche den Erdenmenschen heute noch verschlossen sind. Da die Kohlenlager des Marsballes schon seit geraumer Zeit erschöpft waren, so hatten die Marsleute auf andere Elektrizitätserzeugungsformen gesonnen und in einem seltsamen Stoffe, der mit wenig Mühe gewonnen werden konnte, eine wunderbare und schier unerschöpfliche Quelle elektrischer Energie entdeckt. Die eigentümliche Substanz vermochte unausgesetzt negative Elektrizität auszustrahlen, ohne sich an Masse zu verringern. Mit der Auffindung dieses Stoffes eröffnete sich den Martiern eine ungeheure Perspektive in betreff der Entwicklung ihrer ohnehin schon so vorgeschrittenen Technik.
Wie beuteten nun die Marsleute diese Entdeckung aus? — Das seltsame Pseudoelement, »Pan« genannt, wurde in großen Mengen aus Mineralien, aus der Atmosphäre, aus dem Meerwasser und sonstigen Stoffen gewonnen. Die Panmassen wurden dann in gewaltigen Behältern aus nichtleitender Substanz aufbewahrt und behufs Entziehung der Energiemengen in ein Vakuum gebracht, wo die Elektrizität aufgefangen und in die Akkumulatorenreservoirs übergeleitet wurde. Zum Teil wurde Pan auch auf chemischem Wege in Gas verwandelt und dieses ebenfalls in mächtige Behälter überführt, von wo aus es durch ein Röhrensystem allen Städten des Marsreiches zuströmte, um dort als Lichtstoff verwendet zu werden. Pangas war also die Materie, mit deren Hülfe die Marsmenschen die Luft, die sie atmeten, in leuchtenden Zustand versetzen konnten, um auf solche einfache Weise ihre Gemächer zu erhellen und nicht immer von dem Sonnenlicht unmittelbar abhängig zu sein.
Mac Milford und Morton prüften die verschiedenen ihnen von Elhel gezeigten Manometer, jene an den Reservoiren befindlichen Energie- und Gasmesser, und erkannten zu ihrem Erstaunen, daß hier Kräfte aufgespeichert wurden, welche sich auf viele Milliarden Pferdestärken bemaßen.
Der begrenzte Menschengeist hatte es verstanden, unbegrenzt große Energiequanten in enge Behälter zu zwängen. Der Techniker hatte sich auf diesem Planetenball zum wahren Herrn der Welt aufgeschwungen, sein Können ragte bis an die Unmöglichkeit hinan. Er verstand, alle Naturgewalten zu meistern und sie seinen Diensten untertan zu machen.
Vom Slinslok führte Elhel seine Begleiter zu den hydraulischen und pneumatischen Krafterzeugungsstellen.
Erstere verwendeten den ungeheuren Druck der Wassermassen der Meere und Kanäle. Aus Elhels Erklärungen entnahmen unsere vier Helden, daß die Martier auf dem Grunde tiefer Meere turbinenartige Anlagen errichtet hatten, auf deren Getriebe die gewaltigen Lasten der darüber lagernden Wassersäulen einzuwirken vermochten. Die so erzeugte Kraftentwickelung lieferte wieder Preßluft, welche dann praktisch zur Verwertung gelangte, indem man allerlei Maschinen damit trieb oder sie auch zur Erzeugung von großen künstlichen Luftströmungen benutze, welche dazu dienten, angesammelten Wasserdunst in der Atmosphäre zu zerstreuen, und so unnötige Regenfälle sicher und schnell zu verhindern.
Die Weltallsexpedition lernte auf ihrer Wanderung durch die verschiedenen technischen Betriebe auch die Arbeitsmethode der Marsleute kennen. Direkte Arbeit verrichtete niemand, solche besorgten die sinnreich konstruierten, sich mehr oder weniger automatisch betätigenden Maschinen. Diese waren die eisernen Arbeiter, deren Seele, der sie dirigierende Mensch.
Den Schluß der Pilgerfahrt der Erdenbürger bildete die Besichtigung der Versuchsanstalt für Erfindungen und Entdeckungen. Die Stätte, wo der Menschengeist die letzten noch ihrer Lösung harrenden Probleme systematisch für die Praxis behandelte, um auch sie in absehbarer Zeit der Verwertung zur Wohlfahrt der Menschheit entgegenzuführen.
Probleme standen hier auf der Tagesordnung, Probleme, wie sie nur Menschen einer vieltausendjährigen Kultur aufzustellen vermochten.
Mac Milford durfte einen Einblick in die Registrierung der noch ungelösten technischen und wissenschaftlichen Rätsel tun, was denn auch der geniale Forscher mit Andacht und Bewunderung tat.
Von wissenschaftlichen Problemen waren unter anderen aufgeführt:
Künstliche Zeugung des Menschen.
Ergründung des Daseinszwecks der anorganischen und organischen Mazerie.
Verwandlung beliebiger toter Substanz in lebende.
Verpflanzung der Seele des Menschen in das Tier.
Verlängerung der Lebensdauer organischer Geschöpfe.
Aufhebung der Schwerkraft.
Verkehr mit fremden Gestirnen.
Neubelebung toter Geschöpfe.
Gehirnoperationen zwecks Beseitigung perverser Neigungen und Leidenschaften.
Künstlicher Ersatz für den Schlaf.
Erforschung der Bewohnbarkeit fremder Gestirne.
Von technischen Problemen, die noch zu lösen sich die martische Menschheit auf ihr Arbeitsprogramm gesetzt hatte, waren unter vielen anderen verzeichnet:
Verwertung der Attraktionskraft benachbarter Gestirne für mechanische Arbeiten.
Erzeugung eines neuen Wassers.
Herstellung einer Flugmaschine zur Erforschung des Weltalls.
Verwertung der von den organischen Lebewesen ausgeatmeten Kohlensäure.
Photographie der Atome.
Durchbohrung des Marsplaneten.
Aufhebung der Achsenneigung des Mars.
Umwandlung atmosphärischer Bestandteile in Nährstoffe.
Zur Lösung von zweien der aufgezählten Probleme hatte der Besuch der irdischen Weltallsexpedition beigetragen. Die Aufhebung der Schwerkraft und die Herstellung einer Flugmaschine zur Erforschung des Universums war nunmehr auch für die Marsleute keine wissenschaftliche und technische Frage mehr. So überlegen die Menschen dieser Welt den Erdenbewohnern in jeder Beziehung waren, so hatten die letzteren sie also doch mit der Lösung des großen Problems der Aufhebung der Schwerkraft übertrumpft; das empfanden die Martier auch.
Bei der Besichtigung des Institutes erblickten die Besucher gar viele seltsam konstruierte Modelle von Maschinen und Instrumenten, die mit Hülfe neuer Theorien und kühner Hypothesen zur Lösung der subtilsten Probleme, die ein Menschengeschlecht aufgestellt hatte, verwendet wurden. Die genialsten Köpfe der Marsbevölkerung boten hier an der Stätte ihrer Wirksamkeit ihren ganzen Scharfsinn auf, um der letzten Erkenntnis aller Dinge nahe zu kommen.
Reich an neuem Wissen, voll von gehirnsprengenden Gedanken und unschätzbaren Erfahrungen verließen Mac Milford und seine Getreuen die Hallen, wo Menschengeist der schöpfenden Natur den Rest ihrer Geheimnisse abzulauschen und den Schleier von denselben zu lüften sucht.
Der Strom ist geschlossen. Das Experiment beginnt,« sagte Mac Milford zu seinen Gefährten, als er mit Erlaubnis des Volkspotentaten auf der Physikalischen Staatswarte weilte und mit einem elektrischen Funkenapparat martischer Technik den Versuch unternahm, eine Depesche zur Erde zu senden.
Die wissenschaftliche Kommission, welche die Staatenleitung dem irdischen Gelehrten zur Assistenz und Überwachung der Verkehrsversuche beigegeben hatte, bestand aus zehn Männern. Diese harrten jetzt mit nicht geringerer Spannung als Morton und Jenkinson auf das Resultat, welches das Experiment zur Folge haben würde.
»Glauben Sie wirklich, daß die elektrischen Wellen unser Gestirn erreichen werden?« frug Morton.
»Das muß der Versuch lehren,« lautete die Antwort des Professors, der sich eben damit beschäftigte, den riesenhaften Cohärer, den Absender der magnetelektrischen Wellen, vermittels eines sehr subtilen Präzisionsmessers zu richten, wobei ihm der physikalische Leiter der technischen Verkehrszentrale assistierte.
»Ich garantiere im voraus einen Mißerfolg,« raunte Jenkinson dem Ingenieur zu.
Dieser erwiderte nichts, sondern zuckte nur die Achseln.
»Welche Nation wird die Zeichen empfangen?« frug nach einer kleinen Weile Jenkinson.
»Möglicherweise eine europäische, denn die Hemisphäre, welche die Erde uns soeben zukehrt, zeigt die Kontinente Europa, Asien und Afrika,« gab Mac Milford zur Erwiderung.
»Es wäre doch wohl Zufall, wenn die Wellen die telegraphischen Leitungen träfen und so die Morseapparate beeinflussen.«
»Rechnen wir einmal mit dem Zufall.«
»Sapristi! Die Herren Telegraphisten werden perplex sein, wenn ihre Morseschreiber eine Depesche vom Mars aufzeichnen,« meinte Jenkinson.
»Glaub's auch,« vesetzte Mac Milford lächelnd.
»Was gedenken Sie zu telegraphieren?«
»Schlagen Sie mir etwas vor!«
»Senden Sie folgende Depesche ab. — Die britische Expedition entbietet vom Marsplaneten ihren Gruß. Eine neue Welt ist erschlossen. God save the Queen!«
Mac Milford und Morton stimmten dem Vorschlage ihres Genossen zu, und ersterer setzte nun das Relais des Funkensenders, den Morsezeichen der Depesche entsprechend, in Bewegung.
»Und wann wird das Telegramm die Erde erreichen?« frug der Reporter eifrig.
»Der elektrische Strom legt in einer Sekunde rund 60 000 geographische Meilen zurück, und da Mars jetzt nach oberflächlicher Berechnung etwa 9 Millionen Meilen vom Erdplaneten entfernt ist, so gebraucht die Depesche 150 Sekunden,« gab Mac Milford prompt zur Antwort.
»Also zwei und eine halbe Minute ...« replizierte Morton.
Einige Augenblicke später waren die abtelegraphierten hundert Morsezeichen auf dem Wege durch das Weltall. Ob sie die Erde erreichten? Das mußte grandios sein, wenn die Depesche sich im ganzen Telegraphennetz der Erdhemisphäre verbreitete und allen Stationen und Ämtern gleichzeitig zuging.
»Ich sehe jetzt schon im Geiste einen Telegraphisten von seinem Apparate aufspringen, wie er dabei maßlos verblüfft unsere Depesche in englischer Sprache von seinem Papierband abliest,« sagte in scherzhaftem Tone Jenkinson.
»Wenn eine deutsche Telegraphenstation unser englisches Telegramm erblickt, so wird sie wohl nicht recht wissen, was sie daraus machen soll und wird sicherlich vermuten, daß der Absender sich einen Scherz damit erlaubt hat,« meinte Morton.
»Bei dem Auffangen der magnetelektrischen Wellen können natürlich nur Leitungen der Überlandtelegraphen in Betracht kommen. Die tief auf dem Grunde des Meeres liegenden Seekabel werden durch unser Experiment keinerlei Beeinflussung erfahren,« sagte Mac Milford und wendete sich dann an Elhel, um mit der martischen Kommission in einen Wortwechsel zu treten.
Als der Professor den Marsleuten nun erklärte, daß daheim auf seinem Mutterplaneten der telegraphische Verkehr sich unter Vermittlung eines großen Leitungsnetzes abspiele, da konnte man die sonst ernst dareinschauenden Martier mit recht überlegener Miene lächeln sehen.
Drahtleitungen — auch solche hatten einmal auf dem Mars dem telegraphischen und telephonischen Verkehr gedient. Das war aber zu Ururväterzeiten gewesen und mochte wohl über tausend Jahre nach martischer Zeitrechnung zurückliegen.
»Ich werde das Experiment noch einmal wiederholen,« sagte Mac Milford. »Ist der erste Versuch mißglückt, so besteht immer noch die Aussicht, daß ein zweiter vielleicht gelingt. Im Anschluß an meine Experimente werden dann auch die Martier noch solche veranstalten. Möglich, daß sie in der Handhabung ihrer Apparate, die mir Elhel nur flüchtig in der Konstruktion beschrieben hat, erfolgreicher sind als ich.«
Der irdische Gelehrte verständigte nunmehr die martische Kommission, daß er noch einen zweiten Versuch zu machen gedenke. Dagegen wurde nichts eingewendet.
Kaum hatte Mac Milford die zweite, dem Wortlaute der ersten völlig gleiche Depesche ins Weltall hinausbefördert, als er unerwartet wieder von einem seiner Ohnmachtsanfälle heimgesucht wurde.
Als der greise Professor mitten in seiner Beschäftigung plötzlich zu Boden sank und bewußtlos liegen blieb, da waren die Martier außerordentlich bestürzt, und alle eilten herbei, um den Bewußtlosen wieder aufzurichten. Allgemein glaubte man, daß der greise Fremdling vom Tode überrascht worden sei; gab er doch so gut wie gar kein Lebenszeichen von sich.
Morton und Jenkinson waren durch den Ohnmachtsanfall ihres Gefährten bei weitem nicht so bestürzt, als wie die Marsleute. War ihnen doch die Ursache des Unfalles genügend bekannt.
Morton beeilte sich jetzt, Elhel verständlich zu machen, daß sein Genosse nur in tiefer Bewußtlosigkeit liege, die eine periodische Folgeerscheinung einer früher erlittenen Nervenerschütterung sei.
Mit diesem Vorfalle hatten natürlich die experimentellen Verkehrsversuche vorläufig ihren Abschluß erreicht.
Ein Funkentelegramm ging jetzt von der martischen Kommission an die Staatenleitung ab, und schon nach wenigen Minuten lief die Rückorder der Regierung ein, welche besagte, daß der bewußtlose Fremdling in das Staatshospital verbracht werden solle.
Eiligst wurde nun die Überführung Mac Milfords bewerkstelligt.
Jenkinson und Morton baten Elhel noch, daß sie, sobald der Kranke sich wieder erholt habe, hiervon rechtzeitig Nachricht erhielten.
Der junge Martier sagte zu und geleitete dann die beiden zu dem Orte, wo Palgrave, der den magnetelektrischen Experimenten nicht mit beigewohnt hatte, weilte. Der Invalide hatte wider seinen Willen seine Gefährten nicht begleiten können, sein Fuß schmerzte ihn wieder einmal seit langer Zeit. Er hatte nämlich, als er noch im indischen Dienst stand, einmal das Unglück gehabt, in einem Dschungel von einer Brillenschlange gebissen zu werden. Die Wirkung des furchtbaren Giftes, das damals nicht ganz aus dem Körper entfernt worden war, zeigte sich noch nach Jahren. So auch jetzt wieder.
»Ich verspüre nicht übel Lust, mich auch einmal von den Heilkünstlern dieses Planeten behandeln zu lassen,« sagte Palgrave zu seinen beiden Genossen, als er von dem erneuten Anfalle Mac Milfords und von dessen Überführung in das Staathospital Kenntnis erhielt. »Der indische Gaukler — der Teufel soll ihn noch nachträglich holen — hat mir damals die Bißwunde nicht gehörig ausgebrannt.«
Während die drei noch eifrig erörterten, was sie während der Zeit, in welcher das Oberhaupt ihrer Expedition sich in der Heilanstalt befand, tun sollten, wurden sie durch das plötzliche Erscheinen Elhels und mehrerer anderer Martier überrascht.
Es sollte eine neue Wendung der Dinge eintreten.
Elhel machte nämlich die Mitteilung, daß sich die Erdenbürger jetzt trennen müßten. Da weder Morton noch seine beiden anderen Gefährten die Marssprache so beherrschten wie Mac Milford, so wurde Elhel von keinem recht verstanden.
»Was mag er wollen?« frug Jenkinson.
Morton zuckte die Achseln.
Hierauf sah Jenkinson den Seapoyhauptmann fragend an.
»Hindostanisch ist gegen dieses martische Kauderwelsch hundertmal leichter verständlich. — Der Kuckuck mag wissen, was er von uns will,« erwiderte Palgrave, zwirbelte die Enden seines Schnurrbartes und sah die Marsleute forschenden Blickes an.
Doch nur zu bald sollte es den drei klar werden, was die Martier mit ihnen vorhatten.
Es muß hier vorausgeschickt werden, daß, als der Professor in der Heilanstalt untergebracht worden war, er sich kurz darauf wieder erholte. Nachdem er dann davon unterrichtet wurde, daß er die Anstalt nicht eher verlassen dürfe, als bis seine Heilung beendet sei, da hielt er es für geraten, dem ihn behandelnden martischen Physiologen mitzuteilen, daß die Staatenleitung auf der Hut sein solle, denn jeder Tag könne die Möglichkeit bringen, daß ein zweites irdisches Vehikel auf dem Mars lande.
Diese Nachricht ließ der Beflissene der Heilkunde natürlich sofort dem Volkspotentaten zugehen.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich das Gerücht über den Besuch neuer Ankömmlinge von der Erde durch die Zentralstadt. Der Staatenleiter mit seinem Stabe hielt sofort eine Sitzung ab, deren Resultat war, daß der Marsplanet gegen neue Besucher aus dem Weltall verschanzt werden müsse, und daß die vier Fremdlinge, welche zur Zeit unter ihnen weilten, voneinander getrennt werden sollten. Die hohe Order lautete dahin, daß unsere Helden in der Zentralstadt interniert und streng beaufsichtigt werden sollten.
Norton allein wurde in die Stadt XII verbracht, damit einer der Erdensöhne in der Nähe des Antigravitationsvehikels war, um nötigenfalls das Fahrzeug lenken zu können, falls der Potentat und seine Berater einen Probeaufstieg ins Weltall, wie ein solcher geplant war, unternehmen würden.
Die Staatenleitung glaubte diplomatisch gehandelt zu haben, wenn sie die vier Fremdlinge gesondert internierte. Man wollte vor Ankunft des avisierten Fahrzeuges verhindern, daß die anwesenden Erdenbürger untereinander ein Komplott schmiedeten, welches dazu führen konnte, daß sie mit den neuen Ankömmlingen gemeinsame Sache machten.
Das Staatshospital, in welches Mac Milford verbracht worden war, lag etwa fünf Kilometer südlich von der Zentralstadt in einer von Hügelketten umrahmten Bodensenkung. In zwanzig isoliert stehenden Gebäuden, die sämtlich nur wenige Stockwerke hoch waren, wurde die Heilkunst ausgeübt. Da gab es eine Spezialklinik für durch Unfall Verwundete, eine zweite für Kinder, welche als Krüppel zur Welt gekommen und hier chirurgisch zu normalen Menschen aufgezogen wurden, eine dritte für Geisteskrankheiten, und so weiter. Ferner war auch eine bakteriologische Anstalt vorhanden, wo Reinkulturen von Bakterien, Pilzen und Mikroben aller Art, welche den Martiern als Krankheitserreger bekannt waren, zum Zwecke ihres Studiums gezüchtet wurden. Dieses Institut mußte entschieden das interessanteste aller Hospitalgebäude sein. Das Laboratorium, das Museum und die Versuchsräume boten denn auch den Blicken der Besucher unendlich viel.
Auf dieser Stätte ihrer Wirksamkeit feierte die Bakteriologie ihre Triumphe. In unzerbrechlichen und durchsichtigen Gefäßen waren hier die furchtbaren Keime von Seuchen und Epidemien, die in früheren Jahrhunderten, wie auf der Erde, so auch auf dem Mars verheerend aufgetreten, aufbewahrt, und vermittels sinnreich konstruierter Ultramikroskope vermochte man die in faulenden Eiweißlösungen und Schleimhautsekreten lebenden Mikroorganismen in Fliegengröße zu betrachten und ihre Eigenbewegungen genau zu verfolgen. Eine besondere Abteilung bildeten die nachweisbar von fremden Gestirnen durch den Weltenraum zum Mars gelangten Bakterien. Hier waren auch die Keime der auf der Erde herrschenden Krankheiten wohlgruppiert anzutreffen; der Pestbazillus, der Typhuserreger, der Scharlachpilz und noch viele andere mehr.
Der greise Gelehrte der Erde war in die Abteilung für Nervenkranke eingeliefert worden, und ein Diagnostiker, dessen Tätigkeit sich nur darauf erstreckte, die Krankheiten, ihren Sitz und ihre Entstehungsursachen zu erforschen, machte sich jetzt unverzüglich an die Arbeit. Mac Milfords Fall war ein seltener, dahin hatte sich wenigstens das Einlieferungsattest ausgesprochen. Überdies mochte es für den martischen Heilkünstler außerordentlich interessant sein, einen Bewohner des Nachbarplaneten als Patienten behandeln zu dürfen. Sämtliche medizinischen Gelehrten des Staatshospitals brachten diesem noch nie dagewesenen Fall großes Interesse entgegen, und keiner versäumte es, den bewußtlosen Erdenmenschen zu besichtigen.
Der Raum, in welchen Mac Milford gebracht worden war, besaß eine kreisrunde Form. Ringsherum an der Wand entlang befanden sich amphitheatralisch aufgestellte Sitzreihen, wie solche auch auf Erden in jedem Hörsaal einer Universität oder Klinik zu sehen sind. In Anbetracht dessen mußte man also annehmen, daß das Zimmer für ein klinisches Auditorium berechnet war, was sich für die Folge auch bewahrheitete. Die Sitzreihen wurden bald nach der Einlieferung des seltsamen Patienten von einer großen Schar Heilbeflissener besetzt.
Inmitten des Raumes war eine nach allen Seiten hin mechanisch bewegbare Sitzvorrichtung aufgestellt, in welche Mac Milford placiert worden war.
Der Diagnostiker, welcher jetzt mit seiner Untersuchung begann, legte erst dem aufmerksamen Auditorium den seltsamen Fall, der ihn soeben beschäftigte, dar, dann ließ er den Bewußtlosen durch zwei seiner Assistenten in eine halbaufgerichtete Lage bringen, um die Untersuchung vorzunehmen.
Zunächst richtete sich das Bestreben des martischen Gelehrten darauf, den Patienten zum Bewußtsein zu bringen. Hierzu wurde ein kleiner Apparat benutzt, den einer der Assistenten mitgebracht hatte. Derselbe wurde an einer Metallschnur, welche von der Decke herabhing, befestigt und dann mit dem Kopfe des Kranken in Berührung gebracht.
Bald machte sich der Einfluß des Instrumentes bei Mac Milford geltend; ein wiederholtes Zusammenzucken des Körpers verriet, daß die tiefe Betäubung zu weichen begann. Mit Befriedigung sah der Diagnostiker, daß seine Methode auch bei einem fremdplanetarischen Menschen anschlug.
Als dann der greise Professor unter tiefen Atemzügen die Augen aufschlug und seine Umgebung verwundert betrachtete, frug ihn der martische Arzt, wie sein Befinden sei.
Mac Milford vermochte den Sinn der Frage nicht gleich zu erfassen, weshalb er den Kopf schüttelte.
Der Diagnostiker wiederholte seine Worte nochmals.
Jetzt wurde er von dem Alten verstanden, weil jener noch einige bezeichnende Gesten zu seiner Frage gemacht hatte. Mac Milford erklärte, daß er sich wieder wohl fühle. Dann verlangte er zu wissen, wo er sich eigentlich befände.
Die den Patienten behandelnden Vertreter der Heilkunst erklärten ihm nun, daß er sich im Zentralhospital befände und dort verbleiben müsse, bis seine völlige Genesung eingetreten sei.
Mac Milford konnte gegen diese von der Staatenleitung getroffene Anordnung nichts tun, so gern er auch auf jede Behandlung seiner Krankheit verzichtet hätte und lieber zu seinen Gefährten zurückgekehrt wäre.
Noch an demselben Tage wurde mit der seltsamen physiopsychologischen Kur begonnen.
Mac Milford wurde in ein Zimmer geführt, in welchem sich eine freischwebende Lagerstätte befand, welche für den Patienten bestimmt war.
In dem Operationsraume waren verschiedene Instrumente aufgestellt, deren Bedeutung und Zweck dem Professor nicht klar wurden.
»Hoffentlich zerschneidet man mir nicht einen Nervenstrang,« murmelte er vor sich hin, als sein Blick auf die Geräte fiel.
Nochmals fand eine Untersuchung des Patienten statt.
An zwei verschiedenen Stellen seines Kopfes wurden weiße Metallplatten aufgelegt und diese dann mit einem röhrenförmigen Behälter in Verbindung gebracht.
Bei jeder Berührung mit den Platten empfand Mac Milford einen schwachen Stich im Hirn. Nur einmal blieb dieser aus, als eine der Platten auf die linke Seite des Hinterkopfes oberhalb der Ohrmuschel angesetzt wurde.
Der Hospitalleiter, der die Nervendiagnose vornahm, erhielt jetzt auf Befragen, soweit er von Mac Milford verstanden wurde, von diesem die Antwort, daß ihn das Auflegen der Metallkappe an der letzterwähnten Stelle keinen Schmerz verspüren lasse.
Der martische Arzt nickte darauf befriedigt mit dem Kopf und erklärte, den Sitz des Übels gefunden zu haben.
Nunmehr folgten die Vorbereitungen zur eigentlichen Behandlung, welche darin bestanden, daß sich der Patient auf die Lagerstätte legen mußte, wo ihm dann ein kleines Instrument vor die Augen gehalten wurde.
Unwillkürlich mußte Mac Milford dabei die Lider schließen. Ein grünlicher, intensiver Lichtschein, der von dem kleinen Instrument ausging, blendete ihn.
Doch auch jetzt noch empfand er dieselbe strahlende Helle. Das Licht schien die Lider zu durchdringen und die Sehnerven zu beeinflussen.
Nach etwa einer Minute verspürte der Professor, daß seine Sinne allmählich schwanden, bis vollständige Bewußtlosigkeit eintrat.
Die martischen Heilkünstler hatten ihn mit Hülfe einer nie versagenden Methode hypnotisiert. Sie benutzten dazu die elektrische Emanation eines Elementes, welches die irdischen Chemiker noch nicht entdeckt hatten. Die Energie ausstrahlende Substanz war, wie schon gesagt, ein geeignetes Mittel, um die Sehnerven eines Menschen für kurze Zeit lahm zu legen und Teile des Großhirns so zu beeinflussen, daß der Betreffende in einen regelrechten hypnotischen Zustand verfiel.
Im weiteren Verlauf der Hypnose legte einer der Ärzte den Finger auf jene Stelle, wo der Sitz des Nervenübels sich befand, alsdann wurde der Emanationskörper gegen den erkrankten Gehirnteil gerichtet. Gleichzeitig fand nun eine Suggestion statt, indem dem Patienten ins Ohr geflüstert wurde, daß er nach dem Erwachen von seinem Leiden völlig befreit sei.
Einige Minuten nach der Suggestion öffnete Mac Milford die Augen und verspürte eine ziemlich starke Benommenheit im Kopfe, ein Symptom, welches sich nach der Hypnose bei vielen Menschen einzustellen pflegt.
Nochmals wurde an der erkrankten Stelle die bei der Diagnose verwendete Metallkappe aufgelegt und mit dem röhrenförmigen Behälter wie anfangs in Verbindung gebracht. Als nun Mac Milford auf Befragen der beiden ihn behandelnden Ärzte, ob er jetzt einen Stich verspüre, antwortete, daß dies nicht der Fall sei, schüttelten die Martier den Kopf. Anscheinend wußten sie sich nicht zu erklären, warum ihre Heilmethode nicht sofort angeschlagen hatte.
Ein weiterer Versuch sollte am folgenden Tage stattfinden.
Aber weder die zweite, noch eine dritte spätere Behandlung lieferte ein günstiges Resultat. Der Hospitalleiter schien den Patienten als unheilbar erkrankt zu betrachten.
Mac Milford mußte sich nun wohl oder übel bequemen, noch auf ungewisse Zeit hinaus im Staatshospital zu verweilen. Was inzwischen seine Gefährten taten, darüber vermochte er von niemand Auskunft zu erhalten.
Da es den Patienten gestattet war, alle Gebäude der Klinik zu besichtigen, so unternahm er, nachdem er sich eine Woche hindurch eifrig mit dem Studium der Marssprache beschäftigt hatte, einen Rundgang durch die gewaltige Heilanstalt. Sein Führer war auch hier wieder Elhel, den die Staatenleitung ein für allemal beauftragt hatte, die irdischen Fremdlinge zu beaufsichtigen.
Elhel hatte dem irdischen Patienten auf sein Befragen, welcher Art eigentlich die Heilmethode sei, die man bei ihm zur Anwendung bringe, mitgeteilt, daß er sich einer physiopsychologischen Kur habe unterziehen müssen, eine Behandlung, die darauf hinauslaufe, die Nerven, welche erkrankt seien, durch elektrische Emanation wieder reizbar zu machen. Des weiteren erfuhr der Professor, daß die martische Heilkunst nur vier Kurarten kenne. Die, welche bei ihm zur Anwendung kam, ferner die Schädeltrepanation für Geisteskranke, die Wundbehandlung und die chirurgischgymnastische Methode. Die physiopsychologische Kur verwendete als Heilfaktor die Hypnose, die Trepanation fußte auf einer elektrischen Fluidalbehandlung der erkrankten Gehirnpartien, die Wundheilungskur auf einer Vakuummethode, und die chirurgischgymnastische Behandlung auf künstlichem Knochenersatz und Atmungsgymnastik. Die wesentlichste Errungenschaft der martischen Heilkunst war aber die Sriko-Kur, welche an sich ihrer Natur nach keine Heilmethode darstellte, sondern eine von jedermann alljährlich geübte Körperbehandlung repräsentierte, welche den Menschen gegen Krankheitsstoffe immun machte. Dieses hygienische Verfahren beruhte auf der Erkenntnis, daß im menschlichen Körper wie im tierischen die denselben aufbauenden Zellen mehr oder weniger abwehrkräftig gegen eindringende Krankheitsstoffe, wie Bazillen, Spaltpilze und sonstige lebenswidrige Keime, sind. Um nun den Widerstand der Einzelzellen gegen die Krankheitserreger zu erhöhen, hatte ein genialer Gelehrter die Srikomethode erfunden. Sie fußte auf einer Neubildung von lebenskräftigen Zellen an Stelle der durch Arbeit, Witterung und sonstige körperschädliche Einflüsse erschlafften oder mißbildeten Zellen. Die Basis der hygienischen Kur war also ein schneller Stoffwechselvorgang, der jeden Teil des Körpers alljährlich neubildete.
Dies erinnerte Mac Milford an eine von einem berühmten irdischen Mediziner ausgesprochene Ansicht, daß sich im menschlichen Körper nach und nach während seiner Lebenstätigkeit alle und jedes Teilchen, aus denen er bestehe, innerhalb einer gewissen Epoche neubilde, daß also ein Mensch nach Verlauf von etwa sieben Jahren ein neuer sei; dies sollte sich in dem genannten Zeitraum bis zum Tode regelmäßig wiederholen. Auch die Martier mußten diese Entdeckung gemacht haben. Sie hatten auf Grund eingehender physiologischer Studien die Überzeugung gewonnen, daß eine Neubildung des Menschenkörpers sich in Zeitetappen ständig wiederhole, daß der Prozeß aber mit jedem Male, nachdem der Körper zur völligen Reife gelangt sei, weniger energisch verlaufe, die Neubildung aller Teilchen also keine durchgreifende sei, was ein Altern des Körpers und eine fortgesetzt sich verringernde Widerstandsfähigkeit zur unausbleiblichen Folge habe. Das Bestreben der martischen Physiologen hatte sich nun darauf gerichtet, den Neubildungsprozeß, der nicht nur Krankheiten abhielt, sondern auch eine mehr als hundertjährige Lebensdauer gewährleistete, alljährlich vorsichgehen zu lassen, was durch eine intensive Stoffwechselkur erreicht wurde.
Jeder Bewohner des Mars, gleichviel ob jung oder alt, mußte im Sommer einmal in jedem Jahre in dem Bezirk, wo er lebte, in einem Sriko-Institut jene Kur durchmachen. Hiervon waren weder Säuglinge noch Greise, noch das weibliche Geschlecht befreit. Streng war die Behandlung; jeder Patient mußte peinlich alle Vorschriften, deren es weit über hundert gab, befolgen; es war ein Leben nach der Uhr. Minutiös wurde in jeder Beziehung vorgegangen; ja, nach Sekunden regelte sich alle Tätigkeit. Die Ausscheidungen des Körpers während der Stoffwechselkur wurden alltäglich mehreremal untersucht und genau gewogen. Besonders spielte die Harnanalyse eine große Rolle. Über alles wurde auf das peinlichste Buch geführt. Die den Stoffwechsel fördernden chemischen Substanzen, über deren Natur Mac Milford nichts Näheres zu erfahren vermochte, wurden dem Körper des Patienten stündlich zugeführt und zwar in einer Form und Verabreichungsweise, welche eine geniale Methode für sich darstellte.
Während diesen hochinteressanten Aufklärungen, die Elhel dem Professor zuteil werden ließ, hatten beide das Sriko-Institut, welches Mac Milford zuerst zu besichtigen wünschte, betreten.
Das Gebäude bestand aus einer riesigen Halle, an die sich im Umkreise eine große Zahl kleinerer Räume anschlossen, welche zum Aufenthalt der Kurgäste bestimmt waren. Die Anstalt wurde zu dieser Jahreszeit ausschließlich nur von männlichen Personen frequentiert. Die Behandelten, soweit solche in der Halle weilten, waren alle im Adamskostüm. Hier war keine falsche Scham am Platze. Erstens wurden die Martier ethisch alle so erzogen, daß die Reinheit des Gemüts und der Denkungsart eine ihrer Kardinaltugenden waren, und zweitens war ein Anschlagen der Kur nur zu erwarten, wenn der Patient während der ganzen Dauer seines Aufenthaltes in der Anstalt im reinsten Naturzustand lebte.
Mac Milford war nach der Besichtigung des Institutes der festen Ansicht, daß die Methode zur Verhütung der Krankheiten ungleich wertvoller sei, als alle Heilmethoden der Welt. Auch auf Erden würden sich die Menschen dereinst noch zu dieser Erkenntnis durchringen, wenn er bei der Rückkunft seine irdischen Mitbürger nicht mit der feudalen Sriko-Kur bekannt machte und ihnen die ihm noch ungenannt gebliebenen stoffwechselfördernden Substanzen nicht zu nennen vermochte.
Das nächste Gebäude, welches sodann besichtigt wurde, war das Bakteriologische Institut.
Im Reiche der Bazillen! — Hier schlummerten in zahlreichen Gefäßen die todbringenden Lebewesen, die furchtbaren Keime epidemischer Krankheiten. Menschengeist hatte die Seuchen in enge Behälter gebannt und hielt sie dort gefangen. Alltäglich vermehrte sich die Schreckensbrut um einige neue Kameraden. Meist waren die frisch hinzukommenden Seuchenerreger fremdplanetarischen Ursprungs, deren Herkunft in der Regel ausfindig gemacht werden konnte.
Wie Mac Milford erfuhr, kamen diese furchtbaren Krankheitskeime mit von fremden Himmelskörpern niederfallenden Meteoriten auf den Mars. Kosmische Feuerkugeln brachten also die Epidemien, welche auf fremden, von Lebewesen bevölkerten Gestirnen ihre alles verheerenden und vernichtenden Streifzüge unternahmen, zu diesem Planeten herüber.
Wieder war das eine hochwichtige Entdeckung, die nun auch der irdischen Menschheit zugute kommen sollte, denn Mac Milford machte sich soeben eine Notiz darüber in sein Taschenbuch, um später daran erinnert zu werden.
In langen Reihen standen die Glasbehälter in offenen Wandschränken. Überall hing ein kleines Celluloidschild mit schwarzer Aufschrift dabei.
Elhel führte den Professor, der vor Freuden über die ihn so ungemein interessierenden Sachen, welche hier aufgestapelt waren, ruhelos bald hierhin, bald dorthin lief, zu der bakteriologischen Abteilung, wo die Seuchenkeime der Erde in ihren gläsernen Gefängnissen aufbewahrt wurden.
Hier schlummerten die furchtbaren Schrecken seiner Heimatswelt. Die Pest, die Cholera, die Tuberkulose, die Pocken, die Syphilis, die Diphtheritis, die Genickstarre, die Influenza, der Scharlach, der Typhus und noch viele andere todbringende Seuchen mehr.
Bei dem Anblick dieses medizinischen Museums wäre ein eingefleischter Pathologe der Erde sicher außer sich vor Überraschung und Freude gewesen; trug doch schon Mac Milford, der Vertreter einer anderen Fakultät, so viel Begeisterung für alles, was sich hier den Blicken bot, zur Schau.
Elhel nahm jetzt einige der Glasgefäße von ihrem Standort herab und stellte sie auf einen Tisch, auf dem verschiedene Instrumente lagen.
Einer der Behälter wurde dann in ein Hartgummikästchen versenkt und über dasselbe ein stereoskopähnliches Instrument gelegt. Letzteres war ein Ultramikroskop, welches einen Blick in die Lebewelt der Bazillenbrut gestattete.
Mit Erstaunen sah der Professor durch die Doppellinse des Apparates in das gläserne Seuchengefängnis hinein.
Wohl hatte er schon daheim auf Erden des öfteren Gelegenheit gehabt, die Welt kleiner Lebewesen mit dem Mikroskop zu betrachten; was sich aber hier seinen Blicken bot, das übertraf alles bisher Gesehene und Erwartete.
In einer sich zersetzt habenden Eiweißflüssigkeit sah er Mikroben in riesigen Mengen sich lustig in ihrem Lebenselement herumtummeln. Wie Fliegen groß, schwammen sie in ihrem Teiche durcheinander.
Erstaunlich war die Leistung des Ultramikroskopes. Gestattete es doch noch Objekte zu sehen, welche weit kleiner als eine halbe Wellenlänge des Lichtes waren, das heißt welche einen Durchmesser von weniger als 0,001 Millimeter besaßen. Dieses Minimalmaß, das die Grenze bildet, über welche hinaus die Erdenbewohner mit ihren Mikroskopen nicht zu sehen vermögen, schraubte das optisch ungeheuer kräftige Ultramikroskop der Martier bis auf 0,000001 Millimeter herab; es konnten also noch Objekte und Strukturelemente von ein millionstel Millimeter Durchmesser wahrgenommen werden, was soviel bedeutete, daß nicht bloß Moleküle sondern sogar die einzelnen Atome in ihrer kugelförmigen Gestalt erblickt werden konnten. Das ließ Mac Milford darauf schließen, daß die martischen Gelehrten auch eine völlig ausgebildete Atomlehre besaßen, die sie wiederum in den Stand setzte, der letzten Erkenntnis aller Dinge nahezukommen; das Rätsel der Welt, das Problem des Lebens zu lösen. Vermutlich bestand an der Staatshochschule der Martier ein Lehrstuhl für Atomkunde und Naturwissenschaftsphilosophie. Dort mußte dann der Born der Erkenntnis aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge der Marswelt sein.
So weit hatte sich der alte Professor mit seinen Gedanken verloren, als er in die Mikrobenbrut schaute.
Nachdem die Wanderung dann fortgesetzt und noch so manche sanitäre und hygienische Einrichtung in Augenschein genommen worden war, begab sich Mac Milford mit Elhel in sein Asyl zurück, um hier sofort über alles Gesehene Notizen zu machen. Der Alte trug sich nämlich seit einigen Tagen mit der Absicht, nach seiner Rückkehr zur Erde, ein vielbändiges Werk über die Marswelt herauszugeben, wozu er natürlich noch vieles wissen mußte, um alle sozialen Verhältnisse, wissenschaftlichen Errungenschaften und technischen Fortschritte im richtigen Lichte schildern zu können. In Anbetracht dieses gefaßten Vorsatzes machte sich vor allem ein eingehendes Studium der Marssprache erforderlich, weshalb Mac Milford die folgende Zeit dazu verwendete, sich von seinem Lehrmeister Elhel unterrichten zu lassen. Dann gedachte er, ausgerüstet mit Sprachkenntnissen, vor allem dem Staatsarchiv einen Besuch abzustatten; jener Stätte, wo er seiner Ansicht nach einen tiefen Einblick in die Geisteswelt und Entwickelungsgeschichte der Marsbewohner gewinnen mußte.
Zehntausend Jahre Weltgeschichte bargen die Aufzeichnungen des Staatsarchives. Der Bienenfleiß zahlreicher Historiker aus der grauesten Vorzeit bis zu den Tagen, wo die martische Kultur, im Zenit ihrer Entwickelung stehend, ihre höchsten Triumphe feierte, hatte hier ein Geschichtsmaterial zusammengetragen, das durchzustudieren einem emsigen Leser mindestens fünfzig Jahre seines Lebens gekostet hätte.
Zu jenen Zeiten, wo die Weltgeschichte der Erdenbewohner einsetzte, wo ein Adam und eine Eva als erste Abkömmlinge eines Säugetierpaares, dessen vormalige Existenz kein Anthropologe darwinistischer Richtung anzuzweifeln wagt, das Licht der Welt erblickten, wo ein Abraham, ein Noah und ein Moses lebten; zu jenen Zeiten war die Kultur des Marsvolkes schon so weit vorgeschritten, daß sie mit ihren geistigen und materiellen Erzeugnissen bereits alle Künste und Weltanschauungen der alten Ägypter, Römer und Griechen der Erde in den Schatten stellte.
Auch das Archiv der Martier barg vorhistorische Pergamente und Papyrusse, wie das manches Kulturstaates unseres Planeten. Auch diese Aufzeichnungen ließen eine Fortentwickelung der Schriftsprachen, ganz wie bei uns, erkennen. Schriftzeichen, die den Hieroglyphen, Runenbuchstaben und der Keilschrift irdischer Volksstämme recht ähnelten, bedeckten die Urpapyrusse.
Seltsam nahmen sich diese Schnörkel martischer Schriftsprachen der grauesten Vorzeit aus. Ihre Entzifferung war aber den im Jahre 5008 martischer, respektive im Jahre 9426 nach irdischer Zeitrechnung lebenden Archäologen — also zur Zeit, wo unsere vier Helden auf dem Mars weilten — längst gelungen.
Viele Billiarden Worte mochten die zahllosen, wohlgeordneten Inkunabeln, Manuskripte und Druckwerke des Staatsarchives umfassen. Hier waren die Schätze einer langen historischen Vergangenheit aufgespeichert. Die Kulturetappen innerhalb hundert Säkula waren leichthin durch die Aufzeichnungen zu verfolgen. Vom reinsten Naturzustand des Menschen bis zu dem Kulturzenit des zehnten Millenniums.
Reiche waren erstanden, Reiche in den Staub gesunken. Kriege zogen sich, periodisch wiederkehrend, durch die Weltgeschichte des Marsvolkes dahin. Blut und Eisen hatten einstmals, wie noch jetzt auf Erden, auch auf dieser Welt die Geschicke von Nationen besiegelt. Menschenopfer waren zu ungezählten Tausenden gebracht worden, um des Vaterlandes, der Ehre und der Habgier willen. Absolutistisch regierende Herrscher hatten Jahrhunderte hindurch die Menschheit geknechtet, dann waren ihre Throne gestürzt worden, und Regenten traten auf, die ihre Völker humaner beherrschten, die den Fortschritten der Kultur nicht hemmend im Wege standen und bestrebt waren, ihren Untertanen ein lebenswertes Dasein zu bereiten. Aber auch sie waren nur eine vorübergehende Erscheinung im sozialen Leben der Völkerschaften. Ihren Dynastien folgten Usurpationen, Terrorismus, Demokratie und freie Republiken. Das männermordende Schwert spielte zu diesen Zeiten noch eine Rolle, bis schließlich ein einziges Weltreich entstand, das mit dem Krieg ein für allemal aufräumte. Mit der Einsetzung eines sogenannten Volkspotentaten, der Abschaffung des Geldes, der Aufhebung aller gesellschaftlichen Kasten und der allgemeinen Arbeitsverteilung durch den Staat, war dann eine soziale Reform geschaffen worden, die, den früheren Einrichtungen gegenüber, der Volksseele in ihren hauptsächlichsten Wünschen gerecht wurde.
Auch auf dem Gebiete der Religionsanschauungen hatten sich, wie auf Erden so auch auf dem Mars von Jahrtausend zu Jahrtausend Wandlungen vollzogen. Aus einem Naturglauben und Götzendienst heraus kristallisierte sich ein Glaube an eine allmächtige, die Geschicke der Menschen aller Welten lenkende Gottheit und ihrer Schöpfung, welche Religion dann aber mit dem Fortschreiten der Kultur mehr und mehr eine formlose Gestalt annahm und schließlich ganz zu einem Schemen verblaßte, das Anschauungen Platz machte, die ein denkendes höheres Wesen völlig verwarfen und den Menschen das Göttliche nur in seiner eigenen und der großen Naturseele suchen ließen.
Das waren die Grundzüge der Weltgeschichte des Marsvolkes, soweit diese Mac Milford während seines öfteren Aufenthaltes im Staatsarchiv aus den Aufzeichnungen der Historiker zu entnehmen vermochte. In der martischen Welt- und Kulturgeschichte sah der Professor zu seiner Freude das Spiegelbild der historischen und kulturellen Erscheinungen der irdischen Heimatwelt. Ein neuer Beweis dafür, daß der Verlauf aller Dinge im Universum überall der gleiche war; welche Behauptung er schon vor Jahren, ehe er auch nur mit einem Gedanken eine Reise ins Weltall für ausführbar hielt, in seinem voluminösen Werke »Beweis der Unmöglichkeit der Existenz einer vierten Dimension und eines dritten Geschlechtes« aufgestellt und diese mit geistsprühenden Darlegungen zu fundieren versucht hatte.
Gleich wie die Wissenschaft, Technik, Künste und anderes mehr, durch die martische Überkultur in ein Stadium gelangt waren, welches kaum noch Aussicht auf große Fortschritte bot, so hatten auch die Sitten und Gebräuche des Marsvolkes eine Reform durchgemacht, die eine weitere soziale Verbesserung kaum noch zuließ. Es schien die Zeit gekommen zu sein, wo eine Stagnation eintrat. Die Krone der Schöpfung, der Mensch, mochte auf dem Höhepunkte seiner Entwickelung in geistiger Beziehung angelangt sein. Es war also ein Stillstand in der martischen Weltentwickelung zu befürchten, was die spärlich gemachten Erfindungen und Entdeckungen des letzten Jahrhunderts und das starke Nachlassen der Produktivität auf literarischem Gebiete nur zu deutlich verrieten.
Stillstand heißt Rückgang. Es war also zu erwarten, daß die Kultur auf dem Mars wie ein Stern, der, nachdem er seinen höchsten Stand am Himmel erreicht hat, wieder sinkt, auch nun abwärts ihrem Untergange entgegeneile. Eine allmähliche Degeneration mußte eintreten.
Solchen Gedanken hing der junge Ingenieur in der Stadt XII in seiner Behausung nach. Fast jeden Tag hatte er Betrachtungen über die sozialen Einrichtungen und die auf dem ganzen Marsball überall gleichen Sitten und Gebräuche angestellt und kam nun heute zu dem Fazit, welches die Einleitung zu diesem Kapitel bildet.
Nach irdischer Zeitrechnung waren, wie Morton durch seinen Taschenkalender erfuhr, rund 50 Tage seit der Ankunft auf dem Mars vergangen.
Was hatte er während dieser Spanne Zeit nicht alles erlebt — eine ganze Welt war auf ihn eingestürmt.
Seit Wochen schon von seinen Gefährten getrennt, erfuhr er nicht, was aus ihnen geworden war; nur so viel wußte er, daß die Martier auch sie voneinander getrennt hatten und in der Zentralstadt sorgfältig in Gewahrsam hielten. Den Grund hierfür glaubte Morton darin zu finden, daß die martische Staatenleitung verhüten wollte, daß die britische Expedition möglicherweise Versuche machen könne, einen Verkehr mit der Erde herzustellen, um noch eine Anzahl ihrer Mitbürger herüberzulocken.
So war denn Mr. Morton ganz allein auf sich angewiesen. Während der Isolierung, welche nun schon Wochen hindurch angedauert hatte, wurde er von den wenigen Martiern, welche die Stadt XII verwalteten, zur systematischen Erlernung der Marssprache in Wort und Schrift unausgesetzt angehalten. Tagsüber gewährte man ihm nur zwei freie Stunden, die der junge Erdensohn meist dazu benutzte, die Stadt nach allen Richtungen zu durchschlendern.
Auf solchen Spaziergängen traf er denn auch häufig Martierinnen. Daß er für die weiblichen Wesen dieser Welt eine besonders auffallende Erscheinung war, das bewiesen die erstaunten Blicke, welche die martischen Evastöchter dem Fremdling zuwarfen.
Die Stadt XII zählte nach dem öffentlichen Journal 153 000 Einwohner, davon entfielen rund 60 Prozent auf das weibliche Geschlecht; die Frauen waren also, wie auf der Erde, so auch hier, in der Majorität.
Morton war in der letzten Zeit seines unfreiwilligen Aufenthaltes in der unter dem dreißigsten Grad geographischer Breite und einundsiebenzigsten Grad Länge liegenden Stadt, mehrfach mit jungen Mädchen bekannt geworden. Herrschte doch die Sitte, daß jeder, der Lust dazu verspürte, die Bekanntschaft mit irgend jemand anknüpfen durfte, gleichviel mit Mann oder Frau.
Hätte Morton gegen einen Marsbürger betreffs dieser Sitte, welche doch dem weiblichen Teil der Bevölkerung oft Verlegenheiten bereiten mußte, Bedenken geäußert, so wäre er nicht verstanden oder belächelt worden. In dieser Beziehung sollte er aber bald des rechten belehrt werden.
Es war erstaunlich, wie schnell der Sohn der Erde die Sprache seiner neuen Mitmenschen erlernte. Keinem irdischen Volke konnte die Neutralsprache der Martier so günstig liegen, wie gerade der englischen Rasse. Dazu kam noch, daß das Einsilbenidiom keine größeren Schwierigkeiten in der Erlernung bot, denn es gab in der Grammatik der Marsbewohner weder eine Deklination noch eine Konjugation, die Aussprache war nicht abweichend von der Schreibweise und die Satzbildung unendlich einfach.
Morton beherrschte darum nach fünfzig Tagen eisernen Fleißes das martische Volapük so weit, daß er sich mit jedermann zu verständigen vermochte und selbst geistig vertiefte Themata berühren konnte, ohne Gefahr zu laufen, falsche Ausdrücke zu wählen oder in solcher Unterhaltung sonstwie sprachlich Schiffbruch zu leiden.
Als nun Morton wieder einmal seine freie Zeit zum Promenieren durch die Stadt verwendete, fiel ihm unter den vielen weiblichen Wesen, die seinen Weg so oft zu kreuzen genötigt waren, besonders ein Mädchen auf, das in der, von allen Frauen getragenen dunkelfarbigen Robe ausnehmend hübsch aussah. Es war noch unverheiratet. Der Ingenieur ersah dies daraus, daß das schlanke, ungemein zierliche Wesen nicht das staatliche Abzeichen — eine farbige Spange auf der Kopfbedeckung — trug, welche jedes Weib, das eine Ehe eingegangen war, ihrem Kopfputz vorzustecken gezwungen war. Diese Einrichtung weiser martischer Kadis oder Gesetzgeber war dem Erdensohne bereits wohlbekannt.
Daß sich Morton so besonders zu jener jungen Stol, wie unvermählte Mädchen auf »gut Martisch« bezeichnet wurden, hingezogen fühlte, lag vor allem in dem Umstand, daß sie seiner Gattin daheim äußerlich in vieler Beziehung glich. Was lag also für den jungen Mann näher, als der Wunsch, die Stol kennen zu lernen?
Fest entschlossen, sie einmal zu sprechen, machte sich Morton am folgenden Tage auf den Weg. Er ging durch den II. südlichen Stadtquadranten, und zwar passierte er jene Straßen, welche die junge Martierin zu bestimmter Stunde ging.
Wie alle unvermählten Mädchen, war es ihre Pflicht, jeden Tag, das ihr von der Staatenleitung zuerteilte Amt, zu dem sie durch vorangegangenen Unterricht und durch Qualifikation befähigt war, zu versehen.
Die Stol, welche das hohe Interesse Mortons besaß, war als Kontrolleurin der Zahlmarken in einem Warenlieferungsdepot verpflichtet.
Wochen hindurch hatte der junge Erdensohn die martische Jungfrau alltäglich getroffen, ihr stets einen warmen Blick zuwerfend; heute, wo er den festen Entschluß gefaßt, ihr näher zu treten, blieb die erwünschte Begegnung seltsamer Weise aus. — War sie krank oder war ihr sonst ein Unfall passiert?
Das eine oder andere konnte es nur sein, denn er hatte in Erfahrung gebracht, daß eine Stol nur in solchen Fällen den übernommenen Dienst ihrer Stellvertreterin übertragen durfte.
Fünf Tage vergingen in banger Erwartung, und die Martierin wurde noch immer nicht sichtbar. Wenn er sie nie wieder sehen sollte ... der Gedanke war quälend für ihn.
Erschreckt machte Morton nach weiteren drei Tagen an sich die Entdeckung, daß er an die Tochter des Mars mehr dachte, als an seine Gattin daheim. Er fühlte, daß er letzterer dadurch unrecht tat, doch konnte er sein Temperament und seine Gedanken nicht zügeln.
Endlich am elften Tage, seitdem er die Stol zum letzten Male erblickt hatte, tauchte diese zur gewöhnlichen Zeit wieder auf.
Wie ein abgeschossener Pfeil eilte er dem Mädchen entgegen, um aber im letzten Augenblicke zögernd Halt zu machen. Sie sah ihm nicht mehr wie gewöhnlich ins Auge, sondern ihr Blick wendete sich abseits.
Betroffen schaute Morton die Stol an, und der Mut sank ihm, sie in diesem Augenblicke anzusprechen.
Schon war sie vorüber. Das Tempo ihrer Schritte etwas beschleunigend, bog sie in die nächste abzweigende Querstraße ein.
Was mochte mit ihr, die ihm doch allzeit einen freundlichen Blick geschenkt hatte, seitdem sie wahrgenommen, daß sie das ungewöhnliche Interesse des Fremdlings besaß, vorgegangen sein?
Morton litt es nicht, ihr länger nachzuschauen. Hastigen Schrittes holte er die Stol ein, fest entschlossen, mit ihr ein Wort zu reden.
Wie sollte er aber seine ersten Sätze formulieren? Er war nicht mit den gebräuchlichen Anredeformen bekannt. Wenn er sie mit dem üblichen Gruß ansprach?
»Godi!« klang es plötzlich von seinen Lippen, als er dem Mädchen, die sein Nahen wohl bemerkt hatte, zur Seite war.
»Godi!« erwiderte die Martierin und sah dem ihr bekannten Erdensohn mit ernster Miene ins Auge.
»Ich darf dich wohl begrüßen, Stol?« begann Morton.
»Eine Stol, welche vor kurzem einem Manne das Ehegelöbnis gegeben hat, vermeidet es eigentlich, mit anderen als ihren Angehörigen und Freundinnen zu sprechen,« gab das junge Mädchen zur Antwort.
Morton, der ihre Rede verstanden hatte, zuckte zusammen. Die Ursache ihres Fortbleibens vom Dienst, den Grund ihrer Ausweichung bei der Begegnung — er hatte ihn entdeckt. Sie war nicht mehr frei, ein Marssohn hatte ihre Hand begehrt und sie erhalten.
»So ist es wohl hierzulande Pflicht und Sitte, daß ich dich wieder verlasse?« frug Morton leisen Tones, und seine Stimme zitterte merklich, so merklich, daß die Stol ihn von neuem ansehen mußte.
»O nein,« erwiderte das Mädchen schnell; »du darfst mich begleiten.« Ihre Stimme zitterte ebenfalls vernehmbar.
»Wo führt dich dein Weg hin, Stol?«
»Zum Amt.«
»Und welche Zeit steht dir bis dahin noch zur Verfügung?«
»Fünfundzwanzig Li,« lautete die Antwort.
Morton war mit der martischen Zeitrechnung bereits vertraut, so daß er wußte, daß 25 Li etwa 50 Minuten irdischer Zeitrechnung entsprachen. Das waren für einen Gedankenaustausch eine gute Spanne Zeit. —
Die wenigen Passanten, welche den beiden auf den Straßen begegneten — die meisten Martier benützten in der Regel die Flugmaschine — blickten dem Paare verwundert nach. Jeder kannte natürlich den irdischen Fremdling, war doch die gesamte Marswelt von dem Besuche der Erdensöhne unterrichtet worden.
»Stol, willst du mir deinen Namen verraten?«
»Ich wüßte nicht, welcher Grund mich dazu berechtigt, dir denselben zu verschweigen. — Bellna hat mich die hohe Staatenleitung getauft,« gab die Stol freimütig zur Erwiderung.
Abermals trafen sich die Blicke ihrer Augen.
»Weißt du, wer ich bin?«
»Ein Fremdling auf unserer Scholle. Das Rele hat mich schon längst darüber belehrt.«
Rele wurde die tägliche amtliche Bekanntmachung genannt, die den Bürgern und Bürgerinnen jeder Stadt allabendlich um 6 Uhr martischer Zeitrechnung ausgehändigt wurde, und welche erlassene Vorschriften und Neuigkeiten, die sich ereignet hatten, allen zur Kenntnis brachte. Das Rele war also eine Art Zeitung.
»Wäre es jetzt finster, so könnte ich dir mein Heimatsgestirn am Himmel zeigen,« begann Morton wieder.
»Es ist unnötig, ein jeder von uns kennt das Gestirn, auf dem du das Licht der Welt erblicktest.«
»Du wirst also in Kürze einem Manne angetraut; liebst du ihn?« frug Morton unvermittelt, und abermals zitterte seine Stimme.
»Ob ich ihn liebe?« erwiderte die Stol bitter. »Liebt bei euch auf Erden ein Mann immer die Erwählte?«
Morton schüttelte den Kopf. »Nicht immer, Bellna.«
»Oft sind wir Stols gezwungen, wenngleich uns niemand zu einer Ehe zwingt, dem Manne die Hand zu reichen, der uns zu seiner Gattin begehrt. Denn die Jugend ist nur zu schnell verflogen, und wenn wir Mädchen alt sind, so ist jede Aussicht, eine Ehe eingehen zu können, meist für immer vorbei.«
»Tout comme chez nous,« murmelte der junge Ingenieur.
»Was gabst du soeben leise zur Antwort?«
»Ganz wie bei uns, sagte ich, Bellna.«
»Also die Töchter der Erde, eure Stols, teilen ihr Schicksal mit den Mädchen anderer Welten?«
»Ja. ... Welches Amt bekleidet dein zukünftiger Gemahl?« frug Morton weiter.
Die martische Maid nannte jetzt eine Berufsart, deren Bedeutung und Zweck dem Ingenieur nicht sofort einleuchten wollte. Wenn er richtig verstanden hatte, so war das Amt, welches Bellnas Erwählter bekleidete, ein recht ungewöhnliches. Auf Erden hätte man über einen solchen Staatsposten nicht bloß den Kopf geschüttelt, sondern ihn direkt ins Reich der Narren gehörig verwiesen. Aus dem Martischen übersetzt, bedeutete diese so fragwürdige Tätigkeit eines Menschen soviel wie Inspektor des Magnetpolrayons.
Wahrlich, das war ein seltsamer Posten, den die martische Staatenleitung von einem ihrer Untertanen besetzen ließ. Zu solch einem Amte hätte sich auf Erden sicher kein Eskimo bereit finden lassen. Um die Existenz in dem Eisbärenklima war jener Mann sicherlich nicht zu beneiden.
So ähnlich dachte jetzt Morton.
»Und wirst du in der Magnetpolregion dein Heim aufschlagen?« frug er.
»Ob ich hier bleibe oder dort lebe, das hängt von dem Willen des Staatenleiters ab.«
»Euer Potentat ist ja allbestimmend. Ich bezweifle, daß er und sein hoher Stab, besonders was die Herzensangelegenheiten seiner Mitbürger angeht, immer und stets das Richtige mit den von ihm erlassenen Bestimmungen trifft.«
Bellna seufzte, woraus Morton schließen konnte, daß die Zweifel, die er eben ausgesprochen hatte, wohl am Platze gewesen waren.
»Die Staatenleitung duldet seitens der Männer überhaupt keine Ehelosigkeit. Mit vollendetem zwanzigsten Lebensjahr wird ein jeder, der noch keine Stol erwählt hat, kurzer Hand dazu gezwungen. — Und auch ihr Fremdlinge von der Erde werdet, wie ich schon vernommen habe, euch unserer Sitte fügen müssen.«
Morton stutzte. Er traute seinen Ohren nicht.
Er und seine Gefährten sollten auf diesem Planeten über kurz oder lang zu einer Heirat gezwungen werden?
»Bellna, das kann ich nicht glauben.«
»Du wirst es bald erleben, lieber Freund. Das Rele hat bereits diesbezügliche Bestimmungen über euch vier Männer einer fremden Welt erlassen.«
Das war eine verheißungsvolle Aussicht, und wenn eine Flucht in der nächsten Zeit nicht gelang, so wurden er und seine Genossen irdische Opfer martischer Sitten.
Inzwischen war Bellna vor dem Gebäude angelangt, in welchem sie ihre Tätigkeit ausübte.
»Godi, mein Freund,« sagte die junge Stol und zerdrückte eine Träne in ihrem Auge.
Ehe Morton ihre Hand erfassen und das Lebewohl zu erwidern vermochte, war sie verschwunden.
Gedankenvoll und nicht zum wenigsten auch tief bekümmert darüber, daß er Bellna vielleicht niemals wiedersehen würde, lenkte er seine Schritte heimwärts.
Wochen zogen ins Land und noch immer hielt man die vier verdächtigen Fremdlinge einzeln in Gewahrsam. Keiner wußte von dem andern, wo er weilte und wie es ihm erging. Dies stimmte besonders den alten Professor recht traurig; er hatte seine Reisegefährten samt und sonders lieb gewonnen und konnte ihre Gesellschaft nur schwer vermissen.
Nachdem rund sieben Wochen verstrichen waren, schlug endlich die physiopsychologische Heilmethode an, und der Hospitalleiter teilte eines Tages seinem irdischen Patienten mit, daß dessen Nervenstörung im Kleinhirn behoben sei und er nie wieder einen Anfall zu gewärtigen habe.
In Wirklichkeit betrachtete man den Kranken aber schon seit einigen Wochen als geheilt und behielt ihn nur im Hospital zurück, weil er bekanntlich einige Tage nach seiner Einlieferung dem Chef der martischen Heilanstalt die Mitteilung gemacht hatte, daß aller Voraussicht nach noch ein zweites Fahrzeug von der Erde auf dem Mars landen würde.
Da aber im Verlaufe mehrerer Wochen das angekündigte Vehikel der Amerikaner nicht eintraf, so hegte man schließlich keine Bedenken mehr, den Alten noch weiter zu internieren, wie das in gleicher Weise mit seinen drei Genossen geschehen war.
Morton, Palgrave und Jenkinson wurden nunmehr durch einen Erlaß des Potentaten aus ihrer Einzelhaft entlassen und durften ihren genesenen Gefährten im Hospital wieder aufsuchen.
Der junge Ingenieur traf noch an demselben Tage mittels einer ihm zur Verfügung gestellten Flugmaschine in der Zentralstadt ein und begab sich mit seinen beiden andern Genossen in die Heilanstalt zu Mac Milford, um mit diesem dort ein frohes Wiedersehen zu feiern.
Der greise Gelehrte war tief bewegt, als er seine Freunde nacheinander in die Arme schloß.
Dann tauschten die vier Wiedervereinten ihre Erlebnisse aus. Jeder hatte so viel zu erzählen, daß Stunden darüber vergingen.
Der Seapoyhauptmann war mit seiner Internierung am wenigsten zufrieden gewesen. Er hatte sich unausgesetzt mit dem Studium der Marssprache beschäftigen müssen, so daß er vor Verzweiflung bald einen Selbstmord begangen hätte.
»Nun, ich kann mich nicht so sehr beklagen,« meinte Morton. »Man ließ mir in der Stadt XII ziemlich freien Lauf.«
»Und ich habe von einer Welt Eindrücke gesammelt, die nicht mit allem Golde der Erde zu bezahlen sind,« versetzte Mac Milford. »Dazu bin ich durch martische Heilkunst von meinem Nervenübel befreit worden. So sehr ich euch, meine lieben Freunde, auch vermißt habe, waren doch diese Wochen der Trennung von unermeßlichem Gewinn für mich und die irdische Menschheit. — Der Mars ist eine Welt, die besucht zu haben mich nie gereuen wird.«
»Beelzebub kann mir den Mars stehlen,« knurrte Palgrave, als Jenkinson meinte, daß ihm die Internierung ganz gut gefallen hätte, weil er immer wohl verpflegt und sehr rücksichtsvoll behandelt worden sei.
Während der Reporter sich nun mit Mac Milford zu dem Hospitalleiter begab, durchblätterte der Ingenieur eine ihm ins Auge gefallene Druckschrift, welche eine interessante Ausstellung aller staatlichen Einrichtungen des Marsvolkes enthielt.
Palgrave und Morton studierten mit großem Interesse das Verzeichnis der im Laufe vieler Jahrhunderte vom Staate errichteten Institute und Ämter, welche zur Bewältigung und Sicherheit des Weltverkehrs, für wissenschaftliche und technische Zwecke und soziale Angelegenheiten dienten.
Da waren unter vielen anderen aufgeführt: Allgemeines Verkehrsamt, Hydrographisches Amt, Pneumatisches Zentralkraftreservoir, Versuchsanstalt für Erfindungen und Entdeckungen, Arbeitsregulierungsamt, Staatskrematorium, Erzeugungsstelle für Nahrungsmittel, Zentralamt für drahtlose Telegraphie und Telephonie, Institut für Hygiene, Warenüberwachungsamt, Sprengstoffdepot ...
»Da haben wir's ja ... Sprengstoffdepot. Sehen Sie, lieber Genosse,« sagte Palgrave. »Die Martier haben immer noch explosive Stoffe zur Verfügung, mit denen sie nötigenfalls Feinden zu Leibe gehen können.«
»Bezweifle sehr, daß die Sprengstoffe in solchen Fällen Verwendung finden,« erwiderte der Ingenieur. »Den Martiern stehen dafür viel furchtbarere Mittel zur Verfügung.«
»Zum Beispiel?«
»Die Hitzewellen, deren Anwendung Mac Milford mit richtigem Scharfblick schon vorausgeahnt hat. Und auch die, jedes Lebewesen sofort vernichtenden Fokusioren. Haben Sie von diesen Strahlapparaten mit ihren todbringenden, wandernden Brennpunkten noch nichts gehört?«
»Nicht, daß ich wüßte, die famosen Dinger möchte ich schon einmal kennen lernen,« erwiderte der Invalide interessiert und fuhr sich dabei mit der Hand wiederholt in seinen Schnauzbart.
Nach diesem Zwischengespräch studierten beide wieder die Liste.
Von weiteren staatlichen Einrichtungen waren darin noch folgende verzeichnet: Wetterregulierungswarte, Staatsobservatorium, Warenerzeugungsstelle, Zentralinstitut für Jugenderziehung, Kontrollamt für Arbeitsmarken, Reichshospital, Reservoir für Fluidsubstanz, Zeitmeßwarte, Sauerstoff- und Stickstofferzeugungsinstitut, Sammelstelle für literarische Geistesprodukte, Mikroskopische Untersuchungsanstalt, Staatliche Musikhalle mit Zentraltelephonstelle. ...
»Ich bin verwundert, daß ich in diesem Verzeichnis keine Strafanstalt, kein Bagno, keine Galeere oder dergleichen finde,« unterbrach Palgrave seinen Genossen beim Lesen. »Verbrechen werden doch begangen, solange die Menschheit lebt. Das ist wenigstens meine Überzeugung.«
»Gewiß, aber die Verbrechen hierzulande sind zum Unterschiede von denen bei uns daheim ausschließlich nur Handlungen, die im Affekt begangen werden.«
»Woraus schließen Sie das, werter Freund?«
»Sehr einfach daraus, daß unter Menschen, welche weder Reichtum noch Armut kennen, die miteinander in einer einzigen großen Gütergemeinschaft leben, selbstverständlich keine gemeinen Verbrechen, wie Diebstahl, Betrug und Raubmord vorkommen, sondern nur strafbare Handlungen, welche in großer Erregung begangen werden,« belehrte Morton den Invaliden.
»Das leuchtet mir schon ein; aber wie bestraft man die Übeltäter?«
»Elhel hatte mich darüber nicht im unklaren gelassen. Die Strafe für alle Vergehen besteht in einer Versetzung zur Strafkolonie, das heißt, die Martier, welche sich von ihrem Temperament zu einem Mord haben hinreißen lassen, werden zu dem Monde Phobos verbannt, wo ihrer schwere Arbeit harrt.«
»Ein martisches Sibirien ... verstehe,« erwiderte Palgrave.
»Die Strafzeit wird von der Staatenleitung je nach dem Grad der Übeltat bemessen. Wer einen vorsätzlichen Mord begangen hat, verbleibt lebenslänglich auf Phobos. Leichte Vergehen werden damit bestraft, daß die Übeltäter in bestimmten Anstalten und Fabriken längere Zeit, zuweilen aber auch lebenslänglich, die daselbst vorkommenden schweren Arbeiten übernehmen müssen und zudem auch immer unter steter Aufsicht bleiben; jedoch findet dabei keine Freiheitsberaubung statt.«
»Treffliche Einrichtung,« bemerkte der Hauptmann.
»Hinrichtungen sollen schon seit vielen Jahrhunderten nicht mehr vorkommen, denn die Todesstrafe ist für immer abgeschafft.«
»Diesem juristischen Zustande kann ich nun keinen Geschmack abgewinnen. ... Schlechtes Gesindel, Menschen, die vorsätzlich morden, sollten immer ins Gras beißen müssen.«
Dieses kurze Zwiegespräch der beiden wurde soeben durch das Hinzutreten Jenkinsons unterbrochen.
»Auf zu einer Kanalreise nach dem Nordpol,« rief der Reporter seelenvergnügt aus.
»Zum Nordpol?« frug Palgrave.
»Zum Nordpol ...« echote Jenkinson. »Gibt wieder Stoff fürs Tagebuch.«
»Ich bin überrascht —« sagte Morton.
»Glaub's schon,« erwiderte der Überbringer der seine beiden Genossen erfreuenden Nachricht. »Ein Ukas der Staatenleitung sichert uns für die Zukunft freies Geleit.«
»Wer erwirkte dies?« frug der Ingenieur verwundert.
»Elhel.«
»Sollte es zu einer Okkupation des Mars durch unsere Regierung kommen, so werde ich für unseren martischen Freund bei Ihrer Majestät der Königin ein gutes Wort einlegen.«
»Schlagen Sie sich nur den Gedanken einer Eroberung dieses Planeten aus dem Kopf,« meinte Morton. »Denken Sie gefälligst nur an die Fokusioren und Hitzewellen, mit denen die Martier eine ganze englische Luftflotte zu Asche verbrennen können, ehe auch nur ein Brite den Fuß auf diese Weltscholle zu setzen vermöchte.«
»Hm, so wäre also der Hauptzweck unserer Expedition verfehlt,« versetzte der Invalide und zwirbelte unmutig die Enden seines schon stark ergrauten Schnurrbartes.
»Trotzdem werden wir reichen Gewinn davontragen. Wir haben eine Menge Erfindungen und Entdeckungen kennen gelernt, die der Kultur der Erde nach unserer Rückkehr einen gewaltigen Schubs geben werden,« meinte Morton.
»Notabene, wenn die britische Expedition ihr angestammtes Muttergestirn mit heiler Haut wieder erreicht,« versetzte der Seapoyhauptmann.
»Wir werden Krösusse. Rockefeller, Astor, Carnegie und wie alle die amerikanischen Trust- und Montanmagnaten heißen, sind dann arme Leute gegen uns,« rief Jenkinson aus und fühlte sich schon in Gedanken als zukünftiger Milliardär.
»Welch lieblicher Gedanke,« sagte Palgrave. »Ich werde solchen Falles die gesamte Geschütz- und Waffenfabrikation der Erde unter meinen Hut bringen.«
»Und ich sämtliche Zeitungsunternehmen,« versetzte Jenkinson. »Zum König der gesamten Presse werde ich mich aufschwingen. Als Potentat der siebenten Großmacht werde ich dann die ganze Welt zu meinen Füßen zwingen.«
»Schöne Aussichten,« meinte Morton lachend.
»Vorläufig sind das freilich noch alles Luftschlösser, doch haben wir die begründete Aussicht für uns, aus den Geheimnissen vieler hochwichtiger Erfindungen und Entdeckungen ein Kapital von vielen Milliarden herausschlagen zu können. Es wäre dann das beste, wir machen in dieser Hinsicht gemeinsame Sache.«
»Verbinden wir uns also zu einem Riesentrust!« rief Jenkinson.
»Wird Mac Milford damit einverstanden sein?« ließ sich Morton hierauf vernehmen.
Jenkinson nickte und erwiderte: »Sicher.«
»Es fällt mir da eben etwas ein,« warf jetzt der Invalide in das Gespräch. »Haben Sie vielleicht während der langen Zeit unserer Trennung in Erfahrung gebracht, ob Tom, das Faktotum Mac Milfords, inzwischen aufgetaucht ist?«
»Sehr wohl, Mr. Palgrave,« erwiderte der Reporter. »Was Freund Tom anbetrifft, so kann ich auf das bestimmteste berichten, daß er nicht auf dem Mars weilt.«
»Die Moleküle seines Körpers befinden sich dann sicher noch auf dem Wege durch das Weltall. ... Der Arme fiel als Opfer der Wissenschaft. Ehre seinem Angedenken!« versetzte der Ingenieur. »Doch nun, lieber Freund, wann soll die Nordpolfahrt von statten gehen?«
»Morgen früh um die elfte Stunde,« erwiderte der Reporter.
»Bin ganz damit einverstanden,« meinte Morton. »Von wo aus soll die Fahrt beginnen?«
»Man erwartet uns am Signalmast vierzig des Kanallaufes XIV.«
»Wenn ich nicht irre, liegt dieser Rendezvouspunkt im Norden,« sagte Morton.
»Nordwest,« verbesserte Jenkinson.
Mac Milford war inzwischen zurückgekommen und machte seinen Gefährten die Mitteilung, daß er an der Polarreise nicht mit teilnehme, weil er Gelegenheit habe, hochwichtigen astronomischen Beobachtungen aus dem Staatsobservatorium beiwohnen zu können.
Das war freilich nicht so recht nach dem Geschmack Jenkinsons, der sich nur unter der Leitung des Professors sicher fühlte. Auch die anderen beiden entbehrten nur ungern die Gesellschaft des Alten.
Da aber Mac Milford zur Mitfahrt nicht zu bewegen war, so beschloß man trotzdem die Reise zu unternehmen.
»Wenn der Magnetpol auch ein außerordentlich interessanter Punkt ist, der für mich eine doppelte Anziehungskraft besitzt ...«
Jenkinson unterbrach den Alten hier. »Doppelte, wieso?«
»Nun, eine physikalische und eine geographische.«
»Ah so!«
»Einer astronomischen Beobachtung, wie sie sich mir morgen bietet, kann ich aber noch weit mehr Interesse abgewinnen, als einer Polarreise,« fuhr Mac Milford fort.
»Welche Wunder des Weltalls werden Sie schauen?« frug der allzeit neugierige Reporter.
»Die Geheimnisse der Milchstraße, mein lieber Freund.«
Es war zu Anfang Juni, also rund zwei Monate nach der Abfahrt von der Erde, als sich die drei Mitglieder der britischen Expedition, Morton, Palgrave und Jenkinson vermittels einer Flugmaschine zum Ausgangspunkte der geplanten Kanalfahrt befördern ließen.
»Kanallauf vierzehn, Signalmast vierzig, lieber Freund,« sagte Jenkinson auf gut Martisch zu dem Führer des Flugschiffes, als er das Fahrzeug mit seinen Gefährten bestieg.
Der Martier, welcher von den Fremdlingen wohl schon gehört, sie aber noch nie gesehen hatte, musterte mit unverhohlenem Erstaunen die drei Söhne einer marsfernen Welt. So schlecht der Reporter auch trotz seines wochenlangen Studiums der Marssprache diese radebrechte, so hatte der Lenker des Fahrzeuges ihn doch verstanden. Er nickte zum Zeichen, daß er zu dem angegebenen Punkte fahren werde.
Die Maschine hob sich und überquerte die Zentralstadt, um direkt auf das gewünschte Ziel loszusteuern.
»Wir werden am Signalmast vierzig von einem Geographen und einem Physiker, welche zwecks wissenschaftlicher Untersuchungen eine Fahrt zum Pol vornehmen, um die elfte Stunde erwartet,« sagte Jenkinson, als Morton danach frug, wer denn ihr Führer und Begleiter auf der Kanalfahrt wäre.
»Die Sache verspricht interessant zu werden,« meinte Palgrave.
»Die beiden martischen Gelehrten werden uns treffliche Führer sein. Jetzt, wo wir drei mehr oder weniger die Sprache dieses Planetenballes beherrschen, können uns jene leichthin die nötigen Aufschlüsse über allerlei, was wir auf der Fahrt zu sehen und zu hören bekommen, geben,« entgegnete Jenkinson.
»Ich überlasse es Ihnen, Mr. Jenkinson, die Martier über alles Wissenswerte auszufragen, denn es gewährt mir kein sonderliches Vergnügen, mich in der Marssprache zu unterhalten,« meinte Palgrave. »Ich bin immer nahe daran, mir dabei die Zunge zu verrenken.«
Lassen Sie mich nur den Dolmetscher spielen,« versetzte der Reporter, und ein verdächtiges Schmunzeln glitt bei diesen Worten über sein Gesicht.
Doch das war den Adleraugen des Seapoyhauptmanns nicht entgangen. Das spitzbübische Lächeln seines Genossen weissagte ihm im voraus, daß dieser irgend welchen Schabernack im Auge hatte. Das verstimmte ihn eine Weile. Seit er den Korrespondenten der Times kennen gelernt hatte, war er nie sonderlich auf den spöttelnden und witzelnden Mann zu sprechen gewesen und hatte sich im stillen schon öfters zugeschworen, nie wieder in seinem Leben mit Leuten von der Presse Verkehr zu pflegen; er warf eben die Mitglieder der ganzen Sippschaft in einen Topf.
»Bis zur Stadt XII, an deren Peripherie der Kanallauf, von dem aus wir unsere Reise beginnen werden, liegt, haben wir rund eine Stunde zu fahren,« sagte jetzt Morton, der den Lenker der Flugmaschine über die Dauer der Reise interviewt hatte.
»Unterdessen können wir ein wenig die Landschaften unter uns mustern,« erwiderte Jenkinson und ließ seine Augen aus der Vogelperspektive herab auf eine Ebene gleiten, welche im fernen Hintergrunde von einem breiten Gewässer begrenzt wurde.
Die Landschaft lag in saftig grünem Kleide unter ihm; eine Wiese, nein, es war eher eine martische Prärie, deren Boden eine schwache, wellige Gestaltung zeigte.
Die Sonne stand in der vorgerückten Morgenstunde, jetzt zur Frühlingszeit, noch nicht hoch am Himmel. Durch den dünnen Dunstschleier, der über der Gegend lagerte, sandte das Tagesgestirn seine Strahlen und ließ die blumige Ebene wie einen mattglänzenden, farbigen Teppich erscheinen.
Es muß hier zum Verständnis des Lesers vorausgeschickt werden, daß die britische Expedition zu einer Zeit auf dem Mars weilte, in welcher der anbrechende Frühling über den langen Winter die Oberherrschaft gewann und seinen Siegeszug über die Marswelt mit der gewaltigen Schneeschmelze in den Polargebieten begann. Die von den Martiern angelegten Riesenkanäle füllten sich bereits allmählich mit gegen den Äquator hin abfließenden Wassermassen.
Die gigantischen Wunderwerke, die von der Erdenwelt seit Jahrzehnten angestaunten Kanäle, waren entschieden die phänomenalste Errungenschaft martischer Technik. Wasserläufe von einigen tausend Kilometer Länge und hundert, zweihundert und noch mehr Kilometer Breite, die oft, wie mit dem Lineal gezogen, sich untereinander in den verschiedensten Winkeln schneidend, zu vielen Dutzenden die Kontinente des Marsballes durchquerten, mußten eine Arbeitsleistung eines Millenniums darstellen. Das war die Ansicht irdischer Gelehrten. Doch unsere Helden sollten in dieser Hinsicht eines besseren belehrt werden.
Die Herren Martier hatten sich ganz und gar nicht mit einer solchen Sisyphusarbeit abgegeben; weder daß sie tiefe Wasserbetten gruben, noch daß sie natürliche Flußläufe zu Wasserstraßen für das Kanalsystem benutzten, hatten sie es verstanden, das Exempel in weit einfacherer Weise zu lösen.
Die Bodengestaltung der Oberfläche ihres Planeten setzte die Martier in die Lage nach einer genialen Idee — das Ei des Kolumbus — ein Wasserstraßennetz zu schaffen, das in seiner Größe mit Recht das höchste Erstaunen der irdischen Astronomen erregen mußte. Die in ihrer ganzen Ausdehnung völlig abgeflachten Kontinente gestatteten die Herstellung eines sogenannten Dammsystemes. Anstatt jene riesenhaften Wasserläufe auszugraben — eine Arbeit, die zweifellos unzählige Tausende von Jahren erfordert hätte — warfen die martischen Techniker einfach eine Anzahl sich kreuzender Dämme auf, von denen immer zwei parallel zueinander verliefen, die auf solche Weise ein Flußbett bildeten, das je nach Abstand der parallelen Dämme beliebig breit hergestellt werden konnte.
Da keine gebirgigen Erhebungen vorhanden waren, so vermochte man die Kanäle zumeist schnurgerade zu erbauen. Immer aber waren zu seiten der Hauptkanäle noch mit diesen parallel verlaufende Reservekanäle angelegt, welche bei großem Zufluß der Schneewasser aus den polaren Gebieten überschüssige Wassermassen aus den Hauptkanälen ableiten, so daß bei letzteren keine Überflutung, welche möglicherweise verderbenbringend werden konnte, einzutreten vermochte.
Hier sahen also unsere Weltallsfahrer das seltsame Rätsel der Verdoppelung der Kanäle, wie solche die Astronomen der Erde alljährlich bei optischer Betrachtung des Marsplaneten beobachtet hatten, gelöst.
Als die Flugmaschine etwa den dreißigsten areographischen Breitengrad erreichte, entrollte sich den Blicken der drei Reisegenossen zum ersten Male ein Bild, welches ihnen von der riesigen Kanalanlage so recht einen Begriff verschaffte. Die Ebbe- und Flutbewegung, welche in den Meeresbecken auf dem Mars weit kräftiger auftritt als auf der Erde, brachte im Verein mit dem starken Schmelzen der Schneemassen eine gewaltige Wasserströmung in dem Kanalsystem hervor.
Die Reisenden vermochten oben in ihrem Fahrzeug deutlich die kristallene Flut durch die künstlichen Betten dahinbrausen sehen; ja, sie hörten sogar das Rauschen der Wassermassen.
Die Temperatur mochte nach irdischen Begriffen etwa fünf Grad Wärme betragen. Immerhin war sie erträglich genug, um Winterkleidung entbehrlich zu machen.
»Weshalb fahren wir nicht mit dem Flugschiff zum Nordpol? Warum soll es gerade eine Wasserfahrt sein?« frug Palgrave, sein Schweigen wieder unterbrechend.
»Sehr einfach,« erwiderte Jenkinson, »weil, wie ich gehört habe, man mit metallenen Fahrzeugen es nicht wagen darf, in die Nachbarschaft des magnetischen Polpunktes zu kommen.«
»Oho!« rief Palgrave.
»Sehr glaubhaft,« ließ sich nun auch Morton vernehmen. »Ich hörte aber noch nichts davon; was haben Sie darüber erfahren, lieber Genosse?«
»Die magnetische Ausstrahlung am Pol soll eine derartig starke sein, daß aus der dortigen Gegend nichts entfernt werden kann, was irgendwie metallischer Natur ist. Mein Lehrmeister in der Stadt XXXVIII, der unvergeßliche Liloc, der mir die Elemente seiner Sprache eingepaukt hat, verriet mir, daß jedem, der es wagen würde, sich mit metallenen Gegenständen dem Magnetpol zu nähern, diese buchstäblich wie mit tausend unsichtbaren Armen aus den Taschen herausgerissen würden.«
»Famos, famos!« rief der Invalide. »Die Gegend hat also etwas recht Anziehendes.«
»Da wäre es ratsam, wir lassen unsere Uhren und ähnliche Dinge zurück,« sagte Morton.
»Kinder!« rief der Hauptmann, »nehmt den Kram nur alle mit, das gibt einen Bombenspaß. Stellt euch nur einmal vor, wenn die Uhren und Schlüssel, das Feuerzeug und die Krawattennadeln wie die Pfeile durch die Luft fliegen. Das wird mir tausendmal mehr Spaß bereiten, als wenn ich zehn chinesische Kulis durchprügeln könnte.«
»Mein lieber Freund,« erwiderte der Reporter hierauf, »Ihr scheint mit Vorliebe den gelben Gesellen am Indus und Ganges das Fell gegerbt zu haben. Ich finde, daß das eine recht rabiate Beschäftigung für einen Seapoyhauptmann ist.«
Der schlagfertige Invalide brach sofort die Spitze des Spottpfeiles, der auf ihn abgeschossen war, ab, indem er antwortete: »Zehn Jahre meines Lebens gäbe ich darum, wenn ich einmal unter den Tintenkulis der Presse diejenigen herausgreifen und durchprügeln könnte, welche ihre lose Zunge nicht im Zügel halten können.«
»All right! Tut Euch bei passender Gelegenheit keinen Zwang an,« versetzte der Reporter und steckte eine Grimasse auf.
»Wenn Flugschiffe nicht zum Pol fahren können, so bin ich neugierig, woraus die Kanalboote bestehen mögen. Holz habe ich hier auf dem Mars noch nicht zu sehen bekommen,« begann nun Morton, dem es daran lag, das Gesprächsthema zu wechseln, um weiteres zwischen den beiden Kampfhähnen zu vermeiden.
»Das letzte Scheit Holz werden die Martier sicher schon vor tausend Jahren verbrannt haben. Bäume gibt es nicht mehr, und aus dem bißchen niedrigen Gestrüpp lassen sich keine Kähne bauen,« fiel Palgrave dem Sprecher ins Wort.
»Da also das hier meistverwendete Weißmetall für die Boote nicht benutzt werden kann, so bleibt nur noch die Hartgummimasse übrig. Auf die wirkt allerdings der Magnetismus nicht ein,« sagte Morton.
»Folglich bestehen die Fahrzeuge aus vulkanisiertem Gummi,« replizierte Jenkinson. »Gegen eine solche nichtleitende Masse ist der Magnetpol ohnmächtig.«
»Der Magnetpolpunkt muß ein verflucht interessanter Ort sein,« meinte Palgrave. »Man denke sich nur einen Platz, auf dem Tausende und aber Tausende von Gegenständen liegen, die der Pol seit Myriaden von Jahren den in seine Nähe kommenden Martiern aus den Taschen gezogen hat.«
»Davon wird kein Dieb wieder etwas stehlen können,« meinte Morton.
»Ein Glück für uns und alle diejenigen, welche es bisher gewagt haben, sich dem Magnetpol zu nähern,« sprach Jenkinson. »Denn wenn unser Körper zum Teil aus metallischen Bestandteilen aufgebaut wäre, würden sich diese Substanzen bei der gewaltigen magnetischen Anziehung sicherlich aus unseren Fleisch- und Knochenmassen herauslösen.«
Morton mußte über den Gedanken lachen und wollte darauf etwas erwidern, als das Flugschiff das Gestade des Meeres erreichte und bald über einen sich endlos ausdehnenden Wasserspiegel schwebte.
»Das Polarmeer ...« rief Palgrave, indem er mit großem Interesse dem Spiel der zahlreichen Eisschollen zusah.
»Wo denken Sie hin? Wir befinden uns noch in der gemäßigten Zone; es wird das Mare Acidalium sein, welches auf meiner Karte unter dem fünfundvierzigsten Breitengrade eingezeichnet ist,« erwiderte Morton und betrachtete eine Karte, welche er von Mac Milford erhalten hatte.
»Richtig, am jenseitigen Strande liegt die Stadt XII, unser Ziel,« fiel Jenkinson seinem Gefährten ins Wort.
»Ich sehe das ferne Ufer,« rief der Invalide nach einer kleinen Weile, während die Flugmaschine über das Meeresbecken dahingerast war und dessen zentralen Teil bereits hinter sich liegen hatte.
Das scharfe Auge des Sprechers hatte sich nicht getäuscht. Ein langgestreckter dunkler Streifen am östlichen Horizont wurde sichtbar; er stach schon merklich gegen die im Sonnenglanze glitzernde Wasserfläche ab.
»Es ist doch seltsam, daß ich auf dieser Weltkugel noch kein einziges Gebirge oder auch nur einen Berg gesehen habe,« sagte Palgrave.
»Der Mars, werter Freund und Genosse, ist flach wie ein Teller,« gab Jenkinson zur Erwiderung. »Auf Bergpartien müssen die Herren Martier ein für allemal verzichten. Alpine Klubs, und was dergleichen Dinge mehr sind, werden Sie hier vergeblich suchen können.«
»Ja, ja ... kein Gaurisankar, kein Chimborasso und Kilimandscharo schmücken mit ihren herrlichen Schneekronen und gigantischen Gletschern die martischen Landschaften.«
»Hat denn der Teufel die Berge wegrasiert?« frug der Hauptmann, nachdem Morton seine Äußerung getan hatte.
»Die Natur hat ihre eigenen Gebilde im Laufe vieler Jahrtausende selbst wieder zerstört,« antwortete der über die geologischen Verhältnisse des Mars etwas aufgeklärtere Ingenieur.
»Wie soll ich das richtig verstehen?« versetzte Palgrave.
»Die Atmosphärilien ...«
»Atmosphärilien? Was sind das für Dinger?« fiel der Invalide Morton in die Rede.
»Die Luft und das Wasser ... beide haben vereint einen Verwitterungsprozeß hervorgerufen, dem die Berge und Höhenzüge dieser Welt zum Opfer gefallen sind. Das Gestein der martischen Gebirge ist durch Wind, Wasser, Eis und Kälte zerborsten, allmählich morsch und morscher geworden und schließlich in die umgebende Ebene zerbröckelt verstreut worden.«
»Eine schöne Hypothese, die mir aber doch nicht ganz einleuchten will,« erwiderte Palgrave, der den Ausführungen seines Gefährten mit Spannung gefolgt war.
»Eine Hypothese, die Hand und Fuß hat; Sie ungläubiger Thomas sind natürlich immer schwer zu überzeugen.«
Während des Gespräches hatte das Flugschiff das etwa fünfzig Kilometer breite Wasserbecken mit blitzartiger Geschwindigkeit überquert und näherte sich seinem Ziele.
Der Lenker des Fahrzeuges gab jetzt dem ihm zunächst sitzenden Jenkinson zu verstehen, daß der Kanallauf Vierzehn erreicht sei.
Das längs der Stadt XII sich erstreckende Wasser war eine der engeren Abzweigungen des Kanalsystems. Die schaumige Flut rollte in ihm äquatorwärts dahin. Nirgends sah man ein Fahrzeug auf den Wellen schaukeln. Das einzige, was die Szene etwas belebte, war eine kleine Schar Wasservögel, welche ihrer Gestalt nach eine Flamingoart repräsentierten. Das Gefieder war, soweit dies unsere Reisenden erkennen konnten, eisgrau und paßte so recht zu der verhältnismäßig öden Umgebung. Bei Annäherung des Flugschiffes zerstoben die Vögel mit krächzendem Geschrei.
Der Strand des Kanallaufes zeigte in Abständen von einigen hundert Metern architektonisch schön geformte Riesenmasten, welche an ihrer Spitze eine intensiv rotgefärbte Scheibe trugen.
Nach Verlauf von fünf Minuten gelangten die Reisenden zu einem Mast, an welchem mehrere Gestalten um ein auf dem Strande liegendes Fahrzeug gruppiert waren.
»Am Ziel,« sagte Morton.
»Ein Unterwasserboot, wahrscheinlich unser neues Beförderungsmittel,« meinte Jenkinson.
»Zweifellos,« erwiderte Morton.
Nachdem das Luftvehikel sich zu Boden gesenkt hatte, wurde es sofort von den auf dasselbe harrenden Martiern umringt.
Die Ankömmlinge wurden natürlich wieder allseits erstaunt gemustert, denn die anwenden Marsleute hatten die Bewohner ihres Nachbarplaneten bisher noch nicht zu Gesicht bekommen.
»Godi!« sagte Morton, indem er auf einen der Männer zutrat.
Die Begrüßung wurde in gleicher Weise seitens des Martiers erwidert, der sehr verblüfft zu sein schien, daß der Fremdling mit seiner Sprache bereits recht vertraut war.
»Seid Ihr, lieber Freund, einer derjenigen, die im Auftrage der Staatenleitung eine Kanalfahrt zum Nordpol unternehmen werden?« frug Jenkinson einen zweiten, würdig ausehenden Martier, der ihm halbwegs entgegengekommen war.
Das »Martisch« des Erdensohnes mochte, was die Akzentuierung und Aussprache der Worte anbetraf, dem Marsbewohner recht komisch klingen, denn sein Lächeln verriet dies nur zu deutlich.
»Fremdling, Ihr habt Euch nicht geirrt.« So ungefähr lautete die Antwort des Gefragten.
»Und Euer Gefährte?« frug der Reporter weiter.
Der Martier zeigte mit der Hand auf seinen Kollegen, welcher sich soeben mit Morton verständigte.
»Die Fahrt wird sofort beginnen,« sagte der Ingenieur zu Jenkinson.
»Wieviel Zeit wird die Reise in Anspruch nehmen?« frug Palgrave.
Morton forschte darüber die beiden Martier aus.
»Etwa zehn Stunden,« bemerkte dann Morton.
Auf Geheiß des älteren der beiden Martier, welcher Staatsgelehrter der Geographie war, beförderten sechs der Marsleute das zigarrenförmig aussehende Unterwasserboot in den Kanal, auf dessen Oberfläche es, nur wenig untergetaucht, schwamm.
Durch die geöffnete Deckenluke bestiegen unter Vorantritt der beiden martischen Gelehrten die drei irdischen Helden das seltsame Fahrzeug, welches sie am Grunde der schaumigen Wasserflut zum Nordpol führen sollte.
Das Unterwasserboot war in der Hauptsache aus Hartgummi und Hartglas angefertigt, welche beiden Stoffe die martischen Techniker als besonders geeignet gefunden hatten. Die Enden des Bootes liefen in großen und sehr spitzen Stacheln aus. Auch der ganze übrige Körper des Fahrzeuges war mit Stacheln versehen; man wollte damit wahrscheinlich bezwecken, daß gefahrbringende Meerestiere das Boot nicht angreifen konnten. Das Innere des seltsamen Fahrzeuges bot einen merkwürdigen Anblick. An den Wänden entlang bemerkte man röhrenähnliche Behälter, welche an den Enden des Bootes ausliefen. Allerlei Rädchen und Kurbeln, sowie Drähte waren an vielen Stellen angebracht und dienten anscheinend zu allen möglichen Zwecken. Da das Boot nur einen Meter breit, dagegen aber zwei Meter hoch war, so gewährte es bei einer Länge von fast zehn Metern genügend Raum für sechs Insassen. An eine tisch- oder bankähnliche Vorrichtung war natürlich nicht zu denken, da eine solche Bequemlichkeit jede Bewegung im Boote unmöglich gemacht hätte. Die zur Fortbewegung aufgespeicherte Elektrizität erzeugte, ließ man sie durch gewisse Vorrichtungen auf zwei zu beiden Seiten des Bootes liegende Propellerschrauben wirken, eine erhebliche Kraft.
Die Beleuchtung des Bootes, die als notwendig vorgesehen worden war, da man oft in großer Tiefe, wo ewige Dunkelheit herrscht, fuhr, bestand aus einem Apparat, der durch Verbrennung von Pangas, jenem luftförmigen Elemente, ein fast hundertfach stärkeres Licht als dasjenige, welches der elektrische Strom liefert, erzeugte.
Einige Minuten nach Betreten des Fahrzeuges setzte der Lenker desselben, ein untersetzter Mensch, der, wie die irdischen Reisenden im Verlaufe der Fahrt erfuhren, schon ein halbes Lebensalter unter Wasser zugebracht hatte und als der umsichtigste Unterwasserbootführer bekannt war, die Propeller in Tätigkeit. Nach Verschluß der Luke verschwand dann das Boot unter dem Wasserspiegel, um seine Fahrt in einer Tiefe von etwa zehn Metern fortzusetzen.
Die beiden martischen Gelehrten, von denen der Physiker Kezez und der Geograph Lompo hieß, waren ebenso erstaunt als erfreut darüber, daß ihre fremdplanetarischen Reisegefährten die Marssprache soweit beherrschten, daß eine leidliche Verständigung gegenseitig ermöglicht wurde.
Besonders Kezez legte ein außerordentliches Interesse an den Tag, so mancherlei über das Treiben und Leben der Erdenbewohner zu erfahren; aber auch Lompo war nicht minder interessiert, soviel wie möglich über die Bürger der Nachbarwelt zu vernehmen. Kezez interviewte vor allem Morton, seitdem er in Erfahrung gebracht hatte, daß dieser von den drei der wissenschaftlich Durchgebildetere war; zudem hatte er auch herausgefunden, daß der Ingenieur das martische Idiom besser als seine Gefährten beherrschte.
Lompo dagegen setzte sich mit Palgrave und Jenkinson in näheres Einvernehmen.
Beide Parteien waren bestrebt, die eintönige etwa vier Stunden bis zum Nordpol in Anspruch nehmende Unterwasserfahrt durch Gedankenaustausch abzukürzen.
Morton lenkte die Unterhaltung, nachdem er seinen martischen Partner über die Sitten und Gebräuche auf seinem Mutterplaneten nach allen Seiten hin Auskunft gegeben hatte, auf ihm noch Unbekanntes auf der Marswelt. Besonders suchte er einiges über die philosophischen Anschauungen der Martier, über ihre Humanitätsbestrebungen und ähnliche, die Massenseele des Marsvolkes streifende Dinge zu erfahren.
Kezez teilte darauf seinem aufmerksamen Zuhörer so manches mit, was diesen in Erstaunen versetzte. Als das Kapitel der Menschenliebe, der Humanität berührt wurde, erkannte der Sohn der Erde, daß in bezug darauf die martische Überkultur, gegenüber anderen Fortschritten in allen möglichen Dingen, eigentlich noch recht rückständig war.
Auf sein Befragen, wie es komme, daß auf dieser aufgeklärten Welt immer noch Handlungen begangen würden, die mit einer idealen Menschenliebe durchaus nicht im Einklang ständen, erhielt Morton von Kezez die Antwort, daß der Faktor, welcher daran schuld sei, in der Charakterverschiedenheit der Menschen zu suchen sei.
Nach diesen Aufklärungen erhob sich der Physiker und wendete sich Lompo zu.
Morton dachte, während er durch eine fensterartige Öffnung des Fahrzeuges in die grüngelbe Wasserflut gedankenvoll hinausschaute, über das soeben Gehörte eine Weile nach. Das Problem der idealen Menschenliebe, welches er zu Ende des Gespräches aufgerollt hatte, ließ ihn einen tiefen Blick in Dinge gewähren, bei denen die Kultur ein Idealziel niemals zu erreichen vermochte.
In einer Beziehung also herrschten auf der Marswelt noch ähnliche Zustände, wie bei ihm daheim. Auch auf diesem Planeten hatte die gewaltig vorgeschrittene Kultur es noch nicht vermocht, soweit auf den Menschengeist veredelnd einzuwirken, daß alle jene, den Erdenmenschen anhaftenden häßlichen Eigenschaften, wie Eigenliebe, Neid und Rachsucht, ganz zum Schwinden gebracht waren. — »Ja, ja,« murmelte Morton, »das durfte man auch hier auf dieser aufgeklärten Welt nicht erwarten, denn es wäre direkt wider die Natur eines organischen Geschöpfes, das vom Herrn der Welt mit einem denkfähigen Gehirn ausgestattet ist — — —«
Und der so das Fazit zog, hatte recht. Sinnesäußerungen und Handlungsweisen repräsentieren den Charakter; die ihm anhaftenden guten und schlechten Eigenschaften kennzeichnen ihn. Die Erdenbürger hatten sich in ihren Erwartungen um ein ziemlich erkleckliches verstiegen, wenn sie annahmen, Humanität und Selbstlosigkeit seien aus einer vieltausendjährigen Kulturwelt, als welche man den Mars zu betrachten gezwungen war, bis zur totalen Verwerfung der geringsten Ansprüche des eigenen Ichs ausgebildet. Nein — die Verschiedenheit der Charaktere läßt nie und nimmer zu, daß solche Kardinaltugenden allen Menschen im gleichen Maße innewohnen.
Und würde die Menschheit Millionen Jahre alt, sie bleibt in manchen Dingen dieselbe. Der gesteigerten Intelligenz werden ewig Charaktereigentümlichkeiten entgegenstehen. Liebe und Haß, Eigenliebe und Selbstlosigkeit werden nebeneinander bestehen, solange noch ein denkendes Wesen einen Atemzug tut.
Morton wurde jetzt in seinen stillen Betrachtungen durch einen Ausruf des Invaliden gestört.
»Und ich sage Ihnen, Mr. Jenkinson, daß ein Mensch, wenn er immer in Bewegung bleibt, ganz gut vierzig Grad Kälte vertragen kann!«
»Réaumur?«
»Celsius!«
»Und ich wette Kopf und Kragen,« sagte Jenkinson, »daß Ihnen schon bei vierzig Grad Fahrenheit der Atem gefriert.«
»Unsinn,« brummte Palgrave. »Sie dürften sogar bei fünfzig Grad höchstens nur eine erfrorene Nasenspitze davontragen.« Mit diesen Worten ließ der Seapoyhauptmann seine Blicke über die Embonpointfigur seines Reisegenossen gleiten, und ein aufmerksamer Beobachter hätte sehen können, wie dabei um die Mundwinkel des Sprechers ein maliziöses Lächeln spielte. —
»Schon wieder Meinungsverschiedenheiten?« frug Morton, welcher auf die kleine Gruppe zutrat. »Wenn Sie beiden sich nicht immer wie kastilianische Kampfhähne gegenüberstehen, so sind Sie nicht zufrieden.«
»Ach was, mich bringt kein Mensch in Harnisch,« versetzte Palgrave, »am wenigsten die Herren von der Presse, auf deren Äußerungen und Meinungen die Welt überhaupt nicht viel Gewicht legt.«
Jenkinson verkniff sich diesmal eine Erwiderung.
Als nun das Gespräch darauf kam, ob man sich nicht gegen die martische Polarkälte schützen müsse, erwiderte Lompo, daß hierfür Schutzmittel vorhanden wären.
Jenkinson wollte durchaus wissen, welcher Art dieselben wären. Da er weder Pelze noch sonstige warme Kleidungsstücke im Boote zu erblicken vermochte, so mußten erfinderische Köpfe wohl Mittel und Wege entdeckt haben, um sich gegen hohe Kälte zu schützen.
Lompo entnahm einem Fache ein Gefäß und eine kleine Schale. Der martische Gelehrte ließ dann seine irdischen Reisegefährten nicht mehr länger im unklaren, daß sich in dem Behälter eine Lösung chemischer Substanzen befinde, deren Gase, wenn sie von der menschlichen Lunge eingeatmet würden, die Verbrennungswärme im Körper um ein bedeutendes zu erhöhen vermöchten. Auf solche Weise war ein natürliches Schutzmittel gegen große Kälte geschaffen worden. Die gesteigerte Blutwärme machte den Körper gegen tiefe Kältegrade ziemlich unempfindlich, ohne daß sie fieberhafte Erscheinungen hervorrief. Die Förderung der Lungentätigkeit, wie solche die Marsmenschen zuwege zu bringen verstanden, war ein wirklich geniales medizinischphysiologisches Kunststückchen.
Morton erinnerte sich, einmal gelesen zu haben, daß, wenn man Mangansalz mit einer leicht oxydierbaren Substanz vermischt, sich eine freie Säure bildet und eine andere Verbindung des Mangans entsteht, welche mit Begierde Sauerstoff auffängt, welche dann wiederum eine neue Verbindung bildet, wobei der vorhandene Kohlenstoff in Kohlensäure verwandelt wird. Ein chemischer Vorgang, der einen künstlichen Atmungsprozeß darstellte.
Und Morton hatte gar nicht so falsch gedacht, denn die Art und Weise, wie die Martier das Atmungsgeschäft im menschlichen Körper zu steigern wußten, beruhte tatsächlich auf einem solchen chemischen Prozeß.
»Donner und Doria!« rief der Invalide, »dem kann der Alkohol nicht die Spitze bieten.«
Da sich die Reisenden während dieses Gespräches bereits in der Polargegend befanden, und die Landung schon in der nächsten Viertelstunde erfolgen sollte, so ließ der Lenker des Fahrzeuges dasselbe allmählich an die Oberfläche des Kanallaufes steigen.
Eine kurze Zeit fuhr man kaum einige Meter unter dem Wasserspiegel dahin.
So pfeilschnell auch das Boot die grüne Flut durchschnitt, vermochten die Insassen doch viele seltsame Wassertiere zu bemerken, deren Zahl sich vermehrte, je näher man den polaren Meeresbecken kam, in welchen, wie Kezez angab, der Kanallauf mündete.
Röhrenquallen, Seewalzen, Medusensterne, Seelilien und eine Unmenge großer und kleiner Krebstiere bevölkerten das nasse Element und boten dem Auge soviel des Merkwürdigen, daß jeder die belebte Szenerie mit Interesse betrachtete.
Mit Hülfe eines kleinen Instrumentes stellte jetzt Lompo den Abstand des Magnetpoles fest. Die Konstruktion des von dem Gelehrten gehandhabten Apparates fußte auf einer Messung der sich von Minute zu Minute immer mehr steigernden magnetischen Anziehungskraft.
Als Resultat ergab sich, daß das Ziel noch zwölf Li, also vierundzwanzig Minuten Zeit erforderte, um es zu erreichen.
Kezez und Lompo trafen Anstalten, die für die Respiration erforderliche chemische Substanz in kleine, eigentümlich geformte, verschlossene Hartgummibecher mit einer Schlauchvorrichtung zu verteilen. Jeder der Insassen des Fahrzeuges empfing dann einen solchen Respirator.
Auf Befragen Palgraves, weshalb man nicht den Rest des Weges an der Oberfläche des Kanales zurücklege, gab Kezez zur Antwort, daß hier in den höchsten Polarbreiten der Wasserspiegel bis fast gegen Ende des Frühlings hin mit einer über Meter dicken Eisdecke versehen sei, und daß ein Auftauchen erst in unmittelbarer Nähe des Magnetpoles möglich wäre, wo die Staatenleitung ein Observatorium errichtet habe.
Während der letzten Minuten der Fahrt erinnerte sich Morton plötzlich, daß Bellnas Zukünftiger am Pol amtlich tätig sei.
»Meine Herren!« sagte der Ingenieur zu seinen Genossen. »Wir werden jetzt die Bekanntschaft des Magnetpolinspektors machen.«
»Magnetpolinspektors? ... Ausgezeichnet!« versetzte Palgrave und blinzelte Jenkinson an, der sich über den Titel vor Lachen auschütten wollte.
»Originell. — Der frostige Posten kommt mir bald so vor, wie der eines Gendarmen in der Milchstraße oder der eines Portiers an der Himmelstür,« meinte der Reporter.
»Wenn dem wackeren Beamten kein Respirator zur Verfügung stände, würde er sich wohl tüchtig am Alkohol vergreifen müssen, um seine Seele immer warm zu halten,« sagte Palgrave und wendete sich Lompo zu, um von diesem etwas Näheres über die eigenartige Tätigkeit des Inspektors zu erfahren.
Jenkinson beeilte sich, das, was er nun über das polare Amt von dem martischen Physiker zu hören bekam, im Journal der Expedition zu notieren.
Die Notiz lautete folgendermaßen:
Die abgekühlteste und anziehendste Staatsstellung auf dem Mars bekleidet der Magnetpolinspektor. Seine Tätigkeit erstreckt sich auf die Aufspeicherung des in ungeheuren Mengen ausstrahlenden magnetischen Fluidums, in der Bewachung des Rayons, in dem sich der Polpunkt befindet, in der Fernhaltung von Menschen, welche größere Metallgegenstände bei sich führen, und in der Entmagnetisierung von dort aufgestapelten, in früheren Jahrhunderten vom Pol den Reisenden gewaltsam entrissenen metallenen Dingen aller Art.
»Wir sind am Ziel,« sagte jetzt Lompo, der darüber soeben von dem Lenker des Unterwasserbootes unterrichtet worden war.
»Legen wir alles, was wir an metallenen Gegenständen bei uns führen, hier auf den Tisch,« ließ sich nunmehr Morton hören und begann seine Uhr und verschiedene andere Dinge herauszunehmen.
»Was ich bei mir habe, mag mir der Pol getrost aus den Taschen holen; es ist des Schauspiels wert,« versetzte der Invalide.
»Eine Eiswüste!« rief Palgrave, als er einen Blick durch die Glasscheibe warf und vor sich nichts anderes als eine ungeheure Schneefläche sah, auf der sich etwa fünfzig Meter entfernt ein turmartiges Gebäude erhob.
Kezez nahm seinen Respirator zur Hand und unterrichtete die drei Söhne der Erde in der Verwendung des Instrumentes.
Jeder mußte den Schlauch in den Mund nehmen und mit kräftigen, aber langsamen Zügen das dem Respirator entströmende Gasgemisch einatmen.
Schon nach wenigen Sekunden machte sich die Wirkung geltend. Jeder verspürte eine sich immer mehr steigernde Wärme im Körper, die die Kleidung, welche man an hatte, als lästig empfinden ließ.
Als die beiden Martier ihre Respiratoren nach fünf Minuten absetzten, taten dies auch Morton und seine Gefährten.
»Großartig ... herrlich ... habe mal Lachgas geatmet, war aber nichts gegen das Zeug hier,« rief Jenkinson begeistert aus. Der eingeatmete Sauerstoff in dem Gasgemisch hatte nämlich in ihm eine gehobene Stimmung erregt, die sich nun in einem Lustgefühl Luft machte.
Auch Morton und Palgrave befanden sich in einem ähnlichen Zustande, wogegen die Martier kaum eine Miene verzogen, sie schienen an die Wirkung des Respirators gewöhnt zu sein.
Jetzt wurde die Luke geöffnet, und die hereinströmende Kälte war so intensiv, daß sich die Feuchtigkeit der Luft an den Glasscheiben niederschlug und sofort gefror.
Trotzdem der Wind, welcher über die Gegend hinstrich, eine Temperatur von vierzig Grad Celsius unter Null haben mochte, kam er den Reisenden so mild wie ein Zephirlüftchen vor.
Mit dem Respirator in der Hand und dem Schlauche im Mund betraten die fünf Männer das unwirtliche Eisgestade, dessen gefrorener Boden schon seit Jahrtausenden nicht wieder aufgetaut war.
Nirgends eine Spur von Vegetation. Kein Lebewesen. Erstarrt im ewigen Eise lag die Gegend da. Die Sonne bewegte sich unmittelbar am Horizont entlang und sandte ihre Strahlen wagerecht über die Landschaft aus.
Das Kommen der Polarreisenden war auf dem magnetischen Observatorium bemerkt worden. Und ehe noch das Gebäude erreicht wurde, erschien in der Pforte des letzteren Bellnas Zukünftiger.
»Hurra!« rief Jenkinson. »Der Magnetpolinspektor.«
Das Gesicht des hier in der ewigen Eiswüste seines Amtes waltenden Mannes war vollständig durch einen Hartgummihelm mit Glasmaske verdeckt.
Auf Befragen erklärte Kezez, daß der Beamte, solange er in der Polgegend weile, den Respiratorhelm nicht vom Haupte nehme und sich auch mit demselben nachts zur Ruhe lege.
Gerne hätte der junge Ingenieur das Gesicht des Polinspektors einmal näher in Augenschein genommen, um daraus lesen zu können, welches Schicksal Bellna an der Seite dieses Mannes erwarte.
Die Glasmaske gestattete zwar einen Blick in das Antlitz des Beamten, aber doch nur in sehr beschränkter Weise. Desto aufmerksamer verfolgte Morton jetzt die Unterhaltung zwischen den drei Martiern, um womöglich aus der Klangfarbe der Stimme und den Äußerungen, welche der Inspektor tat, einige Schlußfolgerungen über seine Charaktereigenschaften ziehen zu können. Keinem Martier hatte er bisher ein so lebhaftes Interesse entgegengebracht, wie Ylkar, dem Manne, der Bellna so nahe stand.
»Ja, zum Kuckuck, wo ist denn der Magnetpol?« rief Palgrave aus, indem er sich nach allen Seiten umschaute.
Kaum hatte der Invalide die Worte ausgerufen, als er sich wie von unzähligen Armen gezogen wider seinen Willen zu der offenen Pforte im schnellsten Tempo hinbewegen mußte. Die Stellen, wo sich die Taschen seiner Kleider befanden, zerrissen nun mit einem Schlage, und alle die Metalldinge, welche Palgrave bei sich trug, schossen wie Pfeile heraus und durch die geöffnete Pforte ins Innere des Observatoriums.
»Sehen Sie, lieber Freund, der Pol läßt nicht mit sich spaßen, jetzt können Sie mit zerrissenen Sachen herumlaufen. Hoffentlich bekommen Sie keine Frostbeulen,« sagte Jenkinson, der, wie Morton, seine Sachen im Boote zurückgelassen hatte.
Der Inspektor führte die Ankömmlinge in das Observatorium.
Das Innere des Gebäudes, welches, wie die Erdenbürger jetzt erfuhren, unmittelbar um den zentralen Teil des Magnetpolpunktes errichtet worden war, bestand aus zwei Stockwerken, welche durch einen Fahrstuhl miteinander verbunden waren. Der untere Raum wurde von einem riesigen Reservoir, das, wie alle übrigen Dinge, aus Hartgummi bestand, eingenommen. In demselben speicherte sich nach den Aussagen Lompos das magnetische Fluidum auf, welches dem Boden entströmte. Durch gewaltige vulkanisierte Gummirohre, die im vereisten Boden eingebettet waren, floß das Fluidum dann nach der Zentralstadt, von wo aus es wieder durch sich verzweigende Kabel allen Ortschaften des Marsreiches zur Verwendung für Kraftzwecke zugeführt wurde. Auf solche Weise wußten die Marsmenschen eine nie versagende Kraftquelle auszunützen.
Nach der Versicherung des Inspektors war das Reservoir mehrere Meter hoch mit metallenen Dingen angefüllt, die der Pol in vorhistorischer Zeit und auch später noch den Polarreisenden in gleicher Weise geraubt hatte, wie eben bei Palgrave.
Während nun der Physiker und der Geograph ihre wissenschaftlichen Studien, zu deren Zwecke sie ihre Reise unternommen hatten, begannen, ließ Bellnas Erwählter seine Besucher, über deren Ankunft er natürlich maßlos erstaunt gewesen war, durch eine Glasscheibe in das Innere des Reservoirs schauen, indessen er durch eine andere verglaste Öffnung Licht in das Innere der Gummibombe, wie Palgrave das Reservoir nannte, dringen ließ.
Das war ein Anblick! Ein Chaos von allen möglichen Produkten, welche die Marsmenschen im Laufe vieler Säkula angefertigt hatten. Gar manches erinnerte an irdische Gegenstände. Unzählige metallene Dinge türmten sich kegelförmig über dem wahren Magnetpolpunkt auf. Alles schien aber stark oxydiert zu sein; zumeist waren die Opfer des Rostes kaum erkennbar, so daß selbst der Inspektor bei vielen Gegenständen nicht angeben konnte, welchen Zwecken sie vor Äonen von Jahren gedient haben mochten.
»Waffen ... ein Schwert — eine Muskete! Und ich will nicht John Palgrave heißen, wenn das dort unter dem breiten Eisenstabe liegende Blechding früher nicht ein Soldatenhelm gewesen ist.«
»Erlauben Sie, Mr. Palgrave, das Ding sieht aber doch eher einem Kochtopfe ähnlich,« erwiderte Jenkinson.
»Hier kann man Studien machen,« meinte Morton. »Ich wüßte für die martischen Archäologen kein besseres Feld für ihre Tätigkeit. Dieses metallene Kunterbunt dort ...«
Morton vermochte seine Rede nicht zu vollenden. Die Worte erstarben ihm im Munde, denn er verspürte plötzlich ein starkes Kältegefühl und ließ den Respirator zu Boden fallen.
Seltsam. — Von dem gleichen Geschick wurden auch Palgrave und Jenkinson zu derselben Zeit ereilt.
Die drei Männer vermochten kaum mehr sich aufrecht zu erhalten und sanken schließlich kraftlos und starr vor Kälte in die Knie. Ihr Atem wurde keuchend und keiner vermochte ein Wort über die Lippen zu bringen. Die Gesichter nahmen dann eine erschreckend bläuliche Färbung an.
Überaus bestürzt eilte der Inspektor herbei und rief sofort die beiden Gelehrten.
Lompo und Kezez waren in wenigen Minuten an der Seite der halb bewußtlosen, anscheinend mit der strengen Polarkälte kämpfenden Erdensöhne.
Die Martier standen hier vor einem Rätsel, das sie nicht zu lösen vermochten. Ratlos schauten sie die Opfer des Polklimas an. — Dann, sie mochten wohl die Ursache des Unfalles dunkel ahnen, hatten sie nichts eiligeres zu tun, als die Fremdlinge in das Unterwasserboot zurückzubringen. Mehr getragen als selbst gehend wankten die drei Verunglückten dem Fahrzeuge zu. Kaum hatte man das Boot erreicht, als die Martier gewahrten, daß jetzt drei Leben auf dem Spiele standen, denn die Erdenbürger lagen regungslos in ihren Armen.
Mit großer Schwierigkeit gelang es schließlich, die Halberstarrten im Boote unterzubringen. Eiligst wurde dann die Rückreise angetreten.
Während der ganzen Fahrt, die diesmal in dem Kanallaufe vor der Zentralstadt ihr Ende erreichte, lagen unsere drei Helden fortgesetzt in einer Betäubung, die sich erst in der letzten Stunde vor Ankunft hob, so daß schließlich jeder ohne Hülfe das Staatshospital in der Zentralstadt vermittels eines Luftvehikels zu erreichen vermochte.
Mac Milford, welcher von dem Unfalle sofort Kenntnis erhielt, war nicht wenig bestürzt, seine Gefährten in solch einem Zustande wiederzusehen.
Doch schon am folgenden Tage hatten sich die verunglückten Polfahrer wieder völlig erholt.
Die Ursache dieses Unfalles, welcher den drei Männern bald das Leben gekostet hätte, konnte nur darin gesucht werden, daß die Lungen der Erdenbewohner die künstliche Respiration nicht in derselben Weise wie die Martier vertrugen.
»Das war eine mörderische Kälte, lieber Professor,« sagte der Seapoyhauptmann zu Mac Milford.
»Nicht für einen Wald voll Affen lasse ich mich wieder dazu bewegen, eine Polarreise mitzumachen. Lieber will ich daheim zehnmal in der Sahara schmoren, als hier noch einmal auf der Polkappe des Planeten herumpilgern.«
Von dem Tage ab, an welchem die martische Staatenleitung durch Mac Milford in Erfahrung gebracht hatte, daß möglicherweise im Laufe der nächsten Zeit noch ein irdisches Vehikel auf dem Mars landen werde, waren in dem Staatsobservatorium vier Astronomen Tag und Nacht abwechselnd tätig. Unausgesetzt beobachtete man das Firmament, um die Annäherung einer zweiten okkupationslustigen Expedition von der Erde rechtzeitig zu sichten.
»Die verschlagenen Yankees werden über den Empfang seitens der Herren Marsbewohner sicherlich nicht gerade entzückt sein,« meinte Jenkinson zu Mac Milford, als sich die vier verbündeten Genossen der Erde am achtundfünfzigsten Tage ihrer Anwesenheit auf dem Mars darüber berieten, wie man wieder in den Besitz des Antigravitationsvehikels gelangen und dann entfliehen könne.
»Die Amerikaner werden diesen Planeten lebend nicht erreichen, davon bin ich überzeugt,« lautete die bestimmt klingende Antwort des Professors.
»Auch für mich ist es eine feststehende Sache, daß den Yankees das Lebenslicht ausgeblasen wird, sobald sie sich nur blicken lassen,« versetzte Morton; »das Mißtrauen und die Erbitterung der Staatenleitung gegen fremde Eindringlinge ist zu groß, besonders seitdem wir sie mit den Eroberungsgelüsten der Amerikaner bekannt gemacht haben.«
»Ganz recht,« versetzte Mac Milford; »jene will man vernichten, noch ehe sie ihr Ziel erreichen, und uns wird man aller Voraussicht nach die Rückkehr zur Erde nie gestatten.«
»Wir müssen Mittel und Wege finden, um wieder in den Besitz unserer Himmelskutsche zu kommen,« sagte Palgrave.
»Das wird sich nur durch irgend eine List erreichen lassen,« erwiderte der Professor. »Wir werden wohl noch wochenlang unser Hirn anstrengen müssen, um einen Plan zu fassen, auf welche Weise wir am besten den Händen der Marsbewohner entschlüpfen.«
»Wochenlang? — Heiliger Brahma! — Zeit genug, um ein Kuckucksei auszubrüten,« sagte ärgerlich der Seapoyhauptmann.
»Nur eine passende Gelegenheit kann uns helfen; deshalb heißt es ruhig abwarten,« sagte Mac Milford.
»Bin gespannt darauf, welche Mittel die Martier zur Vernichtung der amerikanischen Expedition anwenden werden,« meinte Palgrave.
»Das entzieht sich völlig meiner Kenntnis; aus Elhel ist darüber nichts herauszubringen. Anscheinend hat man ihn zu tiefem Schweigen verpflichtet, sofern er überhaupt von den Abwehrmitteln unterrichtet ist.«
Bereits der folgende Tag brachte schon die Nachricht, daß die Astronomen im Staatsobservatorium einen dunklen Gegenstand im Weltall gesichtet hätten, welcher seinen Kurs direkt auf den Mars zu nehme.
Das Rele, jene martische Staatszeitung, welches jeder Bürger und jede Bürgerin allabendlich ausgehändigt erhielten, besagte an diesem Tage, daß sich das aufgefundene Objekt mit sehr großer Schnelligkeit nähere und bereits zwischen Deimos und Phobos schwebe. Des weiteren wurde noch bekannt gegeben, daß sofort nach Sichtung des Vehikels alle Maßregeln getroffen seien, damit dasselbe den Mars nicht erreiche. Welcher Art diese Maßregeln waren, das wurde in dem Rele nicht bekannt gegeben.
Nach der Berechnung der martischen Astronomen mußte das fremde Fahrzeug etwa um die siebzehnte Stunde martischer Tageszeit, nach irdischer Berechnung also elf Uhr nachts, die Bahn des Phobos kreuzen und zur neunzehnten Stunde die Grenze der Atmosphäre erreichen.
»Diese Nacht dürfen wir kein Auge zutun,« sagte Palgrave, nachdem der Bericht zu seinen und seiner Genossen Ohren gekommen war.
»Fast verspüre ich etwas wie Nächstenliebe,« bemerkte Mac Milford in ernstem Tone. »Sollen wir wirklich zusehen, wie Brüder unserer Welt einem schrecklichen Tode verfallen?«
»Erstens können wir nichts daran ändern, zweitens reisen die Herren Yankees auf ihre eigene Rechnung und Gefahr, und drittens ... soll der Teufel alle Yankees holen,« erwiderte der Invalide. Die letzten Worte seiner Rede brummte er vor sich hin, so daß sie von den andern nicht verstanden wurden.
Es war, nachdem die Dunkelheit eintrat, niemand möglich, mit unbewaffnetem Auge das amerikanische Fahrzeug zu erkennen, sein Abstand schien eben noch zu groß zu sein.
Um Mitternacht hatten sich die vier Briten auf die Plattform des Gebäudes begeben, worin sie seit einigen Tagen ihr Domizil aufgeschlagen hatten. In ihrer Begleitung war Elhel.
Ein wolkenloses, sternbesätes Firmament wölbte sich über den Häuptern unserer Helden. Deimos zog als Halbmond seine Bahn am Himmel dahin, und Phobos tauchte soeben am Horizont auf, um in rasender Eile dem Zenit zuzustreben. Seine Schnelligkeit war so groß, daß er schon vier Stunden nach seinem Aufgange wieder unter dem Horizonte verschwinden mußte.
»Dort strahlt unser Muttergestirn,« sagte der alte Gelehrte und zeigte mit der Hand auf einen Stern erster Größe.
»Mich erfaßt beim Anblick der Erde Heimweh; am liebsten kehrte ich noch in dieser Stunde Mars den Rücken,« bemerkte Morton, und seine Stimme klang so weich, daß es allen auffiel. Gedachte er doch seines lieben Weibes daheim, das sich sicherlich furchtbar um ihn sorgte und härmte.
»Mein Freund,« erwiderte im väterlichen Tone Mac Milford und legte seine Hand auf die Schulter des jungen Mannes; »die Stunde ist hoffentlich nicht mehr fern, wo Ihre Lungen sich wieder mit irdischer Luft füllen werden.«
»Hurra! Ich habe die Yankees entdeckt,« rief in diesem Augenblicke der Reporter.
»Wo ... wo?« riefen die anderen.
»Dort, Phobos wirft eben sein Licht auf das Fahrzeug.«
»Ich sehe auch einen leuchtenden Punkt,« bemerkte Morton.
»Der Scheinwerfer,« versetzte Mac Milford.
»Eure Weltbrüder kommen?« frug Elhel.
»Brüder und nationale Feinde,« erwiderte Jenkinson.
»Und was wird nun geschehen?« frug der Professor den Martier.
»In zehn Li ist das ganze Schauspiel vorbei,« lautete die Antwort Elhels.
In zwanzig Minuten mußte sich also ein Vorgang abspielen, der den Erdenmenschen ewig unvergeßlich bleiben sollte.
Die Spannung wuchs unter allen zusehends.
Zeigte der Blick des alten Gelehrten einen mitleidigen und traurigen Ausdruck, so war der des Invaliden, des geschworenen Feindes aller Yankees, grimmig, wohingegen Jenkinson eine lebhafte Neugierde an den Tag legte. Mortons Gefühle mochten sich in etwa mit denen Mac Milfords decken; auch er war zu gefühlvoll veranlagt, als daß er dem vorausverkündeten Untergange mehrerer seiner Mitmenschen gleichgültig entgegensehen konnte.
Deutlicher und deutlicher traten die Umrisse des amerikanischen Vehikels hervor. Längst schon hatte es die Bahn des Phobos gekreuzt und mußte jetzt nach Schätzung des Professors aus dem Weltäther in den Bereich der martischen Lufthülle gelangen.
Während alle so den Ankömmlingen entgegenstarrten, geschah das Furchtbare.
Wie mit einem Schlage verwandelte sich das dunkle Firmament in ein grellleuchtendes Feuermeer, das die Nacht zum Tage machte. Ein breites Flammenband, das den ganzen Himmel umspannte, blendete die Augen der Zuschauer.
Was hatte sich ereignet?
»Es ist furchtbar,« stieß Mac Milford hervor und fand keine Worte weiter.
»Das Sternenbanner ist gefallen,« bemerkte mit ernster Stimme der Invalide.
»Das Sternenbanner ist gefallen,« be-
merkte mit ernster Stimme der Invalide.
Plötzlich ertönte von allen Dächern der umliegenden Gebäude, auf denen sich Tausende von Martiern aufgestellt hatten, ein einziger Jubelschrei. Das von der Staatenleitung geplante Vernichtungswerk war voll und ganz gelungen.
Unmittelbar darauf machte sich ein glühend heißer Wind bemerkbar, der bald so unerträglich wurde, daß ein Samum der Erde ein Zephirlüftchen dagegen war.
Alles floh von den Plattformen und flüchtete sich ins Innere der Gebäude. Auch die Söhne Albions mußten vor der heißen Luftwelle, welche soeben über die Stadt dahinstrich, unter der Plattform Schutz suchen.
»Puh!« rief Jenkinson. »Die Glut ... sie erstickt mich!«
»Hier sind wir geborgen,« sagte Elhel und verschloß die Versenkung, welche alle von der Plattform ins Innere des Gebäudes befördert hatte.
»Die amerikanische Expedition ist bei lebendigem Leibe verbrannt ... Friede ihrer Asche,« sagte Mac Milford in tiefernstem Tone.
»Der Präsident der Vereinigten Staaten wird vergeblich auf die Rückkehr seiner Abgesandten warten,« äußerte Palgrave und trocknete sich den Schweiß von der Stirn.
Lange noch, ehe man sich zur Nachtruhe niederlegte, erörterten Mac Milford und seine Gefährten den Vorgang, welcher den Amerikanern das Leben gekostet hatte.
Erst kurz vor ihrer Flucht zur Erde sollte die Expedition erfahren, daß die Martier um die Lufthülle, welche ihren Planeten in einer Dicke von fünfzehn Meilen umgab, eine Gasschicht zu breiten vermocht hatten. Diese ihrer Natur nach eine dem Ozon sehr verwandte gasige Hülle war nichts anderes, als ein Sauerstoffpräparat mit der chemischen Formel O — hochverdichtetes, aktives Oxygenium.
Die Gasschicht war von einem der Fokusioren im Augenblick, als das irdische Vehikel seinen Kurs hindurch nahm, zur Entzündung gebracht und dadurch in ein Feuermeer verwandelt worden.
Zwei Tage nach dem feurigen Schauspiel harrte der Erdenbürger eine Überraschung. Wie Elhel mitteilte, sollte das Antigravitationsvehikel der Expedition für einen wissenschaftlichen Zweck zur Verwendung gelangen, deshalb hatte die Staatenleitung bestimmt, daß das Fahrzeug auf Schäden hin untersucht und repariert werden sollte. Die Erdenbürger mußten nunmehr auf Geheiß des martischen Oberhauptes zur Stadt XII, in deren Nähe die Landung stattgefunden hatte, zurückkehren, was natürlich der Schnelligkeit halber mittels einer Flugmaschine geschah.
Als die vier an Ort und Stelle ankamen und das Vehikel wiedersahen, waren sie ebenso erfreut als erstaunt, keine sonderlichen Schäden an dem Fahrzeuge wahrnehmen zu können. Die verbogene Kathode vermochten martische Techniker genau nach den Angaben ihres Konstrukteurs wieder in die alte Form zurückzubiegen.
»Sapperlot!« rief der Alte aus, als er den Elektrizitätszähler des Fluidreservoirs prüfte, welches der Kathode die die Schwerkraft aufhebende elektrische Emanation zuführte.
»Was ist?« frug Morton und trat zu Mac Milford hin.
»Jetzt sind wir die Hereingefallenen,« erwiderte der Professor und kraute sich in den Haaren.
»Wieso ... weshalb?« frug Morton zurück, und eine dunkle Ahnung bemächtigte sich seiner, daß irgend etwas an der Maschinerie in Unordnung geraten war, was sich möglicherweise nicht wieder gut machen ließ.
»Das Fluid ist alle,« preßte der Alte hervor.
»Das ist eine furchtbare Entdeckung,« versetzte Morton mit trüber Stimme.
»Wenn wir dem Boden des Mars nicht neues Fluid zu entziehen vermögen, so werden wir unsere Tage auf dieser Welt beschließen müssen.«
»Und glauben Sie, daß wir ein dem irdischen ähnliches Fluid erhalten können?«
»Hm, hm ...« machte der Alte. »Jedenfalls können wir dem Boden hier auch magnetisches Fluid abzapfen, doch dazu sind besondere Instrumente erforderlich.«
,,Und die fehlen uns?«
»Ich habe sie unvorsichtigerweise daheim gelassen.«
»Könnte man hier nicht neue anfertigen lassen?«
»Dem steht nichts im Wege.«
»Dann wäre uns ja geholfen ...«
Der Alte schüttelte bedenklich den Kopf.
»Ich gebe den Martiern aber damit ein Geheimnis preis,« sagte er.
»Sie meinen die Art und Weise, wie man ein Fluidum gewinnt, mit dessen Hülfe man die Schwerkraft aufzuheben vermag,« frug Morton.
»Kommen die Martier hinter dieses Geheimnis, so ist wohl anzunehmen, daß sich über kurz oder lang der Spieß umdrehen wird.«
»Wieso?« erwiderte der Ingenieur.
»Statt daß wir die Marswelt erobern, was uns, nebenbei gesagt, nie gelingen wird, okkupieren die Söhne des Mars den Erdball ...«
» ... und mit unseren Milliardärsträumen ist's dann zu Ende,« warf Jenkinson ein, welcher soeben hinzutrat und die letzten Worte vernommen hatte.
Jenkinson und auch Palgrave, welch letzterer sich jetzt ebenfalls zugesellte, erfuhren nun die Sachlage.
»Pech und Schwefel!« rief der Invalide und fühlte sich nach diesem seinem Lieblingsfluch sichtlich erleichtert; die Mitteilung, daß das Fluidreservoir erschöpft sei, hatte ihn doch für einen Augenblick tüchtig gepackt. »So wollen wir aus dem Bauche des Mars neues Fluid zapfen.«
»Leichter gesagt, als getan,« versetzte Morton und machte die Bedenken geltend, welche bereits schon von Mac Milford, der inzwischen das Vehikel verlassen hatte, geäußert worden waren.
»Ein Besuch der Martier auf der Erde wäre feudal,« rief Jenkinson, der sich diesmal angesichts der keineswegs ermutigenden Lage nicht gleich aus der Fassung bringen ließ.
Mac Milfords Verhandlungen mit den martischen Technikern bezüglich der Anfertigung von Bohrleitungen nahmen eine Zeit in Anspruch. Alsdann wurden die Arbeiten nach Angabe des irdischen Gelehrten sofort in Angriff genommen. Erforderlich war ein 10 000 Meter langes Metallgestänge, dessen Spitze so gehärtet und scharf zugeschliffen werden mußte, daß die Bohrung rasch von statten ging. Den Eintrieb des Bohrers sollte eine Maschinerie besorgen, welche durch Komprimationsluft einen ungeheuren Druck auf die Bohrvorrichtung auszuüben imstande war.
Wenn auch das Leitungsgestänge in die erforderliche große Tiefe hinabgetrieben werden konnte, so war es doch immer noch fraglich, ob das gewonnene Fluid tatsächlich von der Beschaffenheit war, wie das irdische. Mac Milford hegte zwar in bezug hierauf die größte Hoffnung. Und er sollte sich darin auch nicht getäuscht sehen.
Als die martischen Techniker die Bohrung in der gewünschten Tiefe vollendet hatten und nun erwartungsvoll der Abzapfung eines magnetischen Fluidums, von dessen Vorhandensein sie trotz ihrer hochausgebildeten Technik und Wissenschaft bisher nichts gewußt hatten, entgegensahen, da ließ der Erfolg auf sich warten.
Mac Milfords Stirn umwölkte sich, und schon befürchtete er, daß alle Arbeit vergeblich gewesen sei, als Morton entdeckte, daß sich zwischen dem Leitungsgestänge und der Klemmvorrichtung am Reservoir ein nichtleitender Körper in Gestalt eines Stückchens künstlichen Gummistoffes eingeklemmt hatte. Diesen Störenfried zu entfernen, war das Werk eines Augenblicks.
»Sieg!« rief Morton Mac Milford zu. »Die Nadel des Zählers vibriert.«
»Endlich,« sagte der Alte und seufzte erleichtert auf.
Die martischen Techniker verfolgten jetzt ebenfalls das Schwanken der Zählernadel und erkannten mit Scharfblick, daß sich das Reservoir mit dem Antigravitationsfluid fülle.
Eine Stunde später war alles wieder in Ordnung. Die antimagnetische Energie, welche man dem Boden des Mars abgezapft hatte, bewies sich in der Wirkung anscheinend schwächer, immerhin aber doch verwendbar.
»Die Staatenleitung hat mich und den Senior der Astronomen dazu auserwählt, mit Hülfe dieses Vehikels eine Probefahrt vorzunehmen,« sagte Elhel, als er mit jenem Martier, dessen Bekanntschaft unsere Helden schon auf dem Staatsobservatorium gemacht hatten, herzutrat.
»Und wer soll das Fahrzeug leiten?« frug Mac Milford.
»Der Konstrukteur desselben,« antwortete Elhel, womit er den Professor meinte.
»Dürfen meine Gefährten an der Fahrt teilnehmen?« frug Mac Milford.
Elhel bejahte.
Wie ein Blitz schoß dem Professor der Gedanke durch den Kopf, daß jetzt oder niemals eine Flucht möglich sei. Auch seine Genossen schienen auf einen ähnlichen Gedanken gekommen zu sein, denn sie raunten einander verschiedenes zu.
Noch war sich freilich der Alte darüber nicht klar, in welcher Weise die Flucht am besten bewerkstelligt werden konnte. Während der Vorbereitungen zermarterte er sich vergeblich den Kopf, den richtigen Ausweg zu finden.
Sollte er mit dem Fahrzeug sozusagen durchbrennen? — Doch nein, das ging nicht, denn er konnte unmöglich die Martier mitnehmen, und zudem erfuhr er jetzt auch, daß einer seiner Gefährten an der Fahrt nicht teilnehmen durfte. Vermutlich wollte man denselben wie eine Geisel zur Sicherheit, daß Mac Milford sein Fahrzeug auch wieder zurückbrachte, in Gewahrsam behalten.
Gegen diese List der Martier vermochte Mac Milford keine andere als Trumpf auszuspielen. Da half alles nichts, er mußte zurückkehren.
Die vier Briten beratschlagten nun kurz miteinander, wie man die Gelegenheit zur Flucht wohl ausnützen könne.
»Halt, eine Idee,« sagte Morton.
»Heraus damit,« platzte Palgrave hervor.
»Ich bleibe zurück, halte mich aber in Bereitschaft, um bei eurer Rückkehr zur Stelle zu sein.« Der Ingenieur setzte dann seinen Gefährten weiter auseinander, wie er sogleich nach der Landung des Vehikels, nachdem die beiden Martier ausgestiegen seien, in das Vehikel zu schlüpfen gedächte, und der Aufstieg dann unmittelbar von statten gehen solle.
Der Plan Mortons wurde allseits gut geheißen. Ob er in der Weise, wie er ausgeklügelt war, auch gelingen würde, das mußten alle ihrem guten Stern überlassen.
Wie jetzt Mac Milford von Elhel erfuhr, war der eigentliche Zweck der Auffahrt der, eine Jagd hinter einem aufgetauchten Kometen zu veranstalten, dessen Schweif und Koma Temperaturmessungen unterworfen werden sollten.
Das Rele des vergangenen Tages hatte nämlich das Nahen eines gewaltigen Schweifsternes angekündigt.
»Eine Jagd auf einen Kometen,« meinte Jenkinson, »das ist kein übel Ding, hoffentlich bleiben wir dem Gesellen immer ein gut Stück vom Leibe.«
»Wo denken Sie hin, Mr. Jenkinson; wie ich höre, sollen Temperaturmessungen vorgenommen werden,« versetzte Palgrave, und es kitzelte ihn, seinen Nachbar wieder etwas in Aufregung zu versetzen.
Zu des Invaliden großer Verwunderung erwiderte Jenkinson gelassen: »Verbrennt euch bei den Temperaturmessungen nur nicht die Finger.«
Die Auffahrt des Vehikels ging im allgemeinen glatt von statten. Das neue Fluid tat hinsichtlich der Aufhebung der Schwerkraft seine Schuldigkeit. Wieder ein Beweis für den Edinburgher Gelehrten, daß die Kräfte und Stoffe im Sonnensystem überall in gleicher oder ähnlicher Zusammensetzung verteilt sind.
»Zum Phobos,« sagte Elhel, als Mac Milford ihn darum ersuchte, welcher Kurs eingeschlagen werden sollte.
»Für eine glückliche Landung auf diesem Mond kann ich aber nicht einstehen.«
Elhel wollte die Ursache wissen.
»Eine Fahrt mit euren Flugschiffen zum Phobos läßt sich weit besser bewerkstelligen, als mit meinem voluminösen Vehikel, dessen Fortbewegung lediglich, wie ich euch schon verraten habe, auf der ganz oder teilweise aufgehobenen Schwerkraft der Gestirne beruht.«
So stand denn Elhel von dem Vorhaben ab, und der Kurs ging nun geradeswegs auf den gewaltigen Schweifstern los, der sich im Sternbild der Jungfrau hastig vorwärts bewegte.
Beide, das Vehikel und der Komet, nahmen ihren Lauf so, daß sie, wenn nicht nach einiger Zeit die Richtung des Fahrzeuges um einige Grad geändert wurde, wie zwei Blitzzüge aufeinanderprallen mußten.
»Wir werden tüchtig sieden und schmoren,« sagte Jenkinson.
»Versteifen Sie sich wirklich auf die blödsinnige Ansicht, daß so ein Schweifstern ein glutflüssiger Körper ist?« frug Palgrave. »Wenn Sie wollen, so wette ich mit Ihnen tausend Pfund gegen eins, daß wir, ohne irgend welchen Schaden zu nehmen, kreuz und quer durch seinen Schweif fahren können. Sehen Sie doch nur einmal hin, alles Nebeldunst; Sie können ja durch den Schweif die dahinter befindlichen Sterne erblicken.«
»Bei allen Göttern Griechenlands, Sie haben recht. Aber der Kopf?«
»Der Kopf — nun, den brauchen wir ja nicht zu durchqueren.«
Unterdessen näherte man sich dem Kometen mit einer solchen Geschwindigkeit, daß die Martier einen Zusammenprall befürchteten, und der alte Astronom auf einer Änderung des Kurses bestand. Wenige Minuten später, und das Vehikel sauste dem Schwanzende des Weltenbummlers zu. Durch dieses hindurch erblickte man deutlich den Hauptstern der Jungfrau, die Spica; links oberhalb glänzte durch die Nebelmasse Arktur im Bootes, und rechts Denebola im Löwen.
Das Vehikel war nach Verlauf kurzer Zeit dem seltsamen Gestirn so nahe gerückt, daß der riesige Schweif wie ein breiter Lichtstreifen fast das halbe Firmament bedeckte.
»Wie weit sind wir vom Kopfe des Kometen entfernt?« frug nach einer Weile Jenkinson den Professor.
Der Gefragte zuckte die Achseln. »Sagen wir rund eine Million Meilen.«
Diese tröstliche Antwort wirkte auf den ängstlichen Reporter beruhigend.
»So'n Ding hat doch eine fabelhafte Länge,« meinte der Invalide und verfolgte den Schweif des Kometen mit seinen Augen.
»Von dem Kopfe bis zum Schwanzende alles Nebelmasse, nichts als Nebelmasse,« sagte Mac Milford zu seinem greisen martischen Kollegen.
Dieser nickte und versuchte die draußen vor der Glasverschalung angebrachten Wärmeregistrierapparate abzulesen. Der Edinburgher Gelehrte unterstützte ihn dabei.
Die Temperatur des Weltäthers zwischen Deimos und Phobos, bei einer Entfernung von etwa 1500 Meilen vom Mars, betrug nach den Aufzeichnungen der beiden Astronomen 156 Grad Minus. Dieser Kältegrad entsprach dem absoluten Nullpunkte, wie solchen die Chemiker und Physiker der Erde festgestellt haben unter gleichzeitiger Erkenntnis der Tatsache, daß bei dieser Kältegrenze jedwedes Leben aufhört.
Als das Vehikel dann in den von der Sonne bestrahlten Nebelstreif hineinfuhr, zeigte der Registrierapparat nach fünf Minuten eine Temperaturerhöhung von etwa 25 Grad. Diese Wärme- oder vielmehr Kältestufe veränderte sich auch nicht, als man tiefer in die Nebelmasse des Schweifes drang.
Nachdem der Zweck, den man verfolgte, erreicht war, wurde die Rückkehr zum Mars angetreten. Es waren annähernd 2000 Meilen Wegs bis zu dem Planeten zu durchfahren, wozu man rund zwei Stunden Zeit benötigte. Da Deimos mit seinen im Frühlingskleide prangenden Landschaften mehr und mehr den Blicken der Insassen des Vehikels entschwand, und Phobos zur Zeit gerade hinter der Marskugel rollte, so bot sich nichts Interessantes dem Auge, zumal auch der Komet kaum mehr sichtbar war. Der letztere Umstand hatte seinen Grund darin, daß der Schweifstern jetzt, infolge der Kursänderung des Fahrzeuges, unter den Füßen der Männer dahinzog.
Um die Langweile abzukürzen, begann der Professor mit seinem martischen Freunde und dem greisen Astronomen ein längeres Gespräch, in das auch Palgrave und Jenkinson von Zeit zu Zeit Fragen einwarfen.
Das Resultat der Unterhaltung war ein überaus interessantes. Elhel war ein Stück Allwisser; er blieb auf keine Frage die Antwort schuldig. So erfuhren denn die drei Erdenbürger noch vieles, das der Aufzeichnung im Tagebuch der Expedition durchaus würdig war.
Jenkinson verfolgte das Gespräch und machte sich eifrig Notizen.
Was war in seinem Taschenjournal nicht alles zu lesen? Auf den letzten Seiten stand unter anderem folgendes:
Epidemien und Seuchen gelangen von anderen Gestirnen, welche von Menschen bewohnt sind, durch den Weltenraum zum Mars, zumeist durch niederfallende Meteoriten.
—————
Die Erhöhung des Lebensalters auf das hundertste Jahr ist neben der Sriko-Kur hauptsächlich der Synthese der Ernährungssubstanzen zuzuschreiben.
—————
Die Synthese der Nährmittel ist folgende: Der erforderliche Kohlenstoff wird der in der Atmosphäre vorhandenen Kohlensäure auf elektro-chemischem Wege entzogen, auf gleiche Weise wird der benötigte Wasserstoff dem Wasser, der Sauerstoff und Stickstoff der Luft entnommen.
—————
Die Getränke bestehen meist aus künstlichen Mineralwässern, denen wohlschmeckende und wohlriechende Essenzen, aus Teerderivaten hergestellt, zugesetzt sind.
—————
Das künstliche Licht der Martier ist eine Art elektrisches Phlogiston. Durch Emanation eines elektrische Energie ausstrahlenden Minerales vermag man überall die Luft leuchtend zu machen.
—————
Religion ist ein überwundener Standpunkt. Die letzte Erkenntnis aller Dinge hat gelehrt, daß kein denkendes Wesen die gesamte Materie geschaffen hat. Schicksal und Bestimmung sind als solche den Martiern unbekannt. Blindem Zufall werden alle Vorkommnisse zugeschrieben. Ein Fortleben des Menschen nach dem Tode wird nur in der Form angenommen, daß der Vater in dem Sohne, und die Mutter in der Tochter seelisch weiter existieren.
—————
Das ganze Marsvolk bildet einen Gemeinstaat. Die Oberleitung wird stets dem Ältesten und Erfahrensten unter den durch geistige Vorzüge hervorragenden Männern übertragen. Ihm zur Seite steht ein beratender Stab Männer und Frauen, welche gleich dem Staatenleiter geistig hoch stehen und wie dieser auch sehr erfahren sein müssen.
—————
Die Erziehung der Jugend liegt in den Händen des Staates. Knaben und Mädchen werden vom achten Lebensjahr, das heißt also nach martischer Zeitrechnung vom vierten Jahre ab, gleichmäßig unterrichtet und dann entsprechend ihren Neigungen und ihrer geistigen oder körperli>chen Veranlagung in einem Berufe ausgebildet. Mädchen werden durchweg zu leichten Arbeiten verwendet, und hört deren Tätigkeit für den Staat mit ihrer Verheiratung völlig auf.
—————
Klassenunterschiede gibt es nicht. Männer und Frauen haben gleiche Rechte und gleiche Pflichten.
—————
Alle Fabrikation liegt in den Händen des Staates. Ebenso unterstehen diesem alle Institute. Jedwede Tätigkeit eines Mannes oder eines Weibes kommt allein nur dem Staate und damit natürlicherweise auch dem Gemeinwohl der gesamten Marsbevölkerung zu statten.
—————
Geld und Geldeswert existiert nicht. Arbeitsmarken werden als Lohn für die ordnungsmäßig ausgeführte Tätigkeit jedem in gleicher Anzahl behändigt; nur diejenigen, deren Beruf größere Anstrengung erfordert, und die, welche durch irgend eine Tat die Kultur oder das Gemeinwohl heben, erhalten einen Zuschuß an Arbeitsmarken.
—————
Die empfangenen Arbeitsmarken müssen alltäglich gegen Eintausch von Waren oder sonstige Bedürfnisse ausgegeben werden. Ein Aufsparen macht sie ungültig.
—————
Zu wissenschaftlicher Tätigkeit werden nur hinlänglich Begabte zuge lassen.
—————
Übeltäter werden, wenn leichte Vergehen vorliegen, eine Zeit hin,durch mit schwerer Arbeit bestraft. Vorsätzlicher Mord hat die Verban,nung des Verbrechers zum Mond Phobos zur Folge.
—————
Landwirtschaft und Viehzucht existieren schon seit achthundert Jah,ren nicht mehr, weil sie infolge chemischer Herstellung der Nahrungsmit,tel überflüssig geworden sind. Die Fauna und Flora der Marswelt ist schon seit Jahrhunderten stark degeneriert, und sind die meisten Arten längst ausgestorben.
—————
Das Familienleben ist sehr ausgeprägt. Eine Anzahl Familien, die sich zueinander hingezogen fühlen, schließen sich zu größeren Gemeinschaf,ten zusammen, um sich nach der Arbeit der Unterhaltung sowie den geistigen und körperlichen Genüssen hinzugeben.
—————
Die Vergnügungen der Martier bestehen in Leibessport, Musik und Kunstgenüssen. Musik, Gesang und theatralische Aufführungen der her,vorragendsten Talente werden allen Bewohnern unentgeltlich durch tele,phonische, phonographische und elektro-optische Apparate naturgetreu in ihren Wohnungen vorgeführt.
—————
Die Bevölkerung des Marsreiches beziffert sich auf 121 Millionen 283 Tausend Menschen; wovon zur Zeit 60 Prozent auf das weibliche Ge0schlecht entfallen. Der Rückgang der Bevölkerungszahl nimmt seit dem letzten Jahrtausend rapid zu. Trotz des künstlich durchschnittlich auf 100 Lebensjahre erhöhten Alters sind die Sterbefälle um 10 Prozent größer als die Zahl der Geburten.
—————
Die Anzahl der Städte — Dörfer und Kolonien gibt es nicht — des kosmopolitischen Marsreiches beläuft sich auf 225, so daß auf jede Nie0derlassung etwa eine halbe Million Menschen kommt.
—————
Die Bestattung der Leichen erfolgt durch Verbrennung mittels glü,henden aktiven Oxygeniums. — Geistig hervorragende Menschen wer,den, sofern es die Angehörigen derselben gestatten, nach ihrem Tode in mit Alkohol gefüllten gläsernen Behältern der Nachwelt körperlich erhalten. — In einer Staatskatakombe sind mehr als 5000 Alkoholmumien aufgebahrt; ein besonderes Archiv enthält über jeden Toten der Katakombe genaueste Aufzeichnungen.
—————
Nach martischer Chemie gibt es nur ein Urelement, das durch Spaltungen in eine Reihe Pseudoelemente zerfällt, welche in ihrer Gesamtheit zum Aufbau der anorganischen und organischen Welt dienen.
—————
So lauteten die kurzen Notizen in dem Tagebuche der Expedition, welche der Reporter während der Rückfahrt von der Kometenjagd zur Aufzeichnung gebracht hatte.
Morton, welcher, wie wir wissen, an der Fahrt der Kometenjäger nicht teilnehmen durfte, hatte unterdessen nach längerer Zeit wieder einmal einen Spaziergang durch die Stadt XII unternommen.
Unwillkürlich zog es ihn nach jenen Straßen hin, wo er vor Wochen die Stol zu treffen gewohnt war. Und der Zufall wollte es, daß die junge Martierin wieder seinen Weg kreuzte.
Die Freude bei dem Zusammentreffen bekundete nur zu deutlich, daß während der längeren Trennung keiner den anderen vergessen hatte. Trotzdem sich eine freudige Erregung in dem Gesicht der Stol spiegelte, mußte es doch dem jungen Erdensohn auffallen, daß hinter dem scheinbar heiteren Ausdruck etwas wie Schwermut lagerte. Der ängstliche und düstere Blick der Augen verriet dies in einer Weise, daß Morton Bellna unvermittelt frug, ob sie Kummer habe oder krank sei.
Das junge Mädchen schüttelte wehmütig den Kopf.
»Bellna!« sagte Morton leisen Tones zu der Stol und sah ihr mit einem forschenden Blick ins Auge. »Ich muß dir eine Mitteilung machen.«
Die Angeredete horchte auf, und ihr Mienenspiel zeigte, daß sie auf irgend etwas gefaßt war, das ihr Schmerz bereiten mußte.
,,Ich muß es dir anvertrauen. Noch heute, wahrscheinlich schon in der ersten Abendstunde, werden sich unsere Wege auf immer trennen.«
Ein kurzer, leiser Schrei entrang sich den Lippen der Stol. Er war für Morton wie ein Dolchstich. Seine Ahnung hatte ihn nicht betrogen. Das große Interesse und die tiefe Neigung, welche er dem martischen Mädchen entgegenbrachte, wurde von diesem in vielleicht noch stärkerem Grade erwidert.
»Bellna, ich muß zur Erde zurückkehren ... ich muß, hörst du?« Der Sprecher vermochte das, was er noch weiter sagen wollte und was er der Stol schon lange mitzuteilen die Absicht hatte, nicht über die Lippen zu bringen. — Ihr zu sagen, daß er daheim auf seinem Muttergestirn bereits ein liebend Weib habe, das auf seine Wiederkehr mit Sehnsucht harre, das mußte seiner Ansicht nach wie ein Keulenschlag auf die junge Martierin wirken. Deshalb unterdrückte er es. Tränenden Auges sah ihn die Stol an und frug mit umflorter Stimme: »Du wirst in deinem Fahrzeug unseren Weltball verlassen? Sage mir, wo du abfährst, damit ich dir noch im letzten Augenblick einen Gruß für immer zuwerfen kann.« Die letzten Worte verschluckte die Stol fast, um die hervorquellenden Tränen zu trocknen.
Eine kleine Weile schaute der Ingenieur das Mädchen stumm an. Seine seelische Erregung gab der Bellnas wohl kaum etwas nach. Hatte er versucht, in den Wochen, während er fern ab von der Stadt XII weilte, die Gefühle für die Stol zum Schlummern zu bringen, so waren diese nun wieder erwacht und brachen mit Allgewalt hervor.
Bellna wurde jetzt plötzlich ruhig. Ihre Tränen versiegten, und sie hob den gesenkten Kopf empor.
Irgend ein Entschluß mußte das Gleichgewicht ihrer Seele wieder hergestellt haben.
Morton entging diese Veränderung zwar nicht, doch setzte er sie auf Rechnung dessen, daß die Stol sich anscheinend in das Unabänderliche zu fügen verstand.
»Wo steht euer Fahrzeug?« frug Bellna ruhigen und festen Tones. Der Gefragte teilte ihr nun, tiefste Verschwiegenheit voraussetzend, mit, daß er und seine Gefährten draußen vor der Stadt die Abfahrt ohne Wissen und Willen der Staatenleitung bewerkstelligen wollten.
Noch eine kurze Zeit unterhielten sich die beiden Kinder zweier Welten. Dann nahm der irdische Sohn von der martischen Tochter einen sehr bewegten Abschied, und man kam dahin überein, daß Bellna gegen Abend, wo Morton die Kometenjäger erwartete, sich an der näher bezeichneten Abfahrtsstelle einfinden solle, damit dort ein letzter Gruß ausgetauscht werden könne.
Morton, der schweren Herzens die Stol jetzt verließ, fiel es sehr auf, daß diese so gefaßt war. Sollte das Weib eine so außerordentliche Seelenstärke besitzen?
Der Ingenieur ging nun zu seinem Domizil zurück und begab sich auf die Plattform des Gebäudes, um nach dem Vehikel Ausschau zu halten. Daß dieses vor Sonnenuntergang nicht zurückkehren konnte, war ihm von Mac Milford, sowie auch von Elhel versichert worden. Bis dahin war also eine Stunde Zeit; vielleicht ließ die Rückkehr des Fahrzeuges auch noch zwei oder drei Stunden auf sich warten.
Morton konnte, wie sehr er sich auch abmühte, das Vehikel in der Nähe des Kometen zu sichten, nichts von ihm entdecken. Da es bereits 5 Uhr war, und das Tagesgestirn sich dem Horizont zuneigte, machte sich der Ingenieur auf den Weg, um nicht etwa die Zeit der Ankunft zu versäumen.
In der Stadt XII kannte man den Fremdling schon so genau, daß nur wenige Marsleute, die ihm auf den Straßen begegneten, ihn verwundert betrachteten. Morton selbst hatte das Gefühl, als wenn er hier bald heimisch wäre; er war durch einen langen Aufenthalt schon so naturalisiert, daß er seine Umgebung bereits ansah, als weile er hier schon viele Jahre. — Wie schnell sich doch der Mensch in fremde Verhältnisse einleben kann.
Am Ziele seiner Wanderung angelangt, machte Morton zu seinem großen Schrecken die Entdeckung, daß das Vehikel bereits schon seit zwei Stunden zum Mars zurückgekehrt war. Er hatte also den richtigen Moment der Flucht verpaßt. Sich innerlich schwere Vorwürfe machend, eilte er durch die Gruppen der Marsleute, welche die Landungsstelle des Vehikels besetzt hatten, um seine Genossen aufzusuchen.
Aber weder Mac Milford noch Palgrave oder Jenkinson ließen sich blicken. Auf sein Befragen erhielt er von einem der Martier die Auskunft, daß seine Gefährten mit Elhel und Snosno, dem Senior der Astronomen, sich in die Stadt zurückbegeben hätten, um ihn aufzusuchen.
So war denn die schöne Gelegenheit zur Flucht verpaßt.
Es war um Mitternacht desselben Tages, als über die Gegend, in welcher die Stadt XII lag, ein furchtbarer Orkan dahinjagte. Er verdichtete den dünnen Dunstschleier, der sich zur Frühjahrszeit in den Abendstunden zumeist über die nördlicher liegenden Zonen der Marsoberfläche ausbreitete, zu einer Wolkendecke.
Dieses unerwartete meteorologische Ereignis war so plötzlich und ohne vorherige Anzeichen aufgetreten, daß die Herren Gelehrten von der Staatswetterwarte nach langer Zeit wieder einmal verblüffte Gesichter machten. So trefflich es die Martier auch verstanden, die Naturelemente zu bändigen, sich Wind und Wetter nach ihrem Geschmack zurecht zu machen, kam es doch von Zeit zu Zeit vor, daß ihnen die Natur ein Schnippchen schlug, indem sich plötzlich Cyklone, Hagelböen und wolkenbruchartige Regenschauer unvermutet einstellten. Die martischen Gelehrten wußten, daß solche blitzartig auftretende Wettererscheinungen durch die Rotation ihres Planeten hervorgerufen wurden. So weit waren ihre Kräfte und Mittel aber doch noch nicht gediehen, um die ab und zu rebellisch werdenden Naturelemente stets und immer in ihre Schranken zu verweisen.
Der in allen Tonarten heulende Orkan richtete in der Stadt gewaltige Verwüstungen an. So sehr auch die Gebäude ein festes Gefüge besaßen, waren doch viele einer solchen Luftrevolution gegenüber nicht standhaft. Die quadratischen Quadersteine wurden von den Plattformen der Häuser wie Flaumfedern auf die Straße hinabgeweht und richteten dort vielfach großes Unheil an.
Der entfesselte Sturm führte einen Regenschauer mit sich, wie solcher nach den Annalen der martischen Wetterwarte seit vielen Jahrhunderten nicht niedergegangen war.
Das Brausen des Orkanes und die klatschend zu Boden fallenden, alles überschwemmenden Wassermassen verliehen der stockfinsteren Nacht ein schauerliches Gepräge.
Mac Milford und Morton hatten sofort nach Ausbruch des Orkanes ihren beiden Gefährten gegenüber die Ansicht geäußert, daß jetzt die Stunde zur Flucht die gelegenste sei. Jenkinson und Palgrave waren derselben Meinung gewesen. So zögerte man denn keine Minute, sich auf den Weg zu machen. Daß sie bei dem furchtbaren Unwetter Martier treffen könnten, das schien für sie ausgeschlossen zu sein.
Trotz der großen Gefahr, von dem Sturme zu Boden geschleudert und von herabfallenden Steinen getroffen zu werden, eilten unsere vier irdischen Helden durch die Stadt, um den Ort zu erreichen, wo das Antigravitationsvehikel lag.
Unter großer Anstrengung passierten die vier Männer die vom Regen durchfluteten Straßen. Von Zeit zu Zeit schlugen rechts und links von ihnen durch den Sturm herabgeschleuderte Steine zu Boden, so daß das Wasser hoch aufspritzte und die ohnehin bis auf die Haut durchnäßten Erdenbürger überflutete. In rasender Eile liefen sie dem ihnen wohlbekannten Ziele zu; der alte Gelehrte war der letzte. Seine Kräfte hatten kaum ausgereicht, um den etwas schnellfüßigeren und jüngeren Gefährten folgen zu können.
Zum Glück lag das Vehikel unweit des Weichbildes der Stadt und wurde darum schon nach einer halben Stunde Wegs erreicht.
Jenkinsons Befürchtung, daß die zur Bewachung des Fahrzeuges angestellten Martier trotz des furchtbaren Unwetters ihren Posten nicht verlassen haben könnten, bewahrheitete sich nicht. Das Vehikel lag, vom Sturme auf die Seite geworfen, ohne jede Aufsicht da.
Den vereinten Kräften der vier, durch den Lauf halberschöpften Männer gelang es, ihr Fahrzeug wieder so aufzurichten, daß sie durch die Luke in das Innere zu kriechen vermochten.
Morton verschloß sofort die Öffnung, und Mac Milford versuchte trotz der ungünstigen Lage, welche das Vehikel einnahm, dieses zum Auftrieb zu bringen.
»Es wird Schwierigkeiten kosten,« meinte der Alte, »die Kathode so nach unten zu richten, daß das Fluid auszuströmen vermag.«
»Machen wir doch erst Licht. Man kann ja die Hand vor Augen nicht sehen,« ließ sich Palgrave vernehmen.
Mac Milfords Bemühungen, das Anodenlicht im Scheinwerfer aufflammen zu lassen, waren ebenso vergeblich, wie seine Manipulationen, das Vehikel zum Aufstieg zu bringen.
»Die Anode versagt ... wir müssen uns vorläufig im Finstern zu behelfen versuchen,« versetzte der Professor, der von dem hastig zurückgelegten Wege noch ganz außer Atem war.
»Schöne Geschichte,« sagte Palgrave. »Was soll nun geschehen?«
Ehe der Leiter der Expedition hierauf eine Antwort zu geben vermochte, verspürten die Männer einen hastigen Ruck, und wenige Sekunden darauf hob sich das Fahrzeug empor.
»Das haben wir dem Orkan zu verdanken,« sagte Morton. »Er richtete uns das Vehikel in die Höhe. Nun sind wir gerettet.«
»Gerettet!« — dieses Wort drängte sich allen auf die Lippen.
Immer schneller und schneller stieg man in die Höhe. Die Auftriebsgeschwindigkeit war so groß, daß der Orkan das Vehikel nur wenig zur Seite treiben konnte, schoß es doch wie ein Pfeil durch die so heftig bewegten Luftmassen dahin und war schon nach fünf Minuten aus dem Bereich des Sturmgebietes.
»Wird alles glatt verlaufen?« frug der Reporter ängstlich, denn er fürchtete, daß der Orkan an dem Fahrzeug irgend etwas demoliert haben könne.
»Seien Sie beruhigt, Mr. Jenkinson,« erwiderte Mac Milford, und man konnte seiner Stimme anmerken, wie glücklich er war, daß die Flucht so wohl gelang.
»Wenn man nur hier, wo es so dunkel ist wie in einem Schornstein, einen Schritt tun könnte,« meinte Palgrave.
»Es wäre fatal, wenn der Scheinwerfer nicht mehr funktionierte,« versetzte Morton.
»Bangen Sie sich nicht um einen Defekt,« gab Mac Milford zur Antwort. »Sobald wir genügend weit von der Marskugel entfernt sind, vermag diese die Sonne nicht mehr für uns zu verdecken.«
»Können Sie ermitteln, wie hoch wir uns bereits befinden?«
Der Alte erwiderte auf die Frage Palgraves: »Nach meiner Schätzung ungefähr zehntausend Meter. Die Geschwindigkeit wächst aber von Minute zu Minute, je größer unser Abstand vom Mars wird.«
»Ganz recht,« pflichtete Morton bei. »Ein physikalisches Gesetz besagt, daß die Anziehungskraft in dem Maße mit der Entfernung abnimmt, wie die Quadratzahlen der letzteren zunehmen.«
»Hoffentlich entdecken die Martier unsere Flucht nicht zu früh,« ließ sich Jenkinson vernehmen.
»Bei allen Teufeln!« rief der Seapoyhauptmann, »das könnte uns übel bekommen, denn die Martier würden uns in ihrer famosen Ozonschanze schmoren.«
Der Reporter schrak bei dem Gedanken zusammen, und seine Stimmung sank sofort auf den Nullpunkt.
»Mr. Palgrave, Sie erinnern mich an das Schicksal der armen Amerikaner,« sagte Mac Milford. »Ich hätte beinahe nicht daran gedacht, daß auch wir jene gefährliche Sauerstoffschicht zu passieren haben.«
»Jetzt heißt's, alle Segel aufsetzen, um so schnell wie möglich aus dem Machtbereich der Martier zu kommen.«
Bei diesen Worten preßte der Ingenieur seine Stirn gegen die Glasverschalung des Fahrzeuges, um zu sehen, wie schnell man sich von dem Planeten entferne.
»Ich hoffe, daß wir die fünfzig Kilometer entfernt liegende Grenze der Atmosphäre in längstens einer Viertelstunde erreichen, und dann sind es nur noch wenige Minuten, die genügen, uns durch die gefahrbringende Gasschicht in den freien Weltäther gelangen zu lassen.«
»Meinen Sie wirklich, Herr Professor, daß eine Viertelstunde genügt, um ...«
Jenkinsons ängstliche Frage erlitt eine Unterbrechung, denn eben strahlte das Anodenlicht auf, und Morton rief erschreckt aus: »Wehe uns, wenn die Martier jetzt den Lichtschein gewahren! Er kann uns verraten!« Der Ingenieur drehte schnell an einer ihm wohlbekannten Kurbel und sofort erlosch der Scheinwerfer.
Fast gleichzeitig trat nun auch die Sonne hinter der Marskugel hervor, und die Dämmerung, welche bisher geherrscht hatte, machte dem vollen Tageslicht Platz.
Wer kann aber die Überraschung und das Entsetzen ausmalen, welche sich nun in den Gesichtern der vier Insassen des Vehikels widerspiegelten.
Keiner traute seinen Augen, als sich jetzt in einer Ecke des Fahrzeuges eine Frauengestalt erhob.
Es war Bellna.
»Bellna!« Mehr vermochte Morton in diesem Augenblick nicht über die Lippen zu bringen. Starren Blickes sah er die Stol an, als wenn er ein Gespenst vor Augen hätte.
»Bellna kann dich nicht vermissen,« sagte das junge Weib und trat mit diesen, mit zitternder Stimme gesprochenen Worten auf den sprachlosen Mann ihrer Liebe zu. Dann streckte sie ihm stumm mit flehender Gebärde beide Hände entgegen.
Morton war seelisch tief erschüttert und rührte sich nicht von seinem Platze.
War es denn möglich? Bellna hatte es gewagt, ihm zu folgen.
Das grenzenlose Erstaunen der anderen drei Männer zu beschreiben, ist wohl unnötig. Der erste, der die Fassung wiedergewann, war Palgrave. Er trat auf die junge Martierin zu und sagte: »Stol, wie kommst du in unser Fahrzeug? Willst du der Erde einen Besuch abstatten?«
Ehe Bellna das schlechte Martisch dem Sinne nach verstanden hatte, erfaßte Morton mit einer überaus schmerzlichen Gebärde die Hände der mit gesenktem Kopf und tränenden Auges dastehenden Stol.
»Du willst mit mir ziehen? Heim zu meinem Gestirn?« sagte er mit tonloser Stimme.
»Ja,« flüsterte sie, »ich hätte sonst nicht mehr leben mögen.«
Jetzt trat auch Mac Milford, welcher der Szene, die sich soeben abspielte, tief erschüttert zugesehen hatte, auf die kleine Gruppe zu. »Stol, du tatest einen unüberlegten Schritt. Zur Rückkehr ist es freilich nun zu spät; wir müssen dich zur Erde mitnehmen. — Armes Geschöpf! Freudenleer wird dein Dasein verlaufen, denn der, dem du gefolgt, ist ...«
Der Alte stockte plötzlich. Morton hatte ihm einen bedeutungsvollen Blick zugeworfen, der ihn nicht im Zweifel darüber ließ, daß sein junger Freund, dem er mit väterlicher Liebe zugetan war, verhüten wollte, daß die Stol davon erfuhr, daß der, dem sie abgöttisch zugetan war, daheim bereits von einer Lebensgefährtin erwartet werde. Mac Milford, der pedantische Gelehrte, der nur für seine Wissenschaft und seine Bücher lebte, der seit seinen Kinderjahren nicht wieder geweint hatte, mußte in diesem Augenblick seine nassen Augen trocknen.
»Bellna — was soll ich dir sagen? Ich kann deine Liebe und Anhänglichkeit nicht ganz so in dem Maße teilen ... ich ... ich danke dir. — Du hast ein furchtbares Opfer gebracht, indem du deine Heimat und deine Angehörigen für immer verließest,« sagte Morton, und sah die Stol, welche wie eine Bildsäule vor ihm stand und sich nicht zu rühren wagte, kummervoll an. Dachte er doch daran, welchen Schmerz er ihr bereiten würde, wenn sie erfuhr, daß er nicht mehr frei sei.
Palgrave trat von der Gruppe hinweg und wendete sich dem Reporter zu, der bisher nicht einen Laut von sich gegeben hatte.
»Du zürnst einem armen Geschöpf nicht?« frug Bellna mit unsicherer Stimme und suchte die Antwort im voraus von Mortons Gesicht abzulesen.
»Wie kann ich dir zürnen — nein, Bellna.« Mit diesen hervorgepreßten Worten zog er die Stol beiseite und ließ sich mit ihr auf einem Sitz nieder.
Während er nun leise auf sie einredete, lenkte der tief ergriffene Alte seine Aufmerksamkeit wieder dem Kurse des Vehikels zu. Palgrave und Jenkinson näherten sich ihm, um ebenfalls im Flüstertone das Ereignis zu besprechen.
Inzwischen hatte das Fahrzeug die Grenze der Atmosphäre erreicht und sauste nun durch die gefahrbringende Schicht.
»Jetzt haben die Martier uns noch in ihrer Gewalt. Wir passieren die Ozonschanze,« sagte der Professor mit gedämpfter, tiefernster Stimme und warf seine Blicke unausgesetzt auf den hinter ihm liegenden Marsplaneten.
»Entsetzlich! Wenn nun eine Explosion erfolgte!« rief Jenkinson erschreckt aus und schien die eben erlebte Szene in Anbetracht der kritischen Lage, in welcher man sich jetzt befand, völlig vergessen zu haben.
»Seien Sie doch kein Hasenfuß, Mr. Jenkinson. Wenn wir noch im letzten Augenblick der Rückreise unser Leben verlieren, so hat es das Schicksal gewollt; und dann können Sie sich noch immer damit trösten, daß Sie ein Opfer des Vaterlandes geworden sind,« versetzte Palgrave und warf einen mitleidigen Blick auf den geängstigten Reporter, dem eigentlich nichts daran lag, sein teures Leben für die Mitwelt in die Schanze zu schlagen.
Mac Milford schaute nun durch das kleine Fernrohr.
»Drüben ist Nacht — nichts ist erkennbar. Hoffentlich sind wir noch nicht vermißt worden und gelangen durch die Schicht, ehe uns die Martier zu Leibe rücken können.«
»Ist es für uns bemerkbar, wenn wir aus der Ozonschanze in den freien Weltäther hinausgelangen?« frug Palgrave.
»Darauf muß ich Ihnen leider die Antwort schuldig bleiben,« erwiderte der Alte und sah nach Morton hin.
»Es ist jetzt ein Uhr siebzehn Minuten ..., zwölf Uhr sechsundzwanzig Minuten verließen wir den Mars,« sagte Palgrave, indem er einen Blick auf den Chronometer warf, den Mac Milford auf den Tisch gelegt hatte. »Wir sind also bereits einundfünfzig Minuten unterwegs, sollten wir da noch nicht die Schicht passiert haben?«
»Schon möglich; ich kann es eben nicht genau kontrollieren,« versetzte der Alte achselzuckend.
Eine Weile fuhr man schweigend weiter. Nur das leise Gespräch, welches Morton mit der Stol führte, unterbrach die tiefe Stille.
Da — ein greller Blitz — ein Feuerschein, und hinter dem Vehikel in kaum fünfzig Meter Entfernung flammte ein feuriges Meer auf.
Jenkinsons und Bellnas Lippen entfuhr ein Schrei des Schreckens.
Morton und die Stol fuhren zu gleicher Zeit entsetzt von ihrem Sitze auf. Mac Milford schaute wortlos in das Flammenmeer, dessen Feuergarben zum Fahrzeug herüberleckten. Palgrave stand mit aufeinandergekniffenen Lippen an der Glasverschalung und starrte hinaus in die leuchtende Glut, die dem Vehikel nichts mehr anzuhaben vermochte.
»Also doch durch ... unser guter Stern hat uns vor dem Untergang wieder einmal bewahrt,« sagte Mac Milford, und atmete tief auf.
»Um aller Welt willen, die Wände werden schmelzen!« rief Morton, der die Stol, welche zu Tode erschrocken in seine Arme geflüchtet war, losließ.
Die sengende Glut des Flammenmeeres strahlte weit in den Weltäther hinein und vermochte noch auf das Fahrzeug einzuwirken. Die Temperatur stieg plötzlich, die Wandung des Vehikels wurde heiß, und es war zu befürchten, daß die Glasverschalung zerspringen oder zerschmelzen könnte. Zum Glück hatte das Vehikel bereits eine solche Fahrgeschwindigkeit angenommen, daß es sich mit jeder Sekunde um mehr denn hundert Meter von dem flammenden Ozonmeere entfernte.
Es war ein furchtbarer, aber doch wunderbarer Anblick. Die wogende Feuermasse mit ihren in das Weltall hinauszüngelnden Flammenfontänen. Die sengende, rote Glut konnte man mit der Corona der Sonne vergleichen, deren Chromosphäre mit ihren feurigen Protuberanzen, im Fernrohre gesehen, dasselbe Schauspiel bietet.
Mit der immer größer werdenden Entfernung, und durch die tiefe Kälte des Weltäthers wurde die von der Ozonschanze gegen das Vehikel ausgestrahlte Glut in ihrer Wirkung völlig ohnmächtig gemacht. Ein Glück für die Insassen des Fahrzeuges. Wären sie nur wenige Sekunden später über die Grenze der todbringenden Schicht gelangt, so hätten sie ihr Leben lassen müssen. Auch schon dann, wenn das Vehikel aus dem unmittelbaren Bereich des wogenden Feuermeeres gekommen wäre, die Glut aber die doppelte Glasverschalung zum Schmelzen gebracht hätte. In diesem Falle würden alle im luftleeren Raume den Erstickungstod erlitten haben.
»Die martischen Teufel haben uns zum Abschied hier oben noch einmal tüchtig eingeheizt,« sagte Palgrave. »In dieser Höllenglut hat man die Yankees geröstet.«
»Sie sind wie Helden für ihr Vaterland gestorben,« versetzte Mac Milford in einem Tone, welcher der etwas zynischen Äußerung des Invaliden gegenüber zurechtweisend klang.
»Wann werden wir die Erde erreichen?« frug Bellna, nachdem sie tief bedauert hatte, daß ihre Landsleute einen todbringenden Anschlag auf die Erdenbürger verübt hatten.
»In acht Tagen und eben so vielen Nächten,« gab ihr Morton zur Antwort.
»Vermutlich schon in fünf Tagen,« korrigierte Mac Milford, welcher Bellnas Frage und Mortons Antwort gehört hatte.
»Wie? Warum sollte die Rückreise schneller vor sich gehen?« frug der Ingenieur verwundert.
»Mr. Palgrave, haben Sie es gehört?« rief Jenkinson. »Schon in fünf Tagen haben Sie wieder Gelegenheit, Ihre Lieblingsflüche auf der Erde erschallen zu lassen.«
»Wa—as,« ließ sich der Invalide vernehmen und wendete sich von der Glasverschalung ab, da inzwischen das feurige Schauspiel bei der Marskugel sein Ende erreicht hatte.
»Das antimagnetische Fluid, welches wir aus dem Bauche des Mars gezapft haben, hat, wie ich bemerkt habe, eine viel intensivere Wirkung als das irdische Fluidum. Letzteres absorbiert die Gravitationsstrahlung nicht so vollkommen,« gab Mac Milford Morton zur Antwort.
»Und Sie glauben, daß wir mit der vorhandenen Menge Fluid den Erdball erreichen werden?«
»Diese Frage muß ich unbeantwortet lassen, denn es ist mir nicht möglich, die aufgespeicherte Antigravitationskraft ihrer Menge nach zu messen.«
»So müssen wir uns also auf unser gutes Glück verlassen?«
»So ist es.«
Auf der Rückreise war Schmalhans Küchenmeister, denn der Proviant bestand nur aus einer kleinen Anzahl Stärkemehlkuchen und einer schmalen Gallone kohlensäurehaltigen Wassers. Anfänglich wollte natürlich die magere Kost wenig munden, und besonders der Reporter schimpfte weidlich darüber.
Alles schien nach Wunsch glücklich von statten zu gehen. — Phobos und Deimos lagen längst im Rücken. Die beiden Satelliten waren, als das Vehikel ihre Bahnen querte, weit ab. Auch andere kosmische Störenfriede, wie Kometen und Meteorschwärme, verlegten dem irdischen Fahrzeuge nicht den Weg.
So verlief denn die Reise weit glücklicher, als man geglaubt hatte. Eintönig blieb sie freilich, doch unsere Reisenden verzichteten gern auf gefahrvolle Abwechselungen; sie hatten deren auf ihrer Expedition gerade genug zu kosten bekommen.
So war denn die Stimmung im großen und ganzen eine ziemlich gehobene, besonders Jenkinson wurde dadurch sehr zum Scherzen aufgelegt.
Nur Morton schien mit einer fortwährenden inneren Unruhe zu kämpfen. Was sollte aus Bellna werden? Tage hindurch hatte er geschwankt, der Stol die Wahrheit zu sagen, ihr mitzuteilen, daß ihn daheim eine Gefährtin erwarte.
Lange und eingehend hatte er zu den Zeiten, wo Bellna der Ruhe pflegte, mit seinen Freunden über das fernere Schicksal der Stol gesprochen. Hierbei erfuhren die drei Genossen Mortons, wie es Bellna gelungen war, unbemerkt in das Vehikel zu schlüpfen. Die Stol hatte sich an jenem Abend, wo sie sich an der Abfahrtsstelle zu einem letzten Abschiedsgruße einfinden sollte, während des furchtbaren Orkanes, Schutz vor dem Unwetter suchend, in das Fahrzeug geflüchtet und wurde dann durch die Ankunft der Erdenbürger überrascht. Als sie Mortons Stimme wieder vernahm, da erwachte ihre Leidenschaft für den Sohn der Erde aufs neue, und sie beschloß ihm zu folgen. Die herrschende Dunkelheit hatte ihr Vorhaben, wie wir bereits wissen, wesentlich gefördert; sie blieb bei der Abfahrt unentdeckt, wie ihr das nur erwünscht sein konnte.
Morton kam endlich doch zu dem Entschluß, Bellna noch vor der Landung auf der Erde davon zu unterrichten, daß sie ihm nie angehören könne, weil er bereits verheiratet sei. Die Konsequenzen, welche dieses offene Bekenntnis nach sich ziehen mußte, malte er sich im voraus schon in den schwärzesten Farben aus.
Es waren vier Tage seit der Abfahrt vom Mars verflossen, Tage ohne jede weitere Aufregung und Gefahr, als das Vehikel in den Bereich der Bahn des Erdenmondes gelangte. Der Trabant hatte, zum größten Bedauern Mac Milfords, schon einige Tage zuvor den Knotenpunkt, welchen man soeben passierte, überschritten, befand sich aber immer noch in einer so großen Nähe, daß die Reisenden ihn als eine gewaltige, leuchtende Kugel, auf der die meisten Details sichtbar waren, rechts von der Kurslinie ihres Vehikels erblickten.
Der Satellit der Erde war noch nicht zum Vollmond ausgereift; es zeigte sich ein schmaler, dunkler Streifen an der linken Seite der strahlenden Kugel vom Nord- zum Südpol hin; und die Lichtgrenze, über Täler und Berge ziehend, markierte sich scharf ab. Deutlich vermochten die Insassen des durch die starke Einwirkung der Anziehungskraft des Mondes beeinflußten Antigravitationsvehikels zu erkennen, wie aus den im Schatten liegenden Gegenden des Mondes eine Anzahl goldglänzende Bergkuppen sich erhoben. Auf dem beleuchteten Teile der Riesenscheibe waren die gewaltigen lunarischen Tiefebenen, welche die Wissenschaft Mare nennt, als dunkle Flecke mit mehr oder minder verschwommenen Konturen sichtbar. Das Mare procellarum oder Stürmische Meer, welches fast 100 000 Quadratmeilen Flächeninhalt besitzt, das Mare imbrium oder Regnerische Meer, das Mare frigoris oder Eismeer, das Mare crisium oder Gefährliche Meer, das Dunstmeer, das Nektarmeer und noch andere Mare, sie alle boten sich dem Auge des Beschauers in ihrer ganzen Ausdehnung. Der Blick aus der Vogelschau auf den Erdsatelliten ließ auch zahlreiche Ringgebirge und einzelne langgestreckte Bergzüge deutlich erkennen. Eine Unmenge winziger, kesselartiger Löcher waren über die Mondoberfläche zerstreut und verliehen dem Trabanten das Aussehen eines durchlöcherten Siebes. Auch Wall- und Kraterebenen konnten vom Vehikel aus in Form und Größe genau beobachtet werden. Wo sich keine Niederungen befanden, erblickte das Auge ein wahres Gewirr von Kratern in allen Größen, von denen einzelne als spitze, steile Kegel geformt, besonders hervortraten; auffallend waren auch die im Mare nubium und im Ozeanus procellarum liegenden Krater, welche von einer hellglänzenden Fläche umgrenzt waren. — Mädler und Beer hatten seinerzeit diese Art vulkanische Gebilde mit dem Ausdruck lichtumsäumte Krater bezeichnet. — Wunderbar nahmen sich ferner auch einige Hochlandsgebiete aus, so besonders die Apenninen, welche von Norden nach Süden 296 Kilometer lang sind und von Osten nach Westen eine Breite von 267 Kilometer besitzen. Einzelne Bergstöcke der Apenninen ragten aus der umgebenden Ebene empor. Ein zweites Hochland, der Kaukasus, welcher nordwestlich von den Apenninen liegt und von diesen durch eine breite Ebene getrennt ist, erhob sich stolz über seine Umgebung. Nördlich vom Kaukasus konnten unsere Reisenden die Alpen mit ihren grandiosen Gipfeln deutlich erkennen und sahen das höchst merkwürdige schnurgerade Tal, welches dieses Mondgebirge durchzieht. Herrlich traten auch die Strahlensysteme der Ringgebirge Tycho und Kopernikus hervor. Besonders die vielen hundert Strahlen, welche sich vom Tycho in die umgebende Ebene hinab über 1000 Kilometer weit verliefen, präsentierten sich dem Beschauer als riesige Gletscherströme, welche vom Firn des Ringgebirges, ihrer Geburtsstätte, abflossen.
Der Blick auf die lunarische Welt war so entzückend, daß Bellna lange Zeit den Mond mit ihren Augen verfolgte und sich an ihm nicht satt zu sehen vermochte.
Die mächtige Kugel rollte aber immer weiter in die Ferne, und das Vehikel näherte sich dem Erdballe, dessen Kontinente und Wasserbecken in ihren Umrissen bereits unterschieden werden konnten.
Es kam zu dieser Stunde zwischen den Männern die Rede auf die Trustpläne, welche sie schon einmal erörtert hatten.
»Also es bleibt dabei,« sagte Jenkinson. »Wir machen gemeinsame Sache. Sobald unsere martischen Erfindungen von allen Kulturstaaten patentiert worden sind, wird der britische Riesentrust inszeniert.«
»Meine lieben Freunde,« versetzte Mac Milford. »Lassen Sie mich gefälligst bei diesen Sachen außer Spiel. Ich tauge nicht für derartige Unternehmungen. Gern überlasse ich Ihnen allen und jeden Gewinn.«
So schlossen sich nun drei Männer zusammen, um eine Kompagnie zu bilden, die auf dem Gebiete des Handels und der Industrie eine Weltmacht zu werden versprach. Als Sitz der Gesellschaft wurde London vorgesehen. Die Bank of England mußte die Kapitalien zur Gründung und Ausführung des Unternehmens zweifellos bewilligen. Die neuen Industrien, welche der Zukunftstrust schaffen wollte, versprachen im voraus ihre Schöpfer zu vielfachen Milliardären zu machen. Aussichten, welche also die Stimmung der Spekulanten ungemein heben mußten.
Es war am fünften Tage nach der Abfahrt vom Mars, als sich das Vehikel nur noch in einem Abstand von etwa einigen tausend Meilen vom Erdplaneten befand. Vor den Blicken der Reisenden breitete sich auf der sonnenbestrahlten Kugel der gewaltige asiatische Kontinent mit dem Indischen Ozean und auch ein Teil des australischen Festlandes aus.
Bellnas Entzücken über ihre neue Heimat kannte fast keine Grenzen. Ihre Fröhlichkeit stach gegen die immer düsterer werdende Stimmung Mortons sehr ab.
Der junge Ingenieur hatte noch immer mit dem Bekenntnis, welches er der Stol machen wollte, zurückgehalten. Je näher man aber der Erde kam, desto mehr drängte es ihn, der jungen Martierin die furchtbare Enthüllung zu machen.
Endlich entschloß sich Morton dazu, ihr das mitzuteilen, was sie aus allen Himmeln stürzen mußte.
Als die Stol alles erfahren hatte, wurde sie von einem tiefen Kummer ergriffen. Sie beherrschte sich aber so sehr, daß Morton über die seltsame Ruhe, mit welcher Bellna die Mitteilungen entgegennahm, erstaunt war; doch konnte er ein unbestimmtes Gefühl über das eigenartige Wesen, welches die Martierin zur Schau trug, nicht unterdrücken.
Mac Milford riet seinen Gefährten, vor Ankunft auf der Erde doch ein wenig der Ruhe zu pflegen, damit sie bei der Landung frisch seien, um, wenn das Vehikel in einer unwirtlichen Gegend niederging, die Strapazen einer längeren Wanderung leicht überstehen zu können.
Nach den Berechnungen des alten Gelehrten mußte das Fahrzeug in etwa sieben Stunden die Erde erreichen; es war also Zeit genug, noch ein kleines Schläfchen zu halten.
Eine geraume Zeit herrschte tiefe Stille im Vehikel. Palgrave, Jenkinson und zuletzt auch Morton hatten dem Rate des Professors Folge geleistet und gaben sich einem letzten Schlummer im Weltall hin.
Während der langen Stille fielen schließlich auch Mac Milford die Augen zu, und ein wohltuender Schlaf umfing ihn.
Bellna allein blieb wach. Starren Blickes schaute sie vor sich hin. Sie grübelte wie eine Schwermütige und schien schließlich einen Entschluß gefaßt zu haben.
Es war ein furchtbarer Entschluß! — — —
Zwei Stunden lagen die Schläfer bereits im tiefen Schlummer, als die Stol sich von ihrem Platze erhob und leise an die Glasverschalung schlich. Mit verglasten Augen schaute sie die gewaltige Erdkugel, auf welche das Vehikel mit rasender Schnelligkeit zueilte, an. Dann wendete sie sich plötzlich um und ging leisen Schrittes zu der Strickleiter, welche zur Decke empor führte. Sie stieg auf dieser empor und betrachtete den Verschluß der Luke. Was mochte sie im Sinne haben? —
Noch einen Augenblick zögerte sie, dann aber beseitigte sie geräuschlos die Riegel, welche die Luke verschlossen hielten. Behutsam, um die Schläfer nicht zu wecken, hob sie den Deckel empor, und nun geschah etwas Furchtbares. — Bellna stürzte sich durch die Öffnung hinaus ins Weltall.
Hinter ihr schlug die schwere Klappe der Luke mit einem knallenden Schlage zu. Der Lärm war so groß, daß die schlafenden Insassen des Vehikels erschreckt emporfuhren und glaubten, es hätte sich ein Zusammenstoß ereignet.
»Was ist passiert?« rief Jenkinson und war mit einem Satze von seiner Lagerstätte aufgesprungen.
Alle sahen sich verwundert um. Das Fahrzeug hielt ruhig seinen Kurs ein, und draußen verriet nichts, daß man mit irgend einem Himmelskörper in Kollision geraten war.
»Allmächtiger!« schrie Morton entsetzt auf. »Wo ist Bellna?«
Die Männer blickten erschrocken umher und waren über das Verschwinden der Stol sprachlos. Im nächsten Augenblick stürzten sie dann alle an die Glasverschalung; ihre Blicke waren auf die nur halb verschlossene Luke gefallen, und das Rätsel hatte nun schnell seine Lösung gefunden.
»Furchtbar!« preßte Morton zwischen den Lippen hervor. »Die Arme, die Unglückselige. Was hat sie getan!«
»Sie stürzte zur Erde hinab,« ließ sich jetzt Mac Milford mit dumpfer Stimme vernehmen und zeigte mit der Hand auf einen dunklen Punkt, der zwischen dem Vehikel und dem Planeten im Raume sichtbar war.
Der Punkt war tatsächlich Bellna, wie sich das im Fernrohr erwies.
Die vier erschütterten Männer preßten ihre Stirn gegen die Glasverschalung und starrten der Abstürzenden mit Gefühlen nach, die keine Feder zu beschreiben vermag.
Die Tragödie war zu Ende. — Bellna hatte ihre Rolle ausgespielt; ihr Körper mußte auf der Erde in Tausende Stücke zerschellen. Ein furchtbares Schicksal hatte sie ereilt. Hatte sie es sich aber nicht selbst gestaltet? —
Stumm schauten die Männer dem sich in der Ferne rasch verlierenden Punkt nach, bis er ihren Augen entschwunden war.
Mac Milford verspürte bald darauf ein Schwindelgefühl, und auch seine Gefährten bemerkten, daß ihnen das Atmen plötzlich Beschwerden verursachte.
»Die Luft verdünnt sich,« brachte der Alte eben noch hervor.
»Schnell, verschließen wir die Luke,« schrie Morton und eilte auf die Strickleiter zu.
Es war die höchste Zeit, daß die Gefahr erkannt wurde, denn man schwebte noch immer im freien Weltäther, und die Luft wäre bald aus dem Innern des Vehikels entwichen, wenn der Verschluß der Luke nicht rechtzeitig stattgefunden hätte.
Mac Milford erholte sich zum Glück bald wieder.
Morton war für den Rest der Fahrt schweigsam und teilnahmslos an allem, was vorging. Der Schmerz um die Verlorene hielt ihn fortgesetzt im Bann. —
Mit einer Geschwindigkeit, wie es bisher noch nie der Fall gewesen war, sauste das Antigravitationsvehikel seinem Ziele zu. Diese Schnelligkeit, welche daraus erkennbar war, daß die Erkennbarkeit der Details auf der Erdoberfläche von Sekunde zu Sekunde gewaltig zunahm, machte schließlich den Professor bedenklich, doch verschwieg er den Umstand, damit seine Genossen nicht wieder erschrecken sollten. Im Verlaufe der nächsten Stunde, welche das Fahrzeug bis an die Grenze der Erdatmosphäre gebracht hatte, erkannte Mac Milford zu seiner Bestürzung, daß das Fluidreservoir bis auf einen geringen Rest erschöpft sein mußte, und daß dieser Rest kaum hinreichte, um die sich immer mehr steigernde Gravitationskraft der Erde genügend abzuschwächen. Das Vehikel mußte, wenn es vielleicht auch nicht geradezu zerschmetterte, doch mit einem außerordentlich heftigen Aufprall landen.
Der Alte mußte die Dinge gehen lassen, wie sie eben gingen. Mit einem geringen Rest Hoffnung, daß der Absturz vielleicht doch nicht so gefährlich werden würde, wie er ihn sich bereits in düsteren Farben ausgemalt hatte, sagte er: »Fatal, recht unangenehm, wir werden, soweit ich voraussehe, auf nordamerikanischem Boden landen.«
»In drei Teufels Namen!« rief Palgrave. »Warum gerade bei den Yankees? Die Kerle liegen mir genug im Magen, ich habe keine Lust, ihre Bekanntschaft zu erneuern.«
»Warum dirigieren Sie das Fahrzeug nicht nach dem europäischen Kontinent?« frug Jenkinson.
»Die Steuerung versagt,« erwiderte Mac Milford, die Wahrheit verschweigend.
»Ich finde, daß wir jetzt ein Fahrttempo einhalten, gegen das die Geschwindigkeit einer abgeschossenen Kanonenkugel die reinste Schneckenbewegung ist,« meinte der Invalide.
Mac Milford behielt die Entdeckung, die er gemacht hatte, auch fernerhin für sich und hoffte, daß ihm sein bisheriges Reiseglück treu bleiben würde.
Eine weitere Viertelstunde verging. Das Antigravitationsvehikel durchschnitt den irdischen Luftozean so schnell, daß die Reibung der Atmosphäre die Wandung in einen so heißen Zustand versetzte, daß befürchtet werden mußte, daß die Glasverschalung oder vielleicht gar die Wände selbst zum Schmelzen gebracht würden.
Der Alte versuchte die im Innern des Fahrzeuges sich entwickelnde Hitze durch Verdampfen flüssiger Luft wieder abzukühlen, was ihm auch zum Teil gelang.
Hundert Kilometer Wegs durch die Lufthülle der Erde waren zurückzulegen. Zum Glück verringerte der große Widerstand der Atmosphäre die Fahrgeschwindigkeit des Vehikels, so daß also nicht das Schlimmste zu befürchten war.
Schon schwebte man über einer dichten Cirruswolkendecke, welche jeden Blick auf die Erdlandschaften verhinderte. Dann tauchte das Fahrzeug pfeilschnell wie eine Möwe in das Wolkenmeer hinein.
Der unter dem 47. nördlichen Breitengrade und 265. Längengrade liegende Teil des nordamerikanischen Felsengebirges sollte der Schauplatz der Landung der berühmten britischen Marsexpedition werden.
Wildtrotzig türmten sich die vereisten Gipfel, auf denen das Vehikel mit unseren Helden zu zerschmettern drohte, empor. Umlagert von schweren Wolken, welche die gähnenden Abgründe des gewaltigen Gebirgsstockes verhüllten, waren sie die gefahrbringendste Landungsstelle, die sich unseren Weltallspilgern bieten konnte.
Zudem hatte noch der Abend seine Schatten niedergesenkt, und ein heftiger Schneesturm raste über die unwirtliche Gegend dahin.
Die Mutter Erde öffnete also unseren heimkehrenden Helden ihre Arme in einer Weise, die diese keineswegs verlockend fanden, sich in sie hineinzustürzen.
Wie ein Blitzstrahl durchschnitt das Vehikel die Luft und fiel mit einem pfeifenden Geräusch hinab in eine breite Schlucht, die zwischen zwei Bergriesen lag und deren Boden ein Sumpf bildete.
Wieder waren die Mitglieder der Expedition von ihrer Schicksalsgöttin vor einem furchtbaren Tode bewahrt worden. Der tiefe Sumpf war ein weiches Bett für das Vehikel geworden.
Mac Milford und seine drei Genossen hatten bei dem gewaltigen Niedersturz einen so heftigen Stoß erhalten, daß sie wie betäubt zu Boden fielen und sich nicht sogleich zu erheben vermochten.
Palgrave war der erste, welcher seine Besinnung wieder erlangte. »Holla! Freunde, lebt ihr noch?« rief der Invalide aus.
»Sind wir eigentlich auf der Erde oder nicht?« frug Jenkinson mit erschrockener Stimme.
In dem Fahrzeug war es stockfinster. Keiner konnte seine Hand vor Augen sehen, denn das Vehikel steckte über Metertiefe im Schlamme.
Auch Morton und Mac Milford kamen jetzt wieder zu sich, doch schmerzten den beiden Kopf und Glieder; sie hatten bei dem Absturz einige Kontusionen davongetragen.
»Finster ist's, wie in einem Maulwurfsloche,« brummte der Invalide und tappte in dem Fahrzeuge herum.
»Wenn sich nur feststellen ließ, wohin wir eigentlich geraten sind,« meinte der Professor und stöhnte ob der Schmerzen, die er empfand.
»Sind Sie verletzt?« frugen besorgt Jenkinson und Palgrave.
Zu ihrer Beruhigung teilte Mac Milford mit, daß er nur eine Verstauchung des Armes erlitten habe.
Morton gab nun ebenfalls ein Zeichen von sich, daß er noch lebe.
Die Situation, in der sich die britische Expedition befand, war eine recht eigenartige. Nachdem man sich darüber orientiert hatte, daß das Vehikel nicht auf der Erdoberfläche lag, sondern sich aller Wahrscheinlichkeit nach in den Boden eingewühlt hatte, gingen die Männer daran, sich aus ihrem unterirdischen Gefängnis zu befreien.
In der Annahme, daß das Fahrzeug nur mehrere Meter tief in den Erdboden hineingefahren sei, hatten sich die vier dahin geeinigt, daß die Wandung oberhalb ihres Standortes durchbrochen werden sollte, um so ins Freie gelangen zu können. — — —
Vier Stunden heißer Arbeit bedurfte es, um im Dunklen aufs Ungewisse hin die Wand des schräg liegenden Fahrzeuges zu durchbrechen. Als man dann endlich einen Teil der Platten loszulösen vermochte, barst plötzlich die darüber befindliche Glasverschalung, und ein Schlammstrom ergoß sich über die Männer.
Jetzt wurde es den auf so sonderbare Weise Verunglückten klar, daß sie sich in einem Sumpfe befanden.
Zum Glück floß nicht allzuviel Schlamm in das Vehikel hinein, denn sonst wären wohl die wackeren Männer ihm zum Opfer gefallen.
Mit unsäglicher Mühe gelang es schließlich Morton, sich durch die Schlammmassen hindurch zur Oberfläche des Sumpfes emporzuarbeiten. Auch den drei anderen war das Glück in dieser Beziehung hold.
Nach einer weiteren Viertelstunde war es allen gelungen, festen Fuß zu fassen und sich bei starkem Schneetreiben völlig aus dem Sumpfe herauszuarbeiten. Daß das natürlich auf Kosten der Kleidung ging, braucht die Feder wohl nicht erst zu schildern. Die vier Mitglieder der Expedition waren so über und über von Schlamm bedeckt, daß keiner den andern zu erkennen vermochte.
Trotzdem dankten alle ihrem Schöpfer, daß sie heil und unversehrt ihr Heimatsgestirn wieder erreicht hatten; das Vehikel gab man natürlich ein für allemal verloren, mußte es doch infolge seiner Schwere mit jedem Tage tiefer in den Sumpf hinabsinken.
Während der Nacht irrten die Söhne Albions in dem verschneiten Gebirge umher; erst mit Morgengrauen erreichten dieselben eine kleine Ansiedelung, wo sie bei einem Farmer gastfreundliche Aufnahme fanden. Sie erfuhren hier, daß sie sich im Staate Montana der nordamerikanischen Union befänden und von der britischen Grenze nur einige Meilen entfernt seien.
Nach Befreiung von der Schlammkruste, die jeden bis zur Unkenntlichkeit bedeckte, nahm man seit langer Zeit zum ersten Male wieder ein irdisches Mahl ein. Gepfefferter Hirschbraten mit Maniokwurzeln; wie prächtig mundete diese Speise. Keiner trug das Verlangen, dieses irdische Mahl mit einem martischen zu vertauschen. Alle waren seelensfroh, wieder vor heimischen Fleischtöpfen sitzen zu können; besonders aber Jenkinson.
Neugestärkt verließen die Weltallsforscher die Ansiedelung, ohne verraten zu haben, woher sie gekommen waren.
Nach einer ziemlich beschwerlichen Wanderung von mehr als zehn Stunden erreichte die Expedition die kanadische Pacificbahn, die den Großen Ozean mit dem Atlantischen verbindet und von NewWestminster in BritishColumbia über Winnipeg und Montreal in Kanada nach Boston verläuft. Und schon der nächste Expreßtrain führte die Universumfahrer dem Hafen am Atlantischen Ozean zu.
In Boston wohlbehalten angekommen, hätte Mac Milford gern seine Regierung von der Rückkehr der Expedition telegraphisch unterrichtet, doch wagte er dies nicht zu tun, weil er befürchtete, daß die Amerikaner das Kabeltelegramm nicht nur kassiert, sondern auch ihm und seinen Gefährten möglicherweise den Rückweg zur Heimat verlegt hätten.
So war es denn nicht zu verwundern, wenn die britische Expedition mit einem nach Southampton fahrenden amerikanischen Dampfer eines Tages völlig unerwartet in ihrem Vaterlande wieder eintraf. — Zwar arm an Mitteln, aber reich an Erfahrungen und neuen, hohen Goldeswert besitzenden Ideen.
Alle englischen Tageszeitungen brachten am 25. Juni 18-- ellenlange Berichte über die glückliche Rückkehr der Marsexpedition; der Daily Telegraph, die Morning Post, der Standard, der Herald von Glasgow, der Scotsman von Edinburgh, der Guardian von Manchester, und noch zahlreiche andere Blätter des britischen Inselreiches. Allen voran jedoch stand die Times. Hegte doch dieses Weltblatt ein ganz besonderes Interesse für die Sache, weil einer ihrer gewiegtesten Korrespondenten an der Expedition teilgenommen hatte. Die Times erschien an dem genannten Tage in einer Separatausgabe, deren Umfang nicht weniger als zweiunddreißig Spalten betrug. In fast überschwenglichen Worten wurde darin die Ankunft der wagemutigen Weltallreisenden besprochen, über ihre Erlebnisse in einer Weise berichtet, daß jedem Leser eine Gänsehaut überlaufen mußte. Fast zehn Spalten allein nahmen die bereits gezogenen Perspektiven einer ins Ungeheuerlichste gehenden Weltallspolitik ein. Die Redakteure der Separatausgabe mußten sich bei der Herstellung derselben tatsächlich in einem wahren Taumel befunden haben, die emphatische Sprache, der bombastische Stil und die Entrollung kühnster Zukunftbilder legten dafür ein sehr beredtes Zeugnis ab.
Auf der Titelseite des Weltblattes war in fetter Umrahmung folgende, eine völlige Weltumkrempelung in Aussicht stellende Depesche aus dem Seehafen Southampton in Riesenlettern abgedruckt.
Southampton, 24. Juni. Mit dem Dampfer Gateshead traf um die elfte Abendstunde die Marsexpedition von Boston kommend hier ein. Professor Mac Milford und seine drei Gefährten befinden sich wohlauf und reisen mit dem ihnen von der Regierung zur Verfügung gestellten Sonderzug noch im Laufe der Nacht nach London ab. Die Mission der Expedition ist geglückt. Die Söhne Albions haben den Sieg über die Untertanen Unkle Sams glänzend errungen. Acht Millionen Meilen von der Erde entfernt, weht die britische Flagge. Das Marsreich ist erobert. Die Helden der Expedition werden von Ihrer Majestät der Königin in besonderer Audienz empfangen werden. Wie verlautet, soll Mac Milford zum Vizekönig der martischen Kolonie ernannt werden.
Das Marsreich erobert. — Diese echte und rechte Zeitungsente mußte alle Welt in Aufregung versetzen und dem britischen Reich zu einem Prestige verhelfen, das die Söhne Albions noch hochmütiger und dünkelhafter machte, als sie schon waren.
Nach der Ankunft der Expedition, deren Mitglieder von einer Abordnung, bestehend aus Vertretern der Regierung und der Stadtbehörde, in früher Morgenstunde feierlich empfangen wurden, herrschte ein unermeßlicher Jubel in ganz London. Aus allen Stadtteilen waren zahllose Neugierige zur Viktoria Station, wo die kühnen Reisenden mit dem Separatzuge eintrafen, geeilt. Die ganze City überflutete ein Menschenstrom. Keiner dachte an die Arbeit; alle wollten Mac Milford und seine Gefährten sehen.
Die Expedition hatte sich nach der Audienz bei der Königin, wo ihr ein überaus gnädiger Empfang zuteil geworden war, unmittelbar ins MansionHouse zum LordMayor begeben.
Hier fand sofort eine Sitzung statt, der außer den Expeditionsmitgliedern und den Vertretern der Königin auch der gesamte Stadtrat beiwohnte.
Unter Vorlegung des von der Expedition während der Dauer der Marsreise geführten Journales, stattete Mac Milford über den Verlauf der Mission eingehenden Bericht ab.
Als die Sprache darauf kam, daß auch die Amerikaner einen Versuch gemacht hätten, den Mars mit einem Vehikel zu erreichen, da wurde die atemlose Ruhe, welche bisher geherrscht hatte, durch unwillige Rufe gestört. Trotzdem man durch die amerikanische Presse längst von der Aussendung einer Expedition zu dem Nachbarplaneten erfahren hatte, war nie geglaubt worden, daß das amerikanische Vehikel, welches Edison dem englischen nachkonstruiert hatte, tatsächlich den Mars erreichen könne.
Als jedoch Mac Milford dann berichtete, daß die Yankees in einem Flammenmeere vernichtet worden seien, da brach von allen Seiten ein Jubel los. Doch dieser wurde bald wieder gedämpft, als der Chef der Expedition verlauten ließ, daß an einen Verkehr mit der Nachbarwelt vorläufig nicht zu denken sei, und daß man sich den Gedanken einer Eroberung des Planeten überhaupt völlig aus dem Sinn schlagen müsse.
Die weiteren Ausführungen Mac Milfords betrafen in der Hauptsache die wissenschaftlichen und technischen Fortschritte der Marsmenschen. Der Professor ließ durchblicken, daß, trotzdem der Hauptzweck, die Okkupation einer neuen Welt, vollständig fehlgeschlagen sei, die Fahrt zum Mars immerhin noch von unendlich großem Gewinn bliebe. Er deutete darauf hin, daß er und seine Gefährten von einer Menge Erfindungen und Entdeckungen Kenntnis erhalten hätten, und daß die Absicht bei ihnen bestände, diese zum Gemeinwohl der irdischen Menschheit, insbesondere aber dem britischen Volke bekannt zu geben.
Das war Wasser auf die Mühle verschiedener Herren, die sich denn auch sofort erboten, mit Kapitalien einspringen zu wollen.
Wer konnte es ihnen verübeln? Lockte hier nicht ein unermeßlicher Gewinn? — —
Als Mac Milford seine Ausführungen beendet hatte, wurde er und seine Gefährten sofort von verschiedenen Seiten bestürmt, schon jetzt einiges über hochwichtige technische Erfindungen verlauten zu lassen.
Der greise Professor vertröstete die Neugierigen; er versprach, in den nächsten Tagen alle die Wunder der martischen Technik in einer Sitzung der Royal Society ausführlich zu schildern.
Wohl oder übel mußte man sich bis dahin gedulden. Nur Smith, der Direktor, erfuhr so einiges. Er hörte von den seltsamen optischen Instrumenten, von den Fokusioren mit ihren alles vernichtenden wandernden Brennpunkten, von den eine immense Aufspeicherungskraft besitzenden Akkumulatoren und von noch verschiedenen anderen Dingen mehr.
Als Smith seinem gefeierten Kollegen von dem Diebstahl des MultiMikroapparates berichtete, war Mac Milford weniger über den Raub des Instrumentes selbst, als über die Kühnheit, mit welcher derselbe begangen worden war, erstaunt. Daß sich der Apparat nur in den Händen der Yankees befinden konnte, das unterlag für den Professor keinem Zweifel. Waren doch einige Aufzeichnungen über das Instrument mit denen über sein Antigravitationsvehikel bei Gelegenheit einer Büchersendung an einen Kollegen, den Professor Raleigh an der YaleUniversität, versehentlich in dessen Hände geraten und von diesem der amerikanischen Regierung zugesandt worden. Diese hatte dann nichts Eiligeres zu tun, als die hochwichtigen Erfindungen für ihre Zwecke auszubeuten und den Nachbarn jenseits des großen Wassers den Rang abzulaufen. Der berühmte Elektriker Edison hatte schon damals, als Mac Milford seine erste Universumreise zum Mond antrat, die Aufzeichnungen des schottischen Gelehrten von seiner Regierung mit einem Briefe folgenden Inhaltes empfangen:
Sir! Wir gestatten uns, Ihnen in der Einlage ein Manuskript zu unterbreiten, welches uns durch den Professor Raleigh der Yale-Universität übermittelt wurde. Dasselbe enthält Aufzeichnungen von neuen Erfindungen und Entdeckungen eines schottischen Gelehrten, welche von enormer Tragweite für die gesamte Menschheit sind. Unter anderem finden Sie auch die näheren Details und die Beschreibung eines Vehikels, mit welchem man die Schwerkraft der Erde aufzuheben und zu fremden Gestirnen zu fahren vermag. Wir sind durch Zufall in den Besitz dieses unbezahlbaren, geheimen Manuskriptes gelangt; es wurde unter einer Anzahl Bücher, welche Professor Raleigh von einem Kollegen aus Schottland zurück erhielt, aufgefunden. In einem geheimen Staatskongreß haben wir nun beschlossen, den Engländern in ihren Plänen schnellstens zuvorzu kommen, und beauftragen Sie daher, an Hand der beiliegenden Aufzeichnungen (Pagina 20 bis 55) ein ähnliches Fahrzeug wie daselbst beschrieben, zu konstruieren. Vorläufig nur in einer Größe, daß es zwei Menschen bequem aufzunehmen vermag. Wir hoffen von Ihrem großen Scharfsinn und berühmten Erfindungsgeist, daß Ihnen die Aufgabe leicht und schnell gelingen wird. Wir ersuchen Sie nun außerdem noch, das Manuskript streng geheim zu halten, und nach keiner Seite hin etwas über den Bau des Fahrzeuges verlauten zu lassen. Liefern Sie das Gewünschte zu unserer Zufriedenheit und zwar innerhalb sechs Wochen, so werden Sie auf den Dank der ganzen amerikanischen Union rechnen können. Als Prämie hat der Kongreß in geheimer Sitzung eine Million Dollars für Sie ausgeworfen. Geben Sie sofort nach Empfang dieses Briefes telegraphisch Nachricht, ob Sie in der Lage und gewillt sind, dem Wunsche der Regierung zu entsprechen.
Washington, D.C., Foreign Office
An Mr. Edison in ...
J.A. Clark
Wie Mac Milford später erfuhr, waren die ihm unterschlagenen Aufzeichnungen der amerikanischen Marsexpedition auf die Reise mitgegeben worden, um, falls das Vehikel auf dem Mars mit irgend welchen Schäden landete, dieses an Hand der Konstruktionszeichnungen reparieren zu können. Mit der Vernichtung des amerikanischen Flugapparates durch die Martier waren auch die Aufzeichnungen Mac Milfords verloren gegangen. Da die Yankees unvorsichtigerweise keine Abschrift von den wichtigen Papieren gemacht hatten, und Edison eine Nachkonstruktion ohne diese nicht herzustellen vermochte, so war der Regierung der Vereinigten Staaten fernerhin die Möglichkeit genommen, eine zweite Expedition ins Weltall auszurüsten. — — — —
Eine ganze Woche hindurch waren die Mitglieder der gefeierten Expedition Gäste der Stadt London. Sie wurden mit Ehren und Ordensauszeichnungen überhäuft und in den Pairsstand erhoben. Auch Mrs. Morton, die überglückliche Gattin des jungen Ingenieurs, wurde von der Königin Viktoria in huldvoller Weise ausgezeichnet.
Wieder waren zahlreiche Menschen aus aller Herren Ländern in dem britischen Babel versammelt; hatte doch der Telegraph die Nachricht von der Rückkehr der Marsexpedition in ganz Europa verbreitet, und auch die Presse tat ihr übriges, um die halbe Welt rebellisch zu machen.
Mitten in dem Jubel und Trubel, der während der Anwesenheit unserer Helden in London herrschte, erfolgte jäh ein schwerer Schlag. Der geniale Gelehrte und Erfinder Mac Milford wurde unerwartet schnell vom Tode ereilt. Eine Lungenerweiterung setzte seinem Leben ein Ziel. Die Ursache der Krankheit glaubten die Ärzte darin zu sehen, daß das Atmungsorgan des greisen Gelehrten sich der schweren irdischen Atmosphäre während seines Aufenthaltes auf dem Mars gänzlich entwöhnt hatte. Natürlich bangte jetzt alle Welt darum, daß auch die übrigen Mitglieder der Expedition dem gleichen Schicksal verfallen könnten. Doch es war zum Glück nicht so. Morton, Palgrave und Jenkinson, welche auch von einer kleinen Lungenaffektion befallen wurden, überstanden diese bald.
Kein König konnte mit mehr Gepränge und größerer Teilnahme zu Grabe getragen werden, als der geniale Mac Milford. Albion hatte seinen größten Sohn verloren und mit ihm auch alle Hoffnungen auf ein zukünftiges Kolonialreich im Weltall. — Der Katafalk des Verstorbenen wurde unter den feierlichsten Zeremonien in der WestminsterAbtei beigesetzt.
Palgrave, Morton und Jenkinson hatten sich inzwischen mit Leuten in Verbindung gesetzt, welche über riesenhafte Kapitalien verfügten, um einige der wichtigsten martischen Erfindungen für irdische Zwecke verwendbar zu machen. Als man dann aber zur Praxis überging, fehlte es an den genauen Details und am geeigneten Rohmaterial. Besonders den letzteren Umstand empfand man sehr schmerzlich, er stellte die Verwendung der einen oder anderen Erfindung ganz in Frage. Die Martier hatten nämlich ein Leichtmetall für wichtige Konstruktionsteile zur Verfügung, das, die Eigenschaften des Aluminiums völlig in den Schatten stellend, auf der Erde nicht bekannt war. Morton, welcher sich über die Natur des seltsamen Metalles glücklicherweise einige Notizen gemacht hatte, tröstete seine beiden enttäuschten Verbündeten und die noch enttäuschteren Kapitalisten, daß mehrere geologische und chemische Zelebritäten nach dem aus der Erde noch unentdeckten Element unverzüglich forschen wollten.
Ebenso wie das Metall, war auch die Glassubstanz unbekannt, welche von den Martiern zur Herstellung der Ultrachromobrillen und zu den astronomischen Riesenlinsen verwendet wurden. Kurz, es blieben nur wenige, meist geringfügigere Erfindungen übrig, deren Ausführung keine Hindernisse entgegenstanden, und die immerhin einigen Gewinn brachten.
So sollten denn weder die elektrischen Kraftaufspeicherungsapparate noch die Fokusioren und andere hochwichtige martische Erfindungen ihre Triumphe auf der Mutter Erde feiern, denn den heißen Bemühungen der Geologen und Chemiker gelang es nicht, die seltsamen Stoffe ausfindig zu machen, die den Hauptbestandteil derselben bildeten.
So war schon nach kurzer Zeit der liebliche Traum von den geplanten Trusts und anderen monopolisierenden Vereinigungen seitens Palgrave und Jenkinson ausgeträumt. Die amerikanischen Krösusse sollten in England keine Nachfolger finden.
Mac Milford hatte in einem Testament alle Apparate und Instrumente seines Laboratoriums der Royal Society vermacht und sein über hunderttausend Pfund Sterling betragendes Vermögen dem Weltallkolonialklub als Fonds überwiesen.
Erwähnung möge auch noch finden, daß die von dem Professor auf dem Mars angestellten elektrischen Verkehrsversuche mit der Erde tatsächlich Wirkungen auf unsren Planeten zur Folge gehabt hatten. Die ausgesandten elektrischen Wellen zogen damals auf dem europäischen Kontinent gewaltige magnetische Störungen nach sich, die sich während der Dauer der Experimentes nicht nur in einer 80 Grad betragenden Deklination und in einer auf 110 Grad belaufenden Inklination der Magnetnadel äußerten, sondern auch Stockungen im Telegraphengebiete des ganzen Erdteiles hervorriefen. Wenn die Telegraphisten damals auch nicht über eine sich auf allen Stationen regelrecht aufzeichnende Marsdepesche stutzten, wie das Mac Milford im Sinne hatte, so waren sie doch über das plötzliche, Minuten hindurch andauernde Versagen ihrer Apparate und Leitungen, wie solches noch niemals der Fall gewesen war, maßlos erstaunt gewesen und konnten sich die Ursache nicht erklären. Mit der Rückkehr der Expedition hatte das Rätsel dann natürlich seine Lösung gefunden.
Tom, der Diener Mac Milfords, dessen Körper durch das Atomistikum in seine Atome aufgelöst worden war, wurde jetzt, nachdem man erfahren hatte, daß das Experiment mißglückt war, als ein Opfer des Vaterlandes betrachtet. Sein Andenken wurde in der Weise geehrt, daß die Royal Society an derjenigen Stelle des Sitzungssaales, wo der Unglückliche am 1. April sein irdisches Dasein beendete, eine granitene Tafel anbringen ließ, auf welcher in Goldlettern zu lesen war, daß hier ein Mensch im Dienste des Staates und der Wissenschaft sein Leben ausgehaucht hatte.
Das Atomistikum, jene denkwürdig elektrolytische Zersetzungszelle, wurde späterhin von der Royal Society dem British Museum übergeben und erhielt in der kunsthistorischen Abteilung dieses wissenschaftlichen Institutes einen Ehrenplatz. Es sollte allezeit künftige Geschlechter daran erinnern, daß der Konstrukteur des seltsamen Apparates, der geniale Schotte Mac Milford, der erste Mensch gewesen war, der sich ins Universum hinausgewagt und fremde Gestirne besucht hatte.
Der einstmals gegründete Weltallkolonialklub, dem, wie schon erwähnt, von seinem Gründer ein ansehnlicher Fonds vermacht worden war, blieb noch einige Zeit bestehen, doch geriet er mehr und mehr in Vergessenheit, seitdem die englische Regierung einsah, daß ihren Kolonisationsbestrebungen durch den Tod Mac Milfords ein für allemal ein Ziel gesetzt worden war. Genau ein Jahr nach der Gründung des ewig denkwürdigen Klubs, am 1. April 18-- , kamen die drei letzten Mitglieder desselben, Morton, Jenkinson und Palgrave, in Edinburgh wieder zusammen, um, nachdem alle übrigen Mitglieder wegen völliger Aussichtslosigkeit des Unternehmens ausgeschieden waren, die kosmische Liga, wie der Klub auch genannt wurde, feierlichst wieder aufzulösen. Der reiche Fonds, den Mac Milford gestiftet hatte, war durch zahllose Versuche, ein Antigravitationsvehikel nach den oberflächlichen Angaben Mortons neu zu konstruieren, bis auf den letzten Schilling verbraucht worden.
Der kleine Saal, in welchem sich Morton, Jenkinson und Palgrave zwecks Auflösung des Klubs zusammenfanden, lag — wollte es das Schicksal oder der Zufall — in dem Hause, wo einstmals Mac Milfords Wiege gestanden hatte.
Die drei neugebacken Pairs hatten sich nahezu ein halbes Jahr hindurch nicht gesehen, was seinen Grund darin hatte, daß Jenkinson in London, Morton in Dublin und Palgrave in Middlesborough hausten.
Nachdem sich die Männer herzlich begrüßt und ihre Erlebnisse während der vergangenen Zeit ausgetauscht hatten, ging man daran, in durchaus formeller Weise den Weltallkolonialklub aufzulösen.
Bei dieser Handlung fungierte der Invalide als Vorsitzender, Morton als Beisitzer und Jenkinson als Schriftführer.
»Meine Herren!« begann Palgrave, der sich noch immer der Würde, die er als zweiter Vorsitzender zur Schau tragen mußte, bewußt war, mit gemessener Stimme, indem er sich dabei von seinem Platze erhob. »Da unser ehemals mit so großen Hoffnungen gegründeter Klub von 155 463 auf drei Mitglieder zusammengeschmolzen, unser Fonds aufgezehrt ist, und auch wir drei nunmehr von der Aussichtslosigkeit einer Weltallskolonisation überzeugt sind, ist es meine ernste Pflicht als Vizepräsident, den Satzungen der Liga gemäß, diese als Korporation aufzulösen. — Ich frage die Anwesenden, ob Sie hiergegen etwas einzuwenden haben.«
»Nein!« rief Jenkinson und bemühte sich, so lächerlich ihm auch die feierliche Form erschien, mit welcher der Invalide seines Amtes waltete, seinem Gesicht einen ernsthaften Anstrich zu geben.
»Nein!« klang es sodann auch aus dem Munde des dritten Ligamitgliedes.
»So erkläre ich hiermit den Weltallkolonialklub für aufgelöst. — Es lebe Ihre Majestät die Königin Viktoria!« Nach diesen besonders feierlich ausgerufenen Worten verließ der ehemalige Seapoyhauptmann und Vizepräsident eines Klubs, dem vor einem Jahre noch halb England angehört hatte, seinen Platz.
Die Riesenliga wurde somit an ihrem ersten Geburtstage zu Grabe getragen. Die Times schwieg die stattgefundene Auflösung ganz tot, desgleichen taten auch die meisten anderen Tageszeitungen; man wollte sich nicht vor dem Auslande, besonders aber vor den Vereinigten Staaten eine Blöße geben. Es lag in der Absicht, alle Nationen über das Bestehen des Weltallkolonialklubs, dessen Gründung ein Jahr früher so triumphierend in die Welt hinausposaunt worden war, im unklaren zu lassen. — Die Absicht gelang auch, denn kein Mensch hat seitdem wieder etwas von der famosen Liga vernommen.
Roy Glashan's Library
Non sibi sed omnibus
Go to Home Page
This work is out of copyright in countries with a copyright
period of 70 years or less, after the year of the author's death.
If it is under copyright in your country of residence,
do not download or redistribute this file.
Original content added by RGL (e.g., introductions, notes,
RGL covers) is proprietary and protected by copyright.