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ROBERT KAFT

DAS GLÜCK VON ROBIN HOOD

Cover Image

RGL e-Book Cover
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ROMAN

MIT ILLUSTRATIONEN VON ADOLF WALD


Ex Libris

Diese E-Buchausgabe: Roy Glashan's Library, 2025
Fassung vom: 2025-10-11

Erstellt von Matthias Kaether und Roy Glashan

Textquelle:
Neuausgabe der erstmals 1910 bzw. 1918 erschienenen
Romane Das Glück von Robin Hood und Unterseeteufel
in neuer deutscher Rechtschreibung. 1. Auflage 2025

Herausbeber:
Verlag Dieter von Reeken
(Mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers)

>
Illustration

Verlag Dieter von Reeken, 2025



Der Roman »Das Glück von Robin Hood« ist kein klassisches Abenteuer im Sherwood Forest, wie der Titel vielleicht vermuten lässt. Stattdessen handelt es sich um eine romantisch-abenteuerliche Erzählung, die stark autobiografische Züge trägt und in der Gegenwart des Autors spielt.

Die Schwestern Klara und Toni Luck aus Berlin arbeiten als Sportlehrerinnen in London. Für einen Erholungsurlaub ziehen sie sich ins sogenannte »Luck-Cottage« in Loughton zurück, wo sie zwei ungewöhnlichen Männern begegnen:

August Wichtelmann, ein kleinwüchsiger, weitgereister Schriftsteller, der unter Pseudonym schreibt.

Thomas Morrus, ein scheinbar gewöhnlicher Versicherungsinspektor.

Beide Schwestern verlieben sich: Toni heiratet Wichtelmann, Klara Morru...



INHALTSVERZEICHNIS

Editorische Hinweise

Die vorliegende Neuausgabe enthält den ungekürzten Text der von Robert Kraft (1869-1916) verfassten Romans Das Glück von Robin Hood unter Verwendung folgender Buchausgabe:


Das Glück von Robin Hood. Roman von Robert Kraft. Mit vielen Textbildern von Adolf Wald. Dresden-Niedersedlitz: H.G. Münchmeyer G.m.b.H. o.J. [1924], 348 S. — Der Roman war erstmals 1910 im gleichen Verlag in 12 Lieferungen, zusammen mit dem Hauptroman Der Graf von Saint-Germain, erschienenen.


Offensichtliche Rechtschreibfehler und überholte Schreibweisen sind stillschweigend berichtigt worden.

Der Roman Das Glück von Robin Hood nimmt in Robert Krafts Werk eine Schlüsselstellung ein, denn es enthält viele autobiografische Bezüge hinsichtlich der Produktionsbedingungen im Zusammenhang mit der Kolportageliteratur und mehr oder weniger versteckte Hinweise auf den aus verschiedenen Gründen erfolgreicheren Rivalen Karl May.

Die Wiedergabequalität der Illustrationen von Adolf Wald war abhängig von der jeweiligen Druckqualität der Vorlagen. Die Illustrationen aus der Erstausgabe 1910 und die durch modernere Kleidung der Frauen erkennbaren neuen Illustrationen (1924) werden zum Vergleich untereinander abgedruckt.

Zu Robert Krafts Leben und Werk insgesamt verweise ich auf die umfassende reich farbig illustrierte Bibliografie von Thomas Braatz(1), die ebenfalls farbig illustrierte Biografie von Walter Henle und Peter Richter(2), ein umfangreiches Buch von Arnulf Meifert(3) und auf die Tagungsbände(4-7) zu den Robert-Kraft-Symposien.

(1) Thomas Braatz: Robert Kraft — Farbig illustrierte Bibliographie zum 100. Todestag. Leipzig, Wien: Edition Braatz & Mayrhofer, 3., erweiterte Aufl. 2016. — 1032 S. mit über 1000 farbigen Abb.

(2) Walter Henle, Peter Richter: Unter den Augen der Sphinx. Leben und Werk Robert Krafts zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Leipzig, Wien: Edition Braatz & Mayrhofer 2005. — Das Buch ist vergriffen; eine Neuausgabe ist für 2026 geplant.

(3) Arnulf Meifert: Robert Kraft. Avanturier und Selbstsucher. Eine Annäherung. Leipzig, Wien: Edition Braatz & Mayrhofer 2018.

(4) Robert Kraft 1869—1916. 1. Robert-Kraft-Symposium. 15.—16.10.2016. Leipzig: Thomas Braatz im Rahmen des Freundeskreises Science Fiction Leipzig, Leipzig 2016.

(5) Wenn ich König wäre! Robert Kraft zum 150. Geburtstag. 3. Robert-Kraft-Symposium. 12.—13.10.2018. A.a.O. 2019.

(6) 4. Robert-Kraft-Symposium. 16.04.2022. Serienheld Nobody. 100 Jahre Kraft-Film. A.a.O. 2022.

(7) 5. Robert-Kraft-Symposium. 15.10.2025. A. a. O. 2025.

Für freundliche Unterstützung durch den Originaltext und Bilder bedanke ich mich bei Thomas Braatz, für die Korrektur bei Ellen Radszat.

--*--


Illustration

Das Glück von Robin Hood. Roman von Robert Kraft.
Dresden-Niedersedlitz: H.G. Münchmeyer G.m.b.H. o.J. [1924],
Deckelbild und Schutzumschlag, gezeichnet von Georg Hertting


1. Kapitel

Obgleich ein herrlicher Sonntagmorgen, waren es doch nicht allzu viele Ausflügler, welche auf der Plattform Nummer 19 der riesigen Liverpool-Street-Station zu London auf das Vorfahren des Zuges warteten. Wir befinden uns eben in England, wo man des Sonntags zu Hause bleibt, und alle diese Reisenden besuchten höchstens ihre in der Umgegend lebenden Verwandten. Auch sonst bietet die Station am Sonntage ein ganz anderes Bild als sonst, schon dadurch, dass die Herren keine Zeitungen und die Damen keine Penny-Romane vor den Augen haben, auf Schritt und Tritt darin lesend, und man sieht ihnen an, wie ihnen etwas fehlt, eine Unterhaltung auf der Eisenbahn gibt es nicht, sie sind es nicht gewöhnt, sie müssen lesen, und da irrt das Auge suchend umher, bis es einen Ruhepunkt gefunden hat, an dem es haften bleiben kann.

Den gewährten zwei junge Damen, und wenn der Engländer auch sonst über Neugier erhaben ist — diese beiden Mädchen hätten ihn die interessanteste Lektüre vergessen lassen.

»Das sind Zwillinge!«

Das brauchte nicht erst zur Erläuterung geflüstert zu werden. Wenn das keine Zwillinge waren — dann kommen Zwillingsgeburten überhaupt nicht mehr vor. Eine wie die andere! Allerdings trugen sie ganz die gleichen Kostüme, das machte viel aus; aber das wäre nicht nötig gewesen, die beiden Schwestern hätten sich auch in verschiedenen Kleidern wie ein Ei dem anderen geglichen. Nur wenn sie beim Auf- und Abwandern in die Sonne kamen, dann bemerkte man, dass das Haar der einen eine Schattierung dunkler war als das der anderen.

Aber nun war eben auch die Gleichmäßigkeit der Kleider vorhanden, von der Stiefelspitze an bis zur Hutfeder. Doch das waren nur Äußerlichkeiten. Die Sache begann für den Beobachter mysteriös zu werden. Diese beiden Mädchen schienen nur ein Herz und eine Seele zu haben. Beide hatten sie den eleganten Sonnenschirm auf dem Rücken zwischen die Arme geklemmt, mit ganz genau demselben Schritt ganz genau dieselben Bewegungen, und wenn sie sich umdrehten, so war das ein militärisches Kehrt zweier wohlgeschulter Soldaten auf Kommando.

Und dieses Übereinstimmen der Bewegungen des Zwillingspaares war immer noch nicht alles, was sofort auffiel. Die beiden mussten in der menschlichen Gesellschaft eine ganz besondere Rolle spielen. Welchem Stande sie angehörten, das war an einem Sonntage aus der Toilette gar nicht zu beurteilen. Es waren sehr hübsche Mädchen — durchaus keine blendenden Schönheiten, sondern hübsche, frische Mädchen. Aber prachtvolle Figuren, voll und schlank und schmiegsam und biegsam — und bei solch einem Hin- und Hergehen, den Sonnenschirm auf dem Rücken, ist doch nichts besonders Auffallendes, nichts Bewundernswertes, es wurde auch geschildert, als ob es ganz taktmäßig geschehe — und dennoch, alles eine Grazie und Eleganz und Gewandtheit und Sicherheit, nur wie sie beim Gehen den Fuß vorsetzten, dass auf dem ganzen Perron wohl kein einziger war, der nicht staunend fragte: Wer in aller Welt mag denn das nur sein?!

Jetzt blieben sie einmal stehen, in der Nähe von drei Herren, gleichzeitig nahmen sie die Sonnenschirme in die Hand, doch auch keine Bewegung von besonderer Bedeutung, aber eben alles von einer Grazie, die sich bis in die Fingerspitzen erstreckte — und bei dieser harmlosen Bewegung entschlüpfte den Lippen der einen ein leiser Schmerzensruf, und etwas schmerzhaft verzog sie dabei auch das hübsche Gesicht.

»Ist es aufgegangen, Toni?«, fragte die andere, die mit dem etwas helleren Haare, besorgt.

Die Gefragte streifte vorsichtig den linken Glacéhandschuh ab und zeigte der Schwester die geöffnete Hand. Die Herren konnten gleichfalls sehen, was gezeigt werden sollte, es war eine kräftige, aber wohlgeformte Hand, sicherlich keine schwere Arbeit verrichtend, und dennoch — der Handteller zeigte nicht nur eine frischblutende Wunde, sondern er war über und über mit Horn bedeckt.

»Komm, dort ist Wasser.«

Die beiden gingen nach dem Wasserbehälter.

Nun war das Rätsel gelöst.

»Artistinnen! Wahrscheinlich Reckturnerinnen!«

»Freilich, die beiden Trapezkünstlerinnen aus Olympia sind es.«

Der dritte Gentleman, welcher mit seinem hochgebürsteten Schnurrbart einen recht deutschen Eindruck machte, zündete sich gerade eine Zigarre an, und er beeilte sich, damit fertig zu werden, um den Irrtum verbessern zu können.

»I wo — i wo! Das sind die Geschwister Klara und Toni Luck, die deutschen Turnlehrerinnen im Westminster-Ladies-College.«

Aaaaahh!! Nun erst hatte man die Wahrheit richtig erkannt!

Es fanden sich noch mehr Herren zusammen, und nun ging es los:

»Die beiden Lucks aus dem Westminster-Ladies-College!! Meine Töchter gehen auch hin, die sprechen von gar nichts anderem mehr.«

»Meine Frau fährt jeden Tag hin, eine Stunde mit der Eisenbahn.«

»Sogar meine beiden Dienstmädchen gehen jede Woche hin.«

»Neulich kommt meine älteste Tochter ganz glücklich nach Hause: ›Papa, Papa, ich kann schon die Kniewelle machen!!‹«

»Wenn's weiter nichts ist! Meine Frau macht schon die freie Bauchwelle.«

»Aber meine Schwiegermama macht die Grätsche über'n Bock.«

»Kann sie schon auf den Händen laufen? Meine Köchin kann's.«

Die Herren übertrieben ja etwas, aber im Grunde genommen war es doch so. In England gibt es Sport und Leibesübungen aller Art, doch das Gerätturnen, wie es in Deutschland betrieben wird, wollte sich nie recht einbürgern. Da aber war der Direktor eines Londoner DamenInstitutes, in welchem von ›Professoren‹ alles mögliche gelehrt wird, Boxen sowohl wie Kochen und Sprachen und die höchste Philosophie, vor einem Jahre in Berlin gewesen, hatte ein DamenSchauturnen gesehen, die Idee war ihm gekommen, er engagierte zwei Turnlehrerinnen, zufällig Schwestern, genügend Reklame gemacht — und nun ging die Sache glänzend. Jung und Alt, vornehm und gering — das ganze weibliche London ging zu den Schwestern Luck, machte Freiübungen, tanzte Reigen, kletterte Taue und Stangen hinauf, schwang sich an Barren und Reck und voltigierte über Bock und Pferd.

»Wie viel bekommen denn die?«, war in England die nächste Frage.

»Vier Pfund die Woche, beide zusammen, sonst gar nichts weiter, müssen sich selbst unterhalten.«

»O, o!«, erklang es erstaunt und zweifelnd. »Das ist ja gar nicht möglich! Nicht mehr als vierzig Schilling? Eine einfache Reckturnerin bekommt doch schon fünf Pfund in der Woche und braucht am Abend nur zehn Minuten aufzutreten.«

»Ja, meine Herren«, erklärte der Deutsche, »hierbei ist aber ein großer Unterschied. Das sind keine Zirkuskünstlerinnen, sondern das sind deutsche Lehrerinnen, nicht nur für den Turnunterricht ausgebildet — das haben sie nur so nebenbei betrieben — sondern das sind wirkliche Lehrerinnen, und andere als hier, die müssen bei uns ein staatliches Examen bestehen. Sie meinen, gerade deshalb sollten sie höher bezahlt werden? Nein, das ist nicht der Fall. Nun hatten die Mädchen, als sie engagiert wurden, doch auch gar keine Erfahrung von so etwas. Zusammen jährlich 4000 Mark! Das war ja horrend für sie! So werden bei uns Lehrerinnen freilich nicht bezahlt. Sie mussten einen fünfjährigen Kontrakt machen, damit sie nicht bald die Sache auf eigene Faust betrieben. Aber diese Mädchen, so sehr man sie auch mit Arbeit überbürden mag, sind schließlich ganz zufrieden. Die sparen sich die Hälfte, dann haben sie nach den fünf Jahren 10 000 Mark, damit ist ihre Zukunft gesichert, und dann sind sie immer noch jung, können immer noch heiraten.« —

Der Zug fuhr vor, und der deutsche Herr wusste es so einzurichten, dass er in dasselbe Wagenabteil und den Zwillingen gegenüber zu sitzen kam. Auch so in der dichten Nähe wurde die völlige Ähnlichkeit der beiden nicht schwächer. Wer die dunklere Toni und die hellere Klara war, das konnte man hier im Schatten auch schon nicht mehr unterscheiden. Sie flüsterten zusammen.

»Bitte, mein Herr,« wandte sich die eine an den Gegenübersitzenden, sich der englischen Sprache bedienend, »das ist doch der Zug nach Loughton?«

»Ja, meine Damen, er geht gar nicht weiter. Loughton ist die Endstation für diese Strecke.«

»Müssen wir in Stratford umsteigen?«, fragte die andere.

»Nein, dieser Zug geht direkt durch. Es ist ja auch nur eine halbe Stunde. — Werden die Damen ihre Ferien in Robin Hoods Walde verbringen? Verzeihung — meine beiden Töchter sind unglücklich, dass der Turnsaal des Westminster-Institutes für eine Woche geschlossen ist. Schmidt ist mein Name«, stellte er sich auf Deutsch vor.

»Ah, Sie sind ein Deutscher!«, riefen beide gleichzeitig in freudigem Tone.

»Ja, ich bin ein Landsmann von Ihnen. Aber, meine Damen, ich bin nun schon vierzehn Jahre hier, und ich spreche doch auch recht gut Englisch — ich habe zwar erst einige Worte von Ihnen vernommen — ich möchte Sie fast für geborene Engländerinnen halten.«

»Englisch ist auch unsere Muttersprache.«

»Unsere Mutter war eine geborene Engländerin.«

»Wir haben von klein auf Englisch sprechen gelernt.«

»Deshalb sprechen wir ein so reines Englisch.«

Die Zwillinge sprachen immer abwechselnd, ergänzten sich mitten im Satze.

Der Zug hatte sich in Bewegung gesetzt, zuerst durchsauste er einen Tunnel, der Herr erklärte, dass sie sich jetzt unter dem Fundamente der Häuser befänden, nannte die Stationen, auf denen der Zug einen Augenblick hielt, dann kam er ins Freie, aber noch immer nichts weiter als Häuser, noch immer drunter und drüber hinweg, dann kam Stratford mit den kolossalen Reparaturwerkstätten — und plötzlich wogende Felder und grünende Triften, gebadet im Sonnenschein des Junitages.

»O Toni! — Klara! — Sieh nur, wie schön, wie schön! — Und dort ein richtiger wilder Wald! — Da dürfen wir uns ganze acht Tage lang hineinlegen!!«

Der ›wilde Wald‹ bestand aus einem Dutzend Bäumen, die auf der Weide ihr Dasein fristeten. Und dieses Entzücken!

Jetzt zeigte sich der Charakterunterschied zwischen den Zwillingen. Toni, die dunklere, war die lebhaftere. Sie breitete gleich beide Arme aus und lachte im ganzen Gesicht; der anderen spiegelte sich das Glück in den blauen Augen wieder.

Der deutsche Herr war ein schon älterer Mann, und hier sah er etwas, was er schon lange nicht mehr gesehen hatte: zwei Töchter seiner Heimat, so frisch, so natürlich — und warm stieg es ihm zum Herzen empor.

»Sie kommen wohl selten aus London heraus?«

»Nie! Nie!! Denken Sie, wir sind schon ein ganzes Jahr in London, und sind noch mit keinem Schritt aus den Häusern herausgekommen. Sonntags, ja, da hätten wir Zeit dazu. Aber da sind wir froh, einmal zu Hause bleiben zu können. Von morgens zehn bis nachts um zehn, ohne eine Minute Pause, dann fallen wir um, und am Sonnabendnachmittag, wenn hier alles Geschäftspersonal frei hat, dann fängt für uns erst recht das Springen an — bis Mitternacht.«

Aber es lag keine Bitterkeit in den Worten, sie klagten nicht. Sie erzählten es mit jubelndem Munde — hatten sie doch jetzt acht Tage Ferien.

»Sie wollen nach Loughton? Haben Sie dort schon eine Wohnung?«

»Jawohl. Das heißt, wir sollen sie uns erst besichtigen, und wenn sie uns gefällt, dann kommen wir morgen früh wieder. Denken Sie, was uns passiert ist! So ein merkwürdiger Zufall! Wir haben annonciert — zwei junge Damen, Lehrerinnen, suchen für kurze Zeit eine Pension im Walde von Robin Hood. Genaue Beschreibung erbitten sich Geschwister Luck, Westminster-Ladies-College. Wir haben Hunderte von Offerten bekommen. Und da ist auch eine aus Loughton dabei — jawohl, kommen Sie mal nach dem Luck's Cottage — Sie verstehen doch. Ist das nicht ein merkwürdiger Zufall?«

Ja, der Herr verstand. In England haben fast jedes Haus und jede Hütte ihren Namen, der nicht mit dem des Besitzers zusammenhängt, ›luck‹ ist auch ein englisches Wort und bedeutet ›Glück‹, Luck's Cottage heißt also GlücksHütte.

»Das ist allerdings ein merkwürdiger Zufall. Haben Sie aber auch bedacht, wenn Sie nur durch diesen Namen so angezogen werden, dass dies Cottage bloß eins der kleinen Arbeiterhäuser...«

»Ach, gehen Sie doch weg!«, wurde er lebhaft unterbrochen, aber in einer Weise, die man unmöglich übel nehmen konnte. »Wir sagten Ihnen doch: Hunderte, viele Hunderte haben wir bekommen, Einladungen! Wir sind doch bekannt. Das ist keine Renommisterei, wenn wir das sagen. Nun erfuhren es auch unsere Schülerinnen, dass wir in die Ferien wollten. Eine Lady hat uns in ihr Schloss nach Schottland eingeladen, eine Herzogin stellt uns ihren Palast in Windsor auf der Insel Wight zur Verfügung, ganz wie wir wünschen, mit Wagen, Pferden und Lakaien... I, fällt uns gar nicht im Träume ein!!«

»Einsam unter die Bäume legen wollen wir uns«, ergänzte die andere.

»Auf den Bäumen wollen wir herumklettern.«

»Und Nudeln möchte ich gern wieder einmal machen.«

»Und Klöße mit Pflaumenmus möchte ich gern mal wieder essen.«

»Und Reis mit Rindfleisch möchte ich gern wieder einmal kochen.«

»Und Erbsen mit Sauerkraut und Schweinsknochen möchte ich gern wieder mal essen.«

Hier zeigte sich abermals ein großer Charakterunterschied: Klara wollte immer nur kochen, Toni wollte immer nur essen.

Der Herr aber konnte sich nicht helfen — wie die beiden Zwillinge das so offen herausbrachten — er musste aus vollem Halse lachen.

Es kamen wieder Häuserreihen, unterbrochen von freiem Land — Leyton, Leytenstone und Woodford — und dann jauchzte es auf: »Wald! Dort ist der richtige Wald!!«

»Ist es denn nur wirklich ein ganz, ganz wilder Wald, in dem man alles machen kann, was man will? Man kann wirklich ein richtiges Feuer anzünden und Kaffee kochen?«

Der Herr, welcher selbst in diesem Walde wohnte, in Buckhurst Hill, wo er beginnt, konnte die beiden über alle diese Zweifel beruhigen.

In Walter Scotts Romane ›Ivanhoe‹ wird geschildert, wie der Räuber Robin Hood mit seinen grünen Gesellen den von seinen Widersachern überfallenen Richard Löwenherz befreit, wofür er diesen Wald, in dem er haust, als Geschenk erhält, das ist sein Asyl, da kann er treiben, was er will. Das ist eine Tatsache, hierüber existieren noch Urkunden, wenn auch nicht gerade über diese Schenkung, aber über andere Fälle, so zu Beispiel einmal, vor noch gar nicht so langer Zeit, da ein Fürst in diesem Walde ein Jagdschloss bauen wollte, womit er nicht durchgedrungen ist.

Jetzt ist Robin Hoods Wald Nationaleigentum, unantastbar für ewige Zeiten. Er erstreckt sich etwa sieben deutsche Meilen nach Norden, umfasst im ganzen sechzehn deutsche Quadratmeilen. Also ein recht ansehnlicher Wald. Er ist rings von großartigen Villen und kleinen Hütten eingefasst, es gibt darin als Inseln viele Dörfer und sogar ansehnliche Städte, die sich aber nicht mehr ausbreiten können, wenn das Gemeindeland bebaut ist. In dem Walde selbst ist nichts verkäuflich. Der Länge nach führt eine Landstraße hindurch, an dieser steht das dem Fiskus gehörende Gasthaus ›Robin Hood‹ — das ist der einzige Fahrweg und das einzige Haus. Dann werden auch noch Fußwege in Ordnung gehalten, aber man kann stundenlang durch Wald und Busch dringen, ohne auf einen solchen zu stoßen. Sonst wird absolut nichts für diesen Wald getan. Alles wächst, wie es wächst, und wie der Baum fällt, so bleibt er liegen. Keine Warnungstafel, kein Verbot. Es soll einen Förster mit Gehilfen geben — aber niemand kann sagen, wo der eigentlich wohnt. Es wird wahrscheinlich gar keinen geben. Dagegen werden wohl sehr viele Detektive darin herumstreifen, welche jedoch das Publikum ganz unbelästigt lassen.

Hierbei zeigt sich nun die Eigentümlichkeit des englischen Charakters. Im Auslande schnipselt der Engländer doch zu gern an allem herum. Bei sich zu Hause tut er das nicht. Das ist ›sein‹ Wald. Er lässt die Kinder wohl Ruten abbrechen, aber junge Bäumchen abschneiden, das gibt's nicht. Das ist nämlich wunderbar, wenn man das beobachtet. An den sogenannten Bank Holidays, Wochentage, welche freigegeben werden, wird dieser Wald stark aus London besucht. Die Familien kochen sich Tee und haben Butterbrot mitgebracht — aber da wird kein Papier weggeworfen, das wird eingesteckt, oder es wird gesammelt und verbrannt, und da gibt es keinen Schutzmann, der dies fordert, und wenn solch ein Arbeiter im Sonntagsrock ein Stück Papier liegen sieht, geht er hin und vergräbt es. Das ist eben ›sein‹ Wald. Das Stück Papier stört den Eindruck der Wildnis.

»Was ein Cottage ist, wissen wir«, sagte Klara. »Ein komfortables Haus ist es nicht. Aber noch weniger ist es eine Hütte, was dieses Wort übersetzt heißen würde. Gewöhnliche Leute können auch nicht darin wohnen, der Brief ist mit der Maschine geschrieben...«

»Nein, nein«, lachte der Herr, »so war das vorhin nicht gemeint. Ich wohne ja selbst in einem Cottage. Wie ist denn die Adresse, wenn ich fragen darf? Ich bin in Loughton recht gut bekannt.«

»Mistress Bellair, Loughton Road, Luck's Cottage.«

»Ah, Mistress Bellair! Die kenne ich sogar! Ich wusste nur nicht den Namen ihres Hauses. Das ist eine alleinstehende Witwe, eine ältere, sehr feine Dame, dort sind Sie gut aufgehoben. Jawohl, sie ist Maschinenschreiberin, sie hat Hausarbeit.«

»Und wo ist die Loughton Road?«

»Dicht am Bahnhof, Sie gehen links hinaus. Nun, das ist die Hauptstraße von Loughton, die Geschäftsstraße, sehr belebt, mit den feinsten Läden, Loughton ist eine große Stadt.«

Ach, diese enttäuschten Gesichter der armen Mädchen, die auf die Bäume klettern wollten!!

»Ich denke, eine Hütte mitten im Walde«, sagte Toni fast weinerlich. »Und die schreibt uns auch noch ganz kühn: Wenn Sie aus der Tür treten, sind Sie im Walde drin. Du, Klara da gehen wir gar nicht erst hin...«

»Halt, halt, halt!!«, rief der Herr schnell. »Gehen Sie nur erst hin! Sie haben sich von der Lage des Waldhauses ein Bild ausgemalt, und so ist es nicht, wie Sie es sich denken, solch ein idyllisches Försterhäuschen gibt es hier gar nicht. Vielleicht aber übertrifft die Lage des Luck's Cottage noch alle Ihre Erwartungen. — Meine Damen, ich muss mich schnellstens empfehlen. Vergnügte Ferien und sonnige Tage — good luck!!«

Und hinaus war er, und er hatte draußen noch die Klinke in der Hand, als sich der Zug schon wieder in Bewegung setzte.

* * *

2. Kapitel

Drei Minuten später stiegen die beiden in Loughton aus. Dem gegebenen Rate folgend benutzten sie auf dem langen Bahnhofe den linken Ausgang und befanden sich in einer breiten Geschäftsstraße, wenn auch die Läden jetzt geschlossen waren. Auf der rechten Seite schienen mehr Privatwohnungen mit Gärten zu sein. Sollte sich der Herr mit seiner Angabe nicht zu ihrem Glücke geirrt haben?

Nein, da stand es ja auch: Loughton Road.

»Bitte, kennen Sie hier das Luck's Cottage?«, wandte sich Klara an einen das Zwillingspaar bewundernden Konstabler.

»Ja, meine Damen, dort das fünfte und sechste Haus. Es ist ein Doppelcottage, die eine Hälfte ist aber unbewohnt.«

Sie dankten und gingen die wenigen Schritte auf dem Trottoir die Haustüren entlang. Das sah immer trauriger aus. Von Wald keine Spur. Geschäftsläden mit heruntergelassenen Jalousien! Sie waren aber auch schon von Buckhurst Hill bis hierher immer zwischen Häusern gefahren. Und nun sollte jemand noch behaupten, wenn man hier aus der Haustür träte, dann wäre man mitten in der Waldeinsamkeit!

Diese Cottages sind in England über einen Leisten gebaut. Nur die Preislage bedingt eine gewisse Nummergröße. Zwei sind immer zusammengeklebt, und hier stand über solch einem Paar das Wort ›Luck's Cottage‹ eingemeißelt. In der ersten wurde, wie man durch das Fenster sehen konnte, tapeziert, das war die echte Glückshütte noch nicht, und in der offenen Tür der zweiten stand ein alter, hochgewachsener Herr mit schneeweißem Haar, eine kurze Pfeife rauchend.

»Hier muss es wohl sein«, meinte Toni.

Der alte Herr nahm die Pfeife aus dem Munde.

»Miss Luck? Sie wünschen Mistress Bellair zu sehen?«, fragte eine leise, überaus sanfte Stimme.

Klara war es, die sich an ihn gewandt hatte, um ihm Rede zu stehen, aber sie kam nicht gleich zu Wort, sie vergaß das Sprechen — verdutzt blickte sie in das lächelnde Gesicht des Fragers.

Es gibt einen physiognomischen Charakter, welcher stets auffällt, obgleich er nicht allzu selten ist. Sehr häufig trifft man ihn in England. Zu beschreiben ist er schwer. Brünett, massig, bartlos, mit großen, runden, dunklen Augen — man hört es häufig ein ›Pfaffengesicht‹ nennen. Es gibt aber noch eine bessere Bezeichnung. Die nordamerikanischen Indianer, besonders die Sioux, haben alle die Physiognomie einer alten, freundlichen Frau, schon in der Jugend, trotz ihres Adlerauges und ihrer Adlernase.

Und das hier war solch ein bronzefarbenes, fleischiges, aber markantes Gesicht eines SiouxHäuptlings, jetzt in der Ruhe sanft und mild und melancholisch, aber nur auf eine Gelegenheit wartend, um sich zu einer teuflischen Fratze zu verzerren.

Was aber nun das Mädchen im Augenblick am allermeisten frappierte, das war, dass dies gar kein alter Mann war, das war ein junger Mann, der nur schneeweißes Haar hatte.

»Jawohl, wir sind die Lucks«, sagte Toni, und ihre frische Stimme riss die Schwester aus ihren Träumen. Sie dachte dann, sie hätte eine Viertelstunde so geträumt, während es doch nur ein Augenblick gewesen war.

»Treten Sie ein«, fuhr die so seltsam sanfte, melancholische Stimme fort, »bringen Sie Glück dem Hause, welches seinen Namen dem herausfordernden Übermute verdankt.«

Er war zurückgetreten und hatte die Tür zum ersten Zimmer geöffnet, welches stets den Parlour bildet, den Salon, eingerichtet mit jenem Komfort, den man auch in der Hütte des geringsten englischen Arbeiters findet, solange er nicht trinkt und wettet, und immer ist es ganz dieselbe Einrichtung, Preis 12 Pfund, und alles ist mit gehäkelten Deckchen behangen. Aber alles reizend!

»Morrus ist mein Name«, stellte sich hier der junge Mann mit den schneeweißen Haaren vor, »ich bin hier Einlogierer, aber so gut wie zu Hause. Bitte, setzen Sie sich doch. Darf ich Ihnen die Schirme abnehmen? Mistress Bellair wird gleich kommen.«

Sie kam, eine ältere, freundliche Dame, trotz ihrer Einfachheit einen vornehmen Eindruck machend. Erst eine überaus herzliche Begrüßung, und dann hieß es: »... und nun ist mir gerade gestern mein Dienstmädchen weggelaufen!«

Ja ja, die Dienstmädchen! Toni wurde gleich unruhig auf ihrem Stuhle. Sie hatte nämlich schon einige Erfahrung darin, wie es wird, wenn alte Engländerinnen auf Dienstmädchen zu sprechen kommen! Das heißt, das ist aber nicht nur eine Eigenschaft der Engländerinnen, das scheint international zu sein.

Aber das Weglaufen des Dienstmädchens hatte gar nichts zu sagen, Mistress Bellair wurde auch ohne Dienstmädchen fertig.

»Ach, entschuldigen Sie nur, Sie trinken doch erst eine Tasse Tee, das Wasser wird gleich kochen...«

»Aber bitte, Mistress Bellair, wir wollten uns doch erst einmal den Wald...«


Illustration

Illustration 1910


Illustration

Illustration 1924


»O, da seien Sie unbesorgt, es wird Ihnen hier sehr gut gefallen, und der Wald ist hinten im Hofe...«

Und hinaus war sie, um Tee zu kochen.

Es war fürchterlich. Die guten Leutchen hatten ja gar keine Ahnung, wie es solch zwei jungen Lehrerinnen zumute ist, die ein ganzes Jahr lang in der Stube eingesperrt gewesen sind und jetzt acht Tage Ferien bekommen haben. Toni hatte sich schon hier im Parlour immer mit verzweifelten Blicken nach dem Walde umgesehen, und jetzt gellte es ihr fort und fort mit teuflischem Hohngelächter ins Ohr: »Der Wald ist hinten im Hofe! Der Wald ist hinten im Hofe!«

Klara hatte unterdessen immer das Gesicht des am Fester stehenden Mannes studiert. Ein ganz merkwürdiges Gesicht!

»Verübeln Sie es der alten Dame nicht, wenn Sie von ihr etwas aufgehalten werden«, sagte dieser jetzt mit seinem melancholischen Lächeln. »Sie muss Ihnen eben erst eine Tasse Tee vorsetzen, sonst wäre sie unglücklich. Aber betrachten Sie das nicht etwa als eine Verbindlichkeit. Sie besehen sich dann das Zimmer, und wenn Ihnen etwas nicht gefällt so sagen Sie einfach: Nein, wir suchen uns etwas anderes.«

Ach, das war ja ein Prachtexemplar von einem intelligenten Manne!! Den beiden Mädchen war nämlich mit dem Angebot einer Tasse Tee gleich ein Zentnerblock aufs Herz gefallen. Man sucht eine Pension, man korrespondiert, man kommt, man muss sich setzen, es wird einem Tee angeboten, was man einer Engländerin ganz unmöglich abschlagen kann, und dann sollte man kaltblütig sagen: nee, bedaure, hier gefällt's mit nicht. — Das ist eine fatale Geschichte. Aber dieser junge Mann mit den weißen Haaren war einfach großartig mit seiner Offenherzigkeit. Toni hätte ihm gleich an dieses offene Herz fallen mögen.

»Es ist doch ein merkwürdiger Zufall«, begann wieder der intelligente junge Mann mit den weißen Haaren, »dass Sie denselben Namen führen wie unser Haus. Wir nehmen — Mistress Bellair, wollte ich sagen, nimmt sonst nämlich gar keine Pensionäre auf. Da lasen wir die Annonce, eine Pension gesucht, am Walde, möglichst in Loughton, zwei Schwestern, Miss Luck — da boten wir das Luck's Cottage an. Und gefallen wird es Ihnen hier, wenn Sie, wie Sie schrieben, mit einem einfachen Hause fürlieb nehmen.«

Auch diese Offenheit war nur anerkennenswert.

»Unser Name Luck ist aber kein englischer, das hat nichts mit Fortuna zu tun — wir sind gute Deutsche.«

»Sie sind Deutsche?!«, erklang es in einem ganz besonderen Erstaunen, es musste ihm des Längeren versichert werden, und als er nicht den geringsten Zweifel mehr hatte, dass diese beiden jungen Damen richtige Deutsche waren, so deutsch, dass sie unter sich auch immer Deutsch sprachen, da faltete der weißhaarige junge Mann die Hände, blickte mit seinen großen, schwärmerischen Augen verzückt zum Himmel empor und flüsterte mit verklärtem Antlitz:

»Ach, wenn doch Wichtelmann hier wäre!«

Die Zwillinge hatten etwas so ganz und gar anderes erwartet, was jetzt kommen würde, und nun sprach er das deutsche Wort ›Wichtelmann‹ auch noch so komisch aus — kurz, besonders die lebhaftere Toni musste sich schnell auf die Lippen beißen, um nicht laut herauszuplatzen.

Das war aber erst die Einleitung gewesen.

Die Frau kam, um zunächst über den Tisch ein weißes Tuch zu legen.

»Mistress Bellair, denken Sie sich — die beiden Damen sind Deutsche, ganz richtige Deutsche, sie halten sich nur vorübergehend in England auf!«,... und dann setzte er wieder mit jenem seligen Blicke und mit schwärmerischer Stimme hinzu:

»Ach, wenn doch jetzt Wichtelmann hier wäre!«

Und die alte Dame hörte auf, das Tischtuch glattzustreichen, ein ungläubig fragender Blick, noch eine Versicherung — und sie faltete die Hände auf der Brust, blickte zum Himmel empor und flüsterte verzückt:

»Ach, wenn doch jetzt Wichtelmann hier wäre!«

Jetzt war es Klara, welche sich auf die Lippen biss, während Toni schnell ihr Taschentuch hervorriss und sich mit ihrer Nase beschäftigte. Weil sie aber dadurch immer noch nicht ihr Lachen bemeistern konnte, so lachte sie lieber gleich offen, blickte sich um und fragte, also unter Lachen:

»Wo ist denn nun hier eigentlich der Wald?«

Jetzt fing der Mann aber ebenfalls an herzlich zu lachen.

»Na, hier im Zimmer nicht!! Kommen Sie, meine Damen, ich will Ihnen erst den Wald zeigen, deshalb sind Sie doch herausgefahren, und den Tee können Sie dann auch noch trinken.«

Dieser Mann war wirklich ein Wunder von intelligenter Aufmerksamkeit! Sie folgten ihm, und in Erwartung des Kommenden wurde die Lachlust besiegt, und wenn das Lachen noch nachklang, so schadete das nichts, denn Toni hatte schon wieder einen Witz gemacht.

»Wollen Sie sich die Treppe hinaufbemühen.«

»Ist denn der Wald in der ersten Etage?«, fragte Toni.

»Jawohl«, ging Morrus auf den Scherz ein, aber ganz ernst. »Mister Wichtelmann singt doch immer ein deutsches Lied: ›Wuer hat dick, du schoöner Wuald aufgebaut so hock da drobben.‹ — Ach, wenn doch jetzt Wichtelmann da wäre!«

Hiermit war das Lachen gestattet. Und, ach, es war so schön! Zwei sich liebende Zwillingsschwestern, nach einem Jahre zum ersten Male Ferien, ein sonniger Sonntagsmorgen, und so aus vollem Halse lachen zu dürfen — besonders wenn es eigentlich anstandshalber nicht erlaubt ist!

Morrus öffnete eine Tür.

»Das ist Ihr Schlafzimmer.«

Es war ein sehr nettes Schlafzimmer, alles im englischen, komfortablen Stile. Aber zwei Betten für zwei Pensionäre gibt es hier nicht. Da würde der Vermieter des besten Hauses große Augen machen, wenn zwei Menschen in einem Zimmer zwei Betten verlangen wollten, er würde es überhaupt gar nicht verstehen, so wenig wie der Engländer versteht, dass jetzt noch Häuser, Hütten irgendwo in der Welt ohne vollständige Badeeinrichtung gebaut werden können.

Es war ein sonniges Hinterzimmer, und mit einem förmlichen Luftsprunge stand Toni am Fenster, einen Augenblick früher als die andere Akrobatin.

»Wald! Wald!!«, jauchzte Tone in demselben Augenblick. »Ich habe ihn zuerst gesehen! Ich nehme die Ehre für mich in Anspruch!«

Ja, da war nun wirklich der Wald! Unten ein schmales, langes Gärtchen mit Blumen, Gemüse, blühenden Erbsen und Bohnen, hinten im Bretterzaun befand sich eine Tür, man überschritt auf einem Brückchen einen Graben, den Banngraben, und dann war man unter den Eichen. Und von solchen Wohnungen, ob nun Hütten oder Paläste, ist der Wald ringsherum eingefasst. Nur der Banngraben darf nicht überbaut werden. Und diese wilde Waldeinsamkeit, welche direkt an der Gartentür, wenn nicht direkt vor der Haustür anfängt, erstreckt sich über 255 englische oder 16 deutsche Quadratmeilen. Morrus musste es immer wieder versichern. Es ist eine Romantik, welche, verbunden mit solcher Bequemlichkeit — auf der anderen Seite des Hauses sind die glänzendsten Schaufenster, Korsetts für 20 Guineas, 440 Mark, in Loughton wohnen reiche Leute — welche man auf solche Weise nirgends auf der Welt findet. Und wie viele Fremde kommen jährlich nach London, die sich diesen Wald gar nicht ansehen!

Es ist ein ganz anderer Wald als der deutsche. Die Eiche herrscht vor. Aber sie will nicht groß werden. Sechs Meter hoch, das ist schon eine große Eiche. Dafür aber breitet sich das Laubdach ungemein aus, alles strebt nach der Seite. Von ungemeiner Frische ist das Gras, wofür England ja auch bekannt ist. Wenn es im Herbste abwelkt, ist schon wieder frisches da, welches den ganzen Winter hindurch stehen bleibt. Es ist überhaupt ein immergrüner Wald. An anderen Stellen herrscht das Moos vor. Unkraut fehlt ganz; dafür wuchern, allerdings auch als Unkraut, überall die schwarze Himbeere und die Mistel. Diese niedrige, sich breit ausdehnende Vegetation bringt das gleichmäßige, feuchte Inselklima mit sich, welches die Summe der Sonnenwärme über das ganze Jahr gleichmäßig verteilt, welches erlaubt, dass hier die Orange ungeschützt im Freien gedeiht, Blüten treibt, selbst kleine Früchte ansetzt, während die Weintraube nicht einmal zur Reife kommt. Mächtige Beeren — aber sie werden niemals reif, die Herbstwärme fehlt. Doch das ist nur der Grundcharakter dieses Waldes. Es gibt Stellen, wie gerade bei dem Gasthaus ›Robin Hood‹, wo die Eichen aus irgendeinem Grunde riesige Höhen erreichen, ebenso die Birken, und merkwürdig ist, wie an dieser Stelle auch die Steinpilze schießen. Dazwischen nun weite Strecken von Heide, Sand, Sumpf, Höhen und Felsen. —

Die etwas ernstere Klara war offenbar die Sachverwalterin, wenn sie nicht die Kasse unter sich hatte.

»Ja, das ist, was wir wollten, hier werden wir bleiben«, wandte sie sich um, als sie eine Weile zum Fenster hinausgeblickt hatte, und sah die ebenfalls ins Zimmer gekommene Mistress. »Wie viel kostet nun für uns beide die volle Pension?«

»Ach, darüber werden wir uns schon einigen...«

»Na ja, eben jetzt. Das haben Sie uns auch schon geschrieben, dass wir uns einigen werden, trotzdem wir um direkte Angabe des Preises baten. Was kostet es für uns beide zusammen die Woche, mit voller Beköstigung?«

Es kam der Fragerin vor, als ob die alte Dame ihr über die Schulter sehe, als wenn sie von dorther die Antwort erwarte.

»Nun — — dreißig Schilling zusammen — — ist das Ihnen zu viel?«, kam es dann zögernd heraus.

»Für uns beide zusammen? Bei voller Beköstigung?«

»Ja, ich dachte so.«

»Ach«, mischte sich da Toni ein, »das ist doch viel zu bi...«

Ein Blick Klaras ließ die leichtsinnige Schwester verstummen.

»Sie nehmen wahrscheinlich an, dass wir uns das Essen immer selbst kochen wollen, weil ich davon etwas geschrieben habe. Das ist aber nicht der Fall, vielleicht kommen wir niemals dazu.«

»Nein, nein, die volle Pension für zwei Personen kostet dreißig Schilling.«

»Na, gut. Und dann später, wenn immer nur eine hier ist?«

Die Schwestern hatten nämlich jenem deutschen Herrn in der Eisenbahn nicht alles erzählt. Sie hatten nicht nur eine Woche, sondern sie hatten fünf Wochen Ferien. Aber in Summa. Nur die erste Woche konnten sie in gemeinschaftlicher Freiheit verbringen, weil da der Turnsaal renoviert wurde; in den anderen Wochen mussten sie abwechseln, die eine fuhr wieder zurück und gab Unterricht, die andere durfte einstweilen hierbleiben, und das war für die Zwillingsschwestern nur eine halbe Ferienzeit, nur die erste Woche galt als die wirkliche.

Jetzt aber, nach ihrer letzten Frage, bemerkte Klara im Wandspiegel, wie hinter ihrem Rücken der weißhaarige junge Mann einen Finger hochhob und eine Bewegung machte, als ob er in der Mitte durchschneiden wollte.

»Die Hälfte, fünfzehn Schilling«, sagte darauf Mistress Bellair. »Es ist ja hier alles billig — und überhaupt, ich will daraus kein Geschäft machen, es soll mich freuen, wenn es den jungen deutschen Damen bei mir gefällt.«

»Aber, Mistress Bellair, wie können wir denn...«

»Do you like... Schwwwueinsknochen mit Sauerkraut?«, fiel der Engländer schnell ein, sich dabei bald die Zunge abbrechend.

»Das ist es ja gerade, was wir kochen wollen!!«, riefen die Schwestern aus einem Munde, und dann ging es wieder los:

»Und Nudeln mit Kalbfleisch.«

»Und Reis mit Rindfleisch.«

»Und Kartoffelklöße mit Pflaumen und Meerrettich.«

»Und Linsen mit Bratwurst.«

»Aaaaach, Linsen mit Bratwurscht«, stöhnte Toni nach, die Hand auf ihr liebeswehes Herz pressend.

Und da sahen sich Mistress Bellair und Mister Morrus verständnisvoll an, und gleichzeitig zitterte es in schmerzlicher Sehnsucht von ihren Lippen:

»Ach, wenn doch jetzt Wichtelmann hier wäre!«

Nun war es aber genug! Toni riss den Hut ab, warf ihn aufs Bett und stürmte hinaus und die Treppe hinab, Klara folgte ihr und holte die Flüchtige im Garten wieder ein, die Pforte war nur angelehnt, zwei Schritte über die Gartenbrücke, sie befanden sich auf moosigem Grunde, noch drei Schritte, und sie standen unter einer Eiche, im einsamen Walde.

»O, hier ist es herrlich!«, jauchzte Klara, als sie noch etwas tiefer eingedrungen waren. »Wahrhaftig, man hält es nicht für möglich — das ist ja der reine Urwald. Toni, hier möchte ich... ja was ist denn mir dir los, Toni?«, setzte sie bestürzt hinzu, weil diese plötzlich stehen geblieben war, mit einem so furchtbar ernsten Gesicht, so feierlich, die Hände auf der Brust gefaltet... eine sentimentale Anwandlung?

»Ach, wenn doch jetzt Wichtelmann hier wäre!«

Und die alten Eichen schüttelten die bemoosten Häupter über diese beiden Zwillingsmädchen, die mit ihrem ausgelassenen Gelächter so die schöne Waldesruhe stören konnten.

»Wer ist denn nun eigentlich dieser geheimnisvolle Wichtelmann?«, hieß es dann endlich.

»Das werden wir schon noch erfahren. Wir sind in der halben Stunde schon recht weit in der Vertraulichkeit gekommen. Jedenfalls ein Deutscher, der hier eine große Rolle spielt. Was sagst du denn aber nun zu diesem Morrus?«

»Ein eigentümlicher Mann! Diese Physiognomie! Diese Stimme!«

»Und vor allen Dingen noch so jung und schon schneeweißes Haar!«

»Jung?«, fragte Toni auf diese Worte der Schwester. »Na, der ist doch schon in die fünfzig.«

»I wo!«, rief Klara. »Der ist noch keine fünfundzwanzig!«

»Klara, mach keine Witze!«

»Es ist mein Ernst! Das ist noch ein blutjunger Mann! Der hat eine Krankheit durchgemacht — — aber ich glaube eher, es war etwas anderes, der sieht so melancholisch aus, und das ist dereinst ein heiterer Mensch gewesen!«

»Da magst du recht haben, aber mit dem Alter... wie viel sagst du?«

»Fünfundzwanzig.«

»Und ich denke fünfzig. Warte mal... die Hälfte von fünfundzwanzig... er ist siebenunddreißig und ein halbes Jahr alt. Stimmt's?«

»Es stimmt«, lachte Klara. »Dort, sieh mal, der kleine Vogel, wie der den langen Wollfaden nach seinem Neste schleppt.«

»Wahrhaftig! — Ach, wenn doch jetzt Wichtelmann hier wäre!«

Und so drangen die Schwestern, welche bei dieser Art von Einigung schwer in Streit kommen konnten, lachend und jauchzend und singend immer tiefer ins Gebüsch. Kein Weg, kein Steg...

»Du, wenn wir einen Weg sehen, dem Wege gehen wir aus dem Wege.«

»Jetzt wird es aber auch Zeit, dass wir umdrehen! Der Tee wartet schon lange auf uns.«

»Ach was, Tee! Den können wir genug zu Hause haben.«

»Nein, Toni, es sind liebe Leute. Tun wir ihnen doch den Gefallen.«

»Gut. Kehrt, marsch!«

»Halt, wo willst du denn hin? Dorthin müssen wir.«

»Nein, von dort kommen wir!«

»Toni, ich versichere dir...«

»Meinetwegen. Also dorthin.«

Toni hoffte, die Schwester bald überführen zu können, dass sie sich in einer falschen Richtung befänden, sah dann aber zwei Bäume, an denen sie erkannte, dass Klara doch recht gehabt hatte. Sie selbst hatte sich geirrt.

Aber es dauerte gar nicht lange, so machte Klara kleinlaut darauf aufmerksam, dass die Gegend doch jetzt ganz anders aussehe, und das hatte Toni nun auch schon wieder selbst erkannt, vor ihnen lag eine Heide, jetzt kamen Birken, und dort waren auch Hügel!

Als sie sich aber gestanden, dass sie sich wirklich verirrt hatten im dustern dustern dustern Wald, kaum zur Haustür herausgetreten, da war der Jubel erst recht groß.

»Und die verirrten Kinder stillten ihren Hunger mit Waldbeeren. — — Wo ist nun das Pfefferkuchenhäuschen? — — Da kommt schon die alte Hexe!«

Es war aber eine junge Dame, welche über die Heide kam, auf die beiden Mädchen zu. Die wollte man fragen. Da aber begann schon die Dame:

»Können Sie mir nicht sagen, wie ich nach Buckhurst Hill komme?«

Ach, du lieber Gott!

»Wir wollten Sie eben fragen, ob Sie uns nicht aus diesem Walde heraushelfen können. Wir wollen nach Loughton.«

»Ich bin hier ganz fremd.«

»Und wir sind noch viel fremder.«

Die Dame hielt sich nicht lange auf, sie glaubte wohl die Richtung zu kennen und stiefelte weiter durch das Gras.

»Dort ist ja ein Weg!«

»Gerettet, gerettet!!«

Sie gingen diesem Wege also nicht aus dem Wege, sondern sie betraten ihn und schlugen sich nach rechts. Sie mussten doch einem Sonntagsspaziergänger begegnen.

Es vergingen zehn Minuten, in denen man eine ganz beträchtliche Strecke zurücklegen kann, ehe sie einen Menschen sahen. Es war ein alter Mann, er saß am Wege auf einem Baumstamm, der wer weiß wie lange schon hier lag, er sah wie versteinert aus. Also hin zu ihm.

»Good morning.«

»Nice morning«, schmunzelte der Alte, der ganz bedenklich den Kopf wackelte.

»Bitte, wie kommt man hier nach Loughton, in die Nähe des Bahnhofes?«

»Ja, ja, ein schöner Tag heute«, nickte der Alte lächelnd.

»Wir haben uns verirrt«, hob Toni mit sehr lauter Stimme an, »wir wollen nach Loughton.«

Jetzt merkte der Alte, dass die beiden jungen Damen etwas Besonders von ihm wollten.

»Hä?«, machte er, die Hand am Ohre. »Ich höre etwas schwer.«

»Wir wollen nach Loughton!«, rief ihm Klara ins Ohr. »Nach Loughton!«

Zufrieden lächelnd nickte der Alte.

»Ja, ja, die Glocken läuten, heute ist Sonntag.«

»Nach Loughton — Loughton!«, brüllte ihm jetzt Toni ins andere Ohr.

»Ja, ja, die klingen sehr laut, das sind große Glocken.«

»Nach Loughton — nach der Stadt!!!«, fingen jetzt beide Schwestern in alle beide Ohren zu brüllen an.

»Ja, ja, das sind die Kirchenglocken in der Stadt«, erklärte der Alte den fremden Damen mit gütigem Lächeln.

»Himmelbombenelement! Komm, Klara. Good morning.«

»Nice morning.«

Die beiden machten schnell, dass sie hinter die Büsche kamen. Gehört konnten sie von dem Tauben ja nicht werden, sie wollten den armen Mann aber auch nicht sehen lassen, wie sie sich vor Lachen schüttelten. Es lag ja auch viel Komik in diesen beiden Begegnungen.

»Klara, mir tut der Kopf weh — der erste Mensch der uns armen verirrten Kindern aus dem Walde helfen soll, hat sich selber verirrt, der zweite ist taub — na, aller guten Dinge sind drei! Nein, ist es hier schön! Ach, wenn doch jetzt Wichtelmann hier wäre!!«

Richtig, aller guten Dinge sind drei. Ein Jüngling kam als Retter, der mit holdseligem Erröten den beiden jungen Damen den Weg nach Loughton ganz genau angeben konnte, und sie sollten sich nicht auf diesem Wege halten, sondern gleich direkt hier vordringen, dann würden sie in zehn Minuten den Bahnhof liegen sehen.

Der Retter verschwand seitwärts in den Büschen.

Jawohl, aller guten Dinge sind drei. Der Jüngling hatte in seiner holdseligen Verwirrung die beiden Mädchen gerade nach der entgegengesetzten Richtung geschickt. Das merkten sie nach einer Viertelstunde auch von selbst. Diese Verirrung wurde natürlich nicht tragisch aufgefasst; der Humor wuchs womöglich noch.

»Ach, wenn doch jetzt nur Wichtelmann da wäre! Wich — tel — mann! Wich — tel — mann! — Er — schei — ne! Juhu!!«

Dann blieb Toni stehen und stemmte die Arme in die Hüften.

»Du, Klara, ich habe aber Hunger!«

»Mir knurrte der Magen schon, als ich hierher kam.«

»Weißt du denn, welche Zeit es ist? Gleich halb eins. Die werden um eins essen. Schon als wir kamen, roch es so gut nach Braten. Und wo mögen wir denn jetzt sein?«

»Ach, wir können gar nicht so weit ab sein, wir sind immer im Kreise herumgelaufen. Da...«

Einige Lokomotivpfiffe in dichter Nähe, sie hörten sogar das Schnaufen der Maschine. Während der Kirchenzeit setzen in England die Züge aus. Jetzt gingen sie wieder.

»Wir gehen dort auf den Hügel, ich klettere auf einen Baum und halte Umschau.«

Gesagt, getan. Diese Idee musste schon deshalb ausgeführt werden, weil sie so schön romantisch war. Die Gegend war überhaupt hügelig geworden, sie erstiegen einen besonders hohen Hügel, dicht bewaldet, und suchten sich einen Baum aus, dessen Form und Lage zum beabsichtigten Zwecke am günstigsten war. Es war eine alte Eiche mit einem sehr dicken Stamm, welcher, wie hier immer, dort wo die Äste anfingen, plötzlich wie abgeschnitten aufhörte, und von hier aus verbreitete sich nun alles nach der Seite. Ein Hinaufklettern gab es nicht, dazu fehlten Äste als Handgriffe. Aber die beiden Turnlehrerinnen, welche sich noch etwas weiter in der höheren Akrobatik ausgebildet hatten, brauchten so etwas auch gar nicht, hatten keine Besprechung nötig, wie da hinaufkommen, sie blickten sich nur einmal um, ob jemand in der Nähe sein, und als dies nicht der Fall war, beugte sich Klara neben dem Stamm etwas, streckte die Hand aus, Toni setzte den einen Fuß darauf...

»Eins, zwei, drei — jubb!!«

Wie ein Gummiball flog Toni in die Luft empor. Die gebückt stehende Schwester richtete sich auf, sie hatte sofort ein seltsames Geräusch gehört, welches nicht zum Erklettern eines Baumes passte, es war ein Rascheln im Stamm und dann wie ein dumpfer Fall gewesen, und nach der Berechnung des Schwunges musste Toni jetzt oben auf dem abgeplatteten Stamm stehen, ein Klettern hätte sie gar nicht mehr nötig gehabt, Klara blickte also hinauf — Toni stand aber eben nicht oben!

Ein Schreck durchfuhr die Schwester. Sie hatte Toni oben drüber hinweg geworfen. Das war wenigstens ihr erster Gedanke. Sie rannte also um den Stamm herum. Nein, hier lag Toni auch nicht am Boden!

Klara blickte wieder hinauf, schlich um den Baum herum, blickte wieder hinauf, sie rieb sich die Augen. War sie denn nur verhext?! Zwischen den Zweigen konnte sich die Schwester doch nicht verbergen.

»Toni, wo bist du denn nur?«

Keine Antwort. Das war Zauberei!

»Wo in aller Welt steckst du denn nur, Toni?!«, rief Klara immer ängstlicher.

Da endlich kam die Antwort, aber nicht von oben aus den Zweigen, wohin Klara immer blickte, sondern dumpf hallte sie aus dem Bauche der Erde:

»Du, der Baum war hohl, ich bin glatt durchgerutscht.«

»Du hast dir doch keinen Schaden getan?«, war der Schwester erster besorgter Gedanke nach dieser Erklärung des Rätsels.

»Nicht im Geringsten«, hallte es wieder wie aus dem Grabe. »Aber tief bin ich gefallen, das kann nicht mehr der Stamm sein, in dem ich stecke, ich sitze hier zehn Klafter tief unter der Erde in einem Loche. Aber sonst ist's ganz gemütlich hier.«

Nun erst, als die Sorge um die Schwester beseitigt, wurde sich Klara der Situationskomik bewusst. Sie schleudert Toni in die Wipfel hinauf, damit sie von dort oben nach Häusern ausspäht, Toni ist auch oben auf dem Baume — und dabei steckt sie mit einem Male unter der Erde — ist durch den hohlen Baum gerutscht — Geschwindigkeit ist keine Hexerei. Und Klara lehnte sich an die alte Eiche und lachte, dass ihr die Tränen über die Backen liefen.

»Ja, du hast da draußen gut lachen«, murrte es wieder unter der Erde, »aber ich kann hier nicht...«

Es brach plötzlich ab. Klara rief, Toni antwortete nicht mehr.

»Bscht«, wisperte es dann wieder, »Klara — ich bin hier nicht nur in einem engen Loche — das ist eine geräumige Höhle — und hier — hier liegt eine Strickleiter — und hier fühle ich einen Topf — wirf mir mal deine Streichhölzchen herunter.«

Klara hatte sich unterdessen von allen Seiten den Baum angesehen, ob es nicht eine Möglichkeit gab, allein hinaufzukommen — und wahrhaftig, da war ja in Armeshöhe eine eiserne Klammer eingetrieben! Einem DurchschnittsSterblichen freilich genügte das noch nicht, um sich hinaufzuschwingen; wer diese Klammer zu diesem Zwecke eingeschlagen hatte, das musste ein ausgezeichneter Turner sein, der dann weiter oben, wenn er den ersten Ast erreicht hatte, die sogenannte Stemme machen konnte, denn sonst kam er nicht hinauf. Aber das war ja der Turnlehrerin Fall. Also ein Griff, ein Sprung, ein Ruck — und Klara stand oben — und blieb oben sitzen — rutschte nicht, wie die ungewarnte Schwester, in das Loch, das sich hier oben vor ihr auftat.

»Hast du keine Streichhölzer bei dir?«, erklang es unten.

Ja, wenn Klara auch nicht rauchte, eine Schachtel Schweden hatte sie immer bei sich — eine Tugend, welche nicht genug allen Damen empfohlen werden kann, nämlich im Interesse von Herren, welche rauchen wollen und keine Streichhölzer bei sich haben.

Die Schachtel fiel nach einem aufmerksam machenden Worte hinab und schien aufgefangen worden zu sein. Zu sehen war nichts. Dann flammte unten ein Lichtchen auf, von einem Dunstkreis umgeben, es entfernte sich, nur ein schwacher Schein blieb noch, eine halbe Minute verging, dann kam das Licht wieder — aber Klara erkannte zu ihrem Staunen, dass es jetzt von einer Kerze ausging, welche Toni in der Hand hielt. Die Tiefe war eine beträchtliche. Toni stand aufrecht, aber mit dem Kopfe noch weit unter der Erdoberfläche. Natürlich, sonst hätte sie sich ja auch nicht hin und her bewegen können.

Als Klara noch über das vorliegende Geheimnis nachgrübelte, tauchte in der Öffnung vor ihren Augen das Ende einer Stange auf, es war eine Gabel daran, in dieser hing ein Haken mit Seilen, Klara erkannte die ersten Sprossen einer Strickleiter, sie griff zu und befestigte den Haken an einer hierzu gerade geeigneten Stelle des Baumes, der man ansah, wie oft dieser Haken hier schon gesessen hatte, und die fremde Hilfe von oben wäre nicht nötig gewesen, die Strickleiter konnte mit leichter Mühe auch von untern mit der Stange befestigt werden.

Im nächsten Augenblick kletterte Klara die Sprossen hinab und stand der Schwester gegenüber, welche, ein Stearinlicht in der Hand, ganz entgeisterte Augen hatte.

»Klara, wir sind einem Geheimnis auf der Spur. Hier unter der Erde haust ein Mensch.«

Furchtsamkeit war keine Schwäche der Zwillingsschwestern. Sie hielten Umschau, öffneten mit kecker Hand, was zu öffnen war.

Es war eine Höhle unter der Erde, vielleicht drei Meter im Quadrat, in der Mitte so hoch, dass ein erwachsener Mensch eben aufrecht stehen konnte. Die Decke wurde von zwei Balken gestützt. Tageslicht fiel noch von einer anderen Stelle herein, durch einen zweiten hohlen Baumstamm, und nach längerem Aufenthalte konnte man die Gegenstände recht gut unterscheiden. Es war ganz trocken hier unter der Erde, einmal durch die gute Ventilation, und dann war es ja auch ein Hügel, das Regenwasser mochte schnell noch tiefer laufen. Die Wurzeln der Bäume, welche natürlich zum Vorschein kamen, waren teils beschnitten, teils dienten sie als Stellagen; da hing eine alte Hose, eine alte Jacke, ein Paar mächtige Wasserstiefel, einige Säcke und andere Sachen. Sonst standen noch viele Kisten herum, meistenteils solche durchlöcherte Apfelsinenkisten, wie man sie in jedem englischen Laden, der Orangen führt, geschenkt bekommt, dann noch einige sehr große Blechbüchsen, ein Petroleumofen, gleich ein Fässchen mit Petroleum, und schließlich ein Bett, das heißt, ein Lager an der Erde aus Laub und Moos, mit mehreren Wolldecken belegt.

Bemerkungen austauschend, untersuchten die beiden Mädchen unverzagt die Kisten und Blechbüchsen. Sie fanden ein Messer, ein ganzes Nähzeug, eine Kleiderbürste, eine Hutbürste — sie fanden noch mehr. Luxus herrschte gerade nicht, aber was der Mensch unbedingt braucht, das war vorhanden.

Jetzt wurden die wohlverschlossenen Blechdosen geöffnet.

»Erbsen.«

»Bohnen.«

»Linsen.«

»Hier ist Kaffee drin.«

»Hurra, Zwieback!«, schrie Toni, und schon knirschte es zwischen ihren Zähnen. »Du, Klara, hier möchte ich auch wohnen! Ach, das ist aber alles schön! Das wäre so etwas für mich! Ach, wenn doch jetzt Wichtelmann hier wäre!«

»Ja, wer mag denn nur hier hausen?«

Da — ein Stück beschriebenes Papier. Klara hob es auf.

»Deutsch!«

Sie las den in der Mitte durchgerissenen Zettel, ganz unvollständig, mit Tinte geschrieben, und ihre Augen vergrößerten sich, und dann blickte sie sich erst scheu um und dann die Schwester an.

»Toni«, flüsterte sie, »wir haben eine unheimliche Entdeckung gemacht, das ist eine wirkliche Räuberhöhle, hier hält sich ein Verbrecher versteckt... ›Lady Arabella Glanmore in Residenz Glanmore. 12. Juli Einbruch. Hausdiener Jim. Rote Haare. Wird im Bett erdrosselt...‹«

Toni hatte noch den ganzen Mund voll Zwieback, wollte ausspucken, besann sich, nahm den gekauten Bissen mit der Hand aus dem Munde und steckte ihn in die Tasche — wahrscheinlich aus Vorsicht, um hier keine Spur zu hinterlassen — aber sonst dachten die Schwestern jetzt nicht daran, jede Spur ihres Eindringens zu verwischen — nur erst 'raus hier!! — Noch einen erschrockenen Blick gewechselt, das Licht ausgeblasen, und sie kletterten wie die Katzen die Strickleiter empor.

Auf solch ein Ferienabenteuer waren sie denn doch nicht vorbereitet gewesen!

* * *

3. Kapitel

Gott sei Dank! Die Sonne lachte noch am Himmel! Aber sie durften nicht glauben, im Walde des Räubers Robin Hood nur einen seltsamen Traum gehabt zu haben. Sie saßen noch oben auf dem Baume, vor ihnen gähnte noch das schwarze Loch, hing noch die Strickleiter, und Klara hatte noch das fürchterliche Programm des Raubmörders in der Hand.

»Am 12. Juli soll der Einbruch stattfinden. Bis dahin sind noch drei Wochen.«

»Wir müssen gleich die Polizei benachrichtigen.«

Klara löste die Strickleiter ab und ließ sie hinabfallen.

»Was für ein Hund ist denn das?«

Ein kleiner Wachtelhund, ein winziges Tierchen, kam angesaust und umsprang kläffend den Baum. Es ist leicht begreiflich, dass die beiden den Hund gleich mit dem unterirdischen Raubmörder in Verbindung brachten; jetzt kam der von einem blutigen Ausflug nach Hause und fand die beiden Mädchen vor oder vielmehr auf seiner Haustür sitzen! Solch eine Begegnung ist nicht gerade angenehm.

»Da kommt ja Mister Morrus!«, rief Klara.

Sie sahen ihn erst jetzt, er war nur noch zehn Schritte von dem Baume entfernt.

Toni ward plötzlich leichenblass, sie packte die Schwester beim Arm.

»Klara«, hauchte sie, am Ende ist dieser Morrus selbst der Raubmörder, so sieht der auch gerade aus...«

»O, meine Damen«, rief da aber schon Morrus in bedauerndem Tone, einige Schritte vor ihnen respektvoll stehen bleibend und die Augen diskret zu Boden schlagend, »es tut mir leid, Sie überrascht zu haben...«

Entsetzt prallte er zurück. Wäre plötzlich der ganze Eichbaum umgefallen, er hätte nicht erschrockener sein können als darüber, wie mit einem Male die eine junge Dame, welche soeben noch dort oben gesessen, dicht vor ihm stand, und da kam auch schon der andere Zwilling herabgesaust.

»Mister Morrus, wir haben eine furchtbare Entdeckung gemacht«, begann Klara mit entgeisterten Augen.

Gott, war die dumm, gleich so mit der Türe ins Haus zu fallen. Toni ärgerte sich, doch nun war es einmal geschehen, jetzt hieß es weiter beobachten. Dass der fünfundzwanzig- bis fünfzigjährige junge Mann mit den schneeweißen Haaren tödlich erschrocken gewesen, als er den Eingang der Höhle verraten sah, das war ja nun schon von Zeugen gesehen worden.

Der geriebene Raubmörder wusste sich schnell wieder zu beherrschen.

»Eine furchtbare Entdeckung?!«, heuchelte er Erstaunen.

»Ja, eine Räuberhöhle, die unterirdische Wohnung eines Einbrechers und Raubmörders«, fuhr die unvorsichtige Schwester fort.

»Das ist wohl nicht möglich«, konnte der hartgesottene Bösewicht auch noch ungläubig lächeln.

»Jawohl, hier unten — dieser Baum ist hohl, er bildet den Eingang — und hier haben wir den Beweis gefunden — ein Anschlag auf eine Lady Arabella Glanmore.«

Der Mann nahm das Papier, las es, plötzlich begann er heiter zu lächeln.

»Ach, jetzt geht mir eine Ahnung auf! Diese Handschrift ist mir wohlbekannt, wenn ich auch kein Deutsch lesen kann. Sie haben hier zufällig eine Höhle entdeckt? Hier die Eiche ist hohl? Da geht's hinein?«

»Jaaa«, sagte Klara langgedehnt, und Tonis Verstand begann sich zu verwirren.

»Haben Sie da nicht Erbsen und Bohnen gefunden, zentnerweise, nicht auch einen kleinen Petroleumofen?«

»Jaaaaa.«

»Natürlich, das ist Wichtelmann.«

Von einer förmlichen Verzweiflung gepackt, richtete sich Toni hoch empor.

»Was — ist — denn — dieser — Wichtelmann?«

»Das ist ein Schriftsteller, ein deutscher Schriftsteller. Jawohl, der gräbt sich hier überall wie ein Dachs unter die Erde, macht sich überall seine Höhlen und Erdnester. — Ach, jetzt wird mir alles klar! Auf diesem Zettel steht etwas von einem Raubmord, sagen Sie? Oder von einem Mordanschlag? Da wird das jedenfalls eine Disposition zu einer Erzählung von ihm sein.«

Die beiden Schwestern waren nicht auf den Kopf gefallen, sie verstanden sofort, um was es sich hier handelte, sie sahen sich bloß an, und abermals hallte der Wald wieder von ihrem unauslöschlichen Gelächter. Der melancholisch aussehende Mann musste schließlich selbst mit einstimmen.

»Wollen mich die Damen jetzt nicht nach Hause begleiten?«, fragte er dann, eine Pause benutzend. »Das Essen ist fertig, Mistress Bellair wartet auf ihre Gäste.«

»Jawohl, wir kommen mit. Nun sagen Sie aber bloß, wer in aller Welt ist denn dieser geheimnisvolle Wichtelmann? Ein Schriftsteller? Ein deutscher? Klara, kennst du diesen Namen? Was für Sachen schreibt er denn?«

»Romane — Erzählungen. O, der ist ein vielgelesener Autor, und er lebt von seiner Feder, und er verdient viel Geld, — aber er schreibt wohl immer unter Pseudonym.«

Sie hatten den Rückweg angetreten. Morrus schritt zwischen den beiden Mädchen, welche ihn mit Fragen bestürmten, denn es schien, als ob er über diesen Wichtelmann gar nicht gern sprechen wollte. Er erzählte zwar von ihm, aber er schien irgend etwas verheimlichen zu wollen. Er wich so oft aus. So war es doch merkwürdig, dass dieser Engländer jenen deutschen Schriftsteller seinen intimsten Freund nannte, und er wollte nicht einmal wissen, unter welchem Pseudonym er denn schriebe. Jetzt sei August Wichtelmann in Neapel; acht Tage vorher war er in Hammerfest gewesen, hatte dort oben in der nördlichsten Stadt Europas den ganzen Winter in einer eingeschneiten Blockhütte zugebracht — kurz und gut, die beiden Mädchen witterten ein Geheimnis, sie merkten, wie dieser Morrus schon ganz gern sprechen würde, wenn man ihn nötigte, und an diesem Nötigen ließen es Klara und Toni denn auch nicht fehlen. Und zuletzt begann Mister Morrus frei zu sprechen, und die Geschwister bekamen etwas zu hören, was sie noch nicht gelesen hatten, denn man wagt nicht so leicht, so etwas zu schreiben, weil das große Publikum doch nicht glauben würde, dass es in der Welt solche Charaktere gibt — und die Schwestern blieben manchmal stehen, weil sie vor Lachen nicht mehr gehen konnten, und der sonst so ernste Mann konnte vor Lachen manchmal nicht sprechen.


Illustration

Illustration 1910


Illustration

Illustration 1924


»Er ist immer unterwegs und überall zu Hause. Seine Hauptwohnung aber — wie er wenigstens sagt — hat er hier bei uns, und das mag sein, denn Mistress Bellair muss auch seine kostbarsten Manuskripte, die er selbst schreibt, in ihrem Panzerschranke aufheben. Mister Bellair war professioneller Schriftsteller, einstmals viel gelesen, aber nach seinem Tode musste sich die Witwe selbst ernähren. Jetzt schreibt sie Manuskripte mit der Maschine ab. Zuerst hatte sie auch ein literarisches Betriebsbüro, durch dieses kam sie mit Wichtelmann zusammen, dem es hier gefiel. Ich bin Witwer, wohne bei Mistress Bellair, habe schon seit vielen Jahren mit Wichtelmann ein Zimmer zusammen. Ich bin die ganze Woche auswärts beschäftigt, komme nur Sonnabends nach Hause und bleibe bis Sonntagabend, und Wichtelmann ist erst recht immer auf Reisen. Aber nun das Wie. Es lässt sich schwer beschreiben. Es ist ein ganz, ganz eigenartiger Charakter. Er lebt nur seinem Gefühl — aber das will ja gar nichts sagen — er lebt in seiner eigenen Welt, die er sich in seiner Phantasie gebildet hat. Denken Sie einmal an: Vorigen Sommer bekommt er den Einfall — aber schon wie die Idee dazu plötzlich in seinem Kopfe entsteht, das ist nicht mit Worten zu beschreiben — wir unterhalten uns eines Sonnabends ganz ruhig über ein neu ausgestelltes Gemälde, plötzlich springt Wichtelmann auf, rennt hinaus, nach dem Bahnhof, in später Nacht kommt er zurück und sagt: ,Morgen früh fährt von London aus ein Zug nach Hammerfest, ich gehe mit, ich lasse mich in einer Holzhütte einschneien.‹ — In diesen wenigen Stunden hat er aber alles schon besorgt, was dazu gehört, Proviant zentnerweise, Pelzsachen, Schneeschuhe — ist alles schon an Bord, er hat schon das Billet in der Tasche, und wäre der Dampfer schon am Abend abgegangen, so hätten wir Wichtelmann überhaupt nicht wiedergesehen, wir hätten die erste Kunde von ihm aus seiner lappländischen Schneehütte bekommen.«

»Erlauben Sie«, unterbrach Toni den Erzähler, »was für ein Gemälde war das, über welches Sie sich unterhielten? Was stellte es vor?«

»Sie meinen, dass es die Anregung zu seiner plötzlichen Idee gab? Vielleicht eine Winterlandschaft? Dieser Gedanke liegt sehr nahe. Nein, nichts von alledem. Es war eine Kreuzigung Christi, und zwischen dieser und der Schneehütte am Nordkap eine Wechselbeziehung zu finden — es geht schließlich, aber es ist doch sehr kühn. Nein, es liegt etwas anderes vor, wovon ich nachher sprechen werde. — Freund Wichtelmann reist also am anderen Tage nach Hammerfest, kauft eine einsame Hütte aus Baumstämmen, polstert sie aus, verproviantiert sich noch mehr, vor allen Dingen mit Holz und Kohlen, und verbringt in der Hütte den nordischen Winter mit zwei Monaten ewiger Nacht, legt sich auf die Bärenhaut, raucht seine Pfeife, arbeitet aber auch fleißig, unternimmt auf Schneeschuhen Expeditionen, schießt Wölfe und Rentiere, erfriert ein Ohr — und im Mai, wenn dort die Schifffahrt erst wieder möglich ist, trifft er plötzlich hier ein. Er bringt einen mächtigen Stoß Manuskript mit, das er nun hier in Ruhe bearbeiten will. Es ist zufällig auch ein Sonnabend. Früh um acht ist er hier. Vor allen Dingen bringt er kolossalen Appetit mit, er bestellt sich gleich für morgen, zum Sonntag, einen Hammelbraten mit Zwiebeln. Gegen zehn Uhr — also am Sonnabend, zwei Stunden darauf, nachdem er gekommen ist — braucht er Papier, wie es hier nicht zu haben, er fährt schnell einmal nach London. Es sind ja nur ein paar Minuten. Wichtelmann kommt nicht wieder, nicht am Abend, am anderen Morgen ist er immer noch nicht zurück. Na, er bleibt oft genug die ganze Nacht aus, auch hier, da schläft er im Walde, unter einem Baume, auf einem Baume. Aber er wird schon noch kommen. Den Hammelbraten mit den gefüllten Zwiebeln lässt er sich nicht entgehen. Mistress Bellair ist so felsenfest davon überzeugt, dass sie um ein Uhr den Braten auf den Tisch setzt, auf Wichtelmanns Teller das geschnittene Fleisch legt. Da kommt ein Telegrafenjunge mit einer Depesche — Gruß aus Monte Carlo, Wichtelmann. — Steht hier sein Braten auf dem Tisch, und der ist unterdessen schon in Monte Carlo, in vierundzwanzig Stunden hingerast. Hat noch seine finnländische Pelzkappe auf dem Kopfe!«

Morrus verstand zu erzählen, und er erzählte in einer Weise, dass die beiden Mädchen vor Lachen zu sterben meinten, wenigstens jetzt am Schluss, wie er die letzten Worte herausgebracht hatte.

»Und das treibt er nun schon seit zehn Jahren — seit zehn ganzen Jahren. Er ist schon in der ganzen Welt herum gewesen, Nordafrika, Südafrika, Nordamerika, Südamerika — überall. Aber nun, wie er reist! Jetzt ist er also in Neapel. Das heißt, dort sollte er jetzt sein, seinem letzten Schreiben nach — aber vielleicht ist er jetzt schon wieder in Petersburg...«

»Das muss aber doch schrecklich viel Geld kosten. Ist er denn ein so reicher Mann?«

»Ach wo«, rief Morrus, und jetzt war solch eine Gelegenheit, wo er selbst herzlich zu lachen anfing. »Gar nichts hat er! Ja, er verdient viel Geld, aber haben tut er niemals etwas. Für sein Zimmer hier soll er die Woche drei Schilling bezahlen, und die bleibt er immer schuldig, während er... Doch ich muss der Reihe nach gehen, sonst verstehen Sie mich nicht. Wenn er nur so immer in der Welt herumjagte, wäre doch gar nichts Originelles daran. Das tun andere auch. Aber wie nun mein Wichtelmann reist! Und wie der unterwegs lebt! Nämlich vornehm! Wichtelmann logiert nicht etwa im Hotel, das hat er nicht nötig — er hat in der ganzen Welt Grundbesitze, mit seinem eigenen Haus darauf. Da kommt er also nach Hammerfest. Dort mietet er sich nicht eine Hütte, sondern er kauft eine. Na, das ist dort oben nicht so teuer. Am liebsten aber baut er sich die Hütte selbst. Und was er gekauft hat, verkauft er niemals wieder. Nun hat er doch also schon im nördlichen Europa seine Wohnung. Jetzt kommt er nach Monte Carlo. Wenn er dort noch keine Behausung hat, oder vielmehr, wenn er dort noch nicht gewesen ist, so spekuliert er zuerst einen Bauplatz aus, irgendwo, es brauchen nur ein paar Quadratmeter zu sein, so billig wie möglich, einen Schutthaufen — und wenn er den hat, dann kauft er sich ein paar alte Bretter, die nagelt er zusammen, so eine größere Hundehütte, und dann wohnt er drin...«

»Ach, es ist doch nicht möglich!!«

»Faktisch!«, lachte Morrus. »Und so hält er es überall, überall. Wo er in der Welt einen Tag weilt, und er hat dort noch nicht sein eigenes Heim, so kauft er ein paar Quadratmeter Land, nur zehn, das genügt ihm schon, nämlich wenn der Boden zu teuer ist, und er baut sich eine Hütte drauf. Und das lässt er alles registrieren. Mistress Bellair hat die Urkunden alle in ihrem Panzerschrank. Und vor allen Dingen Höhlen — Höhlen und Inseln, die haben es ihm angetan. Wichtelmann hat überall in der Welt seine Höhlen und Inseln. Im Lago Maggiore liegen doch die berühmten Inseln, die — die...«

»Die Borromäischen Inseln, die Isola Bella und die Isola Madre«, kamen die beiden Lehrerinnen sofort zu Hilfe.

»Jawohl, die herrlichen Inseln des Grafen Borromeo. Nun, Herr August Wichtelmann hat im Lago Maggiore ebenfalls seine eigene Insel. Tatsache! Freilich...« Morrus machte einen großen Schritt drehte sich sofort um, und jetzt begann er wieder zu lachen, »... so groß ist sie nicht einmal, es ist nur eine spitze Klippe, die aus dem Wasser sieht, auf diese Spitze muss man sich vorsichtig setzen — aber immerhin, Herr August Wichtelmann hat im Lago Maggiore ebenfalls seine Insel. Den Kauf hat ein deutscher Apotheker in Intra vermittelt; der Gemeinde klarzumachen, dass jemand den kleinen Felsen kaufen wollte, das war wohl das Schwierigste dabei, dann hat er nur zehn Francs in die Armenkasse gezahlt, und er war Herr der Insel, konnte sich draufsetzen und stolz die Arme über die Brust schlagen. Und nun sollen sie ihn einmal hören, wenn er von seiner Insel im Lago Maggiore spricht. Und so hat er noch überall in der Welt seine Insel. So zum Beispiel im BirketElKerun, einem großen Salzsee in Ägypten, in der Nähe der Oase Fayum...«

»Das ist der letzte Rest von dem alten Moerissee!«

»Ganz richtig. Aber der ist noch heute meilengroß. Da hat er auch eine Insel drin gekauft, aber eine große. Die könnte einen Menschen ernähren. Wenn etwas darauf wüchse! Aber es ist nur eine Steinplatte ohne einen Grashalm. Immerhin, Herr August Wichtelmann besitzt auch im alten Moerissee eine Insel. Die hat er von der Regierung gleich geschenkt bekommen, nur einige Bakschische und die Stempelgebühren hat sie ihm gekostet. In Ägypten hat er auch noch einen ganzen Felsenberg gekauft, in der Nähe von Ismailia, dicht am großen Bittersee, also am Suezkanal, aber mitten in der Wüste, einen riesigen Felsblock, einen ganzen Berg. Den will er sich ausmeißeln, er hat schon angefangen, er will sich einen ganzen Palast herausmeißeln...«

»Das ist ja großartig!!«, rief Toni mit geröteten Wangen und ganz begeisterten Augen.

Überhaupt, während Klara noch immer ob des Erzählten lachte, lauschte die Schwester schon seit längerer Zeit mit Andacht, wie nur ein phantastischer Knabe den Abenteuern eines alten Seemannes lauschen kann.

»So kauft er in aller Welt Terrain«, fuhr Morrus fort, »was für einen anderen Menschen gar keinen Wert hat. So besitzt er auch hier oben in England ein mächtiges Gebiet, hat es aber für ein Butterbrot bekommen, es ist nämlich nur reiner Sand. Wenn er überhaupt eine alte Sandgrube sieht, die muss er haben, da baut er sich ein Hüttchen hin, wohnt einige Zeit darin, und da ist er glücklich. —

Ja, dieser Wichtelmann ist überhaupt ein glücklicher Mensch! Und glauben Sie ja nicht, dass er etwa voll Schrullen steckt. Durchaus nicht. Es ist ein praktischer Mann durch und durch, alles, was er macht, das hat Hand und Fuß und er ist ein ganz gescheiter Kopf, aber... es lässt sich schwer beschreiben. Das lässt sich nur fühlen. Er hat eine furchtbare Einbildungskraft, und er sieht alles mit ganz anderen Augen als die übrigen Menschen.«

»Natürlich, natürlich, er ist doch auch ein Schriftsteller!«, sagte Toni eifrig.

»Das ist es. Oder vielmehr: Diese Gabe hat ihn zu einem Erzähler gemacht. Ich selbst finde diese seine Sonderbarkeiten nämlich durchaus nicht komisch, und wenn ich beim Erzählen lache, so tu ich dies nur, weil ich — weil ich — mich selbst darüber freue. Wichtelmann spricht ja auch zu keinem Menschen von seinen Käufen und seinem Landbesitz, und wenn er so mit seiner Insel renommiert, wie ich Ihnen vorhin sagte — das tut er nur mir gegenüber. Warum kauft er sich solch eine Felsenklippe? Aus einem ganz bestimmten Grunde. Aber das eben ist so schwer zu beschreiben. Da rudert er hin, wenn er in jene Gegend kommt, und setzt sich wirklich darauf und bleibt stundenlang auf dem Zacken sitzen, und da träumt er, und da entsteht in ihm ein Bild — der kleine Felszacken im Wasser dehnt sich immer mehr und mehr aus — er befindet sich wirklich auf einer großen einsamen Insel im Weltmeere, und da sagt er: Das ist meine Insel — doch das eben kann ich Ihnen nicht schildern, was dabei in ihm vorgeht.«

»Aber ich verstehe, ich verstehe alles!«, rief Toni mit demselben Eifer. »Das nennt man die dramatische Spaltung, ohne welche Gabe der Dichter kein Dichter ist.«

»Dramatische Spaltung«, wiederholte Morrus, stehen bleibend und die Sprecherin überrascht anblickend. »Diesen Ausdruck führt mein Freund Wichtelmann sehr oft im Munde. Ja, das ist es — die dramatische Spaltung. — Doch lassen wir das jetzt sein, es ist genug, wenn Sie mich verstehen, und das freut mich. — Also, Sie meinten vorhin, dass solche Reisen doch schrecklich viel kosten müssen. Nein, das tun sie nicht. Dass er so wie jetzt auf einen Rutsch gleich durch ganz Europa fährt, das kommt auch sehr selten vor. Ab liebsten wandert er zu Fuß. Oder er geht an einem schönen, sonnigen Tage durch die Straßen, kommt an einem Schaufenster mit Fahrrädern vorbei, da hat er einen Einfall, eine Sehnsucht überkommt ihn, er tritt ein, kauft sich für zehn Pfund eine Maschine, und nun radelt er los, so wie er ist, Hunderte, Tausende von Meilen weit, wochen- und monatelang, immer geradeaus. Für sich selbst braucht er fast gar nichts. Wenn dieser Mensch ein Stück Brot und ein Stück Käse hat, ist er zufrieden. Da kommt er in eine Hopfengegend, es werden Arbeiter gesucht — da zieht er vierzehn Tage lang Hopfenstangen aus der Erde, lässt sich dafür bezahlen. Das macht ihm königliches Vergnügen. Die höchste Freude aber wird erreicht, wenn er irgendwo in der Einsamkeit eine Höhle entdecken kann, vielleicht so romantisch an einem Bache gelegen. Es braucht auch nur ein Erdloch zu sein. Wenn er nur in etwas hineinkriechen kann. Es kann sogar ein Fass, eine Tonröhre sein, die irgendwo im Walde liegt...«

»Ach, nun hören Sie mir auf!!«, lachte Klara.

»Faktisch, ich scherze nicht. Da siedelt er sich an, die Höhle oder Tonröhre wird seine Heimat. Gleich für ein halbes Jahr lang. Aus der nächsten Ortschaft besorgt er sich Proviant, stets für lange Zeit, am meisten Hülsenfrüchte und anderes, was nicht verdirbt, einen kleinen Petroleumofen, und nun haust er wie ein Wilder. Bei solchen Gelegenheiten schafft er nun auch kolossal, ich meine: Manuskript — obgleich er immer sehr fleißig arbeitet...«

»Wie schreibt er denn da, wo schickt er es denn immer hin? Er muss doch Papier und alles haben.«

»O nein, das wird ganz anders gemacht, als Sie es sich wohl vorstellen. Er stenografiert nur, in ein Notizbuch oder auf Zettelchen, das geht nach Leipzig, wo er eine Dame hat, mit der er eingearbeitet ist, d. h. welche seine Stenografie fließend lesen kann, die schreibt den Roman ab und schickt ihm das Manuskript erst wieder zu, wo er sich auch befindet, hier liest er es, korrigiert, streicht, setzt zu, und nun erst schickt er das saubere Manuskript an eine Redaktion oder Verlagsbuchhandlung.«

»Ach, so wird das gemacht! Wie viel verdient er denn nun eigentlich durch seine Schriftstellerei? Nur so ungefähr.«

»Nun, auf fünfhundert Pfund im Jahre steht er sich mindestens.«

»Fünfhundert Pfund Sterling — zehntausend Mark?!!«, staunten die Schwestern.

»Mindestens. Sein Geld kommt meist hierher, und allein während er das halbe Jahr in Hammerfest war, sind hier achttausend Mark eingegangen.«

»Und da wohnt er in einer Höhle — in einer Tonröhre?!«, lachte Klara.

»Aber, Klara!«, rief dagegen Toni empört. »Verstehst du denn gar nicht?! Da sammelt er doch Ideen! Erzählen Sie nur weiter. Wie lange bleibt er nun in so einem Versteck?«

»Bis er es überdrüssig bekommt oder bis er entdeckt wird. Hierbei ist nun wiederum etwas ganz Eigentümliches. Er sucht nämlich zu so etwas mit Vorliebe gerade die dichte Nähe einer großen Stadt auf, nicht, weil er es hier bequemer hat, sondern... Es liegt für ihn ein ganz besonderer Reiz darin, in der Nähe von Menschen solch eine unbekannte Einsiedelei zu haben, womöglich gehen Tausende vorüber, und keiner ahnt, dass hier ein Mensch schon seit langer Zeit verborgen lebt, der keine Miete und keine Steuern zahlt...«

»Ja, ich verstehe, ich verstehe, was für ein Reiz hierin liegt!«, rief Toni wiederum.

»Ich erzähle einen speziellen Fall, der ihm in Bayern passiert ist. Da hat er ein halbes Jahr auf solche Weise dicht bei Nürnberg gehaust, unter der Erde, an einer Promenade. Zuletzt fand ihn die Polizei. Na, die Sensation war groß, es stand damals in allen Zeitungen, wir haben die Ausschnitte noch hier. Der moderne Höhlenmensch wurde natürlich beim Kragen genommen und kam vor die Polizei. Wer bist du? Wie heißt du? Jetzt ging die Komödie erst richtig los. Mein Wichtelmann hatte nämlich von seiner baldigen Entdeckung Wind bekommen und dafür gesorgt, dass man keine Papiere bei ihm fand. Er steckte also die Hände in die Hosentaschen und sagte: Findet es doch selber heraus, wer ich bin, und wie ich heiße; ich sage es nicht, ich weiß es nicht, ich hab's vergessen. — Na, da ist er ein paar Monate eingesperrt gewesen, sie haben alles Mögliche mit ihm aufgestellt, es ist ihm wohl auch schlecht genug gegangen, aber aus dem geheimnisvollen Fremdling war nichts herauszubringen, und nun fing Wichtelmann auch noch an, den Beamten romantische Märchen aufzubinden, von seiner Geburt, er wäre ein verstoßener Prinz und so weiter. Zuletzt haben sie den lästigen Menschen über die Grenze nach Österreich abgeschoben. Das ist aber nur ein einziger Fall. Er ist schon wiederholt eingesperrt gewesen, immer nur wegen solcher romantischer Landstreicherei. In Lyon ist er aus dem Gefängnis gebrochen, richtig durch die Mauer, und dann an einem aus Betttüchern gedrehten Strick aus dem Korridorfenster hinab, da haben sie nach ihm geschossen, ihn glücklicherweise nicht getroffen. Ein andermal, gleichfalls in Frankreich, ist er in Ketten auf der Landstraße dem Gendarmen entsprungen, ist mit den Ketten an den Händen tagelang umhergeirrt, wie ein wildes Tier, bis ein Dorfschmied, dem er eine rührende Mordgeschichte erzählte, ihm die Ketten durchgefeilt hat. Und dies alles für nichts und wieder nichts. Wichtelmann kann ja gar kein Wässerchen trüben. Das macht ihm eben Spaß, das ist sein Amüsement.«

»Es ist doch unerhört! Und über diese seine Abenteuer schreibt er nun Geschichten?«

»Nein. Niemals. Er verwertet die Erlebnisse wohl, er sammelt ja dabei Erfahrungen, aber nicht, dass er persönlich seine Erlebnisse erzählt. Er sagt, so etwas würde man ja doch nicht glauben, weder Redaktionen noch Publikum, und da hat er ja auch ganz recht. Es ist überhaupt nur sein eigenes Amüsement, es liegt ein Reiz für ihn darin, dass er, ein in Deutschland wohlbekannter Schriftsteller mit großem Einkommen, in Deutschland als ein unbekannter Landstreicher eingesperrt wird. Und er verrät sein Inkognito nicht, niemals! Denn wenn man auch aus seinen Papieren ersieht, dass er Wichtelmann heißt, so weiß man doch nicht, dass er jener vielgelesene Romanschreiber ist. Daraus ersehen Sie auch, dass er so etwas nicht in der Absicht tut, sich einen Namen zu machen. Solche Tricks findet er unwürdig. Nein, nur zu seinem Privatvergnügen.«

»Seltsam, ganz seltsam!«, meinte Klara. »Sie sagten aber doch vorhin, dass er oftmals selbst seine kleine Zimmermiete nicht bezahlen könnte...«

»Halt, das dürfen Sie nicht so wörtlich nehmen. Wichtelmann bleibt keinem Menschen etwas schuldig. In Geldverlegenheiten befindet er sich allerdings sehr oft, und das wollte ich vorhin andeuten, und da kann es auch vorkommen, dass er keinen Penny in der Tasche hat. Nicht, dass er sein ganzes Einkommen in solchem Grundbesitz anlegt — das sind ja alles Kleinigkeiten — sondern er kann überhaupt kein Geld halten, obgleich er doch für sich selbst so gut wie gar nichts verbraucht. Glauben Sie mir, dieser Wichtelmann ist ein ganz geriebener Kopf, er kennt die Welt, und er hat Haare auf den Zähnen — aber kommen Sie zu ihm, klagen Sie ihm Ihr Elend, machen Sie ihm irgend etwas Unmögliches vor, wie Sie ins Unglück gekommen sind — da ist er leichtgläubig wie ein Kind, da glaubt er einfach alles, und da zieht er gleich sein Hemd aus. Dass er einmal ohne Stiefel nach Hause gekommen ist, das ist hier wirklich schon passiert, er hatte sie einem Manne an der Landstraße geschenkt, der ein Paar Stiefel sehr nötig hatte, und Wichtelmann hatte ja noch ein anderes Paar zu Hause. Und so geht es ihm auch mit seinem Gelde. Er verdient nur für andere. — O, es ist ein glücklicher, ein sehr glücklicher Mensch!«

Sie hatten die Gärten erreicht, welche den Wald umgeben, bei diesen letzten Worten war Morrus stehen geblieben, er hatte sie feierlich gesprochen, Klara blickte ihn aufmerksam an, und sie bemerkte etwas in seinen Augen, was sie stutzig machte.

»Mister Morrus, Sie sind doch auch Schriftsteller?«

»Ich?«, lächelte aber der Gefragte erstaunt. »Woraus glauben Sie das schließen zu können? Nein, ich bin Inspektor einer Lebensversicherungsgesellschaft. Sehen Sie, meine Damen«, er wandte sich rückwärts, »diesen ganzen großen Wald, den betrachtet Wichtelmann als sein Eigentum, in seiner Einbildung, da spielt er drin Trapper oder Indianer, und da wird er in seiner Phantasie wirklich zu einem Indianerhäuptling auf dem Kriegspfade oder auf der friedlichen Büffeljagd, und nichts kann ihn in dieser Einbildung stören. Und begegnet ihm ein sonntäglich gekleideter Spaziergänger, so sieht er diesen entweder gar nicht, oder im Nu verwandelt sich der moderne Anzug in ein ledernes Jagdkostüm und der Zylinderhut in einen Kopfputz aus den Federn des Seeadlers. Ich habe Ihnen nun schon so viel verraten, da kann ich Ihnen denn auch noch seine Generalstabskarte zeigen, die er von diesem Walde entworfen hat, in welcher Weise er das alles als sein Eigentum betrachtet und behandelt. Hier wird er sich wohl auch einmal für immer ansiedeln, er hat schon oft davon gesprochen, dass dieser Zeitpunkt nun bald käme. — Ach, wenn doch Wichtelmann jetzt hier wäre! Der könnte Ihnen etwas vormachen, ich glaube, das wäre so etwas für die jungen Damen.«

»Woher glauben Sie denn das?«, fragte Klara lachend.

»Nun, ich habe die beiden Damen vorhin auf einem Baume sitzen sehen — ich habe es aber auch schon annehmen können. Ihnen war es so fürchterlich, erst auf den Tee warten zu müssen, Sie wollten doch in den Wald, aber hier nicht Tee trinken.«

»Wirklich, Mister Morrus, Sie sind ein Menschenkenner, und wir sind Ihnen Dank schuldig.«

»Woher wussten Sie denn gleich, dass in der unterirdischen Höhle Erbsen und Bohnen und Linsen sein würden? Macht das Wichtelmann immer so?«

»Immer. Sobald er solch eine Höhle oder ein Erdloch oder ein sonstiges Versteck gefunden oder sich selbst gewählt hat, so verproviantiert er es, wohnt erst einige Zeit darin und verlässt es noch besser verproviantiert. Alles muss darin sein, was der Mensch zum Leben braucht, für ein Jahr lang und länger, und da legt er sich manchmal so behaglich hinein, blinzelt mit den Augen und denkt... ja, was er aber dabei denkt, das kann ich den Damen wirklich nicht verraten, denn das weiß ich selbst nicht, es fehlen mir die Worte, es zu schildern.«

»Er denkt: Jetzt kann mir die ganze Welt den Buckel herunterrutschen«, fiel Toni ein. »Ich habe auf der Welt nichts mehr zu suchen, weil ich wohlverproviantiert hier unter der Erde liege, und brauche weder Miete noch Steuern zu bezahlen.«

»Das ist es!«, rief Morrus. »Sie haben es erfasst! Nun wollen die Damen aber kommen, sonst brennt der Braten an. Hätte der Hund ihre Spur nicht verfolgen können, weil Sie Schirm und Hut liegen gelassen, an denen ich ihn riechen ließ, so hätte ich Sie auch gar nicht so gleich finden können.«

»Ach, dieser kleine Hund hat unsere Spur verfolgt?!«

»Jawohl, das kann er, das hat ihm Wichtelmann beigebracht. Es ist Wichtelmanns Wachtelmann.«

Bisher war der zierliche Wachtelhund im Gebüsch gepirscht; als er seinen Namen hörte, kam er herausgesprungen, ließ sich von Toni gern fangen und in die Höhe heben.

»Ach«, jubelte Toni, das Hündchen in die Lüfte schwingend, wie man es etwa mit einem kleinen Kinde tut, »Wichtelmanns Wachtelmann, Wachtelmanns Wichtelmann, Wichtelwachtels Wachtelwichtel. — Ach, Klara, wenn doch jetzt nur Wichtelmann hier wäre!!«

* * *

4. Kapitel

Der Braten war doch noch nicht ganz fertig, es musste noch einige Minuten gewartet werden, und inzwischen kam immer wieder Wichtelmann daran. Toni vor allen Dingen verlangte gleich die Generalstabskarte zu sehen, und Morrus begab sich hinauf und brachte in den Parlour einige große Pläne, welche er auf dem abgedeckten Tische aufrollte und an den Ecken mit Gummibändern befestigte.

Die englische Kriegsverwaltung besitzt von Robin Hoods Walde natürlich sehr genaue Karten, jeder alleinstehende und jeder gefällte Baum ist darin angegeben, und diese Karten waren von Wichtelmann sorgfältig abgezeichnet worden, aber die auf der Generalstabskarte angeführten Namen hatte er ausgelassen und dafür selbsterfundene eingetragen.

Da gab es einen Schlangenbach und einen Krokodilsee — in Wirklichkeit nur eine Pfütze — ein Felsengebirge, welches sich dreitausend Millimeter über das andere Niveau der Erdoberfläche erhob, darüber führte ein Bärenpass, durch die Teufelsschlucht — durch das Tal des Todes ging es in die Große Salzwüste, welche vom Biberstrom mit der Büffelfurt von der blumigen Prärie geschieden war, auf der sich einsam der Baum des großen Geistes mit dem Häuptlingsgrab erhob — und so ging es immer weiter.

»Was für Zahlen sind denn das überall?«, fragte Toni.

»Nun haben Sie genug gesehen«, entgegnete aber Morrus, die Pläne wieder zusammenrollend, »mehr darf ich von den Geheimnissen nicht verraten. Über diese Zahlen führt er ein besonderes Geheimbuch, welches auch ich nicht zu sehen bekomme. Da hat er seine Verstecke, oder da hat er etwas vergraben — denn im Vergraben ist er überhaupt groß. Dort, wo Sie zufällig unter dem hohlen Baume eine Erdhöhle gefunden haben, würden Sie hier ebenfalls eine Nummer eingetragen sehen, in seinem Geheimbuche näher erläutert. Aber die Damen nehmen es doch nicht übel, wenn ich die Geheimnisse meines Freundes nicht gar zu sehr preisgebe.«

Während Toni mit halbgeöffnetem Munde lauschte und las, lachte Klara jetzt und eilte hinaus. Sie hatte Geschirr klappern hören.

»Mistress Bellair hat ja kein Mädchen, ich will ihr doch etwas behilflich sein!«

Toni blieb noch im Vorderzimmer und sah zu, wie Morrus bedächtig die Pläne zusammenrollte.

»Ja, dieser Wichtelmann hat sich wirklich ein schönes Leben zu zimmern verstanden« sagte sie dann etwas schwermütigen Tones. »Ach, wer das doch auch so könnte!«

»Das ist eine glückliche Gabe«, meinte Morrus.

»Ich besitze sie auch. Ich würde es geradeso machen. Wenn ich hier an diesem Walde lebte, ich würde auch so darin hausen, ich wäre von selbst auf diese Idee gekommen, nicht etwa, dass ich erst jetzt eine Anregung dazu bekommen hätte. Aber dazu muss man frei und unabhängig sein. Ach, frei und unabhängig!! Was habe ich schon alles meinen Kopf zermartert, wie ich mich frei und unabhängig machen könnte. Aber missverstehen Sie mich nicht etwa, Mister Morrus. Arbeiten muss jeder Mensch, auch wenn er reich ist, das ist er der anderen Menschheit schuldig. Doch ich möchte mir eine Beschäftigung wählen, wobei ich die Arbeitszeit von Tag zu Tag selbst wählen kann. Sehen Sie, wir können ja später einmal einen Kindergarten oder so etwas aufmachen, da wären wir doch auch frei und unabhängig. Aber das ist noch lange nicht das, was ich meine. Da haben wir doch auch gewisse Stunden einzuhalten, und Herr meiner Zeit möchte ich sein! Wie viel ich dabei verdiene, das ist mir ganz egal, wenn ich nur davon leben und ein klein wenig für die Zeit der Not zurücklegen kann, sonst geht es mir da so wie Wichtelmann, ich käme auch mit Brot und einem Stückchen Käse aus. So wie hier... was kostet solch ein Cottage Miete?«

»Na, das wäre zu viel. Aber ich will sagen: ein Zimmer für uns beide, fünf Schilling. Ich habe schon alles Mögliche gedacht, an Adressenschreiben, es wird auch immer in den Zeitungen annonciert, man soll sich eine Strickmaschine kaufen, ständige Arbeit wird garantiert, bei zehnstündiger Arbeitszeit soll man in der Woche vierzehn Schilling verdienen. Ich habe mich schon deswegen erkundigt, habe da zu hören bekommen, dass das eine faule Sache ist, eine richtige Garantie geben die doch nicht, und dann sitzt man mit seiner Strickmaschine zu Hause und hat keine Arbeit, hat womöglich noch hundert Paar Strümpfe daliegen, hat sein Geld hineingesteckt, und jetzt werden sie einem nicht abgenommen. Das ist es eben: man muss eine ganz, ganz sichere Arbeit haben, und wenn ich auch täglich vierzehn Stunden arbeiten müsste, ich ginge gleich darauf ein. Dann würde ich es so halten: an Regentagen wird feste gearbeitet, vom ersten Sonnenstrahle an bis zur Mitternacht, ebenso im Winter, es müssen immer Stunden erspart werden, die man auf das Guthabenkonto schreibt, dann kann man diese an schönen Tagen wieder aus der Bank ziehen. Verstehen Sie, wie ich das meine?«

»Jawohl, ich verstehe. Und dies ist auch der Wunsch Ihrer Fräulein Schwester?«

»Hm«, machte Toni nachdenklich. »Eigentlich nicht so recht. Wissen Sie«, fuhr sie dann wieder lebhaft fort, »wir könnten uns ja mit Leichtigkeit solch ein angenehmes Leben schaffen. Wir gründen eine Pension für Damen, das geht immer, so viel Geld haben wir auch, um die einzurichten, vielleicht wäre selbst hier an diesem Walde etwas zu machen.«

»Gewiss, hier wohnen sehr viele einzelne Damen, welche in der City beschäftigt sind. Aber ich mache Sie darauf aufmerksam, dass man von solch einer Pension noch nicht leben kann.«

»Das weiß ich. Dann hat man aber doch wenigstens die Miete frei, das muss herausspringen, und das genügte schon. Für das tägliche Brot würde ich sorgen, meine Schwester führt den Haushalt. Sehen Sie, das passte alles so famos! Klara tut nichts lieber als kochen und scheuern, wenn sie sich nur eine Schürze vorbinden kann, dann ist sie schon glücklich, und ich würde Strümpfe stricken oder sonst etwas tun — wenn nur die Sicherheit vorhanden ist, dass man dadurch auch immer sein tägliches Brot hat. Aber wer garantiert dafür?«

»Nun«, meinte Morrus nachdenklich, »wo der Wille vorhanden ist, da findet sich immer ein Weg. Wenn nur alle über die Arbeit so dächten wie Sie! Ja, ich verstehe, dass Sie solch ein ungebundenes Leben in Genügsamkeit bei vieler Arbeit einer sehr gut bezahlten Stellung vorziehen. — Nun, da sollten Sie einmal mit Wichtelmann darüber sprechen, der weiß für alles Rat.«

»Ja«, fuhr Toni fort, »ich gestehe es — aber lachen Sie mich nicht aus — ich habe es sogar einmal mit der Schriftstellerei versucht. Das ist ja das Ideal zu solch einem Leben — wie Wichtelmann beweist. Solche Feuilletonromane, die kann ich nämlich auch schreiben, das habe ich gleich gesagt, als mir die Sache in den Sinn kam. Aber... Ich habe ein Haar in der Suppe gefunden. Drei Romane und ein Dutzend Novellen habe ich verbrochen, und die Dinger waren ganz gut, wirklich, besser als manch anderes, was ich zu lesen bekommen habe — aber annehmen wollte meine Sachen niemand. Warum nicht? Da habe ich manches zu erfahren bekommen. Sie interessieren sich doch nicht weiter dafür. Das Angebot ist eben gar zu groß, ein gottbegnadetes Genie, welches hoch über die Menge ragt, bin ich nicht, das sehe ich ein, und sonst, ehe man sich mit den Durchschnittsarbeiten einen Namen gemacht hat, ehe man also eingeführt ist, da soll man sich jahrelang erst quälen müssen. Kurz, meine Romane wurden nicht angenommen, und die Verleger, welche meine Novellen drucken wollten, die verlangten von mir auch noch so dreihundert bis sechshundert Mark, die sollte ich noch zuzahlen. Das machten alle Schriftsteller so. Ei du mein jeh! Aber da hatte ich die Nase vollbekommen! — Jawohl, ein Roman wäre von einer Zeitung beinahe angenommen worden, ich wurde auf die Redaktion bestellt — es war nur so ein Winkelblättchen, aber egal, ich wollte mich durchaus gedruckt sehen — der Herr Redakteur war allein, war sehr, sehr freundlich gegen mich — sagte mir viel Schmeicheleien — o, ja, er würde den Roman gern veröffentlichen, aber... selbstverständlich... er hoffe doch...«

Die stockende Toni sprach gar nicht mehr, sie führte langsam die Fingerspitzen gegen den Mund, leckte daran und sah Morrus mit eigentümlichem Blicke von unten an.

»... aber da — Mister Morrus, ich sage Ihnen — aber da hat es in dem Redaktionszimmer einen Knall gegeben! Mein Roman lag freilich im Papierkorb — aber der Herr Redakteur lag auch mit drin.«

Es war selbstverständlich, dass Morrus aus vollem Halse lachen musste. Das frische, jugendstarke Mädchen hatte es auch gar zu drollig hervorgebracht.

»Und dann hatte ich eine Freundin«, fuhr Toni fort, »auch eine Lehrerin, hatte eine ausgezeichnete Stelle, hatte sich durch Fleiß und Betragen aber selbst dazu emporgearbeitet. Die fängt auch an zu schriftstellern, schickt an eine große illustrierte Zeitung eine Novelle ein, nur ein ganz kleines Ding — bekommt hundertfünfzig Mark dafür, und außerdem einen Brief: ,Bitte bitte, schicken Sie uns von Ihrer Güte noch mehr ein.‹ Gut, sie schreibt schnell eine andere Erzählung, etwas länger, arbeitet aber doch nur zwei Abende daran — acht Tage später bekommt sie gleich zweihundertfünfzig Mark. Und wieder so einen Brief. Jetzt wird sie verrückt. Am nächsten Tage geht sie nicht mehr in die Schule. Bleibt einfach weg. Sie fängt an zu schreiben. Da kann sie mehr verdienen. Die Redaktionen lauern ja nur auf ihre Sachen. Und... alle war's. Mit Bedauern zurück. — Ja, sie lebt noch heute nur von der Schriftstellerei... aber wie! Ein unglückliches Geschöpf, mit sich und Gott und aller Welt zerfallen, sie kann nicht weiter mehr als räsonieren und über ihre verkannte Größe jammern — und Zigaretten rauchen und großsprechen. — Nee, nee, nee, nee, da schulmeistere ich lieber und haue kleine Kinder durch, da ist das doch noch einkömmlicher, und, wie gesagt, einen so furchtbaren Drang fühle ich gar nicht in mir, die Menschheit mit meinen Geisteskindern zu beglücken. — Und mein Name ist dennoch gedruckt worden!! Wissen Sie, auf welch listigem Wege ich das zustande gebracht habe?«

»Nun? In einer Zeitung?«

»Nein. Hundert Visitenkarten habe ich mir drucken lassen.«

Morrus lachte diesmal nicht, sondern er war sehr ernst, es klang fast feierlich, als er sagte:

»Wohl Ihnen, dass Sie hierüber solch gesunde Ansichten haben!«

Mistress Bellair rief zum Essen, Klara forderte noch einmal nachdrücklich dazu auf.

»Aber sagen Sie meiner Schwester ja nichts von dem dummen Zeug«, flüsterte Toni auf dem Gange ihrem Begleiter schnell noch zu, »von dem Adressenschreiben und dem Strümpfe stricken — wir sind ja überhaupt ganz zufrieden mit unserer Stellung, ganz zufrieden.«

Während des Sonntagsbratens beherrschte wieder Herr August Wichtelmann allein das Thema. Die Wirtin hörte etwas von der Räuberhöhle, und jetzt begann die auch zu erzählen.

Die Zwillingsschwestern fühlten sich schon wie zu Hause, obgleich sie erst vor drei Stunden gekommen und noch dazu die längste Zeit im Walde gewesen waren.

Nach dem Essen äußerte sich die Wirkung der frischen Luft, welche die beiden in so ausgiebigem Maße nicht mehr gewöhnt waren.

»Ich möchte jetzt eigentlich ein Stündchen schlafen«, begann Toni. »Im Wald und auf der Heide? Das ist mir doch noch etwas zu neu. Ich ziehe vorläufig noch ein zivilisiertes Bett vor. Mistress Bellair, was meinen Sie, kann ich einmal erst mein zukünftiges Bett ein Stündchen probieren?«

»Weiter fehlte nichts, die Ferien verschlafen!!«, rief Klara. »Weißt du, Toni, du fährst nicht erst heute Abend nach London, um unsere Sachen zu holen, wie wir ausgemacht hatten, sondern gleich jetzt, dann vergeht dir die Müdigkeit, dann sind wir heute Abend gleich gemütlich hier — und ich helfe der Mistress Bellair unterdessen mit aufwaschen. Am liebsten aber mache ich das ganz allein, denn ich sehe der Missis gleich an, dass sie jeden Sonntagnachmittag zu schlafen gewöhnt ist.«

Gedacht, getan, Toni holte schon ihren Hut, und als sie fort war, wusste es Klara der Hausfrau klar zu machen, dass sie wirklich das Abräumen und Aufwaschen am allerliebsten ganz allein besorge, das mache ihr Spaß, das sei einmal ein richtiges Sonntagsvergnügen — wo ist eine Schürze, wo Seife und Soda und Tücher! — und die Hände der alten Dame sahen auch gar nicht danach aus, als ob sie sich viel mit solcher Hausarbeit befassten, und als Morrus bestätigte, dass die sonst von früh bis abends mit Schreiben beschäftigte Mistress Bellair wirklich nur am Sonntag ein Mittagsschläfchen zu halten pflege, da zog sich endlich die alte Frau mit beschämter Freude zurück.

Die Wohnstube selbst des schon recht gut situierten Engländers ist, wie es Dickens geschildert hat, noch heute die Küche. Alle diese Cottages, bewohnt von Arbeitern, von Tagelöhnern, haben einen Salon und ein besonderes Speisezimmer — aber in der Küche wird gewohnt, da fühlt man sich behaglich. Diese Küche ist freilich auch zum Bewohnen gleich gebaut und eingerichtet und mit Bildern geschmückt. Daneben ist stets auch noch die ,Scullery‹ mit dem Wasserausguss und mit Hähnen für kaltes und heißes Wasser. Überhaupt, diese englischen ,Hütten‹ sind mit einem Komfort gebaut, wie man ihn in Deutschland selbst bei besseren Wohnungen nicht kennt. Dass sie durch ganz England über einen Leisten gebaut werden, das ist für das Auge zwar sehr eintönig, manchmal sieht eine große Stadt genau wie die andere aus, ein Haus allein wird niemals aufgerichtet, AktienGesellschaften lassen immer gleich ganze Viertel bebauen, aber dadurch eben können die modernsten Einrichtungen auf die billigste Weise angebracht werden. Das Küchenfeuer versorgt durch ein Röhrensystem das ganze Haus mit heißem Wasser, und da gibt es kein Wasserschleppen mehr, selbst der Waschtisch ist ein unmodernes Gerümpel — der Architekt bestimmt gleich die Badezimmer, da werden die höchst komfortablen Waschtische mit riesigen Bassins gleich eingemauert, darüber sind die Hähne für kaltes und heißes Wasser, natürlich auch mit Abfluss, die Küche ist unten, aber man hat das heiße Wasser oben, in jedem Zimmer, und da merkt man nicht, dass mehr Feuerung verbraucht wird, der noch warme Rauch darf nicht unbenützt zum Schornstein hinausgehen — und so ist es mit allem und jedem, praktisch und komfortabel bis ins kleinste. Barking, zehn Meilen von London entfernt, nur bewohnt von Fischern — da hat jede kleinste Hütte schon elektrisches Licht. —

Klara arbeitete mit hochgestreiften Ärmeln, und man sah ihr an, welches Vergnügen ihr das bereitete, die Hausfrau spielen zu können. Morrus saß auf dem Sofa und schaute ihr mit seinen großen, träumenden, melancholischen Augen zu, und lange Zeit verging. Klara war schon beim Abtrocknen, ehe zwischen den beiden ein Wort gewechselt wurde. Der Mann träumte offenbar, aber merkwürdig war es, dass das Mädchen gar kein Gespräch begann. Es warf nur ab und zu einen heimlichen Seitenblick nach dem auf dem Sofa Sitzenden.

»Gestatten Sie, dass ich rauche?«, brach Morrus endlich das Schweigen, seine Tabakspfeife aus der Tasche ziehend.

»Aber gewiss doch! Das habe ich sogar so gern, das riecht so gemütlich. Unser Papa raucht zu Hause auch immer Pfeife.«

Hiermit war das Gespräch eingeleitet. Doch kam es durch die Erwähnung des Vaters nicht gleich auf die häuslichen Verhältnisse, sondern erst auf die hiesigen, auf die Stellung der beiden Schwestern. Klara erzählte nur, dass sie aus einer großen Familie stamme, in welcher das Turnen und alles, was damit zusammenhing, sozusagen im Blute lag, ihr Großvater sei mit unter den Männern gewesen, welche in Deutschland das freie Turnen eingeführt haben, alle ihre Brüder waren Turnlehrer, wenn zwei davon auch Doktor der Philosophie, sie hatten am Gymnasium den Turnunterricht, und ihr Vater hatte eine kleine Fabrik von Turngerätschaften gehabt — und dann erzählte sie mehr davon, wie sie von dem englischen Herrn engagiert worden waren, unter welchen Bedingungen, was sie bekämen und dafür zu leisten hatten.

Morrus fand das auch sehr wenig Geld und sehr viel Arbeit. Die Diskretion, um welche ihn die Schwester über das, was sie ihm vorhin gesagt, gebeten hatte, wahrte er, obgleich die Versuchung sehr nahe lag, wenigstens einmal zu fragen, ob sich die beiden Mädchen in dieser Stellung, die ihnen vom Leben gar nichts mehr übrig ließ, denn glücklich fühlten.

Es kamen von ganz allein oft genug Gelegenheiten, wobei sich der Charakter der Geschwister offenbarte.

»O, wenn wir wollten«, sagte Klara, als das Gespräch auf den für englische Verhältnisse sehr geringen Gehalt gekommen war, »wir könnten Geld in Hülle und Fülle verdienen. Glauben Sie es? Wir beide könnten sofort im Zirkus oder im VarietéTheater auftreten, als Reckturnerinnen oder Trapezkünstlerinnen oder als sonst etwas in der Gymnastik, wir würden uns bald in jede Spezialität einarbeiten, es sind uns auch schon glänzende Angebote gemacht worden, im Monat tausend Mark und noch mehr, jede einzelne, schon früher, ehe wir dieses Engagement eingingen. Aber — nein!! Auf solche Weise wollen wir kein Geld verdienen. Das würden uns unsere Eltern niemals erlauben.«

»Ihre Eltern leben noch?«

»Nein, sie sind beide tot. Ich meine: Wenn sie noch lebten, so würden sie bekümmert sein, wenn wir wegen des Gewinnes so etwas ergriffen.«

Nach diesem Zeichen von Pietät gegen die verstorbenen Eltern ließ Morrus eine lange Pause eintreten, gedankenvoll rauchend, ehe er wieder eine Frage stellte.

»Auf fünf Jahre sind Sie den Kontrakt eingegangen?«

»Auf fünf Jahre.«

»Unter welcher Bedingung ist er aufzuheben?«

»Unter gar keiner.«

»Und keine Gehaltsverbesserung ausgemacht?«

»Auch nicht. Fünf Jahre lang jede Woche vier Pfund Sterling, wir beide zusammen.«

»Das verstehe ich nicht recht, oder — verzeihen Sie, es ist nur warmer Anteil, wenn ich so spreche, und manchmal lässt sich doch etwas noch gut machen — oder Sie sind aus Unerfahrenheit einen für Sie sehr ungünstigen Kontrakt eingegangen, diese Unerfahrenheit ist gemissbraucht worden, und dagegen gibt es Gesetze. Sie haben sich Mr. Davidson auf fünf Jahre verpflichtet, Sie sind gebunden. Gut. Wenn dieser Davidson jetzt aber plötzlich seine Turnschule aufgibt? Dann sind Sie einfach Knall und Fall entlassen. Wenn Sie solche schwere Bedingungen eingegangen sind, dann ist es doch nur recht und billig, wenn Ihr Arbeitgeber sich auch im Verhältnis dazu zu etwas verpflichtet.«

»Das ist ja auch der Fall! O, wir sind sehr vorsichtig gewesen, ehe wir unterschrieben, wir haben in Deutschland erfahrene Männer zu Rate gezogen, welche auch die englischen Gesetze kennen. Wir sind also auf fünf Jahre definitiv gebunden. Mister Davidson aber ebenfalls. Wenn er auch seine Schule aufgibt, ganz gleichgültig, er muss uns das Gehalt weiterzahlen, oder vielmehr, für die fünf Jahre gleich alles im Voraus, was an der Gesamtsumme noch fehlt, das wären also jetzt nach dem ersten Jahre achthundert Pfund, die wir sofort bar erhielten, und das wäre natürlich sehr gut für uns, wenn dieser Fall einträte.«

»Dann allerdings! Und wenn er die Schule verkauft?«

»Muss uns sein Nachfolger zu denselben Bedingungen übernehmen, oder Mister Davidson hat uns auszuzahlen. Wir sind auf alle Fälle gesichert, und das Mindeste, was wir nach den fünf Jahren haben werden, jetzt nur noch vier, das sind fünfhundert Pfund Sterling, die sparen wir uns auch so zusammen, mehr noch, wir verbrauchen nicht einmal die Hälfte, und mit fünfhundert Pfund Sterling kann man doch etwas anfangen.«

Freudestrahlend hatte Klara es gesprochen.

»Und wenn der Mann nun Bankrott macht?!

»Ja, geehrter Mister Morrus — wenn der Himmel einfällt, dann sind alle Spatzen tot. Davidson kann auch gar nichts dagegen machen, wenn wir keine Lust mehr haben und heimlich ausrücken, außerhalb Englands kann man uns nichts mehr wollen. Aber das werden wir nicht tun, wir halten aus, und dass diese neugegründete Schule so bald Bankrott machen sollte, davon ist nichts zu merken, die Geschichte geht sehr gut, und Davidson ist ein reicher Mann.«

»Hm«, meinte Morrus nachdenklich, »aber immerhin — auf fünf Jahre sich so zu binden — zwei junge Damen — es hat doch etwas auf sich. Nehmen Sie mir eine Frage nicht übel — ich bin ein alter Mann mit weißen Haaren — wenn Sie nun heiraten wollen?«

Das Mädchen wurde verlegen, es errötete.

»Ja, Sie haben recht. Auf diese Weise darf man sich nicht binden, dann hätte man sich ja als Sklave mit Leib und Seele verkauft. In dieser Hinsicht haben wir auch unsere Freiheit gewahrt. Heirat ist Kündigungsgrund. Das heißt nach einem Jahre, das aber nun schon vergangen ist. Acht Tage vor unserer Hochzeit sind wir frei, Davidson kann uns durch nichts zurückhalten. Hierin war er sogar sehr entgegenkommend, das heißt wohl unbewusst, er plauderte englische Gesetze aus, die wir gar nicht kannten. Allerdings hätten wir verpflichtet werden können, während dieser fünf Jahre nicht zu heiraten, doch diese Verpflichtung ist eben nicht geschehen. Wenn wir heute zu Mister Davidson sagen: Heute über acht Tage um diese Stunde haben wir Hochzeit — so muss er uns augenblicklich entlassen.«

Es klang merkwürdig, wie sie immer von »unserer« Hochzeit sprach, auch wenn man wusste, dass sie damit sich und ihre Schwester meinte.

»Aber an so etwas denken wir ja gar nicht«, setzte sie darauf hastig hinzu. »Wir sind froh, solch eine Stelle zu haben, wir werden dereinst mit Sicherheit fünfhundert Pfund besitzen.«

»Was werden Sie damit beginnen? — Verzeihen Sie, wenn ich so neugierig bin«, lächelte Morrus.

»Wir werden uns selbstständig machen, auf irgendeine Weise, das ist unser Ziel, unsere Sehnsucht. Von zu Hause haben wir nichts, unsere Brüder sind abhängig oder haben große Familien. Wir denken immer an ein kleines, aber gutgehendes Geschäftchen.«

»Hier in England?«

»Ja, für so etwas würde ich England vorziehen, die Frau besitzt hier doch sehr angenehme Freiheiten, besonders das alleinstehende Mädchen.«

Wieder trat eine längere Pause ein, Morrus rauchte und sah gedankenvoll zu, wie das wirtschaftliche Mädchen das abgetrocknete Geschirr in den eingemauerten Wandschränkchen ordnete.

»Nehmen Sie mir eine Frage nicht übel«, begann er dann von neuem mit einer Entschuldigung, »wie viel bezahlen Sie in London für Ihre Wohnung? Ich frage, weil ich Ihnen vielleicht einen angenehmen Vorschlag machen kann.«

»Zehn Schilling die Woche, nur für ein einziges Zimmer. Doch Ihnen wird das gar nicht so außerordentlich viel erscheinen, nur nach deutschen Verhältnissen ist das ein ungeheurer Preis. Es ist ja auch im besten Viertel des Westens und ist außerdem ein wirklich nettes Zimmerchen.«

»Zehn Schilling«, wiederholte Morrus. »Wenn es Ihnen nun hier am Walde recht gefiele, warum wohnen Sie da nicht ganz hier? Es sind doch nur fünfundzwanzig Minuten Fahrt. Wenn Sie erst um zehn Uhr morgens in der Anstalt zu sein brauchen, so haben Sie früh doch immer noch wenigstens eine Stunde Zeit, im Walde spazieren zu gehen, und am Sonntage haben Sie einen ganzen Tag für sich, sind immer gleich an Ort und Stelle.«

Überrascht fuhr Klara empor, und gleich ihr freudig erstauntes Gesicht zeigte, wie sie diese Idee auffasste.

»Wahrhaftig!!«, rief sie. »Das wäre etwas für Toni! Aber«, setzte sie ängstlich hinzu, »jeden Tag die teure Reise?«

»Teuer? Das Saisonbillett kostet, für die Woche berechnet, nur drei Schilling, von hier nach LiverpoolStreetStation, und das ist zweiter Klasse, und wenn Mistress Bellair einen ständigen Mieter hat, so wird sie Ihnen das Zimmer gern mit drei Schilling ablassen, wahrscheinlich Ihnen auch ein größeres Zimmer einräumen, sprechen Sie nur einmal mit ihr. Dieses Haus ist ja viel zu groß für sie, sie nimmt nur nicht jeden, bei Ihnen ist das etwas ganz anderes, und ich bin ja die ganze Woche nicht zu Hause, ich schlafe nur am Sonnabend hier, am Sonntagabend reise ich schon wieder fort, und Wichtelmann kommt als Hausbewohner erst recht nicht in Betracht, die Damen sind mit Mistress Bellair so gut wie ganz allein im Hause, und so käme das ihnen doch nur auf neun Schilling zu stehen.?

»Wahrhaftig!«, rief Klara nochmals mit jubelndem Munde. »Warum müssen wir denn eigentlich in der dumpfen Stadt wohnen? Ach, das wird herrlich! Aber da wird sich Toni freuen, wenn sie das hört!«

Sie dachte zuerst immer nur an die Schwester, und als diese kam, und als dann Mistress Bellair mit Freuden zusagte, die beiden Mädchen könnten im Hause wirtschaften, wie sie wollten, da war der Jubel erst recht groß. Jetzt erschien das ganze Leben in einem viel rosigeren Lichte, wenigstens die nächsten vier Jahre, die Zukunft wurde bis zum späten Abend besprochen, sie hatten darüber sogar den Wald vergessen. Doch das schadete nichts, den konnten sie ja von nun an jeden Tag genießen, und heute hatten sie darin auch schon genug erlebt.

Und dieses neue Leben am Walde konnte und sollte sofort von diesem Augenblicke an beginnen. Diese Woche blieben sie doch sowieso hier, beide zusammen. Die bisherige Wohnung konnte zwar erst am nächsten Sonnabend gekündigt werden, doch das hatte nichts zu sagen, so geizig war Klara nicht. Wie das Los entschieden hatte, sollte zuerst Toni die nächste Woche allein hier zubringen, aber jetzt war keine Trennung der unzertrennlichen Zwillinge mehr nötig, schon am nächsten Abend, also am Montag, würde Klara mit dem gesamten Gepäck zurückkommen, und so jeden Abend, bis in dieser halben Ferienzeit wieder Toni mit dem Turnunterricht an der Reihe war, und dann später fuhren sie eben immer zusammen hin und her.

So wurde in der traulichen Küche bis spät in die Nacht beraten und Pläne geschmiedet — bis Toni mit einem Male auf dem bequemen Sofa eingeschlafen war, fast mitten im Sprechen. Sie musste wieder ermuntert werden, es ging zu Bett.

»Sie gehen wirklich noch heute Nacht auf Ihre Geschäftsreise?«, fragte Klara beim Gutenachtsagen.

»Nein, heute ausnahmsweise nicht«, entgegnete Morrus, dem Mädchen die Hand zum Abschied drückend, »auch ich habe zufällig acht Tage Ferien erhalten.«

»Ach, das ist ja wunderschön!«, rief Klara erfreut noch in der Tür.

»Ach, wenn doch jetzt nur Wichtelmann hier wäre!!«, ließ sich ›Toni noch einmal in komischer Weise vernehmen, und dann waren die beiden neuen Hausbewohner verschwunden.

* * *

5. Kapitel

Sie hatten beim ersten Hahnenschrei erwachen und hinaus wollen in den taufrischen Wald. Die kurzen Ferien mussten doch ausgenutzt werden. Glücklicherweise war in diesem Falle ihre gesunde Natur stärker als ihr fester Vorsatz.

Der Hahn krähte, er krähte mehrmals, das ganze männliche Hühnergeschlecht von Loughton krähte, sogar alte Hennen fingen mit an zu krähen — und es hatte keinen anderen Erfolg, als dass sich Toni etwas im Bett umdrehte.

»Ach, wenn doch jetzt nur Wichtelmann hier wäre!«, murmelte sie und schlief auf der anderen Seite weiter.

Und sie hatten es total verschlafen, und da halfen alle Vorwürfe nichts mehr, die sich die Schwestern gegenseitig machten, es war und blieb eine Tatsache. Gegen acht Uhr klopfte Mistress Bellair an die Zimmertür und fragte, ob die Damen herunterkommen wollten oder ob sie das Frühstück auf ihrem Zimmer einzunehmen wünschten.

»Oder wollen Sie den Tee im Bett trinken?«

»Heiliges Bombenelement! Klara du hast doch heute früh den Engländern zeigen wollen, wie man Kaffee kocht. Wo ist denn nun der berühmte Kaffee?«

»Und du wolltest doch schon seit vier Stunden Pilze im Walde sammeln, die ich heute Mittag kochen sollte. Wo sind denn nun deine Pilze?«

Es half also alles nichts, sie hatten es verschlafen — und fühlten sich doch so glücklich.

»Aber, Klara«, sagte Toni, als sie Toilette machten, gleich die grauen Turnkostüme anziehend, nur die ganz kurzen, die sie zum Voltigieren brauchten, »dass du dann nach dem Frühstück nicht wieder aufzuwaschen anfängst, wir wollen in den Wald, dazu sind wir hier, und nicht, um Tassen und Teller abzuwaschen.«

Die Schwester versprach, ihre Begier zu zähmen, und Tonis Sorge war auch ganz unnötig gewesen. Das gestern weggelaufene Dienstmädchen hatte wenigstens die Güte gehabt, die Welt von ihrer Tat und der freien, sonst sehr angenehmen Stelle in Kenntnis zu setzen, und es hatte sich bereits heute in aller Frühe ein anderer dienstbarer Geist gemeldet, welcher angenommen worden war. Das geht in England alles ohne Förmlichkeiten vor sich, da gibt es kein Anmelden, kein Dienstbuch, kein Zeugnis, denn die Erfahrung hat gelehrt, dass es trotz aller gegenteiligen Behauptungen noch gar zu viel gute Menschen in der Welt gibt, welche in dem Dienstbuch nicht erwähnen, dass die von der betreffenden Person bestohlen worden sind — »um sie nicht für immer unglücklich zu machen« — sondern man erkundigt sich, wo man sich erkundigen will, persönlich bei der letzten Herrschaft oder bei dem letzten Prinzipal, und was dieser über den Charakter des Entlassenen mitteilt, das muss er unter Umständen vor Gericht unter Eid wiederholen.

»Hier ist eine Ansichtspostkarte gekommen«, sagte Morrus nach der Morgenbegrüßung.

»An Chingachgook, die große Schlange«, lasen die Schwestern auf der Seite der Adresse, die andere enthielt eine Ansicht der Bucht von Neapel mit dem Vesuv und die Worte: »Gruß aus Neapel. Am Montag besteige ich den Vesuv und nehme für immer Abschied von diesem schönen Leben. Wichtelmann.«

Aber das klang so ungefährlich, dass sich die Schwestern zuerst nur über die sonderbare Adresse wunderten, allerdings nicht gerade darüber, dass die Karte den Adressaten erreicht hatte. Der Name ist dem englischen Briefträger ganz egal, er liest nur Straße und Hausnummer und steckt die Postsache in den Briefkasten des bezeichneten Hauses, nur den eingeschriebenen Brief liefert er persönlich ab, aber ohne Legitimation, und wer unter die Quittung den Namen schreibt, den er auf der Adresse liest, der hat den Brief, und die Post trägt keine Verantwortung. Deshalb darf man nach England niemals sogenannte Geldbriefe schicken, das ist eine Unsitte, eigentlich gar nicht zulässig, zum Geldschicken gibt es die Einrichtungen der Postanweisungen, dazu sind diese da, und der Scheck muss immer gekreuzt sein. —

»Ja, das bin ich«, lächelte Morrus, »mich nennt er immer Chingachgook, die große Schlange — Sie wissen doch, Coopers letzter Mohikaner.«

»Der wird doch nicht etwa einen Selbstmord begehen, sich in den Vesuv stürzen wollen?«

»Nein, o nein, das tut Wichtelmann nicht. — Es ist Ihnen doch recht, meine Damen, dass der Tee im Garten serviert worden ist?«

Sie nahmen das erste Frühstück also in einer reizenden Laube ein. Der schmale, aber lange Garten war überhaupt mit Geschmack angelegt, die Nützlichkeit verband sich mit der Pflege der Schönheit, er wurde peinlich in Ordnung gehalten, die Schwestern bemerkten auch, dass hier manche botanische Experimente angestellt wurden, und die braune Farbe von Morrus' sonst gut gepflegten Händen erklärte sich, als er erzählte, dass er es sei, welcher den Garten instand hielt, und er sprach weiter von seinem Garten mit Liebe, was man hier, so dicht am Walde, alles für diesen tun könnte, die beste Erde steht immer zur Verfügung, die kräftigsten Bäumchen könne man im Walde aussuchen, in seinen Garten verpflanzen, man könne sogar den ganzen Wald als Pflanzschule betrachten, könne an geeigneten und versteckten Plätzen säen und ziehen, und immer das Kräftigste und Beste verpflanze man in seinen Garten.

»Baco von Verulam hat in einer längeren Schrift die Pflege des Gartens für das edelste, unschuldigste Vergnügen erklärt, welches dem Menschen die reinste Freude gewährt, und ich stimme ihm bei. Es ist ja auch erreicht, es gibt ja kaum noch eine Familie, welche nicht ihren eigenen Garten hat und ihn pflegt.«

»Ja, hier, aber in Deutschland kennt man so etwas nicht. Da wohnen die Menschen meist in vier- und fünfstöckigen Mietskasernen zusammengepresst, und selbst in kleinen Städtchen werden der Gärten immer weniger. — Sie sind aber doch nur sonnabends und sonntags zu Hause?«

»Das macht ganz besonderes Vergnügen, dadurch werden mir immer Überraschungen bereitet. Was ich gesät habe, sehe ich in der nächsten Woche schon aufgegangen, ich sehe immer den großen Fortschritt, den mein Garten gemacht hat, und das gewährt erst recht Freude.«

Als sich die Schwestern vom Teetisch erhoben, griff er schon wieder zum Spaten. Er meinte, sie könnten doch den Wachtelhund mitnehmen, dann dürften sie sich getrost verlaufen, sie brauchten nur ein Stichwort zu sprechen, so würde der Hund sie wieder nach Hause geleiten — welcher Vorschlag mit Freuden befolgt wurde.

Jede ein Buch in der Hand, drangen die Schwestern in den taufrischen Wald, umsprungen von Wichtelmanns Wachtelhund.

»Ich glaube, Mister Morrus hätte uns lieber begleitet«, meinte Klara nachdenklich.

»I wo, er griff ja gleich nach dem Spaten, der ist doch ganz auf seinen Garten versessen.«

»Na, ich weiß nicht. Mir kam es so vor, als täte er das nur, um nicht aus Höflichkeit zur Begleitung aufgefordert zu werden, obgleich er es gar zu gern gesehen hätte.«

»Dann hat er sehr gut daran getan. Nein, Klara — es sind wirklich liebe, liebe Leute, in deren Haus wir zufällig gekommen sind, aber auf solchen Spaziergängen wollen wir doch lieber allein sein, jetzt und fernerhin, wir haben die ganze Woche Menschen genug um uns herum.«

Hiermit war dieses Thema erledigt, sie vergaßen die anderen Menschen.

Es war ein herrlicher Morgen, die beiden Mädchen gaben sich ganz der Waldeinsamkeit hin, sie lauschten dem Zwitschern der Vögelchen und sahen einander mit strahlenden, glücklichen Augen an — »Ist es hier schön, nein, ist es hier schön!« — mehr Worte fanden sie gar nicht, und dann sangen sie selbst und jauchzten und jubelten mit noch viel größerer Lust als gestern an dem heißen Nachmittage, und dann begannen sie wieder unter Lachen zu tollen und nach Abenteuern auszuspähen. Toni hatte ihr Buch verloren, Wachtelmann wurde zu Rate gezogen, das kluge Tier verstand und hatte es, die Spur rückwärts verfolgend, bald wiedergefunden, und als man diese Tugend erst erkannt hatte, da wurde seine Findigkeit immer wieder auf die Probe gesetzt. Aber der gescheite Wachtelmann fand alles, Gegenstände wie auch die versteckte Schwester.

»Wachtelmann, wo ist denn Wichtelmann? Wo ist denn dein Herrchen?«

Das Tierchen kläffte vor Vergnügen und fladerte zwischen den Büschen herum, wie es eben nur ein Wachtelhund tun kann.

»Gib dir keine Mühe, du findest ihn nicht, dein Herrchen sitzt jetzt auf dem Vesuv und nimmt Abschied von diesem schönen Leben.«

»Das ist ja wieder die hohle Eiche!«, rief Klara nach einer Weile. »Wachtelmann hat und hingeführt!«

Gewiss, das war wieder der Hügel mit der Eiche, und der Hund hatte sie mit offenbarer Absicht hingeleitet. Er hatte die letzte Zeit immer am Boden herumgeschnobert, hatte die gestrige Fährte wiedergefunden, und so waren sie zuletzt an denselben Platz zurückgekommen. Jetzt sprang Wachtelmann, stolz auf die von ihm bereitete Überraschung, mit jauchzendem Gekläff an dem Baumstamme empor, er gebärdete sich ganz außer sich vor Freude.

»Ach, das ist ja herrlich!«, rief Toni. »Jetzt setzen wir uns da unten hin!«

»Und weißt du, Toni, kochen uns eine Tasse Kaffee, es ist ja alles vorhanden.«

»Und essen dazu Zwieback!«

»Jawohl, wir spielen Höhlenbewohner.«

»Und dann lesen wir!«

Eins, zwei, drei — die beiden Mädchen saßen oben auf dem Baume und rutschten den hohlen Stamm hinunter. War auch Toni die romantischere und übermütigere, so schien doch Klara so etwas ebenfalls zu lieben. Eine Spielverderberin war sie jedenfalls nicht. Nur hatte sie gleich wieder zuerst an das Kaffeekochen gedacht.

Als sie sich zuletzt nach dem Hunde umgesehen hatten, war dieser verschwunden gewesen.

»Licht! Mehr Licht! Wo sind die Lichter?«

Gestern waren sie gleich zu finden gewesen, heute nicht. Es war nicht gerade feucht hier, aber das brennende Streichholz in Klaras Hand verbreitete doch nur einen ganz kleinen Lichtkreis, von einem Hof umgeben.

»Wo hast du sie gestern nur hingetan?«

»Das weiß ich heute nicht mehr. Was brauchen wir auch Licht? Hier ist der Petroleumofen, es schwappert, er ist gefüllt, das ist die Hauptsache, an die Dunkelheit gewöhnen wir uns immer mehr. Das ist gerade recht schön, so schummerig.«

»Du, nach dem Petroleumofen ist wohl außer dem Kaffee noch Wasser die Hauptsache beim Kaffeekochen.«

»Ach du mein Je! Da hast du recht. Wo kriegen wir denn nun das Wasser her?«

»Hier ist ein Tonkrug. Es ist was Flüssiges drin. Riechen tut's nicht.«

»Also muss es Wasser sein, zeig mal her«, sagte Toni, zwischen deren Zähnen schon wieder der Zwieback knirschte.

»Ja, das ist Wasser.«

»Aber wer weiß, wie lange das schon hier steht.«

»Wie lange ist denn Wichtelmann schon wieder fort von hier?«

»Das hat Morrus nicht gesagt. Ein paar Wochen sicher.«

»Dumpfig riecht's nicht.«

»Toni, sieh dich vor!!«, rief Klara, als die Schwester den Tonkrug an die Lippen setzte.

»Ach was, wir sind in der Wüste dem Verschmachtungstode ausgesetzt, da trinkt man alles, wenn's nur nass ist. — Natürlich, das schmeckt sogar prachtvoll, das ist ganz frisches Wasser.«

»Dann mal los. Hier ist der Kaffeetopf, ich habe ihn etwas mit dem Kleide ausgewischt.«

»Hier ist auch Zucker.«

»Und hier eine offene Büchse mit kondensierter Milch.«

»O, Wichtelmann, o, Wichtelmann, wie hast du es mir angetan!«, deklamierte Toni.

»Nee, der Wichtelmann, so ein gediegener Knopp!«, sagte dagegen Klara kopfschüttelnd, wie immer, wenn die beiden allein waren, sich des Deutschen bedienend — und so ging die Unterhaltung weiter.

Es war alles bereit zum Kaffeetrinken aus einer Tasse und einem Glase, nur das Wasser musste erst kochen. Gemahlen war der Kaffee in der Blechbüchse schon.

Die beiden Mädchen waren wieder lange im Kreise herumgewandert, ehe sie hierher gekommen, wenigstens eine Stunde lang, sie waren doch etwas müde geworden und hatten sich nebeneinander auf eine Kiste gesetzt.

Der Wasserkessel begann zu singen, die Musik zum Träumen — und die beiden Mädchen träumten denn auch in der kühlen, von Dämmerung erfüllten Höhle.

»Weißt du, Klara«, brach endlich Toni das Schweigen, »woran ich jetzt denke?«

»Wer mag deine romantischen Gedanken erraten!«, entgegnete die Schwester.

»Nein, die sind ganz und gar nicht romantisch«, sagte Toni, und es klang etwas kleinlaut, sogar etwas weinerlich. »Ich denke hier in dieser stillen Einsamkeit an die staubige, lärmende Turnhalle — von früh bis in die Nacht hinein — und das noch vier ganze Jahre lang...«

»O, Toni!!«, rief Klara erschrocken und vorwurfsvoll. »Wie kannst du jetzt an so etwas denken! Wie kannst du dir die Ferien so verderben!«

Die Schwestern hatten sich einfach zu viel zugemutet. Es ging über ihre Kraft, wenigstens über ihre geistige, über ihre seelische Energie. Beide wussten es, aber eine verheimlichte es der anderen, und so hatte jeder bisher die Stärkung der tröstenden Ermutigung gefehlt, welche manchmal Wunder bewirkt.

Jetzt zum ersten Male machten sich die Gedanken einer von ihnen in Worten Luft, Toni war es, sie war die nachgiebigere, und da musste sie auch schon ihre Tränen trocknen.

Als Klara diesen Ausbruch sah, da hatte sie keine Vorwürfe mehr, sie war in dieser Hinsicht die stärkere, und sie legte den Arm um den Nacken der Schwester und zog sie an sich.

»Ich wusste, dass es doch einmal so kommen würde. Aber das Leben ist nun einmal kein Spiel. Und ich glaube, immer glücklich in seiner Arbeit kann kein Mensch sein. Es ist genug, wenn man sonst mit seiner Arbeit zufrieden ist, und über schwache Stunden und Anfechtungen muss man sich mit zusammengebissenen Zähnen hinwegsetzen. Nein, Toni, wir halten aus. Wir müssen aushalten!! Unsere Beschäftigung ist gesund, das ist die Hauptsache; da stecken Millionen Menschen täglich zwölf Stunden und noch länger in ganz anderen Räumen, gegen welche unser Turnsaal ein Paradies zu nennen ist. Es ist manchmal ganz gut, wenn man sich an so etwas erinnert, mag es auch egoistisch sein. Nein, wir beißen die Zähne zusammen und halten tapfer aus!! Von jetzt ab wollen wir aber immer gegenseitig unser Herz ausschütten, wenn wir einmal die Last etwas zu schwer auf unseren Schultern ruhen fühlen, was wir bisher nie getan haben, dann erinnern wir uns, dass wir sie ja gemeinsam tragen, und dann wird sie auch gleich um die Hälfte leichter, bis wir wie gar nicht mehr fühlen. Und dann, Toni, jetzt wird ja auch alles anders, wir richten uns ein neues Leben ein, wir haben uns bisher von aller Geselligkeit ferngehalten, hier aber haben wir gute Menschen gefunden, wir wollen uns ihnen enger anschließen, den ganzen Sonntag verbringen wir mit Mistress Bellair und Mister Morrus, es scheint ein guter Mann zu sein, man sieht es ihm gleich an den Augen an, und dann kommt vielleicht auch noch Wichtelmann, das muss ja ein Unikum sein, und ein schlechter Mensch sicher nicht...«

Und so fuhr Klara fort, ermutigend zu sprechen, und Tonis Tränen waren denn auch schon längst wieder versiegt, sie lauschte, sie half mit, die Zukunft auszumalen, soweit sie die nächsten vier Jahre betraf.

»So werden die vier Jahre schnell vergehen, und dann, Toni, dann sind wir reich! Jawohl, wenn unsereins zehntausend Mark in der Tasche hat, dann ist er reich! Ich bleibe dabei: Wir kaufen einen Kolonialwarenladen oder ein Butter- und Käsegeschäft. Esserei geht immer! Wir gründen kein neues, sondern wir kaufen ein altes Geschäft, dessen richtige Buchführung vor dem Solicitor beschworen werden muss. Ach, und da bekommt man ja hier für dreihundert Pfund etwas Großartiges, mit drei Wagen und vier Pferden zum Bedienen der auswärtigen Kunden, hier muss ein Geschäft hundert Prozent vom Kaufpreis abwerfen, sonst darf man es nicht nehmen. Da brauchen wir drei Verkäuferinnen und einen besonderen Kassierer drin. Lies doch nur ›Lloyds Weekly‹, was für Geschäfte da jede Woche zum Verkauf angeboten werden, schon für hundert Pfund; die Leute wollen hier Geld zum Spekulieren haben, das ist es. Und wir geben dreihundert und haben immer noch zweihundert Pfund Betriebskapital in der Kasse! Wir können ja großartig leben! Und, Toni, wir sind doch zwei tüchtige Mädchen mit hellen Augen. Und du kannst dann machen, was du willst, kannst deinen Neigungen leben, im Geschäft bin ich, das ist mein Spaß, und macht's dir auch Spaß, so trittst du hinter die Ladentafel, und wir beide wollen ein gutes Geschäft schon nicht herunterkommen lassen, sondern es noch mehr in die Höhe bringen, und dann, nach zwanzig Jahren, dann setzen wir uns auf unserem Geldsack zur Ruhe und sind...«

»Alte Jungfern«, fiel Toni ein.

Es war humoristisch gesagt worden, aber Klara wurde sehr ernst, und dann zog sie dennoch die Schwester nur mit doppelter Zärtlichkeit an sich.

»Nein, Toni, alte Jungfern wollen wir beide nicht werden, lass uns endlich einmal über diesen Punkt sprechen, er ist wichtig genug. Lass uns einmal ganz offen sein. Wir sind doch keine Kinder mehr. Bis jetzt hat sich uns noch kein Mann in ehrlicher Absicht genähert, nicht einmal in unehrlicher — das macht — weil wir beständig zusammen sind — unzertrennbar...«

»Und dabei soll es bleiben«, fiel ihr die Schwester abermals ins Wort, jetzt aber in einem ganz anderen Tone, und sie ergriff Klaras Hand. »Klara, lass uns diese Sache kurz machen. Wir sind unzertrennbar. Und dabei soll es bleiben. Das sagt genug. Einen heiraten können wir freilich nicht. Aber die Heirat soll uns nicht voneinander trennen. Nicht durch eine Straße.

Dafür können wir sorgen. Klara, braucht es meinen Schwur, dass meine treue Schwesterliebe zu dir mir stets heiliger sein soll als die Liebe zu dem mir jetzt noch unbekannten Manne? Klara, ich meine h e i l i g e r !«

In der unterirdischen Höhle ward keine theatralischer Schwur geleistet, die Schwestern blickten sich nur an, und dann neigten sie sich und küssten einander — und es war mehr wert als ein feierlicher Schwur, und Tränen besiegelten diesen Kuss.

Aber erschrocken, entsetzt fuhren die beiden Mädchen auseinander!

Sie schluchzten doch nicht? Und in der Höhle erklangen schluchzende Töne! Sie drehten sich um — sprangen mit einem Schreckensschrei in die Höhe...

Da plötzlich stand in der Mitte der Höhle ein kleines, uraltes Männlein mit langem, langem Barte, bis unten an den Leib reichend — ein Gnom, ein Erdgeist — aber gar nicht so schreckhaft anzusehen, er schluchzte auf, wahrhaft herzzerreißend, und die Tränen kugelten ihm immer in den langen Bart.


Illustration

Illustration 1910


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Illustration 1924


»Fürcht-fürcht-fürchten Sie sich nicht«, kam es schluchzend aus seinem weinenden Munde, »mein Name ist — ist — ist — Wichtel-Wichtel-Wichtelmann.«

»Wichtelmann!«, schrie Toni.

»Wichtelmann!«, echote Klara.

»Ich denke, Sie sitzen jetzt auf dem Vesuv!!«

»Und wollen sich das Leben nehmen!!«

»Wie in aller Welt kommen Sie denn plötzlich hierher?«

»Na, was heulen Sie denn nur so schrecklich?«

»Was haben wir Ihnen denn getan?«

Es war wirklich, als hätten sie einen alten, guten Bekannten vor sich.

Der alte, kleine Erdgeist beruhigte sich, er brachte ein Licht zum Vorschein, zündete es an, und nun konnte man ihn näher betrachten. Die allgemeine Erscheinung blieb dieselbe wie in der Dämmerung: ein kleines, graues Erdmännchen, ein richtiges Wichtelchen — aber nur nicht so uralt, der ungeheure Bart war nicht grau, sondern nur aschblond. Sonst war es ein gutmütiges Gesicht mit einer winzigen Stulpnase und blinzelnden Äugelein, mit zwei sehr großen, abstehenden Ohren, der sonst sehr kleine Kopf saß auf ein paar breiten, fast gewaltigen Schultern, nun noch dazu eine tiefe Bassstimme — es war ein Wichtelmännchen, wie es im Märchenbuche steht, und Toni konnte sich wahrhaftig nicht helfen, sie musste plötzlich aus vollem Halse lachen — diese Begegnung war ja auch komisch genug — und gleich stimmte des Gnomen dröhnender Bass mit ein, sein Weinen verwandelte sich in Lachen, und nun stimmte auch Klara mit ein, und so hallte die Erdhöhle wieder von dem Gelächter der drei Menschenkinder.

Zischend kochte das Wasser über, das erinnerte die Mädchen erst einmal an ihr Vorhaben, sie beschäftigten sich mit dem Kessel.

»Wichtelmann, wie in aller Welt kommen Sie denn nur plötzlich hierher?! Wir denken, Sie sitzen jetzt bei Neapel oben auf dem Vesuv!?«

»Ja, ich wollte — aber — woher wissen Sie denn nur...«

»Wir haben doch heute früh Ihre Karte aus Neapel bekommen.«

»Die habe ich am Sonnabendmorgen in Neapel in den Briefkasten gesteckt — da bekam ich einen Einfall — ach, dachte ich, was sollst du erst den Vesuv hinaufklettern, den hast du schon ein paarmal gesehen — und ich hatte Sehnsucht nach meinem Walde — und da habe ich mich gleich in denselben Schnellzug gesetzt, in dem meine Postkarte fuhr, und da bin ich ebenso schnell wie die hier angekommen. Heute früh um sechs war ich hier. Das Haus war noch zu, da kroch ich einstweilen hier herein und bin hier eingeschlafen — Ja — aber — meine Damen — Sie kennen mich — Sie kennen Morrus und Mistress Bellair — ich finde Sie hier in diesem verborgenen Versteck...«

Erst jetzt fiel es den Mädchen ein, dass dies doch kein guter Bekannter war, sondern ein ganz fremder Mensch, es musste doch eine Vorstellung erfolgen — und es geschah, und die Mädchen teilten natürlich auch schnell alles mit, wie sie ihre Ferien als Pensionäre im Hause der Mistress Bellair verbringen würden...«

»Nein, wir bleiben jetzt für immer dort wohnen, wir sind Ihre Zimmernachbarn!«

Wichtelmann hatte beim Kaffeekochen mitgeholfen, er wusste ja hier besser Bescheid, brachte noch manches zum Vorschein, was die Schwestern nicht gefunden hätten, hatte dabei immer aufmerksam zugehört und manchmal mit den großen Ohren gewackelt.

»Sie wohnen jetzt für immer bei uns? Ach, das ist ja famos!!«, jauchzte er dann und stürzte dem Ausgange zu, an welchem oben sich wieder der Hund bemerkbar machte, der also vorhin jedenfalls die Spur seines Herrn gewittert hatte. »Wachtelmann, Wachtelmann, komm mal runter, wir haben Gesellschaft bekommen!!«

Er kletterte an der Strickleiter hinauf und kam mit Wachtelmann im Arm wieder herab, und der Hund freute sich wie ein Schneekönig, und alles freute sich mit ihm, es wurde gescherzt und gelacht, dass die Höhle immer wieder dröhnte — und dabei wurde Kaffee getrunken und Zwieback gegessen.

Es blieb also schließlich doch beim Alten: Es war, als ob sie schon immer die besten Freunde gewesen wären, sie hätten sich bloß sofort duzen sollen.

»Jetzt wollen wir aber erst einmal nach Hause gehen, was? Nein, nein, dass ich hier ein paar Landsmänninnen getroffen habe — nein, ist das famos!! Und Sie bleiben wirklich für immer bei uns wohnen? Oder kommen doch jeden Abend zu uns? Schlafen wirklich bei uns? Und Sie haben jeden Morgen zwei Stunden Zeit? Und den ganzen Sonntag können Sie mit mir im Walde herumstrolchen? Ach, Wachtelmann, Wachtelmann, das wird ja herrlich!!«

Und er nahm den kleinen Hund, schwang ihn bis zur Decke empor und küsste dann zärtlich die kleine, schwarze, nasse Nase — und die beiden Mädchen lachten, dass ihnen die Tränen über die Wangen rannen.

Dann verließen sie mit Hilfe der Strickleiter die Höhle.

Auch im Sonnenlichte blieb es der Wichtelmann, der kleine, breitschultrige Erdgeist mit furchtbar langem Barte. Aber, wie schon gesagt, alt war er nicht, er war noch sehr jung. Er hatte an den Backen nur einen so kolossalen Bartwuchs. Und hübscher wurde er im Sonnenlichte eben auch nicht. Nein, hübsch war dieser Wichtelmann keinesfalls. Die kleine Nase blieb auch im Sonnenlichte eingedrückt, und die schauderhaft großen Ohren blieben abstehend. Aber originell sah er aus — und pfiffig dazu.

Übrigens ein hässliches Wort, dieses ›hübsch‹, wenn es bei der Beschreibung eines Mannes angewandt wird. Ein pomadisierter Lockenkopf mit roten Bäckchen mag das Prädikat ›hübsch‹ erhalten, er ist nicht mehr wert, die dumme Einbildung leuchtet ihm ja meist aus den Augen. Aber ein wirklicher Mann muss männlich aussehen, dann ist er schön! — und wenn er auch mit dem Gesichte auf einem Rohrstuhl gesessen hat. Und männlich sah dieser Wichtelmann aus, männlich wie der riesenstarke Zwerg Alberich, nur nicht so furchtbar, vielmehr recht gemütlich.

»Ich will aber gleich meine beiden Koffer mitnehmen, ich habe sie einstweilen in der Zebrafalle versteckt. Wir kommen daran vorüber.«

»Wo haben Sie Ihre Koffer versteckt? In der Zebrafalle?«

Wichtelmann wurde nicht nur etwas, sondern sehr verlegen. Das bärtige Männchen mit der Bassstimme war auch zuerst den beiden jungen Damen gegenüber sehr verlegen gewesen, nur deren joviales Entgegenkommen hatte das schnell zu beseitigen vermocht.

»Na, Sie brauchen nicht gleich rot zu werden«, lachte Toni, »wir wissen ja schon alles, Mister Morrus hat uns doch schon von Ihnen Tag und Nacht erzählt. Nee, Wichtelmann, sind Sie ein komischer Knopp!!«

Diesmal also war es Toni gewesen, welche sich dieses burschikosen Ausdrucks bedient hatte.

»Aber Toni!!«, rief denn auch Klara entsetzt.

»Na, was denn?«, erwiderte jene auch noch ganz naiv. »Du hast's doch vorhin selber gesagt. Nein wahrhaftig, Wichtel — Herr Wichtelmann — nein zu Ihnen kann ich bloß Wichtelmann sagen — nehmen Sie es mir nicht übel, aber mir kommt es immer vor, als wären Sie ein guter Bekannter von mir. Mister Morrus hat nämlich schon so furchtbar viel von Ihnen erzählt, und wenn man so immer von jemand sprechen hört, den man sonst noch niemals gesehen hat, da muss man sich doch ein Bild von ihm machen — wenigstens ich muss das immer tun — und — und — genau so habe ich Sie mir in meiner Phantasie vorgestellt. Das heißt, das glaubte ich selber nicht, dass Sie so wie ein richtiger Wichtelmann aussähen, das war ja eben bloß Phantasie, aber — aber — aber — ich wurde das Bild nun einmal nicht wieder los, und nun sehen Sie weiß Gott ganz genauso aus — wie so ein aus dem Erdloch gekrochener Wichtelmann...«

»Sie sind Schriftsteller, Herr Wichtelmann?«, fiel die ganz schamrot gewordene Klara der entsetzlichen Schwester ins Wort.

Allerdings war Wichtelmann über die freien Äußerungen der jungen Dame verlegen geworden, aber übel nehmen tat er das sicher nicht, das sah man ihm gleich an, der konnte überhaupt nichts übel nehmen, oder er sagte es gleich offen heraus — aber jetzt, bei Klaras Frage, da schien er erst richtig verlegen zu werden, diese Frage schien ihm wirklich nicht zu passen, er wurde wenigstens mit einem Male ganz rot.

»Ja, ich bin — ja — das heißt — o ja, ich bin Schriftsteller.«

»Was für Sachen schreiben Sie denn?«, fragte sofort Toni in ihrer hastigen Weise.

»Ach Gott — nur so — Geschichten — es ist ja gar nicht von Bedeutung...«

»Unter welchem Pseudonym schreiben Sie denn? Ach, sagen Sie es uns doch!!«

Dieses Pseudonym wenigstens nannte Wichtelmann, aber auch nur mit Zögern. Ja, diesen Namen kannten die Schwestern. Sehr gut sogar. Es war kein berühmter Name im Reiche der Literatur, aber bekannt genug, er wurde täglich von vielleicht Hunderttausenden gelesen. Es war ein beliebter Schriftsteller, welcher Zeitungen und Zeitschriften, kleine und große und die größten, mit durchlaufenden Romanen versorgte.

»Ach, das sind Sie!!?«, echoten die Schwestern gegenseitig, und sie waren sehr freudig erstaunt, diesen Mann hier persönlich vor sich zu sehen.

»Na, aber nun, meine Damen«, sagte Wichtelmann, seine nicht leicht begreifliche Verlegenheit von sich abschüttelnd, »nun ist's genug davon, ich spreche nicht gern darüber, und ein Pseudonym ist doch dazu da, um unter seinem richtigen Namen unbekannt zu bleiben. Aber ein andermal will ich gern mehr darüber sprechen, wenn Sie etwas von der Schriftstellerei im Allgemeinen und im Besonderen zu hören wünschen. — Hier ist die Zebrafalle.«

Wichtelmann drang etwas in den Wald, machte auf einer kleinen Blöße halt, brachte aus einem hohlen Baumstamm ein Seil zum Vorschein, mit zwei Haken und einem Laufblock daran, also ein kleiner Flaschenzug, befestigte ihn an einem Ast, zog den einen Haken in die Länge, befestigte ihn unten im grasigen Boden an irgend etwas, was die beiden Schwestern nicht sahen, ging nach der anderen Seite, in der einen Hand das Seil, mit der anderen Hand griff er ins Gras, riss und hob — und hob auf diese Weise ein großes Brett empor, belegt mit einer natürlichen Rasendecke, und jetzt kam ein tiefes Erdloch zum Vorschein, in dem zwei Reisekoffer lagen.

»Nein, hält man denn so ein Raffinement nur für möglich!!«

Die Sache war auch wirklich genial ausgedacht und ausgeführt. Da konnte sich auf dieses Fleckchen Rasen legen, wer da wollte, er konnte Blumen pflücken und Gras abmähen — niemand wäre auf die Idee gekommen, dass sich unter dieser Rasendecke ein tiefes Kellerloch befand, und dass man die Rasendecke so ohne Weiteres abheben konnte. Allerdings musste man erst die kleinen Ösen finden, und dann konnte ein Einzelner den Deckel immer noch nicht abheben.

Wichtelmann war hineingesprungen, hob die beiden Koffer heraus, legte den beweglichen Rasen wieder über die ›Zebrafalle‹ und, Wichtelmann in der Mitte, zu beiden Seiten die Koffer, an deren Seite wieder je ein Mädchen, also alles mittragend, ging es den heimatlichen Penaten zu.

Morrus arbeitet noch im Garten. Er klemmte schnell den Spaten zwischen die Beine, um die beiden Hände ausstrecken zu können, aber nicht zur freudigen Begrüßung, sondern als wolle er ein Gespenst abwehren.

»Wwuichtelmann!!«

»Wwuichtelmann!!«, rief auch Mrs. Bellair, als sie den neapolitanischen Vesuvbesteiger mit einem Male in ihrem Parlour sah, und sie ließ angesichts des Gespenstes gleich einen Teller aus der Hand fallen.

Er musste erzählen. Die Hauptsache war doch seine Ankunft, und da bekamen die Schwestern nicht viel Neues zu hören.

»Schliefen Sie denn, als wir in Ihr unterirdisches Erdnest eindrangen?«

»Wie ein Murmeltier. Mich wundert nur, dass ich nicht geschnarcht habe, was ich sonst für gewöhnlich tue, und dann hätten Sie meine Anwesenheit gleich gemerkt. Ich wachte erst auf - ich wachte eben auf, hörte meinen Namen, den von Morrus, Mrs. Bellair — nanu, dachte ich, was für allwissende Feen sind denn das? Als ich so nach und nach merkte, dass ich mich nicht im Reiche der Phantasie befand, und dass es unterirdische Feen waren, erhob ich mich von meinem Ruhebett, auf dem Sie mich nicht bemerkt hatten, und gab mich zu erkennen.«

Hier fehlte eine Frage und eine Erklärung.

Warum hatte der seltsame Mensch so herzzerbrechend geweint?

Aber die Schwestern fragten nicht wegen des Weshalb, es wurde überhaupt kein Wort davon erwähnt, beide Teile schienen es wie auf Verabredung vergessen zu haben.

Erst bei einer viel späteren Gelegenheit kamen die Schwestern einmal unter sich darauf zurück, und auch da wurde es schnell umgangen.

»Dadurch hatte er sich legitimiert«, sagte Toni nur, und so dunkel diese Äußerung auch sein mochte, Klara hatte sie sofort verstanden.

* * *

6. Kapitel

Die ganze Ferienwoche, welche die Geschwister gemeinschaftlich verbringen durften, schien verregnen zu wollen. Am Montagnachmittag hatte es begonnen, heute war Mittwoch, und es regnete, was vom Himmel herunter wollte. Der ganze Wald stand in einem Sumpf.

Wie wären die armen Schwestern sonst unglücklich gewesen. In diesem Hause nicht. Mochte es draußen nur regnen! So erzählte man sich eben im Zimmer. Ach, was hatten die sich alles zu erzählen! Das heißt nämlich mit Wichtelmann.

Nur die Hausfrau konnte nicht mitschwatzen, die hatte fleißig zu arbeiten. Bim bim bim — erklang es aller halben Minuten und noch öfter in ihrem Zimmer.

»Bim bim, — jetzt hat Edward Howard wieder einen Neigroschen verdient«, sagte Wichtelmann. »Bim bim — jetzt hat das Huhn wieder einen Neigroschen gelegt. Bim bim — wieder ein Neigroschen aus der Schreibmaschine gefallen.«

»Edward Howard? Ist das der, der immer die Ehestandsnovellen schreibt, drei Pence das Stück?«

»Ja, das ist der!«

»Soll das heißen, dass er für die Zeile einen Groschen bekommt?«

»Einen Penny Farthing, oder vielmehr 25 Pfund pro Heft, und 5000 Zeilen sind immer drin.«

»Donnerwetter!«, entschlüpfte es Klara. »Dass das so gut bezahlt wird!«

»Na, gar so schlimm ist das doch nicht, einen Groschen die Zeile. Es ist aber feste Arbeit, er bekommt alle vierzehn Tage regelmäßig seine 25 Pfund.«

»Ja, wir lesen die Howard'schen Novellen sehr gern«, sagte Toni, »wir kaufen sie uns immer, am Freitag kommen sie heraus, und am Sonnabend ist schon niemals eine mehr zu haben. Zwar ist ein Roman immer wie der andere, immer ganz genau dieselbe Geschichte, mit der Heirat fängt es stets an, dann passen die beiden nicht zusammen, bis sie durch das Schicksal oder durch andere Kraft zusammenpassend gemacht werden — immer dasselbe, und doch immer wieder etwas ganz Neues, eine neue Variation über dasselbe Thema, und immer interessant.«

»Erlauben Sie«, nahm Toni gleich wieder das Wort, als die Schwester schwieg, »mir ist nämlich schon oft etwas aufgefallen, wenn ich solch ein Buch von Howard in die Hand nehme, und ich habe Ihnen doch bereits gestanden, dass auch ich mich einmal als Blaustrümpfchen versucht habe. ›Edward Howards Ehenovellen‹ lautet der Gesamttitel der ganzen Serie. Auf jedem Buche ist das Portrait des Verfassers, der jugendliche, ideale Lockenkopf. Alle vierzehn Tage erscheint solch ein ansehnliches Buch, jedes enthält also, wie Sie sagen, 5000 Zeilen, und eben, weil ich selbst einmal Zeilen gezählt habe, weiß ich, was das bedeutet — es ist doch gar nicht möglich, dass das immer ein und derselbe Verfasser ist. Wie kann denn jemand in vierzehn Tagen solch ein umfangreiches Buch zusammenschreiben!«

»Das ist nicht möglich?!«, rief Wichtelmann. »Und ich sage Ihnen, das ist noch nicht der vierte Teil dessen, was dieser englische Schriftsteller schreibt! Sie hören doch Mistress Bellair von früh bis abends auf der Maschine klappern, und die hat es los, die schreibt mit Bequemlichkeit in der Stunde 150 Zeilen, und die schreibt einzig und allein für diesen Howard ab. Er liefert doch auch noch unter seinem Namen die großen FeuilletonRomane für die ersten englischen Zeitungen, dann die ganze HeartseaseBibliothek, die wöchentlich erscheint, PennyRomane, die sind alle, alle von ihm unter den verschiedensten Pseudonymen. Sie können nicht fassen, wie jemand so viel zusammenschreiben kann? Ja, dieser Howard ist eben ein gottbegnadeter Dichter, der hat eine unerschöpfliche Phantasie. Da ist von Vielschreiberei eigentlich gar keine Rede. Lesen Sie seine PennyRomane. Alles wohldurchdacht, guter Stil, tadellos — jede Geschichte ist ein kleines Kunstwerk. Er stenografiert, aber sehen Sie sich doch oben seine Stenogramme an. Wie gestochen! Wäre dieser Howard nicht von einem irdischen Weibe geboren, dass er des Schlafes und jeder anderen Erholung entbehren könnte, und gäbe es eine Schrift, welche der Schnelligkeit der Gedanken folgt, so würde dieser Mann jedenfalls Tag und Nacht seine Gedanken aufs Papier niederwerfen, scheinbar ohne Überlegung, und dennoch wäre alles, was er schafft, gut und originell. — Das ist es eben, was den Schriftsteller ausmacht.«

So etwas hatten die deutschen Schwestern allerdings noch nicht vernommen.

»Ach je, da kann ich freilich nicht mit«, seufzte Toni kleinlaut.

»Wenn Sie nicht den tiefinnersten Drang in sich fühlen, dass Sie schreiben müssen, müssen! — dann lassen Sie es auch lieber bleiben«, sagte Wichtelmann, der überhaupt sehr offen sprechen konnte, aber immer in einer Weise, dass man es ihm unmöglich übel nehmen konnte.

»Sie haben den Drang in sich?«

»Ja. Legen Sie mir hier eine Million bar auf den Tisch — oder ich will so sagen: Stellen Sie mir die Wahl zwischen einer Million, welche mir unter der Bedingung gehören soll, dass ich fernerhin keine Zeile mehr schreiben soll, und zwischen lebenslänglicher Einsperrung bei Wasser und Brot in eine nackte Kerkerzelle, in der ich aber schreiben darf — ich werde augenblicklich sagen: behaltet eure Million, ich wähle die Kerkerzelle und trocken Brot. — Wahrhaftig, das ist mein Ernst!«

»Sie würden ja doch alles in Ihrer Kerkerzelle haben, was Sie nur wünschen«, sagte Toni, »ich meine nämlich: in Ihrer Phantasie. Das Erträumte wird bei Ihnen eben zur Wirklichkeit.«

Wichtelmann war bei seiner letzten Beteuerung aufgestanden und hatte einen kurzen Gang durchs Zimmer gemacht. Jetzt blieb er plötzlich stehen und drehte sich schnell nach der Sprecherin um, blickte sie lange an.

»Sie haben es erraten. So ist es. Ich würde glücklich sein und...«

Er brach ab, und mit einem Male fing der trotz seiner Kleinheit sehr männlich aussehende Mensch wie ein Kind zu weinen an. Aber das war während der drei Tage nicht das erste Mal, dass dies in Gegenwart der Schwestern passierte, sie hatten sich schon daran gewöhnt. Und oftmals war auch nicht der geringste Grund für diese plötzlichen Tränen zu erkennen, ebenso wenig war Wichtelmann etwa nervös.

»Na na na, Wichtelmännchen, nun zerschmelzen Sie mal bloß nicht vor Rührung in Ihrer nackten Kerkerzelle«, scherzte Toni, denn sie wusste, dass sie es durfte. »Sagen Sie, Sie sind Seemann gewesen? Mr. Morrus sprach etwas davon.«

»Jawohl, und ich — ich — ich bin sogar ein fix — fix — fixer Bengel gewesen«, weinte und schluchzte Wichtelmann in geradezu herzzerbrechender Weise.

Jetzt führte aber auch Toni das Taschentuch vor die Augen und begann ebenfalls kläglich zu weinen — das heißt, sie tat nur so. Denn das war das beste Mittel, den gefühlvollen Menschen zu kurieren.

»Wie — wie — wie sind Sie denn da Schrift — Schrift — Schriftsteller geworden?«, schluchzte also Toni, und da freilich war es schnell vorbei, Wichtelmann selbst stimmte augenblicklich mit ein in das allgemeine Gelächter.

»Wollen Sie meine Lebensgeschichte hören?«

»Ach ja, ach ja, erzählen Sie!«

»Gut!«, Wichtelmann setzte sich nieder. »Die Damen brauchen sich nicht zu erheben, aber Morrus, die Pfeife musst du aus dem Munde nehmen — na, wird's bald? So ist's gut. Ich bin nämlich von sehr hoher Geburt, und wenn ich von dieser spreche, muss wenigstens die Pfeife aus den Zähnen heraus.«

»War Ihr Papa vielleicht Kirchturmwärter?«, fragte Toni.

»Hören Sie, geehrtes Fräulein, mit diesem Witze kommen Sie ein halbes Jahrhundert zu spät. Nein, faktisch, ich bin von höchst vornehmer Geburt — nicht gerade adlig, aber fein, apart — das müssen Sie mir doch gleich ansehen. Haben Sie auch einen Bruder, der Offizier ist? Na, ich habe noch einen Bruder, der ist sogar Major — ätsch! Und ein anderer Bruder ist Eisenbahndirektor. Und dann habe ich eine Schwester, die wird Frau Exzellenz angeredet — ätsch! So, nachdem ich die Vornehmheit meiner Geburt angedeutet habe, darf Morrus die Pfeife wieder in den Mund stecken; denn jetzt spreche ich von mir selbst, und dabei darf unbeschadet auch der stinkigste Tabak geraucht werden.«

Es fing also gleich sehr humoristisch an, jetzt war kein Grund zum Weinen mehr vorhanden.

»Ich bin von Geburt auf ein kleiner Teufel gewesen, ein Ausbund von Wildheit und Faulheit. Im schönsten Lichte zeigte sich meine Faulheit, als ich aufs Gymnasium kam. Je älter ich wurde, desto mehr nahm meine Faulheit zu. Rechnen, Religion, Schönschreiben, Lateinisch, Griechisch, Französisch — ich hatte in jedem Fache immer die Fünf. Skripta, Extemporlia — mir ganz egal, ich hatte immer nur Fünfen, also die allerschlechteste Zensur. Unter aller Kritik. Ich mache die geehrten Herrschaften aber darauf aufmerksam, dass ich nicht so dumm war, sondern nur so entsetzlich faul. Den Grund dieser meiner beispiellosen Faulheit will ich dann später angeben. Nur nach Weihnachten, wenn der Termin der Versetzung herannahte, strengte ich mich etwas an, und da rutschte ich zu Ostern immer so glücklich mit durch.

Die Damen sind Lehrerinnen. Deshalb möchte ich Sie besonders auf etwas aufmerksam machen, auf einen faulen Punkt, den es in unseren Schulverhältnissen gibt, wenigstens zur damaligen Zeit gab, und ich bezweifle, dass sich dies unterdessen geändert hat. Es gab ein Fach, in welchem der kleine Wichtelmann immer Genie war. Das war der deutsche Aufsatz. Zu einem solchen bekamen wir vier Wochen Zeit. Da musste erst eine Übersicht aufgestellt werden, dann wurde er im Konzept ausgearbeitet, dann noch einmal umgearbeitet und schließlich sauber ins Reinheft abgeschrieben. Ich aber hielt es mit diesem deutschen Aufsatze ebenso wie mit allen anderen Hausarbeiten, das heißt, ich machte sie nicht, ich schrieb sie erst in der Schule von anderen ab. Das geht bei einem deutschen Aufsatz nun zwar nicht, aber bei diesem wartete ich doch auch immer bis zur allerletzten Stunde, und in dieser allerletzten Stunde hatte ich ihn dann allemal hin, natürlich gleich ins Reinheft, ich schrieb noch mit rasender Eile, während die Hefte schon eingesammelt wurden — und alle anderen hatten vier Wochen lang jeden Tag daran gearbeitet. Nach einigen Wochen wurde er uns vom Lehrer korrigiert und zensiert zurückgegeben, und da hieß es jedes Mal und jedes Mal: Wichtelmann, wer hat dir diesen Aufsatz gemacht? — Meinen Beteuerungen wurde natürlich nicht geglaubt, und niemals, niemals habe ich auf solch einen Aufsatz eine Zensur bekommen, weil er eben so tadellos war, dass es unmöglich von dem in allen anderen Fächern beschränkten Knaben sein konnte. So ist es mir von Sexta an bis zur Untertertia gegangen, immer und immer dasselbe...«

»Wurde denn nicht einmal ein Aufsatz in der Schule gemacht?«

»Allerdings. Jedes Jahr einmal kurz vor Ostern als Prüfungsarbeit. Dazu bekamen wir vier Stunden Zeit, und wer fertig war, konnte gehen. Das war ja etwas für Wichtelmann. Kaum war das Thema gegeben, so tauchte ich die Feder ein, und nun losgeschmiert, und nach einer Viertelstunde sprang ich auf: fertig!! Der deutsche Lehrer glaubte nicht recht gehört zu haben, nahm mein Buch und — sperrte allemal Maul und Nase auf. — Nun dürfen Sie aber nicht glauben, dass Wichtelmann jetzt entdeckt gewesen wäre. Ja, wohl für diesen Augenblick — um im nächsten wieder vergessen zu werden. Denn das war ja stets am Schluss des Schuljahres, ich kam in eine andere Klasse, bekam andere Lehrer, auch im Deutschen — und nun fing ganz genau dieselbe Geschichte wieder von vorn an. Und so ist es mir während der vier Jahre ergangen, die ich auf dem Gymnasium verbrachte. Sie meinen, das hätte der Lehrer doch dem anderen sagen sollen, der jetzt den deutschen Unterricht übernahm? Ja, das hätte er tun sollen. Aber keiner von den vier Lehrern hat es eben getan. Warum nicht? Mangel an Interesse. Es mag auch etwas anderes dabei sein. Vielleicht auch eine gewisse Scham. Die hatten sich während des ganzen Jahres über mich immer die schlechtesten Zensuren notiert. Und nun sollten sie mir in der Hauptzensur unter den anderen Dreien und Vieren, die ich darin aufzuweisen hatte, plötzlich eine Eins cum laude geben? — Auch noch etwas anderes: Im mündlichen Gedankenausdruck war ich tatsächlich immer schlecht. Wenn ich aufstehen musste, womöglich vorn aufs Katheder mich stellen, die vielen Augen auf mich gerichtet — da wurde ich verlegen, da fing ich an zu stottern, da verließen mich die Gedanken. — Setzen, Wichtelmann, eine Null. — Dagegen war da so manch erzdummer Junge, einen deutschen Aufsatz brachte er nicht fertig, wenn er auch Blut schwitzte — aber der konnte reden und erzählen und schwadronieren wie ein Buch, bei dem deutschen Aufsatz zu Hause ließ er sich helfen, bei der Prüfungsarbeit musste er geradezu krank gewesen sein — der bekam in der Hauptzensur für das deutsche Fach eine Eins bis Zwei. — Na, kurz und gut, Sie verstehen wohl, was ich meine. Da ist etwas sehr faul im Staate Dänemark. Ich will mich nicht weiter ärgern, ich habe mich in meiner Kindheit geärgert genug. Es war für mich eine unglückliche Kindheit; ich bin als Kind nicht in die Schule, sondern in die Strafanstalt gegangen, und wenn ich manchmal von meiner Schulzeit träume, so wache ich unter einem Angstgeschrei und unter Angstschweiß auf, und dann danke ich dem lieben Gott, dass es nur ein Traum war.

Ich galt für einen unverbesserlichen Spielhans. War es auch. Ich malte in den Sand ein Schiff, da setzte ich mich hinein und fuhr nach Amerika, oder vielmehr auf Entdeckungsreisen, fand fremde Erdteile und Inseln, eroberte sie, kolonisierte sie — na, Sie verstehen doch. Ich hatte schon als kleines Kind eine lebhafte, um nicht zu sagen glühende Phantasie, und wenn mich jemand mit verständnisvollen Augen beobachtet hätte, so würde ihm schon das aufgefallen sein, dass ich nie, niemals einen Spielkameraden gehabt habe. Ich war immer, immer allein. Aber meine Mutter habe ich nicht mehr gekannt, mein Vater war zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, es kam kein Mensch, der mich einmal mit anderen Augen betrachtet hätte — ich war und blieb der faule, dumme Spielhans.

In der Untertertia wurde ich konfirmiert. Darauf hatte ich schon lange gewartet, endlich war die Zeit meiner Erlösung gekommen. Jetzt trat ich vor meinen strengen Vater hin: Ich will Seemann werden. — Unsinn! Zur See gehen überhaupt nur die Menschen, welche für das Land verloren sind. — Ich will und will aber nicht mehr in die Schule gehen, ich bin konfirmiert, und wenn ich Schusterjunge werden soll. — Daraus wurde selbstverständlich nichts, mindestens musste ich erst mein Einjährigenzeugnis haben. Seit dieser Zeit befand ich mich unausgesetzt auf dem Wege nach Hamburg, wurde von der Polizei immer wieder zurückgebracht, brannte bei Nacht und Nebel immer wieder durch. Unterdessen hatte ich auch die bekannte Jugenderzählung ›Robert, der Schiffsjunge‹ gelesen, und nun wusste ich, wie man es macht. Na, was habe ich getan?«

»Sie haben wohl einen Griff in des Vaters Kasse gemacht?«, fragte Toni ruhig, während Klara die Augen etwas ängstlich öffnete.

»Erraten! Man fing mich wieder auf dem Wege nach Hamburg ab, nahm mir das Geld ab, und — nun hatte ich erreicht, was ich wollte. Jetzt musste der verlorene Sohn natürlich zur See. Dumme Menschen! Ich kam also auf einen Hamburger Segler. Es war eine harte Lehre, ich hatte gerade die besten Kunden erwischt, ich habe schmähliche Hiebe bekommen, aber... ach, war ich glücklich! War ich glücklich! War ich glücklich!!!«

Und Wichtelmann fing wieder zu weinen an, über das unaussprechliche Glück, das er bei den schmählichen Hieben empfunden hatte. Aber das war ihm Ernst. Er war wirklich glücklich gewesen, jetzt fühlte er jenes Glück noch einmal nach, er weinte vor Seligkeit.

»Nun wollte ich aber eigentlich kein biederer Seemann werden«, fuhr er dann fort, als er sich beruhigt hatte, »sondern Seeräuber — oder Indianerhäuptling. Denn mein Kopf war mit romantischen Jugendschriften vollgepfropft wie das Ei mit Dotter. Abenteuer wollte ich erleben. Nun, ich habe sie erlebt. Ich bin während meiner ersten Periode, welche sieben Jahre währte, unter allen Flaggen gefahren, selbst unter türkischer, und außerdem bin ich in dieser Zeit so ziemlich alles gewesen, was sonst kein vernünftiger Mensch wird. Das lassen Sie mich aber kurz machen. Denn wenn ich da einmal anfange, da gibt es kein Aufhören mehr, und selbst wenn Sie in meine Glaubwürdigkeit sonst auch keinen Zweifel setzen — das, was ich Ihnen erzählen könnte, würden Sie mir doch nicht glauben...«

»O, warum denn aber nicht?«

»Weil Ihnen von Kind auf von der Welt ein ganz falsches Bild beigebracht worden ist, durch Belehrung und durch Lektüre. Verlassen Sie aber einmal draußen in der Welt die breiten Heerstraßen, und Sie werden Sachen zu sehen bekommen, welche auch dem phantastischsten Jugendschriftsteller nicht im kühnsten Traume einfallen, und wenn Sie dann einige Male den missglückten Versuch gemacht haben, so etwas einem großen Publikum zu erzählen, dann werden Sie einsehen, dass es nicht möglich ist. Es wird einfach nicht geglaubt. Jawohl, kommt nur hinaus! — Kurz, ich spreche nicht mehr des Näheren darüber. Ich bin also alles gewesen und habe alles durchgemacht, was sich ein romantisches Knabengemüt nur wünschen kann. Ich war in Nebraska und im Indianerterritorium, habe mich mit Sioux und anderen Rothäuten herumgebalgt, welche nach der Behauptung sämtlicher Eltern und Erzieher ganz zahm geworden sein sollen oder womöglich gar nicht mehr existieren — jawohl, kommt nur hin! — ich bin in Kanada Voyageur gewesen, kein commis voyageur, sondern so heißt dort der Pelzjäger, welcher das Birkenboot rudert — hier sehen Sie in meiner Hand noch ein Andenken daran, das ist nämlich eine liebliche Arbeit, die Wunde sah anders aus als diese Narbe — an der nordamerikanischen Küste habe ich auch Spirituosen gepascht, Krieg mit den Zollbeamten geführt, ich habe hier noch eine Kugel unter der Schulter sitzen — dann ging mein Flug östlich — Kameltreiber bei einer Salzkarawane durch die Libysche Wüste, auch wieder Schleichhandel — aber niemals etwa aus Gewinnsucht, sondern immer nur aus Abenteuerlust. Dann Postkutscher in Südafrika, mit acht Pferden wochenlang durch die Wildnis, nochmals Postkutscher in Vorderindien, in Westaustralien Goldgräber, dann Schwammfischer, Korallenfischer, Perlenfischer und so weiter immer in aller Welt.«

»Und das alles in sieben Jahren?«

»Das alles in sieben Jahren. Lange aufhalten tat ich mich nirgends. Ich wollte ja nicht Geld verdienen, sondern ich wollte erleben, immer etwas Neues und immer etwas Neues. Dann war ich auf einem englischen Kabelleger, hier bildete ich mich zum Taucher aus, wozu ich mich sehr gut eignete, klein und stämmig — zuletzt war ich auf einem in Konstantinopel stationierten englischen Taucherschiff. Wir untersuchten im Mittelmeer gesunkene Schiffe, hoben die Ladung, und wenn es ging und Zweck hatte, das ganze Wrack. Ich ging am tiefsten. Bis zu vierzig Meter. Wissen Sie, wie das bezahlt wird?«

»Keine Ahnung.«

»Es richtet sich natürlich nach der Tiefe und nach besonderen Verhältnissen, Strömung und so weiter. Im Durchschnitt für die Minute eine halbe Krone — zwei Mark fünfzig Pfennig — für die Minute!! Und jede angefangene Minute gilt für voll. Das ist aber bloß dafür, dass man unter Wasser ist. Nun kommen noch eine Menge Prämien hinzu, für das Finden von Leichen, von Kohlen, von Schiffskassen. Ich sage Ihnen: ich habe in meinem Leben schon Geld verdient!! Aber ich habe auch schon viel durchgebracht...«

»Ist Ihnen denn da niemals ein Unglück passiert?«, fragte Klara schüchtern.

»Aber Fräulein, ich bitte Sie flehentlich — fangen Sie bloß nicht so an. Ich erzähle auch nichts davon. Nur auf eins möchte ich Sie aufmerksam machen: Eine AktienGesellschaft bezahlt doch nicht aus Menschenfreundlichkeit einem Arbeiter für die Minute 25 Groschen, da muss wohl etwas Besonderes dabei sein. — Wie Sie sehen, freue ich mich noch meines Lebens. So war ich einundzwanzig Jahre alt geworden, mein Urlaub ging zu Ende. Denn ich war deutscher Seemann, ich hatte einen Pass. Ich stellte mich in Konstantinopel dem GeneralKonsulat, wurde tauglich befunden, ich hätte auf der ›Loreley‹, die dort unten stationiert ist, ausgebildet werden können, aber das wünschte ich aus besonderen Gründen nicht, ich wollte eben in Deutschland meiner Militärpflicht genügen, so sollte ich mich innerhalb eines Monats in Wilhelmshaven stellen. Gut, ich war zur rechten Zeit in Wilhelmshaven, kam also in die Matrosendivision, zweite Kompanie, zweite Abteilung — natürlich als DreijährigenUnfreiwilliger.

Ich habe Ihnen doch gesagt, was die Schulzeit für mich gewesen ist. Die meisten Menschen, wie ich ausgekundschaftet habe, denken an die Schule mit Vergnügen zurück, und selbst wenn sie sich dabei mehr der angenehmen Sachen und der Schulstreiche erinnern, sie denken doch eben mit Freuden an diese Zeit zurück. Ich nur mit Angst und Schrecken. Heute noch. Noch einmal Kind sein müssen, noch einmal acht Jahre lang die Schulbank drücken, in den nackten Räumen den ledernen Worten des Lehrers lauschen zu müssen — lieber in den Tod!! Und jetzt soll dieser Wichtelmann, der nun noch ganz besondere Freiheit im Leben genossen hat, immer viel Geld in der Tasche — jetzt soll der drei Jahre lang vor jedem Unteroffizier stramm stehen! Können Sie sich das zusammenreimen?«

»Sie sind — doch nicht etwa — desertiert?«, fragte Toni kleinlaut.

»Nee, Fräulein, diesmal haben Sie falsch geraten«, entgegnete Wichtelmann mit leuchtenden Augen. »Und ich sage Ihnen: Diese dreijährige Kommisszeit, welche für die meisten jungen Männer oder doch für sehr viele eine Zeit der Demütigung gewesen ist, an die sie nur mit Unbehagen zurückdenken, die sie nicht noch einmal durchmachen möchten — die ist für mich eine Zeit der größten Lust gewesen, es war die schönste Zeit meines Lebens. Nicht etwa, dass ich anstatt des Kommissbrotes Pfefferkuchen bekam oder sonstige Vorteile hatte — i Gott bewahre, ich bin sogar gerade zum Schure nicht — na kurz und gut, davon will ich hier keine lange Geschichte erzählen, mir hat es eben gefallen und mein August Wichtelmann war immer der Erste an der Spitze. Nach drei Jahren wurde ich entlassen und — wurde Schriftsteller. Bei dieser wichtigen Wendung im Leben eines berühmten Mannes gestatten die Damen ihm aber wohl eine Pfeife.«

Wichtelmann stopfte also seinen kurzen Meerschaumstummel, setzte ihn in Brand, und dann ging es unter Volldampf weiter.

»Es war im letzten Monat meiner Dienstzeit. Da fällt mir so ein kleines illustriertes Wurstblättchen in die Hände. Ich lese eine Geschichte, sie erzählt ein Abenteuer unter Beduinen. Ach, denke ich so, wenn du einmal auspacken wolltest, was könntest du nicht alles erzählen, noch etwas ganz anderes als das. — Ja, warum solltest du nicht einmal so etwas niederschreiben und solch einer Zeitung einschicken? Vielleicht drucken's die gar ab? — Also, meine Damen, dieser Gedanke hätte mir doch schon viele Jahre zuvor kommen können, aber einmal muss jeder Gedanke doch zum ersten Male kommen, und mir kam er eben im letzten Monate meiner Dienstzeit. Jut. Wird gemacht. Ich kaufe Papier, Feder und Tinte, wasche meine Arbeitspfo... na, also meine Pfoten und fange an zu skribifaxen. Ein Abenteuer auf einem türkischen Pilgerschiffe. Haarsträubend, hanebüchen, blutrünstig, unmöglich — aber buchstäblich wahr! Das betonte ich naiver junger Mann natürlich extra. Es waren etwas über 1000 Zeilen — damals freilich zählte ich die Zeilen nicht ab — ich wollte die Geschichte erst an das kleine Wurschtblättchen abschicken, das hatte aber unterdessen einen anderen Weg genommen, ich wusste die Adresse nicht, aber ein Bootsmannsmaat hält sich auch eine illustrierte Zeitung, eine sehr vornehme — das ist den Wichtelmann ganz egal, dahin schickt er seine Geschichte mit einem herzinnigen Briefe, ob sie die Erzählung nicht abdrucken könnten, es wäre, weiß Gott, alles wahr, und so weiter. Der letzte Tag rückt heran. Da bekommt Herr August Wichtelmann, zur Zeit noch Obermatrose, einen eingeschriebenen Schreibebrief, und wie er den öffnet, da liegen zwei blaue Hundertmärker drin, und außerdem ein höchst liebenswürdiger Brief, ich möchte doch noch mehr schreiben, aber immer nur auf die eine Seite...«

»Gerade wie bei meiner Freundin«, schaltete Toni ein.

»Jawohl, aber Wichtelmann ist gleich auf den Händen gelaufen, und dass dies Ihre Freundin getan hat, das bezweifle ich.«

»O, Sie denken wohl, das können Sie alleine?!«, rief Toni. »Auf den Händen laufen können wir alle beide auch.«

»Aber Toni!!«, rief Klara entrüstet.

Es musste eine kleine Pause gemacht werden, die mit Lachen ausgefüllt wurde.

»Na, ich war eben überglücklich«, fuhr der Erzähler dann fort. »Ich hatte in meinem Leben schon mehr Geld in kürzerer Zeit verdient, aber solche Freude wie damals mein erstes Honorar hatte mir noch kein Geld gemacht, und das geht wohl jedem Menschen so, das ist eben etwas ganz Besonderes. Die wollten noch mehr solche Geschichten haben? Well. Ich ließ mich nach Hamburg abmustern, nahm ein Zimmer, kaufte mir noch mehr Papier, und jetzt ging es los, aber jetzt nur noch vorschriftsmäßig auf der einen Seite. Ich schickte ab, ich schickte immer mehr Manuskript ab, gleich konnte ich die Nachricht von der Annahme ja nicht erwarten, schadete nichts, ich hatte Geld — also immer lustig weitergeschrieben und immer an dieselbe illustrierte Zeitung abgeschickt, und die Erzählungen wurden immer interessanter — «

»Aber angenommen wurde nichts mehr.«

»Nee«, sagte Wichtelmann trocken. »Gar nischt mehr. Alles mit dem größten Bedauern zurück.«

»Wie kommt das nur, dass das fast jedem so geht? Ich glaube nämlich, dass Ihre nachfolgenden Erzählungen nicht schlechter waren als die erste.«

»Wie das kommt? Ganz einfach, weil wir dumme Lud... pardon. Ich bemerke soeben zu meinem größten Erstaunen, dass ich mich nicht im Matrosenlogis, sondern in Damengesellschaft befinde. Aber Sie sprechen ja auch nicht aus eigener Erfahrung, sondern sie kennen nur das ähnliche Schicksal einer Freundin, und so brauchen Sie sich auch nicht von der unausgesprochenen Äußerung beleidigt zu fühlen. Das ist aber Dummheit, gelinder ausgedrückt: unsere Unerfahrenheit. Erstens schickte ich meine massenhaften Manuskripte immer an ein und dieselbe Zeitschrift, als gäbe es gar keine andere in Deutschland, ich hatte mich eben in die Idee verrannt, der Redakteur, oder Mensch, welcher mein Geschriebenes las, der interessiere sich fürchterlich für meine Abenteuer, denn er hatte mir doch einen so wunderschönen Brief geschrieben, ich möchte doch so freundlich sein und noch mehr von meiner Güte schicken. Nun schrieb ich aber unausgesetzt solche haarsträubenden Abenteuergeschichten, und wenn eine angesehene Zeitschrift, die alle vierzehn Tage erscheint, im Jahre zwei Erzählungen von ein und demselben Verfasser bringt, so ist das vollauf genug. Verstehen Sie diesen ersten Kasus? Aber was weiß ein neuer Skribifax von so etwas? Nun zweitens: Es war also eine hanebüchene Seeräubergeschichte mit Belegen der Wahrheit gewesen, die angenommen worden war. Ach, dachte ich, wenn euch so etwas gefällt, da will ich euch noch etwas ganz anderes aus meinem Leben erzählen. Jetzt schrieb ich also noch etwas viel Hanebücheneres. Das wurde nicht angenommen. Aha, dachte ich, das war noch nicht hanebüchen genug — jut, nun kam etwas noch Hanebücheneres daran — und so ging es immer weiter und immer weiter, ich murkste immer mehr ab, mein Manuskript triefte von Blut, ich wütete mit Dolch und Blei und Gift, ich sprengte ganze Auswandererschiffe in die Luft, jetzt nahm ich nämlich meine Phantasie zu Hilfe — na, und den Kommentar können Sie mir wohl ersparen. Solche blutrünstige Geschichten eignen sich natürlich nicht für eine vornehme Zeitschrift.«

Wichtelmann hatte das in einer Weise geschildert, dass wiederum alles lachen musste.

»Und wie ging das nun weiter? Hatten Sie endlich mit kommender Erfahrung mehr Erfolg?«

»Wie das weiterging? Nach einem Vierteljahr blickten aus Herrn Wichtelmanns abgelatschten Stiefeln die großen Zehen neugierig in die Welt.«

»So schlimm stand es schon mit Ihnen?«, lachte Toni. »Und wie ging es dann weiter?«

»Und so ging es eben immer weiter. Nach wieder einem Vierteljahr blickten sämtliche Zehen aus Herrn August Wichtelmanns Stiefeln, obgleich er nicht etwa mit den Füßen schrieb. Ei, das war ein Hungerleben im schönen Hamburg an der Elbe...«

»Aber konnten Sie denn einstweilen keine andere Beschäftigung finden?«, fragte Klara.

»Aahh«, machte Wichtelmann mit emporgehobenem Zeigefinger und hochgezogenen Augenbrauen, »jetzt kommen wir zu der sogenannten Pointe vom Witze. Jawohl, ich konnte sofort Arbeit finden. Es waren ja genug Schiffe da. Und ich war noch derselbe Seemann. Ich konnte auch eine Arbeit an Land annehmen. Ich war noch immer derselbe Wichtelmann, der sich vor keiner Arbeit scheut. Aber eigentlich war es doch nicht mehr derselbe Wichtelmann. Ich hätte wohl arbeiten können — wenn ich nur gekonnt hätte. Aber ich konnte nicht mehr. In mich war ein Dämon gefahren, der schon in manchen Menschen gefahren ist. Ob das ein guter Dämon ist oder ein böser, darüber schwebt noch die Frage. Merschtendeels wird's wohl ein böser sein. Ich musste nämlich schreiben, musste schreiben, schreiben, schreiben, von einer geheimnisvollen Macht dazu getrieben, und wenn ich nicht schreiben konnte, dann war ich unglücklich, aber wenn ich schrieb, dann war ich glücklich, und ich merkte nicht, wie mir die Kleider in Fetzen vom Leibe fielen, und ich überhörte das Knurren meines Magens, denn... willst du in meinem Himmel mit mir leben, so oft du kommst, er soll dir offen sein. Verstehen Sie?«

»Ja, ich verstehe«, sagte Toni sehr ernst. »Mit Worten lässt sich da freilich nicht viel erklären. Aber ich verstehe. Sie waren zu keiner anderen Arbeit mehr fähig, die Phantasie hatte Sie unterjocht. Hatten Sie denn gar keinen Erfolg? Nicht den geringsten?«

»Doch. Mit der Zeit kam die Erfahrung. Ich öffnete meine Augen, ich sah, ich wurde klüger, ich erkannte von allein Gesetz und Regeln, denen ich mich fügte. Man kann eben nicht drauflos schreiben, wie es einem der Genius eingibt, man muss sich auch nach Verleger und Publikum richten. Ich erzählte auch nicht mehr nur meine eigenen Erlebnisse. Ich war schon längst ein freischaffender Dichter geworden, der aus seiner Phantasie schöpft. O, ich hatte grandiose Ideen, die purzelten nur immer so aus meinem Schädel heraus. Ich schrieb schon lange Romane mit psychologischer Entwickelung der Charaktere. — Na, also, hin und wieder hatte ich doch einen kleinen Erfolg. Meine Fußzehen konnte ich wieder verhüllen. Aber es war und blieb ein jämmerliches Hungerdasein. Ein beständiger Kampf mit Zimmerwirtin und anderen Gläubigern, immer auf die Freigebigkeit anderer Menschen angewiesen. Ich erkannte, dass der professionelle Schriftsteller, wenn er mit Ruhe schaffen und den Erfolg abwarten will, von Dreierlei eins braucht: entweder Kapital, um wenigstens ein Jahr aushalten zu können; oder Kredit, oder eine Sinekure. Durch eine andere Arbeit mir erst dieses Kapital zu beschaffen, das konnte ich, wie gesagt, nicht mehr. Hierbei ist aber auch noch etwas anderes. Es ist leicht gesagt, man soll in den guten Tagen für die schlechten sparen. Einem Schriftsteller wird das verflucht schwer gemacht. Sehen Sie, man lässt den Roman in einem Fürstenschlosse spielen, man schmeißt mit den Millionen nur immer so um sich und schwelgt in allen Üppigkeiten, mästet den Fasan mit Trüffeln und kocht das Sauerkraut in Champagner — und dabei sitzt man in der ungeheizten Dachkammer und stippt die trockene Brotrinde ins Wasser. Da bringt einen der Geldbriefträger einen Haufen Mammon. I zum Deiwel, da wäre man ja gar kein Mensch, wenn man jetzt das Geld auf die Sparkasse tragen wollte! Jetzt will man in Wirklichkeit ein paar Tage schwelgen! Und ich glaube, wer das nicht tut, dem fehlt das, was der Dichter braucht, um zu dichten. Ja, es hat sparsame Dichtergrößen gegeben und mag sie auch jetzt noch geben, aber diese Ausnahmen bestätigen nur die Regel. — Ich war keine Ausnahme. Auf diese Weise konnte ich also mein Leben nicht vor Schicksalsschwankungen sichern. Kredit hatte ich nicht. So blieb mir nur noch die Sinekure. Vielleicht Bibliothekar? Das ist für einen Schriftsteller sehr angenehm. Na, an so etwas brauchte ich gar nicht zu denken. Aber Wichtelmann war in der Welt herumgekommen. Eines Tages humpelte ich nach dem Hamburger Kurhaus — das ist ein Armenhospital — ich hatte Gicht in den Fußsohlen, konnte nicht mehr gehen, es vor Schmerzen nicht mehr aushalten. Gut, die Ärzte untersuchten die Fußsohlen, und Wichtelmann flötete unter ihren Händen bald wie eine Nachtigall, bald quiekte er wie ein abgestochenes Schweinchen...«

»Hatten Sie denn auch wirklich Gicht in den Füßen?«, fragte Klara misstrauisch.

»I Gott bewahre, gar keine Spur!«

»Ei, aber so eine Sünde!«

»Und wenn der Magen knurrt, das ist wohl ein frommes Gebet? Wichtelmann hatte die Gicht in den Fußsohlen, und die Ärzte mussten es wohl glauben. Ich wurde also in ein Bettchen gesteckt und bekam Krankensüppchen. Aaaaahh, da fühlte August Wichtelmann sich aber mollig!!«

Die Schwestern konnten sich nicht helfen — wie er nun das auch noch hervorbrachte — sie mussten herzlich lachen.

»Übrigens war die Geschichte von langer Hand vorbereitet. Ich wollte im Krankenhaus doch fleißig arbeiten, und das ging nicht so ohne Weiteres. Aber ich hatte im Kurhaus einen guten Bekannten, einen invaliden Seemann, als Krankenwärter angestellt, mit dem hatte ich mich verabredet. Der versah mich mit allem, was ich zum Schreiben brauchte, dass es nicht zu auffällig wurde, nahm Briefe und eventuell Geld in Empfang — es war doch nur ein Armenhospital — und dafür bekam er von dem, was ich hier erhielt und verdiente, zehn Prozent. Na, ich fühlte mich eben mollig in meinem Bettchen, das war ja eine Lust, hier zu schaffen. Es kam denn auch einiges Honorar ein, bis endlich nach vier Wochen...«

»Vier ganze Wochen haben Sie gesund im Bett gelegen?!«

»Vier ganze Wochen. Was ist denn da weiter dabei? Die Hauptsache war für mich, dass ich ruhig arbeiten konnte. Nach vier Wochen also brachte mir das Geldschiff fünfhundert Mark, das Honorar für meinen ersten Roman. Nu das Glück!! Da wich die Gicht aus meinen Fußsohlen, ich stand auf und wandelte von dannen, nach St. Pauli zurück. Das Vergnügen in der goldenen Freiheit währte aber nicht gar zu lange. In St. Pauli gab es doch verschiedenes, was es im Kurhaus nicht gegeben hatte, das musste ich doch erst einmal wieder genießen, ein berühmter Schriftsteller war ich wegen dieses Romans auch noch lange nicht — kurz und gut, der Mammon wurde alle, der Hunger fuhr mir wiederum gleich bis in die Fußsohle hinab, Wichtelmann humpelte also abermals nach dem gastlichen Kurhause.«

Der Erzähler musste eine kleine Pause machen, damit die beiden Mädchen sich auslachen konnten.

»Diesmal«, fuhr er dann fort, »sollte ich im Krankenhause meinen rettenden Engel finden. Der rettende Engel lag in demselben Saale, war ein alter Mann mit einer großen roten Nase im blau angelaufenen Gesicht. Er hieß Anton Klemens und hatte das Delirium tremens. Faktum. In seinen hellen Stunden sah ich ihn immer lesen, er sah mich immer schreiben, fragte mich, ob ich schriftstellere — so lernten wir uns kennen. Es war ein Kolporteur, eine durstige Seele, jetzt pfiff er auf dem letzten Loche. Der Mann musste einmal andere Tage gesehen haben; er war in literarischen Verhältnissen recht gut bewandert; nicht, dass er selbst geschriftstellert hätte, sondern — er wusste Bescheid. Ich erzählte ihm meine Schriftstellerlaufbahn, zeigte ihm ein paar Manuskripte, die ich zurückbekommen hatte. ,Wohin haben Sie das geschickt? Unsinn! Das müssen Sie dorthin schicken, die nehmen das gleich.‹ — Ich hatte ganz von selbst schon nach und nach gemerkt, dass der Schwerpunkt bei der Sache darin liegt, genau zu wissen, an welche Zeitung man das Manuskript schickt. Es kommt nämlich oft genug vor, dass ein wunderschöner Roman von vier kleinen Zeitungen zurückgewiesen wird, sie wollen ihn nicht geschenkt haben, während das vornehmste Blatt ihn sofort mit Gold aufwiegt. Das heißt, das ist nicht so einfach, es handelt sich hierbei nicht nur darum, dass man die Richtung des betreffenden Verlages kennt, da kommen noch ganz knifflige Sachen in Betracht, das kann man nur durch jahrelange Erfahrung lernen, und daher kann man das auch nicht so mit kurzen Worten erklären. — Jedenfalls gab mir der rotnäsige Engel schon sehr wertvolle Andeutungen, nach denen ich mich fernerhin richten konnte. Eines Tages zeigte er mir das erste Heft eines sogenannten Schauerromans. Sie wissen doch was ich meine, so ein Groschenroman in hundert Heften, Fortsetzung folgt...«

»Amanda, die Verstoßene«, deklamierte Toni mit Pathos.

»Oder der blutige Pantoffel an der Kirchhofsmauer — jawohl, so einen meine ich...«

»So einen haben Sie doch nicht etwa geschrieben??«, lachten die beiden Mädchen.

»Na, warten Sie mal gefälligst ab. ,Können Sie nicht so einen Roman schreiben?‹, fragte mich der Kolporteur. — Hier muss ich etwas einschalten: Ich bin von Kind auf ein furchtbarer Leser gewesen. Ich habe nicht gelesen, sondern ich habe die Bücher gefressen. Alles, was mir in die Hände kam. Nur nicht solche Schauerromane. Ich bin dazu erzogen worden, diese Schmutzliteratur mit Verachtung anzusehen. Wenn unser Dienstmädchen mit solch einem Hefte überrascht wurde, so nahm der Vater sie ins Gebet, das Buch flog in den Ofen. Ich habe wohl mehrmals so ein erstes Buch gelesen — ich habe mich über die Verrücktheiten, über den Stil, über alles amüsiert — aber mit verächtlichem Lächeln — das Heft nur mit den Fingerspitzen angefasst — kurz, ich hatte eben noch nie solch einen Schauer- und Räuberroman gelesen. ,Können Sie nicht so etwas schreiben?‹, fragte mich also der Mann. Ich nahm das Heft, wieder mit den Fingerspitzen, wieder mit meinem verächtlichen Lächeln. ,So einen Schundroman? Wenn's weiter nichts ist.‹ ,Na na na na na na‹, sagte aber der Alte, ,renommieren Sie mal nicht, junger Mann. Wenn Sie so etwas schreiben können, dann sind Sie ein gemachter Schriftsteller, dann tragen sie Ihnen das Gold ins Haus, dann können Sie aber auch alles andere schreiben, dann sind Sie eben ein Genie.‹ — So sprach der Mann, gab mir noch einige weitere Winke, nannte mir ein paar Dresdner Verleger, bald darauf hatte er wieder einen Anfall, streckte sich, trat das ganze Bett durch und war mausetot. Ich habe später den braven Mann in einem meiner besten Romane verunsterblicht.

»Also ich fing an, einen Schundroman zu schreiben, einen verwegenen Abenteuerroman, und als ich zwei Hefte fertig hatte, schickte ich sie mit einem Entwurf zur Fortsetzung nach Dresden. Hier brauchte ich nicht erst ein halbes Jahr zu warten. Schon nach vier Tagen bekam ich die Antwort. ›Angenommen. Schreiben Sie so weiter. Hundert Hefte. Sie müssen in der Woche zwei Hefte liefern, können aber auch mehr schreiben, wird immer bar bezahlt. Das wird natürlich alles in einem Kontrakt festgesetzt.‹

Jetzt legte Wichtelmann los. Ich schrieb in der Woche vier Hefte. Ach, und hat mir das Spaß gemacht! Denn hier konnte ich alles verwerten, was sonst keine Zeitung angenommen hätte, jetzt konnte ich meine Abenteuer anbringen, und da war der Stoff ja unerschöpflich! Ich bekam in der Woche regelmäßig mein Honorar geschickt, ich hätte aber auch gleich alles verlangen können, ich schrieb ja das Doppelte. Vorläufig blieb ich noch im Kurhause, denn ich war meiner Sache noch nicht ganz sicher, der Kontrakt war sehr knifflig abgefasst gewesen, der Roman konnte jeden Augenblick abgebrochen werden. Aber das währte nur zwei Wochen, dann hatte ich also doch schon 10 Hefte geschrieben, und da bekam ich von meinem Verlage einen neuen Kontrakt zugeschickt, durch dessen Unterschrift ich mich zur weiteren Lieferung von noch fünf solcher Romane zu denselben Bedingungen verpflichten sollte. Natürlich tat ich es mit Freuden.

Sie fragen, ob das nicht entwürdigend ist? Meine Damen! Es ist in Deutschland seinerzeit ein literarischer Verein entstanden zum Kampfe gegen die Hintertreppenliteratur. An der Spitze der Bewegung stehen bekannte Namen der Dichterfürsten — oder vielmehr dichtende Fürsten. Alle Achtung vor diesem Zwecke. Aber wenn man etwas wegnimmt, so muss man etwas anderes dafür geben. Also will dieser Verein die Perlen der deutschen Literatur in billigsten Exemplaren unter dem Volke verbreiten. Mit Schiller und Goethe haben sie angefangen, dann soll wohl Spielhagen und Freytag darankommen. — Das ist ja alles recht schön und gut und lobenswert...... für jeden, der die diesbezüglichen Verhältnisse kennt, ist das einfach lächerlich! Diese Leute sind einfach noch nicht unters Volk gekommen. Ich, ich bin in Deutschland herumgekrochen, ich habe studiert, was die unteren Volksklassen lesen und was sie nicht lesen. Die nehmen die Meisterwerke der deutschen Literatur doch nicht geschenkt. Was wollen sie denn damit! Sie verstehens nicht! So traurig das ist — es ist eben so! Ich habe nämlich sogar die Probe gemacht! Ich habe den Roman, den ich für den besten und zugleich den interessantesten halte — ›Soll und Haben‹ — in Dutzenden gekauft und diese an Dienstmädchen und dergleichen Geister verschenkt, welche Abonnenten von Schauerromanen waren. ,Ei, Herr Wichtelmann, wie können Sie mir so etwas Langweiliges zu lesen geben!‹ — Da haben Sie es. Durch die Bank weg! Und nun wollen die diesen Dienstmädchen anstatt Schauerromanen gar Klassiker in die Hand geben! Nein nein nein nein, das ist nichts, das ist einfach Unsinn! Ganz abgesehen davon, dass die Klassiker schon so billig sind, wie sie gar nicht billiger hergestellt werden können, und so ein literarischer Verein kann doch nicht etwa mit einer großen Verlagsanstalt konkurrieren. — Nun, meine Damen, haben Sie denn schon einmal solch einen Kolportageroman von Anfang bis zu Ende gelesen? Bitte, antworten Sie ehrlich.«

Die Schwestern verneinten.

»Da sehen Sie. Lesen Sie einmal einen mit kritischen, aber vorurteilsfreien Augen. Solch einen Kolportageroman zu schreiben, das ist das Allerschwerste. Das liegt ja eigentlich auch ganz klar auf der Hand. Die Herausgabe eines derartigen Sammelwerkes erfordert ein großes Vermögen, und nimmt die Spannung nach und nach ab, oder es braucht nur ein einziges Heft langweilig zu sein, so springen vielleicht sämtliche Abonnenten ab, und das Vermögen liegt als Makulatur da. — Ach, was habe ich nicht schon alles erlebt! Ich besitze also die eigenartige Gabe, solche Schauerromane schreiben zu können. Da ist von einer Renommage nicht die Rede, sondern das ist eben so. Weil mir das nun so leichtfällt — ich stenografiere jetzt so ein Heft in drei bis vier Stunden zusammen — so dachte ich, das müsste auch jeder andere Schriftsteller können. Ich habe in Schriftstellerkreisen verkehrt, in Hamburg, Berlin, Leipzig, Dresden und anderen Städten. Es war überall dasselbe, und angezogen fühlte ich mich nirgends. Speichelleckerei, Größenwahnsinn, Missgunst, Brotneid, Bosheit, Gift und Galle — und dieses ewige Räsonieren auf die Verleger und Lamentieren über die Überproduktion, darüber, dass heute jeder schreibt. Überproduktion! Gibt's ja gar nicht! Die spukt nur in den Köpfen von allen denen, welche nichts können. — Da kommt einmal per Schnellzug ein Verleger zu mir: Wichtelmann, Sie müssen mir innerhalb zehn Wochen hundert solche Indianergeschichten schreiben, hier sind die Bilder dazu; eigentlich gibt es pro Heft nur zwanzig Mark, aber ich offeriere Ihnen fünfundzwanzig Mark, weil die Zeit sehr kurz ist. Sie haben doch Freunde oder können hier in Berlin doch Schriftsteller genug finden, lassen Sie doch ein paar mitarbeiten, nur haben muss ich die Hefte, dass ich sie noch zu Weihnachten herausgeben kann! — Sie wissen, es waren solche kleine Indianerbücher, Indianerschmöker, das Stück einen Groschen. Die Titelbilder waren schon fix und fertig, nun in zehn Wochen den Text dazu schreiben, für hundert Hefte, in jedes muss solch ein Bild passen. Da sehen Sie, wie solche Verlagsgeschäfte gemacht werden. — Allein brachte ich das natürlich nicht fertig. Also mich auf die Socken gemacht und hilfsbereite Kollegen und Kolleginnen gesucht. Nötig hatten sie es ja alle, alle. Aber ach, was habe ich da zu hören bekommen!! Und da sind mir die Augen aufgegangen!! Die meisten schlugen das Angebot kurzerhand ab — obgleich sie nicht einmal ihr Frühstück bezahlen konnten. Mit solchem Schruze wollten sie ihre Feder nicht entwürdigen. Andere wieder wollten für so ein Heft mindestens vierzig Mark haben, sie müssten doch eine Woche daran schreiben. Ich war baff! ,Sie können doch mit Leichtigkeit jeden Tag eins schreiben.‹ Jetzt wurden die baff! Hielten mich für verrückt. Ein paar erklärten sich bereit dazu. Sie schrieben ein Heft, zwei Hefte, fingen das dritte an — dann brachten sie samt und sonders die Arbeit zurück, verächtlich, das sei nichts für sie, das lohnte sich ja auch gar nicht. — Nein, sie konnten es eben nicht!!! Nämlich so ein Zeitungsromanchen zu schreiben, so ein paar Novellchen, das ist so überaus einfach! Ich glaube, das bringt jeder, jeder Mensch fertig, wenn er nur orthografisch schreiben kann, und wenn er sich nur einmal dazu hinsetzt. Und eben, weil das so überaus einfach ist, deshalb werden die Redaktionen mit Manuskripten überflutet, und eben deshalb ist sehr wenig Brauchbares darunter. Und die meisten Bücher werden doch auf Kosten des Verfassers hergestellt, die poetischen Erzeugnisse samt und sonders. Da hat nun einer ein paar Novellen auf seine eigenen Kosten veröffentlicht, er ist deswegen imstande, sein letztes Hemd zu versetzen, und nun glückt es ihm vielleicht gar noch, einen Roman in einer Zeitung unterzubringen, und nun ist der Schriftsteller mit den langen Haaren fertig, nun sitzt er im Café und lässt sich von aller Welt anstaunen, und nun geht das nicht gleich so weiter, und nun fängt die Lamentation des verkannten Genies von Gottes Gnaden an. — Ach, ich hab's erlebt!!«

»Was wurde denn nun noch aus den hundert Indianerschmökern?«

»Ja, mit denen ist mir noch etwas passiert. Ich wollte und konnte die Arbeit jetzt nicht mehr übernehmen, es war zu spät geworden, ich hatte auch anderes zu tun. Ich benachrichtigte davon den Verleger: es tut mir leid. Da kommt ein Herr zu mir, legitimiert sich, dass er von dem Verleger den Auftrag erhalten hat, nimmt den ganzen Schwamm — nämlich die hundert Bilder — mit sich nach Hause. In fünf Wochen hat er dem Verleger die hundert Indianergeschichten geliefert, fix und fertig, bon, brillant, tadellos. Und wissen Sie, wer der Schreiber war?«

»Nun?«

Wichtelmann beugte sich vor und nannte flüsternd einen Namen.

»Das ist doch nicht möglich!!«

»Jawohl!! Und warum soll das nicht möglich sein? Weil seine Romane auf jedem Salontisch liegen? Weil er eine gefeierte literarische Größe ist? Ja, sehen Sie! Da habe ich es erfahren. Der schreibt auch Schundromane. Und wie! Ganz fabrikmäßig. Fragen Sie aber doch lieber: Wie ist denn das möglich, dass der in fünf Wochen hundert solche Hefte zusammenschreiben kann? Der hat eben immer ein halbes Dutzend Stenografen zu Hause sitzen, er kann ja auch zu jeder Zeit noch mehr bekommen. Er nimmt jeden einzelnen und diktiert jedem nur eine Stunde, und so hat er diese gewaltige Arbeit mit Leichtigkeit in fünf Wochen fertiggebracht, nur so nebenbei. — Ja, das ist ein Kerl, der etwas kann! Und der geniert sich nicht, Indianerschmöker zu schreiben. Wenn er's nicht tut, so tut es eben ein anderer. Das macht ihm sogar Vergnügen. Der setzt sich auch nicht ins Café und lässt sich bewundern. Der arbeitet. Aber der hat auch an der Riviera eine Villa, während die, welche über solche Indianerheftchen die Nase rümpfen, nicht einmal ihre Dachkammer bezahlen können.«

»Hat er im Lago Maggiore auch eine Insel?«

»Nein«, entgegnete auf diese scherzhafte Frage Wichtelmann, sich in die Brust werfend, »Inseln im Lago Maggiore besitzen nur der Graf Borromeo und Herr August Wichtelmann. Sie müssen einmal mitkommen, ich lade Sie auf meine Insel ein. — Das heißt, es kann immer bloß einer draufsitzen, die anderen müssen einstweilen im Boote bleiben.

Nun wollte ich Ihnen bloß noch etwas über den Volksroman im Besonderen sagen«, fuhr er dann wieder ernst fort. »Er steht beim besseren Publikum im tiefsten Misskredit. Weshalb? Der Roman soll den Leser unterhalten, das ist sein Haupt- und Endzweck, und versteht der Autor zugleich den Leser zu belehren, sein moralisches Gefühl zu heben und zu stärken, ihn zum Lachen und Weinen zu bringen, so ist der Schriftsteller ein echter Künstler. Aber der Geschmack des Publikums ist verschieden wie der Grad seiner Bildung. Der Schriftsteller, welcher für die verschiedenen Schichten des Publikums schreiben will und schreiben kann, muss die Gabe der dramatischen Spaltung besitzen. Ich arbeite an dem Kolportageroman mit genau derselben Freudigkeit wie an dem besten, ich lege mein ganzes Herz hinein, ich ergötze mich an den Gestalten meiner Phantasie und werde von ihnen zu Tränen gerührt. — Die Tugend siegt, das Böse geht zugrunde. Es gibt keinen einzigen Volksroman, in welchem dieses nicht das Grundthema wäre. Aber es gibt eine moderne Richtung in der Literatur, bei welcher dies nicht der Fall ist, welche geradezu stinkt von Dreck und Schmutz und Kot, und diese modernen Romane werden gerade vom besten Publikum mit Heißhunger verschlungen. Man reißt mit frecher Hand den Schleier vom Heiligsten und zeigt das Nackteste. Das ist Natur, das ist die wahre Kunst. O, pfui, pfui! Es wird aber wohl bald die Zeit kommen, noch bevor man natürlich duftende Schleusenräumer auf die Bühne bringt, da man mit Entsetzen die Verirrung des Geschmackes erkennt. — Nein, da lobe ich mir einen alten, tüchtigen Räuberroman. Kein schwindsüchtiger alkoholverseuchter Held, der krüppelhafte Erbe seiner verbrecherischen Vorfahren, sondern Bärenkraft und Löwenmut beim Manne, Unschuld und Keuschheit bei der weiblichen Hauptperson — und zeigen Sie mir einen einzigen Volksroman, in welchem die Helden nicht so gezeichnet sind, und ist es ein Räuber, der nur die Reichen plündert und die Armen beschenkt, der dem Freunde ein Freund ist, der sein Manneswort hält, der die Unschuld und die Schwachheit beschirmt — und was er verschuldet hat, das muss er am Schlusse büßen. Und so soll es auch sein. —

Ich hatte einige Jahre unausgesetzt Volksromane zu schreiben. Jetzt werde ich es wieder aufnehmen. Denn ich habe erkannt, dass dies eine heilige Pflicht ist für den, der es kann. Und ich werde in diese sogenannten Schundromane mein Bestes hineinlegen, mein Herz, meine Seele...«

Es war dunkel geworden in dem kleinen Parlour, und Wichtelmann breitete beide Arme aus und sang mit tiefer, schöner Stimme:


Ännchen von Tharau ist's, die mir gefällt,
Sie ist mein Leben, mein Glück und mein...


Er konnte nicht weiter, die Stimme versagte ihm, und der bärtige Mann warf sich gleich vor den Sofa nieder, barg das Gesicht in den Polstern und weinte wie ein Kind.


Illustration

Illustration 1910


Illustration

Illustration 1924


Es war still in dem dunklen Raume. Nur das Klingeln der Schreibmaschine oben hörte man, und hier unten weinte der Mann, er zerfloss in Tränen, gerührt von dem Inhalte des Romans, mit dem seine Phantasie sich wahrscheinlich schon lange beschäftigte — derselbe Roman, der einst von Fingerspitzen angefasst und ins Feuer geworfen werden würde.

»Aber, Wichtelmännchen, na, da beruhigen Sie sich doch wieder«, sagte endlich Toni, welche auf dem Sofa saß, mit ebenfalls verdächtig zitternder Stimme und strich ihm leise über die Haare; es konnte ja niemand sehen.

Das Schluchzen verstummte bald, er erhob sich.

»Da sehen Sie, so geht es solch einem Skribifax«, sagte er scherzhaft, nur noch etwas unsicher. »Nun sollen Sie mich aber erst einmal beim Arbeiten sehen. Da brülle und heule und tobe ich.«

»Ach, denken Sie doch jetzt nicht mehr daran!«

»Nicht mehr daran denken? Na, ich danke! Als ob ich überhaupt etwas anderes könnte! Ob ich sitze, liege, stehe, vorwärts oder rückwärts gehe — meine Püppchen müssen immer um mich herumtanzen. Aber von jetzt an wird ganz anders gearbeitet. Vor allen Dingen wird das Herumbummeln in der Welt aufgegeben. Ich werde ein solider Mann, der hübsch zu Hause bleibt.«

»Na na, ob Sie das aber auf die Dauer aushalten?«

»Sie meinen nicht? Da kennen Sie aber Augustus Wichtelmann schlecht. Was der sich vornimmt, das setzt er auch durch, und dann verstehe ich mein neues Leben auch danach zu arrangieren. Sehen Sie, das ist doch ganz einfach. In dem Walde hier will ich natürlich nach wie vor weiter hausen und wühlen, das ist eben mein Vergnügen, meine Erholung, die doch jeder Mensch braucht. Nun hat Ihnen ja der treulose Morrus meine geheime Generalstabskarte gezeigt. Da brauche ich nur eine neue Karte zu entwerfen, trage andere Namen ein — hier ist Spanien, da Italien, dort Griechenland, dort oben Schweden und Norwegen — und habe ich nun einmal Sehnsucht nach Spanien, so mache ich mich reisefertig — schwupp, bin ich in Spanien, im Lande der Kastanien, träume an des Ebros Strand — und so kann ich auch hier in Loughton in der ganzen Welt herumreisen. Verstehen Sie, wie ich das meine?«

Mancher hätte es nicht verstanden. Wichtelmann deutete auch nur sehr schwach an, was er eigentlich meinte. Aber die beiden aufgeweckten Mädchen hatten ihn sofort verstanden.

»Wichtelmann, Wichtelmann, Sie sind ein glücklicher Mensch!!«

»Ja, ich bin's, ich habe eine glückliche Natur, und vor allen Dingen danke ich Gott dafür, dass ich dies auch weiß.«

»Sie werden Ihr Stenogramm immer noch nach Leipzig schicken, dass es dort abgeschrieben wird?«, fragte Klara.

»Vorläufig ja. Aber das wird bald alles, alles ganz anders, ich fange ein ganz neues Leben an...«

»Ach so, das meinten Sie wohl, als Sie aus Neapel schrieben, Sie wollten auf dem Vesuv Abschied nehmen von diesem schönen Leben?«

»So ist es. Dazu war aber nicht nötig, dass ich erst den Vesuv hinaufkletterte. Der Entschluss hat mir schon immer im Blute gelegen, jetzt führe ich ihn aus. Sobald die große Arbeit, die ich jetzt noch unter dem Bleistift habe, beendet ist, schreibe ich alle meine Stenogramme selbst ab, schreibe also alles zweimal, gleichgültig, ob es der beste Roman ist, oder ob er zum Reiche der Schundliteratur gehört. Ich kann zwar meine Gedanken gleich in Reinschrift niederschreiben, tadellos, und wenn ich noch einmal von vorn begänne, es würde sich nichts, auch gar nichts daran ändern. Allerdings müssen Sie bedenken, dass ich an solch einem Zeitungsromane, wie Sie ihn schon von mir gelesen haben, den ich in einigen Tagen zusammenstenografiere, manchmal jahrelang gearbeitet habe, im Kopfe, Tag und Nacht, an gewissen Stellen mir jedes Wort überlegend, immer wieder ausbessernd. Gleichgültig, es soll nichts mehr aus meiner Hand kommen, was ich nicht zweimal geschrieben habe. Der Hauptzweck hierbei aber ist nämlich... Waren denn die Damen schon einmal oben bei Mistress Bellair? Haben Sie gesehen, wie dieser englische Schriftsteller arbeitet?«

Nein. Die Schwestern hatten noch keine Aufforderung dazu bekommen, und da die alte Dame niemals über ihre Beschäftigung sprach, in ihrem Arbeitszimmer verschwand und schweigend wieder herauskam, so glaubten die Mädchen, dass eine Neugier hier unangebracht wäre.

»Ei, das müssen Sie sich einmal ansehen. Das ist wirklich sehenswert. Davon lässt sich wohl niemand, der solch einen PennyRoman in die Hand nimmt, etwas träumen, wie das Manuskript dazu hergestellt wird. Das ist nämlich nicht nur so, dass das Zeug aufs Papier geschmiert wird. Wenigstens dieser Edward Howard hält das anders. Kommen Sie mal mit!«

Sie verließen den Parlour, auch Morrus, welcher aber durch den schon erleuchteten Korridor ging, während die anderen die Treppe hinaufstiegen. »Come in!«, rief Mistress Bellair, als Wichtelmann klopfte.

Das Zimmer glich einem Büro. Den Ehrenplatz in der besten Beleuchtung nahm die Schreibmaschine ein, an welcher die Hausfrau arbeitete, unter einem Deckel stand noch eine zweite zur Reserve, Papier und Bücher lagen wohlgeordnet.

Mistress Bellair erklärte, Wichtelmann setzte Erläuterungen hinzu.

Dieser bekannte englische Schriftsteller stenografierte zuerst auf kleinen losen Zettelchen, sodass er leicht abändern und einschalten konnte. Das, was er unter der Feder hatte, machte er erst fix und fertig, dann wurden die Zettelchen nummeriert, geheftet und gingen so durch die Post der Schreibmaschinistin zu. Die Stenografie bot der Abschreiberin keine Schwierigkeiten, sie war ausführlich und wie gestochen, eine Korrektur gab es in diesem fertigen Stenogramm nicht. Es wurde also mittels der Maschine abgeschrieben und gleichzeitig mit gefärbtem Papier eine Kopie hergestellt. Der Bogen, der das Original aufnahm, war wegen des Durchschlages zwar nur dünn, aber eine ausgezeichnete Papiersorte. Auf keiner der vielen fertigen Seiten, die in Reihe dalagen, war die geringste Korrektur zu bemerken.

»Wenn ich mich einmal verschreibe«, sagte Mistress Bellair, »so merke ich das doch beim Durchlesen und muss dann die ganze Seite noch einmal abschreiben, und das gilt, wenn ich auf der allerletzten Zeile ein falsches Interpunktionszeichen oder zwischen zwei Worten auch nur einen doppelten Abstand gemacht habe. Es darf absolut kein Fehler darin sein, es muss wie gedruckt sein. Freilich habe ich ja auch die Übung, verschreiben tue ich mich überhaupt nicht, das bringt gleich die Gewohnheit von Anfang an, nur dass ich nicht so rattern kann, etwa so 80 bis 100 Silben in der Minute. Dafür bezahlt Mr. Howard dieses Abschreiben auch außerordentlich hoch.«

»Aber wozu nur diese furchtbare Peinlichkeit?«, fragte Toni fast ängstlich. »Das kommt ja für den Setzer gar nicht so darauf an, so viel verstehe ich doch auch davon.«

»O, das ist ja etwas ganz anderes. In die Druckerei kommen nur die Kopien, die könnten schließlich aussehen wie sie wollten, wenn nur etwas Gutes darin steht. Die Originalabschrift behält Mr. Howard für sich, lässt die losen Blätter einbinden, oder das tut er vielmehr selbst, und zwar so. Dieses Buch hier musste ich aus besonderen Gründen noch einmal ganz abschreiben, deshalb konnte ich es hierbehalten. Sonst kommen diese Bücher natürlich in seine Bibliothek.«

Die alte Dame hatte aus einer Kommodenschublade ein Buch geholt, großes Quartformat, nicht allzu dick, etwa 100 solcher einseitig beschriebenen Bogen enthaltend, fein in starkes Leder gebunden, auf dem Rücken von oben nach unten in deutlicher Goldpressung der Titel: ,Das Geheimnis der Telefonzelle‹ — Dann noch eine Nummer: 341.

Klara war die erste, die danach griff, mit ganz ehrfürchtigen Händen, und es war auch wirklich wert, das Buch aufzuschlagen, darin zu blättern.

Also zunächst diese saubere, einfach tadellose Maschinenschrift — und dann vor allen Dingen waren auch ab und zu auf der hinteren, schriftfreien Seite Bilder eingezeichnet, mit Feder und Tusche, Hauptszenen darstellend, welche auf der rechts daneben befindlichen Schriftseite geschildert waren. Und auch an diesen Federzeichnungen, deren Klara dann sechzehn zählte, hätte kein Kunstkritiker etwas auszusetzen gehabt. Eben die wohldurchdachten und wohlausgeführten Zeichnungen eines künstlerischen Illustrators.

»Wer hat denn die Bilder hineingemacht?«, fragte Toni, über die Schulter der Schwester blickend, deren immer wachsende Ehrfurcht das zunehmende Zittern der Hände ausdrückte.

»Die zeichnet ebenfalls Mr. Howard.«

»Ist — doch — nicht — möglich!!«, erklang es zweistimmig.

»Gewiss. Mr. Howard kann auch wunderbar zeichnen — sogar malen, in Öl — obschon, wie er mir selbst einmal sagte, ein gutes Federzeichnen noch viel mehr zu bedeuten habe. Das hier sind nur Kopien. Er macht das Original erst auf ein Stück Papier und kopiert es dann auf eine eigene Methode in das Buch hinein. Dadurch kann nicht so leicht ein ganzes Buch verpfuscht werden. Dann schickt er die Originale zum Verleger, der sucht sich aus, was ihm am besten passt. Denn Mr. Howard macht immer mehr Bilder, als in so ein gedrucktes Heft hineinkommen können. Das sind immer höchstens acht. Die bekommt Mr. Howard dann natürlich auch bezahlt. Aber darum ist es ihm ja gar nicht zu tun. Er macht das alles ja nur zu seinem eigenen Vergnügen. Doch auch wie das Einbinden.«

»Was? Auch das Einbinden macht er selber?«

»Wie ich schon sagte. Einbinden und die Pressung und den Golddruck und alles. Das macht er alles mit eigener Hand, ohne jeden Gehilfen, da hat er seine eigene kleine Werkstatt mit allen nötigen Maschinen dazu.«

»Ja, ja, meine Damen«, ließ sich auch Wichtelmann wieder einmal vernehmen. »Sehen Sie sich nur das Buch richtig an! Hier kann jeder Mensch noch etwas lernen, und wenn er sonst auch schon alle Wissenschaften ausgelernt hat. Das nennt man ein Manuskript! Das heißt, dass wir uns nicht irren: So sieht ein Originalmanuskript des englischen Volksschriftstellers Edward Howard aus! Ja, ja, meine Damen, das ist das Originalmanuskript von solch einem Pennyheft, Pennyroman!«

»Was? Das ist dann so ein gedruckter Pennyroman geworden?!«, riefen wiederum die beiden Schwestern wie aus einem Munde.

»Nu ja, natürlich. Da steht's ja: Nummer 341, das Geheimnis der Telefonzelle. Wann gedruckt herausgekommen? Das muss auch irgendwo stehen — jawohl, hier — vor sechs Wochen. Die Nummer bekommen Sie vielleicht noch zu kaufen. Vielleicht. Aber die Damen haben sich wohl noch gar keine solchen Pennyhefte gekauft?«

»Nein«, wurde gestanden.

»Warum denn nicht?«

»Weil — weil — weil...«

»Weil Sie sich genierten. Ich verstehe schon. Ich habe ja vorhin die ganze Geschichte erzählt. Weil Sie aus Deutschland kommen. Ein kleiner Widerwillen gegen solche billige Literatur, auf dem miserabelsten Papier gedruckt, ist ja auch hier vorhanden, aber nicht zu vergleichen mit dem deutschen Abscheu. Hier sieht man recht respektable Personen, die sich jeden Freitag oder Sonnabend ihr Pennyheft kaufen. Ja, und nun fassen Sie einmal Courage, kaufen Sie und lesen Sie solch ein Heft. Der Inhalt ist so tadellos wie hier das Aussehen der Abschrift und selbst wie das Stenogramm. Es sind kleine, wohldurchdachte Romane mit folgerichtig psychologischer Entwicklung der Charaktere, lesbar auch für den gebildetsten Mann, obgleich berechnet für die breitesten, unteren Volksschichten. Und nun besehen Sie sich die Illustrationen. Kann ein Mensch denn nur mehr verlangen? Und das alles für einen Penny — 4000 Zeilen oder 64 Seiten für acht Fenge!«

»In den Heftchen sehen die Bilder aber ganz anders aus als hier«, meinte Klara schüchtern.

»Ja, freilich, das macht der Druck auf dem miserablen Papier. Das ist das schlechteste Papier, das nur herzustellen geht, dass die Fasern gerade noch zusammenhalten. Aber das geht doch nicht anders für acht Fenge. Und diese Hefte sollen doch auch nicht gebunden und in die Bibliothek gestellt werden. Die werden dann weggeworfen oder sind zu etwas anderem da. Aber hiervon ganz abgesehen. Hier handelt es sich nur um den Autor. Sehen Sie, meine Damen, dieser Howard hat das Rezept gefunden, wonach jeder Schriftsteller arbeiten sollte. Der schreibt nicht für den Verleger, nicht für das Lesepublikum, sondern der schreibt für sich selbst, für seine Bibliothek. Diese prachtvollen, selbsteingebundenen und selbstillustrierten Bände stellt er in seine Bibliothek — und was für einen Haufen mag er da wohl schon darin haben! — Das ist seine Freude, sein Stolz und sein Sport — und dann hat er auch noch das Vergnügen, dass ihm diese für ihn ganz wertlosen Kopien hier auch noch mit Gold aufgewogen werden. Nun heißt es vielleicht gleich: Jaaa, der hat es auch nicht nötig! I, das hat er früher auch einmal nötig gehabt, und da hat er auch schon so gearbeitet. Das aber ist eben allein das Richtige: nur zu seinem eigenen Vergnügen arbeiten! Dann kommt alles aus dem Herzen heraus, dann geht es auch wieder zu Herzen, und dann kommt der Erfolg von ganz allein!«

Noch immer betrachtete Klara mit ehrfurchtsvoller Bewunderung das Manuskriptbuch in ihren Händen.

»Das wäre so etwas für mich«, flüsterte sie mit geröteten Wangen und glänzenden Augen, »gerade so eine saubere, peinliche Arbeit, die liebe ich.«

Da plötzlich bei diesen Worten nahm Wichtelmanns Gnomengesicht einen wahrhaft hinterlistigerwartungsvollen Ausdruck an, und auch Mrs. Bellair musste etwas Besonderes gehört haben, sie rückte so schnell mit dem Stuhle herum und schob die Brille hoch, die sie beim Schreiben trug.

»Ja, wäre das etwas für Sie?«, fragten beide gleichzeitig.

»O ja, den ganzen Tag so wirklich gediegene Romane und sonstige Erzählungen abschreiben...«, flüsterte Klara nach wie vor ganz erregt.

»Und würden auch Sie da mitmachen?«, wandte sich Wichtelmann an die andere Schwester.

»Gewiss, wenn's anständig bezahlt wird«, war der freieren Toni Antwort.

»Nun, Mistress Bellair, wie viel bekommen Sie denn?«, wollte Wichtelmann, der den Examinator machte, diese selbst sprechen lassen.

»Für tausend Zeilen zehn Schilling...«

»Was? Für tausend Zeilen zehn Schilling, nur fürs Abschreiben von diesem leserlichen Stenogramm?!«, riefen beide Schwestern. »Das ist ja kolossal viel!«

»Ja, so viel gibt's sonst in England auch nicht — fünf Schilling fürs Tausend, das ist sonst das Allerhöchste, und dann auch ganz, ganz tadellos, und dann muss der Schreiber auch noch seine eigene Maschine haben und das Papier dazu liefern. Das ist ja auch hier eine ganz besondere Stellung, ein Vertrauensposten, den nicht etwa jede Maschinenschreiberin bekommt. Und wie viele Zeilen schreiben Sie täglich und wöchentlich, Mistress Bellair?«

»Ich erhalte wöchentlich abgezählte neuntausend Zeilen zugeschickt, so viel schreibt Mister Howard...«

»Ja, wie ist denn das nur möglich«, unterbrach zunächst Toni, »dass ein Mensch in der Woche neuntausend Zeilen Belletristik, die Sinn und Verstand haben soll...«

»Bitte, lassen wir das zunächst«, wurde sie wieder von Wichtelmann unterbrochen, »das erkläre ich Ihnen später, wie das sehr leicht möglich ist, wie man dabei auch noch die Sachen mit eigener Hand illustrieren und einbinden kann. Bleiben wir jetzt bei der Hauptsache. Und wie bringen Sie diese neuntausend Zeilen fertig, Mistress Bellair?«

»Indem ich jeden Werktag eintausendfünfhundert Zeilen abschreibe. Dazu brauche ich täglich zehn Stunden, vormittags fünf und nachmittags fünf, das ist aber auch das allerhöchste Maß.«

»Stimmt, das ist auch eine ganz erbärmliche Leistung. Sogar ich, der ich sehr wenig Übung besitze, schreibe mit meinen kulbigen Fingern in der Stunde bequem zweihundert Zeilen, es sind ja seitenlang nur halbe oder gar einzelne Worte, so will's das Publikum haben, schreibe dabei noch ganz bedächtig, um mich nicht zu verschreiben — ich habe nämlich einmal mit Mistress Bellair eine Wette deshalb gemacht und habe sie gewonnen — und brenne mir dabei auch noch alle fünf Minuten die Pfeife an. Also Allerhöchstforderung täglich zehn Stunden. Das kann man auch von einem gesunden Menschen verlangen. Bringt die Woche neunzig Schilling ein. Wird immer prompt bezahlt. Auch Vorschuss, so viel man haben will. Nun sind Sie aber doch zwei Personen. Kommt auf die Person pro Tag nur fünf Stunden. Freilich auch nur fünfundvierzig Schilling, aber Sie kriegen für Ihre zwölfstündige Turnerei ja sogar nur vierzig Schilling pro Woche und riskieren dabei stündlich Ihren Hals, was hierbei nicht nötig ist... na, meine Damen, schlagen Sie ein?«

Und Wichtelmann hielt jeder eine seiner breiten Hände mit wunderbar kurzen Fingerchen hin.

Die beiden Schwestern waren wieder einmal die siamesischen Zwillinge geworden — oder noch viel mehr als diese — sie schienen jetzt wirklich nur noch ein Herz und eine Seele und, prosaischer gedacht, nur noch ein Hirn zu haben — sie sprachen immer ganz die gleichen Worte und machten sogar ganz genau dieselben Bewegungen.

»Sie sprechen doch nicht etwa von uns?!«

»Ja, von wem denn sonst? Die Sache ist folgende: Mistress Bellair hier hat diese Schreiberei schon längst aufgeben wollen. Ihre Augen wollen nicht recht mehr mitmachen. Aber nun erst einen Stellvertreter finden. Das scheint nämlich leichter zu sein, als es in Wirklichkeit ist. Das muss eine Vertrauensperson sein, auf die man sich absolut verlassen kann, das muss... doch das ist ja ganz never mind. Kurz und gut, in Ihnen beiden glaubt sie die richtigen entdeckt zu haben. Nun allerdings kommt noch hinzu, dass wir uns auch schon ausgesprochen haben. Die Sache ist nämlich nicht erst von heute, sondern schon von gestern, sogar schon von vorgestern — nein, schon vom Sonntag her! Da haben Sie, Fräulein Toni, als Sie aufwuschen, doch mit Mister Morrus ein längeres Gespräch geführt...«

»Das werde ich wohl gewesen sein«, schaltete Klara schüchtern ein.

»Na, dann waren Sie's, das ist doch ganz egal. Aber die andere hat dann auch noch mit Mister Morrus ein langes Gespräch gehabt, hat sich offenbart, wie unglücklich Sie dieser vertrackte Kontrakt mit der Turnerei macht...«

»Unglücklich? Das sind wir nicht, das sind wir nicht!!«, erklang es zweistimmig mit entsprechenden Bewegungen.

»Na, dann nicht. Sie wissen schon, was ich meine. Kurz und gut, Mistress Bellair ist mit größten Freuden bereit, Ihnen diese Abschreiberei für ständig abzutreten... na, nun schlagen Sie ein!«

Aber vergebens streckte der Wichtelmann nochmals mit freudestrahlendem Gesicht seine beiden Hände hin.

»Ja, aber unser Kontrakt!!«

»Ach, das ist doch alles Larifari! Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Nur wollen müssen Sie...«

»Nein, nein!!«

»Jawohl, Sie wollen. Und passen Sie auf, wie schnell Sie von diesem ganz niederträchtigen Kontrakt entbunden sind, wenn wir, die wir von englischen Gesetzen und Verhältnissen etwas verstehen, die Sache in die Hand nehmen. Da brauchen wir gar nicht erst zu einem Rechtsanwalt oder Linksanwalt zu gehen. Sie sind ja ganz mörderisch übers Ohr gehauen worden. Also, die Sache ist ganz einfach schon abgemacht. Ach, meine lieben Fräuleins, soll das nun hier in Robin Hoods Walde ein Leben werden. Sie müssen mich nur erst einmal richtig kennen lernen, hier meine ganzen Königreiche, wenn nur erst einmal dieser verdammte Regen aufgehört hat, wenn wir drei dann zusammen losziehen, und am Sonntage Chingachgook die große Schlange mit, wenn wir vier dann als...«

Wichtelmann hatte offenbar zu einem gar langen Sermon angesetzt, der die Zukunft hier schildern sollte, und zwar mit einer strahlenden Glückseligkeit, dass das Stupsnäschen in dem Gnomengesicht ganz verschwand.

Er sollte unterbrochen werden.

Bumbum, ging es schnell hintereinander, dass man die beiden Töne kaum noch unterscheiden konnte.

Ein allgemeines Auf- und Zusammenfahren.

»Der Postmannsknock!!«

In England findet man fast noch gar keine Haustürklingeln, an diesen Cottages niemals. In Kopfhöhe ist ein metallener Klopfer angebracht. Die Briefträger haben nun, um sich anzukündigen, ihren eigenen ›knock‹, einen kurzen Doppelschlag. Das ist aber leichter gesagt, als ihn nachgemacht. Nur ein Mensch, der diesen Schlag jahraus, jahrein täglich mehrere hundert Male ertönen lässt, bringt es endlich heraus, so unendlich kurz ist die Pause zwischen den beiden Schlägen.

»Schon halb neun! Was kann das noch sein?«

Bereits hörte man Morrus unten gehen, er öffnete die Haustür, einige unverständliche Worte, er kam die Treppe herauf.

»Eine Depesche für die Geschwister Luck«, rief er unterwegs.

Toni nahm sie ihm aus der Hand, riss sie auf, und las laut vor:


»BITTE SOFORT ZURÜCKKOMMEN. ZU MORGEN GROSSER NEW YORKER DAMENKLUB ANGEMELDET. HOHES EXTRAHONORAR. DAVIDSON.«


»Dass doch diesen Sohn Davids...«, rief Wichtelmann grimmig, ohne ihm etwas Besonderes zu wünschen, und dann lachte er: »Daraus wird natürlich nichts!«

Die beiden Schwestern aber blickten sich einige Sekunden wie auf Kommando schweigend an.

»Da müssen wir hin.«

»Selbstverständlich.«

»Sofort.«

»Mit dem nächsten Zuge.«

Besonders Wichtelmann wollte nichts davon wissen, aber es war vergeblich, was er alles dagegen hervorbrachte.

Er hatte nicht verstanden, in den Augen zu lesen, mit denen sich die beiden Mädchen die paar Sekunden lang angeblickt hatten, sonst hätte er alles gewusst.

»Wann geht der nächste Zug? In einer halben Stunde? Da kommen wir noch hin, können uns gerade noch anziehen. Aber die Koffer packen können wir nicht mehr. Mistress Bellair, nicht wahr, Sie werfen morgen alles in die Koffer und schicken sie uns zu? Nein, nein, wir dürfen Mister Davidson nicht im Stiche lassen. Dieser New Yorker Damenklub wird schon längst erwartet, und das bedeutet für unseren Manager eine zu große Reklame für Amerika. Ja, wir haben Vertreterinnen, es sind schon andere Turnlehrerinnen da, die wir erst ausgebildet haben, aber die Amerikanerinnen kommen nur wegen uns. Nein, nein, Mister Wichtelmann, Mister Morrus, Mistress Bellair, es geht wirklich nicht, wirklich nicht, beim besten Willen nicht! Aber das dauert doch höchstens eine Woche, dann kommen wir ja wieder, dann muss uns Davidson zur Belohnung noch extra gleich zwei Wochen Ferien bewilligen, uns beiden gleichzeitig...«

Na, wenn es so war, dann ging es. Wichtelmann, der ganz unglücklich geworden, der wie in seiner besten Matrosenzeit sogar zu fluchen angefangen hatte, jetzt wünschend, dass dieser Sohn Davids, wie weiland Absolom, sich doch ebenfalls mit seinen Haaren an einem Baumaste aufhängen möchte und für alle Zeiten, beruhigte sich wieder.

Also umgezogen und nach dem Bahnhofe gerannt. Wichtelmann und Morrus rannten mit. Es war die höchste Zeit. Da kam schon der Zug angebraust.

»Sie kommen doch wieder?«

»Ja, ja, gewiss doch.«

»Ganz bestimmt?«

»Natürlich, natürlich — ach, soll das schön werden!«

»Good bye — adieu, adjüs!«

Die beiden Mädchen waren allein in ein Coupé gekommen.

Zwei Minuten später saß jede in einer anderen Ecke und blickte aufmerksam zum Fenster hinaus, durch das doch nichts anderes zu sehen war, als finstere Nacht und ab und zu ein vorüberhuschendes Licht.

Trostlos plätscherte der Regen gegen die Scheiben.

Da ein schluchzender Laut, und hastig riss Toni das Taschentuch hervor, um sich mit ihrer Nase zu beschäftigen.

Aber das Schluchzen konnte sie dadurch nicht bemänteln.

Klara blickte aus ihrer Ecke erschrocken nach der Schwester.

»Was ist dir denn, Toni?«

»Ich — ich — hab — habe — sol — solches — Heim — Heimweh.«

Und anstatt nun die törichte Schwester zu trösten, die seit einem Jahre zum allerersten Male etwas von Heimweh sagte, das doch nur Deutschland gelten konnte, wo die beiden aber überhaupt gar kein Heim mehr hatten, und die Eltern waren schon längst tot, zog Klara gleichfalls ihr Taschentuch hervor, um ebenso zu schluchzen:

»Ich — ich — auch!«

Und draußen plätscherte trostlos der Regen.

* * *

7. Kapitel

Eine Woche lang hatten die fünfzig amerikanischen Sportsdamen im Westminster-College geturnt, von früh bis in die Nacht hinein, nur die Erholungspausen zur Besichtigung Londons benutzend, die fähigste hatte es bis zum freien Riesenschwung gebracht, die unbeholfenste dank der vortrefflichen Anleitung der beiden deutschen Turnlehrerinnen doch wenigstens bis zur Bauchwelle à la Mehlsack — dann dampften die fünfzig Damen nach dem Kontinent hinüber, zwei mit geschienten Knochen, vier mit mehr oder weniger verstauchten Gliedmaßen, alle mit aufgeplatzten Händen.

Während dieser Woche waren die beiden Schwestern gar nicht zur Besinnung gekommen. Ihr Gepäck war gleich am nächsten Tage eingetroffen, ohne Begleitbrief.

Jetzt waren sie frei, jede hatte auch noch für die angestrengten sieben Tage zehn Pfund in die Tasche bekommen.

»Sie werden doch jetzt Ihren versäumten Urlaub nachholen wollen?«, fragte der Manager.

Ein ganz unmotiviertes Erschrecken bei dieser Frage, und wieder blickten sich die Schwestern einige Sekunden so seltsam an.

»Ach, ich... Klara... Ich hätte eigentlich gar keine so große Lust.«

»Ich eigentlich auch nicht, man kommt nur immer so aus seiner Ordnung.«

»Das denke ich auch, man kommt nur aus seiner Ordnung«, bestätigte Toni.

Und sie verzichteten sogar auf geteilten Urlaub, obgleich Mister Davidson sie darauf aufmerksam machte, dass er sie dafür nicht besonders entschädigen könne; die Zeiten seien zu schlecht.

»Ja, man kommt durch solche Bummelei nur aus seiner ruhigen Ordnung«, sagten sie alle beide, als sie nach Hause gingen, und führten über die Wohltat der ununterbrochenen Arbeitstätigkeit noch ein längeres philosophisches Gespräch — mit krampfhafter Anstrengung möchte man fast sagen.

»Herrgott, wir haben dort ja noch gar nicht bezahlt!«, rief dann Klara erschrocken.

Eine Beratung, und Klara schrieb den Brief, mit Einverständnis der Schwester log sie ein bisschen, indem sie versicherte, dass sie jetzt und für die nächste Zeit absolut nicht abkommen könnten, was sie für die ausgemachte Pensionswoche schuldig seien, aber Mistress Bellair könne wohl auch noch andere Ansprüche machen, da die Schwestern von längerer Miete gesprochen hätten — ›bitte, bitte, seien Sie ganz offen — unsere besten Empfehlungen an Mister Morrus und Mister Wichtelmann, es waren herrliche Tage, die wir nie vergessen werden. Yours truly...‹

Toni unterschrieb mit, wobei sich zeigte, dass sie ganz genau denselben Namenszug hatte wie die Schwester.

Fünf Tage vergingen, ehe die Antwort kam: am Montag. Man hatte dort in dem Cottage einfach erst den Sonntag abgewartet, um auch Chingachgook, die große Schlange, am Beratungsfeuer zu haben.

Mistress Bellair schrieb, sie seien durchaus nichts schuldig, sie wären die herzlichst aufgenommenen Gäste gewesen, die sie je bewirtet. Überhaupt sei das alles nur Nebensache. Sie brauche unbedingt baldigst einen Stellvertreter, und sie wiederhole ihr Angebot. Die Damen brauchten ja durchaus nicht bei ihr zu wohnen. Oder Wichtelmann zöge aus, Morrus, als Sonntagsbesucher, käme ja gar nicht in Betracht. Und was nun den Kontrakt beträfe, so habe Mister Morrus bereits mit einem kundigen Rechtsanwalt gesprochen. Da eine Handhabe zu finden, um diesen ganz und gar einseitigen Kontrakt aufzulösen, das sei ja eine Kleinigkeit. Allerdings käme ja auch noch das Pflichtgefühl hinzu, aber... Und diese Kopistenstellung für die beiden Schwestern sei eine dauernde. Natürlich für menschliche Verhältnisse berechnet. Mister Howard, an den sie deswegen schon geschrieben, sei mit Vergnügen bereit, eine größere Sicherheit zu stellen, auf viele Jahre hinaus, die Damen möchten nur fordern. Wären tausend Pfund genügend...?

Wieder blickten sich die Schwestern wie auf Kommando so eigentümlich an.

»Was die nur mit uns haben?«

»Die sind rein vernarrt in uns.«

»Die Mistress Bellair meinst du doch?«

»Natürlich, wen denn sonst?«

»Nein, Toni, das ist trotz alledem nichts für uns, und dann müssen wir auch unbedingt hier unseren Verpflichtungen, die wir freiwillig eingegangen sind, nachkommen.«

»So denke ich auch. Und außerdem könnte ich keine fünf Stunden täglich ruhig sitzen, jetzt hab' ich's mir endlich überlegt.«

»Du auch?! Ich schon lange.«

Und danach wurde der Absagebrief abgefasst: das Bewusstsein treuer Pflichterfüllung und kein Sitzfleisch. Tausend und abertausend Dank, aber... Et jeht nich.

Der Brief ward in ein Kuvert gesteckt und dieses wieder in eine Kiste mit Schokolade und anderen Gegengeschenken für die gewährte Gastfreundschaft.

Zwei Wochen gingen ins Land. Die Verbindung mit dem Cottage von Robin Hood war unterbrochen — jetzt natürlich für immer.

Nach diesen genau zwei Wochen, also wieder an einem Montag, als die beiden Schwestern früh kurz vor zehn Uhr an ihrer Turnhalle anlangten, fanden sie vor derselben ein paar Dutzend Müßiggänger stehen, welche zusahen, wie ein Mann, dessen Uniform kaum als solche zu erkennen war — so unauffällig war sie — an die Tür dieser Turnhalle ein großes Siegel klebte, welches beim Öffnen dieser Tür zerrissen werden musste.


»Broker. Bankrupt.«


Zwei Stunden später erschienen die Mittagszeitungen, da stand schon alles ganz ausführlich drin, jetzt sollte alles schon längst bekannt gewesen sein, nämlich, dass Mister Davidson, der Manager und Eigentümer des Westminster-Ladies-College ein wütender Pferdewetter und Hasardspieler gewesen war, schon immer bis über die Ohren in Schulden gesteckt hatte. Vollständig bankrott — sogar wegen Betrugs bereits steckbrieflich verfolgt.

Die sehr ängstlich gewordenen Schwestern eilten zu dem Solicitor, der den Kontrakt damals geregelt hatte.

Nein, sie hätten mit der ganzen Geschichte doch gar nichts zu tun. Auf die Entschädigungssumme dürften sie natürlich nicht mehr hoffen. Ebenso selbstverständlich aber seien doch auch sie nun des Kontraktes entbunden, unter solchen Umständen gäbe es auch keinen Rechtsnachfolger.

»Frei!!«

»Ja, wohin aber nun?«

Wieder plätscherte der Regen trostlos auf das Londoner Pflaster nieder.

»Zurück in die Heimat, sofort, noch heute!«

Es ist gleichgültig, wer es zufällig zuerst gesagt hatte. Eine hatte für die andere gesprochen.

Dabei hatten sie noch gar nichts von London gesehen. Wann sollten sie denn auch! Des Sonntags waren sie froh gewesen, zu Hause bleiben zu können. Höchstens ein gutes Buch.

Auch jetzt dachten sie nicht daran, das Versäumte nachzuholen. Trostlos, wie der Regentag, war es ihnen zumute. Das Warum wussten sie selbst nicht. Oder wenn es jede für sich wusste, so sagte sie es doch nicht der Schwester.

Zurück in die deutsche Stadt, in der sie zuletzt an einer Schule angestellt gewesen, wo sie bei einer Tante gewohnt, ein richtiges Heim gehabt hatten.

»Ach, wie wird die sich freuen! Wir telegrafieren gleich.«

Unterwegs holten sie ihr erspartes Geld von der Bank, ziemlich hundert Pfund.

»Aber wir fahren diesmal mit dem Schiff nach Hamburg oder Bremen, das ist viel billiger und auch viel schöner.«

Diese Schiffe gingen immer abends vom St.KatharinenDock ab, in der Mitte der Stadt gelegen, neben dem Tower, aber doch nicht täglich, das wussten sie, und das beste war, gleich selbst hinzugehen und eventuell einen guten Platz zu belegen.

Der Weg führte sie an ihrer Wohnung vorbei.

»Ich kann ja allein hingehen, du packst unterdessen die Sachen«, sagte Klara.

»Und wenn nun heute kein Dampfer nach Hamburg oder Bremen geht?«

»Dann fahren wir über Amsterdam, da gehen jeden Abend einige Dampfer.«

So eilig hatten sie's, aus London fortzukommen.

Toni packte also die Körbe und Koffer. Langsam, schweigend, mechanisch ging es ihr von der Hand. Keine Ungeduld, wenn sich einmal ein verknoteter Strick nicht auffitzen lassen wollte.

Zuletzt kam auch der Korbkoffer daran, der mit in Loughton gewesen war. Aber sie zog ihn nur hervor, öffnete den Deckel nicht, betrachtete ihn mit sinnendem Blick, und immer mehr spitzten sich die Lippen des Mädchens in jener eigentümlichen Weise, wie man es bei kleinen Kindern wahrnimmt, wenn sie zu weinen anfangen wollen, aber noch nicht recht wissen, ob sie es tun sollen oder nicht — bis Toni plötzlich auf dem Korbkoffer saß, und nun ging es richtig los, die Tränen flossen reichlich.

Und was beweinte sie denn?

»Mein Glück — mein verlorenes Glück — das Glück von Robin Hood!«, erklang es leise schluchzend hinter den vorgehaltenen Händen.

Doch als Klara zurückkam, merkte sie der Schwester nichts mehr davon an. Heiterer war sie freilich auch nicht geworden.

»Heute Abend geht der ,Kondor‹ nach Bremen, ich habe in der zweiten Klasse eine sehr hübsche Kabine mit zwei Betten bekommen, fünfzig Schilling zusammen, inklusive voller Beköstigung. Um sieben müssen wir an Bord sein.

»So«, sagte Toni und schnürte weiter.

Klara wollte sich umziehen, ging dazu in das Käfterchen hinüber, das als Garderoberaum zu dem großen Zimmer gehörte.

Eine Minute später schrillte abermals die Vorsaalklingel. Denn hier in dieser Mietskaserne mit Etagenwohnung gab es Klingeln, das war etwas ganz anderes.

Es klopfte, die Logiswirtin kam.

»Ein Herr wünscht sie zu sprechen — Mr. Auuugüst Wuuuichtelmann.«

Glücklich hatte sie den schwierigen Namen herausgebracht. Und Toni machte ein Gesicht, als habe die Wirtin den Besuch Luzifers gemeldet und als stände dieser in seiner ganzen höllischen Majestät schon vor ihr.

Ja, da stand er auch wirklich schon vor ihr, allerdings nicht gerade in Majestät, weder in höllischer noch in himmlischer noch in anderer — und dennoch eine Erscheinung, die nicht recht auf diese Erde gehörte.

Zunächst sei noch nachträglich bemerkt, dass er in Loughton immer einen Sport- oder Reiseanzug aus Lodenstoff getragen hatte, an dem nichts auszusetzen gewesen war, zu dem auch das Sporthemd und die Sportmütze gepasst hatten.

Für diesen Besuch aber oder für die Fahrt nach London hatte er sich in Gala geworfen, trug einen schwarzen Anzug mit langschößigem Bratenrock — nur schade, dass dieser viel zu groß für ihn war. Das bemerkte man sowohl am rechten wie am linken Hosenbein, bei jedem auf andere Weise, indem nämlich das rechte unten zu einem unförmlichen Wulst zusammengekrempelt war, während das linke, nur die Fußspitze freilassend, hinten wie eine Wurst nachschleppte. Ebenso lang waren auch die Ärmel, aber die hatte er beide genügend kürzer zu machen verstanden, hatte sie mehrfach umgekrempelt und dann Stricke nach Art von Strumpfbändern darumgebunden. Dann gehörte zu solch einem schwarzen Salonanzug auch nicht das rot und weiß gestreifte Sporthemd mit blauen Troddeln, die ihm bis zum Bauche herunterhingen. Besser zu der ganzen Erscheinung, die nun einmal immer etwas Gnomenhaftes an sich hatte, passte der riesige Kalabreser, also ein äußerst breitrandiger Filzhut mit hoher spitzer Kopftüte. Schließlich muss noch erwähnt werden, dass der salonfähige Herr August Wichtelmann wie aus dem Wasser gezogen war, obgleich er unter den Arm einen Regenschirm geklemmt trug, den er aber vorsorglich, damit er nicht nass würde, mit einem Überzug von Wachstuch versehen hatte.

So präsentierte sich Herr August Wichtelmann. Die Wirtin hatte sich schon wieder zurückgezogen, die Tür hinter ihm zugemacht.

Aber Toni empfand nichts von der Lächerlichkeit dieser Erscheinung. Ob sie die Erlaubnis zu seinem Eintritt gegeben hatte, wusste sie nicht.

Ihre Hand hatte wohl nach dem Herzen fahren wollen, hatte diese Bewegung nicht ganz ausgeführt. Zur Statue erstarrt stand sie da — bleicher, als sie schon gewesen, konnte sie wohl nicht werden. Nur die Lippen hatten plötzlich die rote Farbe verloren.

»Wichtelmann!«, flüsterten diese blassen Lippen. »O, warum...«

Weiter sprach sie es nicht aus.

Und auch Wichtelmann machte heute kein heiteres, vergnügt schmunzelndes Gnomengesicht, kein trauriges — er war tiefernst, feierlich ernst.

»Guten Tag, Fräulein Luck«, sagte er mit seiner tiefen Bassstimme ebenso feierlich ernst und gab der vor ihm Stehenden zunächst eine kalte Dusche, nämlich durch kühnes Abziehen seines Kalabresers, der auf seiner Krempenrinne noch einige kleine Wasserpfützen angesammelt hatte.

»Ich störe doch nicht?«

Tonis furchtbare Verwirrung — oder was es nun sonst war — dauerte nicht lange. Die beiden Schwestern waren genug unter fremden Leuten gewesen, und mit was für einem Publikum hatten sie verkehrt, gerade in diesem letzten Jahre, wie oft täglich hatten sie ihr Innerstes verheimlichen müssen — es waren vollendete Weltdamen, konnten es wenigstens sein, wenn sie nur wollten.

Und Toni wollte es jetzt sein.

»O, bitte, bitte, Herr Wichtelmann! Welche freudige Überraschung! Bitte nehmen Sie Platz.«

Mit dem Platznehmen war es hier gar nicht so einfach, das Sofa, die Stühle und die jetzt sichtbaren Betten, die sonst durch eine spanische Wand verdeckt wurden, waren noch immer dicht mit Gegenständen belegt, die in den Koffern und Körben noch kein Unterkommen gefunden hatten.

Der dem Wasser entstiegene Erdgeist rührte sich denn auch nicht.

»Sie sind doch Fräulein Toni, nicht wahr?«

»Gewiss, ich bin die Toni«, konnte diese schon wieder lächeln.

»Ja, ich weiß es, ich habe es sofort erkannt, mein Scharfblick täuscht mich nie. Und wo ist Ihre Schwester Fräulein Klara?«

»Die ist — ist — fort, nach dem St.KatharinenDock.«

Ursprünglich hatte Toni nicht lügen wollen. Aber sie war doch noch etwas verwirrt, oder doch durch diesen Besuch überrascht, hatte im Augenblick wirklich nicht daran gedacht, dass Klara ja schon zurückgekehrt war und sich drüben befand.

Nun aber wollte sie diese Unwahrheit auch nicht eingestehen. Es war ja auch gleichgültig. Die Kammertür war nur angelehnt, Klara musste unbedingt alles gehört haben, sie würde sich ganz still verhalten.

Später, wenn es nötig war, konnte dieser Irrtum ja korrigiert werden.

»Fort? Freut mich, freut mich sehr. Setzen wir uns.«

Es muss betont werden, dass Wichtelmann immer bei seinem feierlichen Ernste blieb, so salbungsvoll waren auch Ton und Stimme.

So bedächtig setzte er sich auf einen Koffer, Toni ließ sich ihm gegenüber nieder. Jetzt drückte ihr Gesicht doch eine große, ängstliche Spannung aus.

Wir geben das nachfolgende Gespräch ohne weitere Bemerkungen wieder, erwähnen nur noch, dass Wichtelmann sein visàvis erst genügend lange Zeit scharf gemustert hatte, ehe er begann:

»Also Sie sind tatsächlich Fräulein Toni?«

»Ja, ich bin die Toni.«

»Bei Ihnen muss doch solch eine Frage erlaubt sein.«

»Gewiss, ich verstehe, ich verstehe — unsere Ähnlichkeit...«

»Ja, ich habe Sie gleich erkannt, mein Scharfblick irrt sich überhaupt nie, denn ich schreibe Romane und... never mind. Sie nehmen das Angebot von Mrs. Bellair also nicht an?«

»Herr Wichtelmann, wir haben uns...«

»Never mind, das ist erledigt, deshalb komme ich wieder her. Der Sohn Davids hat seine Bude also zugemacht.«

»Ja, denken Sie, alles verspielt...«

»Never mind, habe alles in der Mittagszeitung gelesen. Sie sind Ihres Kontraktes entbunden?«

»Vollständig.«

»Wollen abreisen?«

»Heute Abend schon.«

»Nach Deutschland?«

»Ja.«

»Haben wir uns gleich gedacht. Ich wenigstens. Denn mein Scharfsinn... doch man darf sich nicht selbst loben. Immerhin — wenn man Romane schreibt. Chingachgook, habe ich gesagt, als ich das vorgelesen hatte, aber jetzt drauf wie Vater Blücher! Und da habe ich mich in meine Feiertagskluft geworfen und bin hierhergejagt. Und richtig, bald hätten wir das leere Nachsehen gehabt. Jetzt aber bin ich hier, um zu retten, was noch zu retten ist.«

Es war begreiflich, dass Toni den Sprecher völlig verständnislos anblickte.

»Ich fasse mich kurz«, fuhr Wichtelmann fort, immer mit seiner alten Würde, die dem Gnomen auch ganz vortrefflich stand. »Sie kennen doch Mister Morrus — James Morrus — nicht wahr?«

»Ob ich ihn kenne?«, wiederholte Toni ganz geistesabwesend, weil sie ihr Gehirn in anderer Sache abmarterte. Denn wo wollte der nur hinaus? Und dann mochte sie auch immer noch an anderes denken.

»Natürlich kennen Sie ihn. Sogar schon sehr, sehr lange. Das heißt, sie haben früher schon sehr, sehr lange mit ihm freundschaftlich verkehrt. Sie meinen, das seien nur vier Tage gewesen? O, vier Tage haben manchmal im menschlichen Leben eine sehr, sehr lange Zeit zu bedeuten. In diesem Falle wäre es besser, man rechnete nach Stunden oder sogar nach Minuten, und rechnete diese dann in Tage um — warten Sie mal — 24 mal 4 ist 96 — mal 60 ist 6000...«

»60 mal 96 ist 5760«, murmelte Toni.

»Na, dann 5760. Ich runde nach oben ab. Wenn das Tage wären, so wären das etwa... sechzehn Jahre. Stimmt's oder stimmt's nicht?«

»Das dürfte stimmen«, murmelte Toni nach wie vor ganz geistesabwesend.

»Und jene vier Tage haben also so viel zu bedeuten gehabt, als hätten Sie mit Mister Morrus schon sechzehn Jahre verkehrt. Stimmt's oder stimmt's nicht?«

»Ja, Mister Wichtelmann, wo wollen Sie nur hinaus...?«

»Sie werden's gleich erfahren, falls Sie's nicht schon wissen sollten. Aber Sie wissen's schon. Machen Sie mir doch nichts vor, Fräulein Toni, mein Scharfsinn täuscht mich nie, und ich schreibe doch nicht umsonst Romane — sogar Kolportageromane in 100 Fortsetzungen á 960 bis 984 Zeilen. Entweder sind nämlich auf der Seite 40 Zeilen oder 41, was Letzteres für den Schriftsteller einen kleinen Nachteil bedeutet, weil... doch das interessiert Sie in vorliegendem Falle wohl nicht, das setze ich Ihnen später einmal auseinander.«

Also, um nun auf meinen Freund James Morrus zurückzukommen, genannt Chingachgook die große Schlange. So gut Sie ihn auch sonst kennen, wissen Sie doch wenig von seinen persönlichen Verhältnissen. Wie alt schätzen Sie den Herrn?«

»Auf — auf — 37 Jahre.«

»Stimmt. 37 Jahre. Aber ist das tatsächlich Ihre eigene Schätzung? Das hat er Ihnen wohl selbst gesagt — oder wahrscheinlicher haben Sie Mistress Bellair gefragt. Wie?«

Toni erinnerte sich im Augenblick selbst nicht daran, wie sie sich damals mit ihrer Schwester geeinigt hatte, indem sie aus der Summe zweier ganz verschiedener Taxierungen das Mittel zogen. Sie staunte jetzt auch nicht das Wunder an, wie sie dabei also gerade das richtige Alter getroffen hatten. Toni war eben noch immer total befangen.

»Ich — ich — glaube, er hat es mir selbst gesagt?«

»So. Na, dann freilich ist es kein Kunststück, es zu wissen. Aber gestehen Sie offen — hätten Sie den weißhaarigen Kerl nicht für viel älter geschätzt?«

»In der Tat, das muss man ja auch — Mister Morrus hat wohl recht viel durchgemacht?«

Immer kleinlauter brachte es Toni heraus. Was in aller Welt bezweckte nur der Gnom mit diesen seinen Offenbarungen?

»Na und ob«, bestätigte er zunächst, aus seinem Rockflittig ein großes, rotes Taschentuch zum Vorschein bringend, und schon ward seine tiefe Stimme unsicher. »Lassen Sie sich nur erzählen. Der ist nämlich Witwer...«

»Witwer?«

»Na, warum denn nicht? Was ist denn da weiter dabei? Kinderloser Witwer. Aber hat einmal Kinder gehabt, auch verheiratet war er — nu ja natürlich — hatte sehr jung geheiratet — zwei Kinder — zwei reizende Mädchen, 's ist schon acht oder neun Jahre her — da macht er mit seiner Familie eine Reise — eine Vergnügungsreise — nach Frankreich hinüber — und unterwegs — auf dem Kanal — dichter Nebel — der Dampfer wird gerammt — sackt weg — Morrus gerettet — Frau und Kinder — weg...«

In der Nebenkammer ertönte ein Schrei, ziemlich laut. Er ward hier drinnen nicht gehört. Der kleine Mann hatte zuletzt die Worte mit zuckenden Lippen kaum noch hervorbringen können, immer mehr versagte ihm die Stimme — dann aber heulte er auf wie ein Kettenhund, in sein rotes Taschentuch hinein, und das hatte jenen Schrei übertönt.

Toni aber war keines Lautes fähig. Zur Statue erstarrt saß sie auf dem Reisekorb, ihr visávis wie ein Gespenst anstarrend.

»Es — ist — doch — nicht — möglich!«, brachte sie endlich hervor.

»Na, warum denn nicht?«, schluchzte Wichtelmann in sein rotes Taschentuch hinein. »Ich — weherde — Ihnen — doch — keiheine — Räuberpistolen erzählen, das — das — mahache ich nur, wenn's — wehenns bezahlt wird.«

Er putzte sich energisch die Nase, trocknete sich die Augen, und dann war es vorbei.

»Es ist schon acht oder neun Jahre her. Da kann man viel vergessen. Was man so vergessen nennt. Aber sehen Sie, damals hat er seine weißen Haare bekommen — und sie sind noch nicht wieder schwarz geworden — und — und — 's ist doch noch manches davon an ihm hängen geblieben. Was er sonst ist, das wissen Sie doch, wie?«

»Versicherungsbeamter«, flüsterte Toni.

»Ja. Inspektor bei der größten englischen Lebens- und Feuerversicherungsgesellschaft. Muss immer in ganz England herumreisen, um zu inspizieren und zu kontrollieren, so als halber oder mehr noch als ganzer Detektiv. Aber missverstehen Sie das nicht. Es gibt da im Versicherungswesen zweierlei Arten von Detektiven. Die einen müssen inspizieren, dass die Gesellschaft nicht von den Versicherten beschummelt wird. Nötig ist das ja auch, denn, Gott, was kommt da nicht alles vor, diese falschen Angaben, da versichert sich ein Zuckerkranker oder ein Schwindsüchtiger, der ganz genau weiß, dass er kein halbes Jahr mehr lebt, von Brandstiftungen und dergleichen gar nicht zu reden. Solche Inspektoren müssen wirklich die richtigen Kriminalbeamten, Detektive sein. Aber freilich... ein schöner Beruf ist das nicht. Alles so Aushorcherei und Heimtücke, alles wird darangesetzt, um wenigstens etwas von der auszuzahlenden Summe abzuknapsen. Mein Freund Morrus passt zu so etwas nicht. Das ist doch eine Seele von einem Menschen. Der ist gerade wieder das Gegenteil von dieser Art Inspektoren, der muss ausspionieren, dass die Versichernden nicht von den Agenten übers Ohr gehauen werden und dass sie dann die Prämie auch richtig ohne Abzug ausgezahlt bekommen. Verstehen Sie den Unterschied?«

»Ich verstehe, und das freut mich, das freut mich«, murmelte Toni.

»Ja, und dafür erhält er jährlich vierhundert Pfund. Viel, was? Nein gar nicht so viel. Morrus ist der allererste dieser Inspektoren, müsste noch viel mehr bekommen. Aber er hat damals ausgemacht, wie das ja überhaupt bei solchen Versicherungsgesellschaften üblich ist, dass er nur einen Teil seines eigentlichen Gehaltes erhält, der Abzug gilt als Prämie für eine Rente. Und nicht etwa nur für seine eigene Leibrente. Wenn er jetzt stirbt, und er hätte noch eine Frau, dann würde diese bis an ihr Lebensende ebenfalls die vierhundert Pfund bekommen. Und außerdem ist Morrus überhaupt ein vermögender Mann, muss schon ein hübsch paar Fenge zurückgelegt haben. So, nun kennen Sie die persönlichen Verhältnisse dieses Mannes, in dessen Namen ich jetzt hier stehe und spreche.«

Und Wichtelmann stand auf, streckte die Hand dem Mädchen entgegen, das ihn immer ängstlicher anblickte.

»Fräulein Toni Luck — Herr Thomas Morrus bittet Sie um Ihre Hand.«

Es war heraus. Und wieder in der Nebenkammer ein Schrei, diesmal aber ein ganz leiser, mehr wie ein Stöhnen, und wieder schien es Wichtelmann nicht zu hören.

Was er beobachtete, war auch danach angetan, ihn alles andere vergessen zu lassen.

Bis in die Lippen erbleichend, war Toni vor der ausgestreckten Hand zurückgewichen.

»Meine Hand...?«

»Und Ihr Herz, wie er Ihnen das seine bietet. Na, Fräulein Toni«, das Gnomengesicht nahm einen überaus pfiffigen Ausdruck an, und übel nehmen konnte man diesem Wichte ja überhaupt nichts, er hätte sich noch ganz anderer Ausdrücke bedienen können, »nun stellen Sie sich bloß mal nicht so überrascht. Ich schreibe doch nicht umsonst Romane. Sie und Morrus sind doch schon immer ein Paar gewesen. Ein Herz und eine Seele. Während der vier Tage. Aber dass solche vier Tage manchmal etwas ganz anderes zu bedeuten haben, das habe ich Ihnen doch schon vorhin auseinanderklabu... auseinandergesetzt. Sie lieben ihn doch, machen Sie mir doch nischt weis, und was nun...«

Wichtelmann brach ab. Er bekam ein ganz anderes Gesicht — machte ein Gesicht, wie ein Mann, in dessen Innern plötzlich die größten Zweifel auftauchen.

Denn danach war Tonis ganzes Gebaren beschaffen.

Immer mehr war sie vor der ihr hingehaltenen Hand zurückgewichen, soweit es ihr Sitz erlaubte, immer abwehrender wurde ihre Armbewegung, immer verzweifelter ihr Gesicht und ihr Blick.

»Nein, nein«, hauchte sie mit farblosen Lippen, »Sie irren — Sie irren — ich — ich...«

»Was? Ich hätte mich geirrt?!«, begann auch Wichtelmann jetzt mit entsprechendem Gesicht zu flüstern. »Sie lieben ihn nicht?«

»Nein — nein — niemals — niemals...«

»I, das ist ja gar nicht möglich!«

»Mister Wichtelmann, um Gottes Willen, woher dieser furchtbare Irrtum!«

»Was, Sie hätten keine... Zuneigung zu meinem Freunde gefasst?!«

»Nein, nein, nicht die geringste...«

»Fräulein Toni!«

»Nein, nein...«

»Ich habe mich geirrt...?!«

»Ja, ja — ich, ich...«

»Er hätte auch niemals Hoffnung...?«

»Nein, nein — ich — ich — liebe einen anderen!!«

Das war das beste gewesen, der kürzeste Weg, dass sie dies gleich frei heraus gesagt hatte.

Dass sie es getan, war der ganzen Situation auch entsprechend, die sich schriftlich nicht weiter schildern lässt.

Auf Wichtelmann aber hatte dieses Geständnis wie ein Donnerschlag gewirkt, und es konnte ja nicht anders sein.

»Sie — liebt — schon einen anderen!«, murmelte er, und jetzt war er der Geistesabwesende. »Ja, dann freilich... dann hat mich zum allerersten Male mein Scharfblick betrogen... Ja, dann freilich... Leben Sie wohl, und werden Sie glücklich.«

Und den Schirm unter den Arm geklemmt, war er schon hinausgeschlichen.

Die Hand auf das Herz gepresst, saß Toni da.

»Mein Glück — das Glück von Robin Hood!«, erklang es ächzend.

Da noch ein anderer Laut, nicht minder ächzend.

Klara war eingetreten — nicht minder geisterhaft aussehend als die Schwester.

»Toni!«

»Klara, mein Klärchen!«

Toni wollte aufspringen, um auf die Schwester zuzueilen, in ihre Arme sich zu werfen, an ihrer Brust zu weinen, und Klara wäre ihr ebenso entgegengekommen... es sollte nichts daraus werden.

Noch hatte sich Toni nicht erhoben, nur die erste Bewegung dazu gemacht, als die Tür wieder aufging und Wichtelmann seinen barhäuptigen Gnomenkopf mit dem langen Barte noch einmal hereinstreckte. Er konnte unterdessen die halbe Treppe hinab und wieder heraufgekommen sein, so viel Zeit war doch schon vergangen.

»Entschuldigen Sie — habe ich nicht meinen Hut hiergelassen?«

Jawohl, so war es, dort auf dem Koffer lag noch der riesige Sombrero. Seinen Regenschirm hatte Herr August Wichtelmann beim Fortgehen nicht mitzunehmen vergessen, wohl aber seinen Hut.

Doch er sollte auch jetzt nicht dazu kommen, noch nachträglich seinen Hut mitzunehmen, wohl zum Abschied für immer.

Jetzt sah er auch die andere Schwester dort stehen, Klara, und zwar hatte diese jetzt genau dasselbe blaue Kleid wie Toni, sodass die beiden wieder einmal absolut nicht zu unterscheiden waren, auch nicht durch ein Schleifchen oder Bändchen.

Und nun geschah etwas ganz Seltsames.

Plötzlich erstarrte Wichtelmanns Blick, er kam vollends herein, oder kroch vielmehr durch die Türspalte, nämlich in geduckter Körperhaltung, hinter sich die Tür zuziehend, so starrte er nach Klara, dann wieder nach Toni, bis auf dieser, die noch immer auf dem Kofferkorb saß, sein starrer Blick haften blieb, und so schlich er, mit ausgestreckter Fingerspitze auf sie deutend, auf sie zu.

»Essen Sie — vielleicht — gerne Schweinsknochen mit Sauerkraut und Klößen?«

Ja, was sollte man nun hierzu sagen?

Wenn die beiden Schwestern vielleicht dachten, Herr August Wichtelmann sei plötzlich übergeschnappt, so konnte man dieser ihrer Ansicht nur beistimmen.

»Was... was...?«

»Ob Sie gern Schweinsknochen mit Sauerkraut und Klößen essen!! Antworten Sie!!«, fing Wichtelmann jetzt zu donnern oder doch zu poltern an.

Glücklicherweise wartete er die Antwort nicht ab, sondern er wandte sich schnell an Klara.

»Oder sind Sie es, die lieber isst als kocht?«

Nun muss man aber wissen, dass die beiden Schwestern gerade in dieser Hinsicht sehr leicht von Begriffen waren. Denn sie waren sich doch ihrer Ähnlichkeit bewusst, wie oft mochten schon Verwechslungen zwischen den beiden vorgekommen sein, und sie liebten offenbar solche Verwechslungen, führten sie absichtlich herbei, um sich dann darüber zu amüsieren, gerade deswegen kleideten sie sich auch immer so gleichmäßig — bis das ihnen zur Gewohnheit geworden war. Und auch ihre Charakterunterschiede hatten sie oft genug zu hören bekommen — falls sie diese nicht von selbst kannten.

Also jetzt wusste Klara sofort, was jener meinte.

»Nein, die lieber kocht als isst, das bin ich.«

»Ja, dann sind Sie aber doch die Toni.«

»Nein, ich bin die Klara.«

»Na, dann sind Sie es doch, die lieber isst als kocht!«, wandte sich jetzt Wichtelmann an die andere, die noch dasaß.

»Ja, das bin ich.«

»Na, da sind Sie doch auch die Klara!«

»Nein, ich bin die Toni.«

»Na, Sie sind doch damals am Sonntag allein nach London gefahren, um das Gepäck zu holen!«

»Nein, das war ich, die Toni«, sagte diese.

»Nein, das war die Klara!«, fing Wichtelmann der ein immer unbeschreiblicheres Gesicht machte, zu schreien an.

»Das war Toni«, bestätigte die aus der Kammer gekommene Schwester.

»Na, dann sind Sie doch auch die Toni!«

»Nein, das war ich, und ich bin die Klara.«

»Na, wer hat denn da, wie sie Morussen erzählte, dem Redakteur eine heruntergehauen?!«

»Das war ich«, sagte Toni.

»Na, dann sind Sie doch auch die Klara!«

»Nein, ich bin die Toni.«

»Na, wem habe ich denn da vorhin den Heiratsantrag gemacht — das heißt für meinen Freund Morrus — wem habe ich denn seine Hand angeboten?!«

»Mir«, sagte die sitzende Toni.

»Und Sie — Sie essen lieber Schweinsknochen mit Sauerkraut und Klößen, als dass sie es kochen? Und Sie haben dem Redakteur eine heruntergehauen?«

»Jawohl, das bin ich, und Sie haben mich doch auch vorhin immer ganz richtig angeredet.«

»Und Sie sind damals nach London zurückgefahren?«

»Das war ich.«

»Und die hat unterdessen in der Küche das Geschirr aufgewaschen?«

»Das war ich«, bestätigte die stehende Klara.

Da ließ Wichtelmann seinen Regenschirm unter dem Arm zu Boden fallen, um bequemer die Hände falten zu können, so blickte er mit wahrhafter Verzweiflung von einer Schwester zur anderen, lange Zeit, bis er endlich hervorbrachte:

»Ich glaube — ich glaube — mir ahnt Fürchterliches — mein Scharfblick hat mich doch einmal getäuscht — ich glaube, ich habe vorhin den Heiratsantrag meines Freundes Morrus an die verkehrte Adresse gerichtet — der will die da haben — die Klara, na ja, das stimmte ja schon vorher — aber die Klara, die damals aufgewaschen hat...«

»Was?«, fing jetzt aber auch Klara zu schreien an, und zwar mit ganz glückstrahlendem Gesicht. »Der Heiratsantrag von Mister Morrus hat eigentlich mir gegolten?«

»Nu ja, natürlich — und ich wollte doch die da haben — die da auf dem Koffer sitzt — die Schweinsknochen lieber isst als kocht...«

Da schnellte Toni auf.

»Was — mich — mich...«

»Ja, das heißt, wenn Klara den Mr. Morrus will...«

»Ja, ich will, ich will!!«, jauchzte Klara.

»Dann, Toni, willst du meine Wichtelfrau werden?«

»Ja, ich will, ich will!!«, echote Toni der Schwester nach... und dann lagen sie gleich alle drei einander in den Armen.

* * *

8. Kapitel

Wir wollen nicht die nächste Viertelstunde zu schildern versuchen, wie sich Wichtelmann krampfhaft abmühte, eine Erklärung zu geben. Wir wollen diese verwickelte Geschichte mit objektiven Augen betrachten.

Die Hauptsache dabei war also die, dass Wichtelmann trotz seines untrüglichen Scharfblickes, und obgleich er Romane schrieb, die beiden Schwestern verwechselt hatte, Toni für Klara gehalten hatte — obgleich er sie ganz richtig angeredet.

Er hatte eben geglaubt, die vor ihm sitzende Toni sei diejenige welche...

Welchem Leser diese Erklärung nun nicht genügt, dem ist freilich nicht zu helfen. Anders geht es eben nicht zu erklären.

Sonst allerdings können wir noch einige Erklärungen hinzufügen.

Das viertägige enge Beisammensein hatte für die beiden Menschenpärchen genügt. Klara, die ebenso gern die Schweinsknochen kochte, wie sie sie aß, hatte ihr Wohlgefallen an dem stillen, sinnigen Morrus gefunden; die es mehr mit dem Essen als mit dem Kochen haltende Toni war mehr für den fröhlichen Wichtelmann eingenommen gewesen.

Das hatte sich schon so bei dem ganzen Beisammensein ergeben, mochte es auch noch so unauffällig gewesen sein. Und was für die beiden Mädchen gegolten, das galt auch für die beiden Männer, wobei man allerdings kein ,natürlich‹ hinzufügen darf. Eben Sympathie, magnetische Kraft, oder wie man es nun nennen mag, und dabei ist es nun wieder ganz gleichgültig, ob dabei Gleiches Gleiches anzieht oder sich die Gegensätze zu paralysieren suchen.

Kurz und gut — oder vielmehr nun immer noch einmal: Klara war für Morrus und Toni für Wichtelmann bestimmt gewesen, das hatte gar nicht anders kommen können, das hatte von vornherein in der Atmosphäre gelegen. Wolle sich der geneigte Leser zum Beispiel nur entsinnen, wie Klara den weißköpfigen Mann wenig über zwanzig, Toni aber fast auf fünfzig Jahre geschätzt hatte. Und das ist nur ein einziges Beispiel für alles das, was als Beweis dienen könnte, wie die beiden Paare von vornherein füreinander bestimmt gewesen waren.

Dies hatten sich die beiden Freunde allerdings noch nicht gestanden, als sie gleich am zweiten oder dritten Tage besprochen, wie man den sich so nach Freiheit sehnenden Mädchen helfen könne.

»Ich wüsste einen Rat«, hatte Morrus alsbald gesagt, so wie Wichtelmann es schilderte, sich jetzt des Deutschen bedienend.

»Was? Du weißt einen Rat? Nun heraus damit!«

»Mrs. Bellair will schon immer ihre Abschreiberei für Mr. Howard aufgeben.«

Da bekam auch Wichtelmann etwas ganz Neues zu hören. Davon hatte er auch noch gar nichts gewusst.

Jawohl, jetzt gestand es ihm Mrs. Bellair, wie sie schon seit längerer Zeit mit diesem Gedanken umgegangen sei, weil ihre Augen nicht mehr recht mitmachen wollten.

»Na, da wollen wir mal den beiden Mädels auf die Zähne fühlen, ob das nichts für sie wäre!«, meinte Wichtelmann frohlockend.

Am Mittwochabend war hierzu die Gelegenheit gewesen. Wichtelmann hatte den Sprecher gemacht.

Da war Davidsons Depesche dazwischengekommen.

Nun, aufgeschoben war ja nicht aufgehoben.

Die acht Tage vergingen, und die Schwestern fragten an, was sie schuldig seien.

Das hatte man freilich nicht erwartet. Mrs. Bellair konnte nur ihr Angebot wiederholen. Dazu hatten sie aber erst den Sonntag abgewartet, um noch einmal mit Morrus zu sprechen, der nun einmal zum Hausstand gehörte.

Die Schwestern dankten herzlichst. Es ginge nicht.

Da war die Bestürzung in der linken Hälfte des Luck's Cottage eine ganz große gewesen.

»Na, ich will's euch nur sagen: ich weiß es ganz genau, warum die beiden Mädels nicht wiederkommen wollen«, hatte dann Wichtelmann nach einem Anlaufe gerufen.

»Das wüsstest du? Weswegen denn nicht?«

»Ganz einfach, weil dich die Klara liebt.«

Der sonst so gesetzte Morrus wäre vor Schreck doch bald umgefallen.

»Klara — mich — lieben? Paule, du rasest!«

»Genauso, wie du die Klara liebst. Mach doch keine Geschichten, alter Junge, so ist es und nicht anders — genau so, wie die Toni es mir angetan hat, und ich will fernerhin ohne jedes Honorar schreiben, täglich 3000 Zeilen, wenn für die Toni betreffs meiner nicht genau dasselbe gilt wie für Klara betreffs deiner.«

So, jetzt war es offen ausgesprochen. Morrus konnte nur ergebungsvoll das Haupt senken. Und Mrs. Bellair konnte nur nachträglich behaupten: »Das habe ich ja gleich gemerkt.«

Nun fand erst der richtige Familienrat statt, der nicht weniger als vierzehn Tage währte. Das scheint eine gar lange Zeit zu sein, besonders wenn man in Betracht zieht, dass die ganze Verliebelei nur vier Tage gedauert hatte. Aber... ,drum prüfe, wer sich ewig bindet‹ — das von Herz zu Herz finden geht eben viel schneller — und dazu kam noch, dass Morrus, obgleich er sich deshalb gleich ganz vom Geschäft befreit hatte, doch hin und wieder eine kleine Reise unternehmen musste, und dass er von allen Dingen von Wichtelmanns ganzen Heiratsplänen, denen auch Mrs. Bellair voll und ganz beistimmte, absolut nichts wissen wollte.

»Ihr glaubt gar nicht«, lassen wir jetzt zum Schlusse Wichtelmann persönlich erzählen, »was wir mit dem Kerl für Mühe gehabt haben. Das heißt nicht etwa, dass er nicht wollte — ganz im Gegenteil, der wollte noch viel mehr als ich — aber... wie nun eben solche alten Witwer sind, die schon wieder halb und halb zu schrullenhaften Junggesellen geworden sind. Mit allen Fingern zog's ihn nach dem Hahne hin — aber er wagte nicht zuzugreifen und den Hahn umzudrehen. Von jeder Reise brachte der Kerl einen neuen Sack voll Wenn und Aber mit.

So war's noch gestern. Und dann kam der heutige Tag. Es wollte sich nicht ändern. Da wird die Mittagszeitung gebracht. Mein Blick fällt gleich auf die Davidson'sche Bankrottgeschichte. Ich springe auf. Nun aber hat's dreizehn geschlagen, rufe ich. Vorwärts, Chingachgook, auf nach London, mit dem nächsten Zug, oder wir kommen zu spät, wir finden das Nest schon leer. Ich setze meinen Kopf dafür, dass die beiden Mädels gleich abreisen, mindestens heute noch. Na, und wär's nicht so gewesen? Was wär' denn nun geworden, wenn ich erst heute Abend gekommen wäre?«

»Ja, woher wusstest du denn das?«, fragte Toni, dabei wir verraten wollen, dass sie schon seit dieser Viertelstunde auf Wichtelmanns Schoße saß.

»Na, ganz einfach, weil ihr uns liebtet, und da wir euch nicht schnell genug entgegenkamen, so wolltet ihr mit angeborener Mädchenschüchternheit vor uns ausreißen — na, macht doch keine Geschichten, anders ist das nicht, ich schreibe doch nicht umsonst Romane, und da hat es gar keinen Zweck, dass du mir den Mund zuhalten willst...«

»Na, nun weiter!«, kommandierte Klara. »Wollte Morrus denn nun noch immer nicht mit?«

»Nee. Jetzt, wo ich Ernst machte, bekam der erst die Ho... wollte nicht mitmachen, fing immer wieder mit seinen Wenns und Abers an. Gut, sagte ich, dann mach ich für dich den Brautwerber. Also ich ganz schnell in meinen funkelnagelneuen Sonntagsanzug gerutscht und weiter hierher. Na, und bin ich nicht gerade noch so ziemlich in der letzten Minute gekommen? Und nun passiert mir auch noch das Malheur, dass ich meine Brautwerbung an die falsche Adresse richte. Nur mein Hut hier hat die ganze Geschichte noch gerettet. Wie ich schon halb unten auf der Treppe bin, ganz gebrochen will ich mir einmal seufzend über die Stirn fahren — da merk' ich, dass ich mein Käppi oben bei euch gelassen habe. Na, meinen Hut kann ich doch nicht oben lassen. Wenn ich mir auch nicht viel daraus mache, ohne Hut auf der Straße zu laufen. Solch ein Filzlappen macht doch nicht etwa den Mann aus. Wie ich euch nun beide zusammen sehe, ein Ei genau wie's andere, da fällt mir ein: Herrgott, wenn du jetzt die Klara mit der Toni verwechselt hättest — und ich habe schon eine ganz bestimmte Ahnung, dass es wirklich so gewesen ist — die auf dem Koffer Sitzende kommt mir jetzt viel mehr wie Klara vor, wenn sie auch in Wirklichkeit die Toni ist — aber ich denke doch immer, meine heißt Klara und Morrussen seine Toni — na und wahrhaftig — wenn ich nicht meinen Hut vergessen hätte, dann wäret ihr heute Abend abgereist und hättet in eurem ganzen Leben keinen Mann bekommen, wäret als alte Jungfern gestorben.«

»Oho, oho!!!«, erklang es lachend.

Denn gelacht wurde gar viel. Ebenso oft hatte aber der bärtige Gnom, der ja ganz aus Gefühl bestand, was ihn eben zum echten Schriftsteller machte, während seiner Erzählung zu weinen angefangen, oder die Stimme versagte ihm doch vor Rührung, und dann stimmten auch die beiden Schwestern, die ja so ziemlich aus demselben Holz geschnitzt waren, mit ein in diesen Weltschmerz — und eben deswegen konnte Wichtelmanns Erzählung ausführlich gar nicht wiedergegeben werden.

Also, seine Behauptung, wenn er nicht seinen Hut vergessen hätte, dann wären die beiden alte Jungfern geworden, hatte wieder einmal lachenden Widerspruch gefunden.

»Na, dann — dann«, lenkte Wichtelmann ein, fing aber auch schon wieder zu schluchzen an, »dann wäre Morrus eben Witwer und ich alter Junggeselle geblieben.«

Sofort war die sentimentale Stimmung wieder da, der auch die Schwestern unterlagen.

»Ja, du hast aber doch nur für Morrus den Freiwerber gemacht«, fing Toni mit erstickter Stimme an. »hast gar nicht für dich selbst gesprochen, meinetwegen oder irrtümlicherweise wegen Klaras.«

»Hätte ich auch nicht«, schluchzte Wichtelnmann, »niemals.«

»Niemals? Du wärst nicht wiedergekommen? Hättest nicht geschrieben?«

»Niemals.«

»Ja, warum denn nicht? Das verstehe ich nicht!«, stimmte Klara erstaunt der Schwester bei.

»Na, das ist doch ganz einfach«, schluchzte der kleine Erdgeist mehr denn zuvor, »ich hatte euch doch in meiner unterirdischen Kammer belauscht — wie ihr euch gegenseitig den Schwur der Treue leistetet — immer zusammenbleiben zu wollen — und — und — wenn nun Klara meinen Freund Morrus nicht haben wollte — dann — dann — hätte ich doch auch die Toni nicht — nicht — haben wollen — nicht haben dürfen — oder — oder — oder...«

Wichtelmann konnte vor Rührung nicht weitersprechen.

Es war auch nicht nötig.

Stille herrschte in dem Zimmer, die tiefste Stille, obgleich ein dreifaches Schluchzen erklang. Es störte diese tiefe Stille nicht.

Ein Engel ging durchs Zimmer, ein Engel, hoch erhaben über den Engel jener Liebe, der sich die Dichter weihen; der Engel der treuen Freundschaft, die der Liebe auch entsagen kann — zu hoch erhaben, als dass jene Dichter sie verstehen könnten.

Die Rührung war überwunden. Ja, in Toni erwachte schon wieder der Schalk.

»Wenn nun aber die ganze Sache regelrecht gegangen wäre, Klara hätte Morrus' Freiwerbung angenommen...«

»Dann wäre ich eben noch zu dir gekommen.«

»Und wenn ich nun nichts hätte von dir wissen wollen?«

»Ach, mach mir doch nichts vor. Du warst von Anfang an in mich verliebt bis über die Ohren.«

»Waaaas? Waaaaas?!«, machte Toni, sich, noch immer auf seinen Knien sitzend, von ihm abbiegend.

»Na, ich weiß doch, was ich weiß, mein Scharfsinn täuscht mich überhaupt nie, und man schreibt doch nicht umsonst solche Romane mit den vertracktesten Liebesintrigen.«

»Himmel, solche Eingebildetheit ist mir doch noch nicht vorgekommen!«, stellte sich Toni entrüstet, aber immer auf seinem Schoße sitzen bleibend. »Herr, was meinen Sie denn eigentlich, was Sie für ein Beau sind?!«

»Nun, bin ich nicht wirklich ein bezaubernd schöner Mann?«

Nein, das war Wichtelmann durchaus nicht. Wir haben ja sein Aussehen schon so ziemlich beschrieben. Besonders war es seine eingedrückte Nase, von der er jetzt auch richtig anfing, als er fortfuhr:

»Da ist vor allen Dingen meine Nase, bei der das GriechischRömische ersetzt ist durch...«

Aber Toni, die ihn mit lachenden Augen anblickte, obgleich sie darin Entrüstung heucheln wollte, ließ ihn nicht aussprechen, sie warf sich von neuem an seine Brust, umschlang seinen Hals und flüsterte ihm ins Ohr, ganz so, wie es diesem Mädchen entsprechend war:

»Mein Wichtelmann, ich liebe ja nicht deine Nase, sondern deine Seele.«

Klara, die trotzdem diese leisen Worte gehört hatte, lachte wie toll, dabei im Zimmer herumrennend. Dann wurde sie ernst, wenn wohl auch nicht ganz so ehrlich.

»Und wo bleibe denn ich? Ihr sitzt da gemütlich gegenseitig auf dem Schoße — aber wo bleibe ich?«

»Gegenseitig auf dem Schoße sitzen ist gut. Ja, Toni, wie kommst du eigentlich auf meinen Schoß?«

Ja, das hätte nun einmal noch jemand sagen sollen, wie das gekommen war, ob sich Toni freiwillig draufgesetzt, oder ob Wichtelmann sie darauf gezogen hatte! Das Schicksal hatte es eben gewollt — und so war es gekommen.

»Klara hat recht, wir müssen fort, die will doch auch ihren haben!«, rief Toni, aufspringend.

Eine Beratung brauchte nicht erst stattzufinden. Alles Weitere war ganz selbstverständlich — wenigstens für diese drei.

Sofort nach Loughton! Nicht erst telegrafiert, die Überraschung musste eine vollkommene sein. Man benutzte ein vierrädriges Cab — von dem zweirädrigen Hansom zu unterscheiden, das nur zwei Personen fasst — in dieses und obendrauf gingen schon die Gepäckstücke, so viel war das ja auch gar nicht.

Wenn man den Zug von der FenchurchStreetStation benützte, so konnte man auch am St.KatharinenDock vorbeifahren. Wichtelmann versicherte, dass die gelösten Billetts sofort wieder zurückgenommen würden, diese Bremer Schiffe sind immer vollbesetzt, werden aber stets erst eine halbe Stunde vor der Abfahrt gestürmt, und er sollte dann auch recht behalten.

Nur noch die Miete für die nächste Woche bezahlen, und fort ging es in dem unterdessen von der ,housemaid‹ geholten Wagen.

»Ich glaube, ich träume das alles nur — gewiss, das ist nur ein Traum«, sagten die beiden Schwestern, als sie sich in dem mit Gepäckstücken vollgepfropften Raume zurechtzusetzen suchten, was seine Schwierigkeit hatte.

»Komm her, Toni, setz dich auf meinen Schoß, dann ist die Platzfrage gleich gelöst«, sagte Wichtelmann, die vor ihm Stehende auf seine Knie ziehend.

»Das mit der gelösten Platzfrage ist wohl richtig«, entgegnete die Betreffende, »nur mit mir stimmt es nicht — ich bin die Klara.«

»Bist du? Nicht einmal von hinten kann man euch unterscheiden. Ä, das ist ja ganz egal, ich habe mit Morrus schon immer Gütergemeinschaft gehabt.«

Der Regen hatte aufgehört, die Sonne hatte das Gewölk durchbrochen. Aber es war doch besser, wenn die von Schmutzwasser erblindeten Wagenfenster geschlossen blieben. In London ist zwar viel erlaubt, hier kümmert sich einer wenig um den anderen — aber das unbändige Lachen, das fortwährend in diesem Cab erscholl, hätte doch vielleicht polizeiwidrig sein können.

Und so ging es weiter.

»Die Fahrt bis zum St.KatharinenDock dauert eine halbe Stunde, da könnte ich inzwischen meinen Anzug ein bisschen abändern.«

»Ja, Wichtelmann... wie heißt du eigentlich mit Vornamen?«

Sie wussten es tatsächlich nicht. Wenn er ihn vielleicht auch bei seiner Lebensbeschreibung mehrmals genannt hatte.

»August.«

»O, August! Nein, du bleibst unser Wichtelmann.«

Da war auch gar nichts weiter dabei. Es ist in England sogar üblich, dass sich Gatten untereinander auch in dem vertrautesten Gespräch mit dem Familiennamen anreden, ein Mister respektive ein Missis vorsetzend, oder in diesem Falle häufiger ein Mistress.

»Aber nicht Mr. Wichtelmann, sondern einfach Wichtelmann«, ergänzte Klara noch.

»Und du bleibst einfach meine Wichtelfrau.«

»Ich? Ich bin aber die Klara.«

»Ä, das ist ja zwischen uns ganz egal. Ja, nun will ich gleich einmal ein bisschen meinen Anzug kürzen.«

Und schon hatte Wichtelmann ein ansehnliches Nähzeug aus der Brusttasche zum Vorschein gebracht, das alles enthielt, was nur der Schneider braucht.

»Ja, Wichtelmann, wie bist du denn zu diesem unförmlichen Anzug gekommen?!«, ergänzten die Schwestern jetzt ihre vorhin selbst unterbrochene Rede.

»Den habe ich selbst gemacht«, war die stolze Antwort.

»Selbst gemacht?«

»Ich mache mir alles selbst.«

»Alles?«

»Alles, was ich trage und benutze — soweit es nur irgend möglich ist.«

»Das Sporthemd?«

»Selbst gemacht. Spinnen und weben kann ich freilich nicht. Das müsst ihr dann machen, wenn ich euch erst unter meiner Fuchtel habe.«

»Aber der Filzhut?«

»Selbst aus einem Stück Filz gemacht.«

»Deine Stiefel?«

»Selbst geschustert. Na, was denn? Wenn es dem Schriftsteller Howard Spaß macht, seine Manuskriptbücher selbst einzubinden, so macht es dem Herrn August Wichtelmann eben Spaß, sich alle seine Sachen, die er auf dem Leibe trägt, und was er sonst noch irgend kann, selbst zu fertigen. Und bei mir liegt dem ein noch viel tieferes Motiv zugrunde. Selber ist der Mann, und je weniger einer vom anderen abhängig ist, ein desto freierer Mensch ist er.«

Während Klara, die sich so für die Handarbeiten des englischen Schriftstellers begeistert hatte, lachte, wurde jetzt Toni ganz ernst und machte solch ein enthusiastisches Gesicht, wie damals die Schwester.

»Wahrhaftig«, rief sie mit strahlenden Augen, »sich alles so, was man nur irgend kann, selbst machen, ganz unabhängig sein, das wäre etwas für mich, da machte ich auch mit!«

»Sollst du auch, musst du auch. Was braucht man zuerst im Hausstande? Einen Topp, um drin Kartoffeln zu kochen. Gut, eine Drehscheibe ist bald hergestellt, hinter unserem Hause ist Ton — deine erste eheliche Pflicht wird sein, dass du einen Kartoffeltopp drehst. Nein, schon am Polterabend — jawohl, am Polterabend. Andere Sterbliche zerhauen da die Töpfe, wir werden uns welche fertigen. Na, nun wollen wir mal beginnen. Wisst ihr was? Die Geschichte muss doch ein bisschen schnell gehen. Ich schneide unten die Hosenbeine ab, dann näht jede von euch ein Hosenbein um, und ich tue dasselbe unterdessen an den Ärmeln.«

Lachend wurde der Vorschlag angenommen und ausgeführt. Wichtelmann stutzte seine Hosenbeine gehörig mit der Schere zu, und dann ging es wohl nicht anders, als dass er je ein Bein den ihm gegenübersitzenden Schwestern in den Schoß legte, während er sich selbst mit dem ausgezogenen Rock beschäftigte.

Klara und Toni wussten die Nähnadel ebenso geschickt wie die Hantelkeule zu schwingen — nur ihr unausgesetztes Lachen hinderte sie etwas beim Umsäumen.


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Illustration 1910


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»Na, mit deiner Schneiderkunst kann es aber nicht weit her sein — wenigstens nicht mit der Anmesserei.«

»Ganz im Gegenteil. Ich kenne doch mein bestimmtes Maß, ich schneide zu, flicke zusammen — und dann gibt's ein Anprobieren bei mir gar nicht. Ich lege den neuen Anzug einfach hin und ziehe ihn zum ersten Male an, wenn ich ihn zum ersten Male brauche. So wie diesen hier. Und dann muss alles wie angeschmiert sitzen.«

»Ja, das sieht man an diesem Anzuge hier.«

»Da ist mir freilich einmal etwas dabei passiert. Ich wusste es gleich, als ich ihn vorhin anzog, aber da war es zu spät, den Irrtum zu verbessern. Ich habe nämlich mein Schneidermaß nach englischen Zollen. Nun entsinne ich mich, dass sich damals, als ich den Anzug zuschnitt, auf meiner Bude ein französisches Zollmaßband herumgetrieben hat. Das habe ich offenbar irrtümlich dabei benutzt. Und der französische Fuß ist ganz bedeutend länger als der englische. Auf diese Weise sind mir die Beine und Ärmel einige Zoll zu lang geworden. Never mind, soll nicht wieder passieren.«

»Wenn das Zeug nur nicht so furchtbar nass wäre«, lachten die Schwestern. »Du hattest doch, als du kamst, einen Regenschirm mit. Warum hattest du denn den nicht aufgespannt?«

»Weil ich ihn selber gemacht habe.«

»Auch den Regenschirm selber gemacht?«

»Alles, alles.«

»Aber aufspannen kann man ihn nicht.«

»Das schon, aber da muss erst die Wachstuchhülle herunter, und das geht nicht. Auch die Wachstuchwurst habe ich selber gemacht, jetzt kriege ich das Luder aber nicht wieder herunter. Na, näht nur erst die Hosenbeine fertig, dann kommt der Regenschirm dran.«

Und so ging es weiter. Des Lachens war kein Ende.

Beim Bezahlen der Droschke zeigte sich, dass Wichtelmann auch nicht einen roten Farthing bei sich hatte. Er hatte in seine neue Hose Geld zu stecken vergessen.

»Ich merkte es erst am Bahnhof, als ich das Billett löste, und da konnte ich doch nicht mehr umkehren.«

»Ja, wie hast du das Billett bekommen?«

»Ich habe dem Billettverkäufer einfach meine Uhr einstweilen dafür gegeben. Der wollte sich erst nicht drauf einlassen, meinte, ich sollte nebenan ins Versatzgeschäft gehen, aber der Zug ging doch gleich ab, endlich ließ sich der Mann erweichen.«

Es war gut, dass die drei in ein Coupé allein kamen. Denn heute wenigstens schien das so weitergehen zu wollen.

»Nein«, rief Wichtelmann, »das geht unser ganzes Leben lang so weiter! Ach, ihr seid ja damals in dem Luck's Cottage noch gar nicht warm geworden, es hat ja immer geregnet. Aber kommt erst einmal mit mir in den Wald, da sollt ihr mich erst richtig kennen lernen. Ach, soll das ein Leben werden, und im Winter, wenn wir Eskimos spielen, wird es vielleicht noch schöner. Das ganze Leben muss eine Spielerei werden. Und dabei immer feste gearbeitet. Denn warum soll man denn nicht auch die ernsteste Arbeit in eine fröhliche Spielerei verwandeln?«

Bis der Zug hielt, war man noch nicht dazugekommen, auch nur über die nächste Zukunft zu sprechen, wenigstens soweit es das Wohnen und das Heiraten betraf, und das wäre doch eigentlich das Allernächste gewesen.

In Loughton wurde Wichtelmanns silberne Uhr am Fahrkartenschalter für einen Schilling eingelöst, Wichtelmann lud den ihm sonst ganz unbekannten Beamten als Trauzeugen und zugleich als Taufpaten ein, das Gepäck wurde zurückgelassen, es ging die Straße hinab.

Wieder sah man vor der Haustür den englischen Siouxhäuptling stehen. Als er die drei erblickte, verschwand er schleunigst.

Klara machte als tapferes Mädchen kurzen Prozess, sie eilte hinaus, und als die anderen beiden das Haus betraten, kamen ihnen jene schon als ein Paar entgegen, hatten bereits alles erledigt. Sie hatten einige Tränen im Auge, aber ihre Gesichter strahlten.

Dann musste doch Mrs. Bellair ihre Glückwünsche anbringen, und dann versammelte man sich im Parlour um eine riesige Kanne Kaffee und einen Berg Kuchen, jetzt berichteten die drei ihre Abenteuer, wobei besonders die beiden Turnlehrerinnen bewiesen, dass sie auch geborene Schauspielerinnen waren, eine versuchte die andere zu überbieten, um Wichtelmann als stellvertretenden Freiersmann wiederzugeben, und wieder war des Lachens kein Ende, bis sogar der melancholische Morrus erklärte, jetzt dürfe er nicht mehr lachen, der Kopf würde ihm sonst zerspringen.

»Nun kann auch ich eine freudige Nachricht geben«, nahm dann Mrs. Bellair das Wort. »Vorhin ging der Landagent vorbei, er teilte mir mit, dass die Luck's Cottages verkäuflich seien.«

Wie von einer Tarantel gestochen schnellte Wichtelmann empor.

»Was? Die Cottages hier verkäuflich?! Und was kosten sie?«

»Beide zusammen tausend Pfund.«

»Und du, Thomas, du hast doch...?«

»Ja, ich werde sie kaufen, habe sie schon gekauft«, entgegnete der hochgestellte Versicherungsinspektor, dessen Vermögensverhältnisse Wichtelmann schon geschildert hatte.

Der aufgesprungene Wichtelmann fiel dem ihm zunächst befindlichen Mädchen um den Hals.

»Toni, jetzt haben wir unser eigenes Heim...«

»Ja, das haben wir allerdings, aber ich nicht mit dir, denn ich bin die Klara.«

Mit komischem Schreck betrachtete Wichtelmann die Lachende.

»Also, das ist ja wieder die falsche — na, dann lass du dich umarmen — Toni, jetzt haben wir unser eigenes Heim. Ach, soll das nun ein Leben werden, wir beide hier dicht nebeneinander, und wie wir uns einrichten wollen!«

In Tonis Glück mischte sich nur noch ein leiser Zweifel.

»Aber wenn es Mr. Morrus gehört...«

»Ach, was dem gehört, gehört doch auch mir — obgleich damit noch lange nicht gesagt ist, dass auch ihm gehört, was mir gehört. Nicht wahr, Thomas, du lässt mir doch die eine Hälfte ab?«

»Na, selbstverständlich, deshalb habe ich doch gleich zugegriffen.«

»Und wie steht es mit dem Bezahlen? Denn du weißt doch, geschenkt nehme ich prinzipiell nichts.«

»Nenööö, von Schenken ist da auch gar keine Rede!«, lachte der Mann, den man gar nicht mehr wiedererkannte.

»Ich bin wieder einmal vollständig blank, aber drei Schilling muss ich noch in meiner alten Hose haben, die kann ich als Anzahlung geben...«

»Wir haben ja jede 50 Pfund«, rief Toni, und vielleicht...«

»Pscht, pscht, pscht«, machte Wichtelmann. »Ich weiß schon, aber das ist deine Mitgift, und die gehört doch jetzt mir, und ich bestimme, dass die gleich sicher gelegt wird, und zwar vor allen Dingen ganz sicher vor mir. Nein, wenn Morrus drei Schilling Anzahlung bekommt, und wenn wir dann wöchentlich fünf Schilling Abzahlung machen, so kann er zufrieden sein — wenn er sie nur auch immer bekommt. Können wir hinüber?«

Ja, das konnten sie. Die Arbeiter waren fertig, der Hausagent hatte vorhin gleich den Schlüssel zurückgelassen.

Also sie gingen gemeinsam hinüber. Da noch ein gut Teil unserer Erzählung in diesem Cottage spielen wird, wollen wir ihre Räume etwas genauer beschreiben. Diese Hälfte hier war ja das genaue Spiegelbild der anderen, in der Mrs. Bellair wohnte, aber gerade weil sie noch nicht möbliert war, konnte man alles besser überblicken.

Vor dem breiten Fenster des Parlours ein kleines Gärtchen, jetzt verwildert, alles niedergetreten. Durch die mit bunten Scheiben geschmückte Haustür kam man zuerst in den Korridor.

»Hier brechen wir natürlich durch«, sagte Wichtelmann und fand allgemeinen Beifall.

Diese Verbindungstür würde also in den Korridor des Nachbarhauses führen.

Rechts ging es zuerst in den Parlour hinein, mit schönem, wahrhaft künstlerischem Kamin, und ebenso war der schon eingebaute Wandschrank wirklich die Zierde eines Salons. Dann kam die Küche mit modernstem Herd und mehreren eingebauten, wenn auch einfachen Schränken, zur Aufnahme des Geschirres bestimmt, daneben die Scullery, der Aufwaschraum, über dem Abguss kaltes und warmes Wasser, und den Schluss des Parterres bildete der Dining Room, von dem aus eine besondere Tür in den hinteren, langgestreckten Garten führte, der jetzt freilich nur Unkraut enthielt.

Toni dachte daran, dass oben doch ebenfalls drei oder sogar vier solcher Räume sein müssten, und es ward ihr fast unheimlich.

»Was sollen wir beide allein denn nur mit so viel Zimmern anfangen?«, fragte sie ängstlich.

»O, dafür lass mich nur sorgen«, entgegnete Wichtelmann glückstrahlend. »Wie ich mich einrichten werde — du sollst staunen. So etwas hat die Welt überhaupt noch nicht gesehen. Einen Dining Room brauchen wir nicht, das stimmt. Aus diesem hinteren Zimmer werde ich zum Beispiel ein Bären- und Affen... pscht, pscht, pscht... nichts verraten, es wird nichts verraten!«

Die erste Etage enthielt ein großes und ein kleineres Schlafzimmer, ein drittes geräumiges, die Mädchenkammer und die Badestube.

Es ist wirklich ebenso großartig und reizend, was diese englischen Cottages für billiges Geld bieten. Es kommt eben, wie schon einmal erwähnt, daher, weil Aktiengesellschaften gleich ganze Straßen aufbauen, da können alle die Öfen und was sonst dazugehört, was man dem Mieter oder Käufer sozusagen gleich als Einrichtung schenkt, billig gekauft werden, die schematische Bauart en gros macht es. Freilich muss sich der Mieter gefallen lassen, dass von vornherein bestimmt wird, wozu jedes Zimmer zu benutzen ist, aber das ist ja gerade der Hauptwitz dabei.

Erst hier in diesem noch leeren Hause bekamen die Schwestern einen richtigen Begriff von solch einem Cottage. Selbst in der Mädchenkammer ein tadelloser Kamin mit Kachelschmuck, Messinggittern, die Wände schön tapeziert — wer sich kein Mädchen hielt, konnte daraus ein elegantes Boudoir machen — die Badestube ein Schmuckkästchen, im Schlafzimmer an der Wand ein großes, doppeltes Bassin aus imitiertem Marmor mit kaltem und heißem Wasser, welch letzteres von unten aus dem Küchenofen heraufkam, aber auch noch durch die Schornsteine erwärmt, Stellagen für Handtuch und alles schon vorhanden, jeder sonst unnütze Winkel schon mit eingebauten Schränken ausgestattet. Ebenso Gas überall, und zum bezugsfähigen Hause gehörten auch noch die hocheleganten Flur- und Treppenlampen, der Kandelaber, eine künstlerische Schmiedearbeit, goldbronziert.

Sehr solid sind diese Cottages allerdings nicht gebaut, das stimmt. Sie kosten ja auch nur gegen das, was einem geboten, ein Spottgeld. Und trotz der leichten Bauart befinden sie sich noch nach hundert Jahren in einem tadellosen Zustande, wovon man in anderen Ländern gar keine Ahnung hat. Denn der Eigentümer überträgt die Ausführung aller vorkommenden Reparaturen gegen eine Kleinigkeit einer Gesellschaft, welche ganze Straßenreihen und ganze Städte unter sich hat, der kleinste Schaden, ein durchsickernder Wassertropfen muss sofort gemeldet werden, die kleinste Kleinigkeit wird sofort ausgeführt, jeden Morgen schreitet ein Angestellter über alle Dächer hinweg, jeder zerbrochene oder nur etwas verrückte Dachschiefer wird sofort ersetzt. Und das eben ist wiederum der Witz.

Die Schwestern äußerten unausgesetzt ihr Entzücken. Drüben sollten Morrus und Klara wohnen, jetzt wurde Mistress Bellair ihre Pensionärin, hier wollte sich Wichtelmann mit seiner Wichtelfrau einrichten.

Das war schon ausgemacht, zum Besprechen der Einrichtung war man noch nicht gekommen, Wichtelmann äußerte erst immer andere Pläne, von denen wir nur einen ausführen wollen.

»Hier brechen wir auch durch«, sagte er, in dem großen Schlafzimmer abermals gegen die Wand schlagend, welche diese Wohnung von dem Nachbarhause trennte.

»Hier oben auch?«, meinte Morrus mit leisem Zweifel.

»Na ja, wir bilden doch eine Familie, und wenn jemand oben ist, und er will hinüber, so kann er doch nicht erst die Treppe hinunterlaufen.«

»Nun, was diesen kleinen Weg anbetrifft... Aber hier nebenan ist doch auch unser Schlafzimmer.«

»Was schadet denn das? Na ja, ich weiß schon... Dann müssen wir eben die beiden Badezimmer mit einer Tür verbinden.«

»Wir können die Türen doch verschlossen halten«, kicherten die Schwestern.

»Verschlossen halten? Nee, das gibt's nicht, dann hat die Tür doch gar keinen Zweck. Ich schlage doch lieber das Schlafzimmer vor, dann können wir uns auch nachts bei offener Tür hübsch unterhalten. Ach, das wird ja herrlich!«

Ja, dass es herrlich werden würde, davon waren auch die anderen überzeugt.

»Ein Mädchen halten wir uns doch nicht, was, Toni? Wir sind selber Mädchen genug. Da ersparen wir wieder einen Raum, und gerade hier mit der Mädchenkammer habe ich eine famose Idee, die zementiere ich wasserdicht aus und richte mir hier oben einen Fischtei... pscht pscht pscht pscht, nichts verraten! O, ihr sollt staunen, was ich aus diesem Hause alles machen werde!«

Lachend war man wieder hinübergekommen.

»Himmelherrgott«, rief Wichtelmann, »die Hauptsache hätten wir ja bald vergessen! Wie ist es denn nun mit der Hochzeit? Mit der Trauung? Denn richtig trauen lassen wollen wir uns doch, was? 's ist nur wegen unserer...«

Wichtelmann erläuterte nicht näher, weshalb er eine richtige Trauung für besser hielt, wartete auch nicht ab, ob die anderen ebenfalls dafür waren oder dagegen, sondern sprang auf und eilte hinaus, bald hörte man seine Schritte in dem über dem Parlour gelegenen Zimmer, das er mit Morrus gemeinschaftlich bewohnte — was man so ,wohnen‹ nennt — in das die beiden Schwestern noch nicht gekommen waren. Dort oben hörte man ihn längere Zeit tüchtig rumoren.

Für die Zurückgebliebenen war eine heikle Frage aufgeworfen worden. Das ging hier doch alles ein bisschen gar zu fix, das erkannte jeder der direkt daran Beteiligten jetzt mit einer gewissen heimlichen Scham — natürlich mit Ausnahme von Wichtelmann, der jetzt dort oben wohl gerade einen Kleiderschrank umgeworfen hatte. Es hatte einen mächtigen Plauz gegeben.

»Ach, dazu ist ja noch viel, viel Zeit«, meinte Klara verschämt.

»Da müssen wir uns doch erst verloben«, kicherte Toni.

»Ich ziehe mit Wichtelmann einstweilen hinüber«, sagte Morrus.

»Selbstverständlich bleiben die Damen hier bei mir«, ergänzte Mistress Bellair.

Da wieder ein donnernder Plauz, dass alle Wände zitterten, und auf derartige Kanonenschläge ist solch ein Cottage nun freilich nicht geeicht.

»Ja, was macht nur der Wichtelmensch dort oben?!!«

Da kam er schon wieder die Treppe heruntergepoltert und zur Tür hereingeschossen, ein dünnleibiges Büchlein in der Hand.

»Gefunden! Ich kenne zwar die ganzen Verhältnisse auswendig, man schreibt doch nicht umsonst Romane, und ich lasse mit Vorliebe in England heiraten, weil's hier am einfachsten und doch wieder am kompliziertesten ist, hier kann man am intrigantesten eine Scheinehe eingehen und Polygamie treiben — und das muss doch alles stimmen, sonst kann man festgenagelt werden — hinwiederum flunkert unsereins so viel hinzu, dass man zuletzt selbst daran glaubt — da ist es doch besser — ein kleiner Auszug aus den englischen Gesetzen — was man zu tun und zu lassen hat, wenn man begraben wird oder stirbt oder Kinder kriegt oder heiratet, oder wenn einem ein Dachziegel auf den Kopf fällt... hier ist es ja schon.«

Wichtelmann hatte, eifrig in dem Büchlein blätternd, die entsprechenden Paragrafen gefunden.

»Na ja, das habe ich schon gewusst. Entweder kirchlich oder standesamtlich, beides zusammen gibt es nicht. In beiden Fällen muss der beabsichtigte Ehepakt 21 Tage vorher angemeldet werden... diese Art von Trauung kommt für uns alle nicht in Betracht...«

»Du meinst, die Anmeldung muss länger sein?«, fragte Toni. »Wozu denn das?«

»Länger? Nee, kürzer! Wer wird denn heutzutage, wo die ganze Welt im Zeichen der Elektrizität steht, noch 21 Tage warten — i, da kann man ja die Schwämmchen kriegen — nein, ich suche, ich suche... ha, hier hab' ich's: kirchliche Trauung durch SpezialLizenz. Wird erteilt auf persönlichen Antrag im Büro des VicarGeneral von Canterbury oder in der Registratur des Bischofs von London. Kostenpunkt drei Pfund Sterling. Trauung erfolgt nach 24 Stunden... o weh, das ist natürlich nischt für uns... aber hier, jetzt kommt der wahre Jacob, den ich suche... Eheschließung durch SpezialLizenz der Registratur. Kann auf Wunsch sofort erfolgen. Mit Ausnahme der Stunden von abends acht bis früh acht. Welch Zeit ist es? Na, da hätten wir noch immer vier Stunden Zeit. Und, hurra, das ist sogar fast zwei Taler billiger, das kostet nur zwei Pfund 14 Schilling fünf Groschen. Und nötig ist nichts weiter, als dass einer der Partei 15 Tage in dem betreffenden Distrikt gewohnt hat. Das trifft ja bei uns ganz famos zu. Kinder, macht euch fertig, wir fahren mit dem nächsten Zuge nach Stratford zum Oberregistrator, ich telefoniere gleich hin!!«

Es wäre ganz unmöglich gewesen, den Schwadronierenden zu unterbrechen — und jetzt war er schon hinausgewischt.

Wir bleiben bei den Schwestern.

Die saßen wie gelähmt da.

»Es ist ja nicht möglich!«

»Der macht nur Spaß!«

»Nein, nein, der macht keinen Spaß, der telefoniert jetzt an den Oberregistrator nach Stratford, der bestellt die Trauung«, versicherten Morrus und Mistress Bellair, die doch ihren Wichtelmann kannten.

Da schnellten die Mädchen auf und stürmten hinaus — aber von Wichtelmanns schwarzen Rockfittichen war schon nichts mehr zu sehen.

Und Morrus war ihnen nachgeeilt, lockte sie wieder herein und sprach zu ihnen — und es gelang ihm, sie zu überzeugen, dass, wie die Sache nun einmal lag, gar nichts weiter dabei sei.

Nein, es war auch wirklich nichts weiter dabei. Freilich muss man, um das zu empfinden, ein geborener Engländer sein, oder doch schon längere Zeit in England gelebt haben, und das hatten die beiden Schwestern, und ihre Mutter war eine Engländerin gewesen, die in England von dem Vater ihrer Kinder ganz genau so geheiratet worden war — wenn auch nicht gerade mit solch stürmischer Plötzlichkeit.

Was vorhin über die verschiedene Art der Trauung wiedergegeben wurde, beruht auf Tatsache, bis auf den Kostenpreis, andere Notwendigkeiten werden noch später angeführt, und dann kommen auch noch andere Verhältnisse in Betracht, von denen jetzt die Zurückgebliebenen ebenfalls sprachen.

Diesen waren die Verhältnisse bekannt, aber wohl nicht dem Leser.

Ja, wenn man diese englischen Trauverhältnisse kennt, und man spricht darüber in Deutschland, so kommt man leicht in den Verdacht, ein ungeheuerlicher Aufschneider zu sein, Märchen erzählen zu wollen. Und ein englisches Gesetzbuch hat man doch nicht immer zur Hand.

Denn wenn auch allgemein bekannt sein dürfte, wie leicht das Heiraten in England gemacht ist — kein einziges Legitimationspapier, nur zwei Zeugen, die man sich auf der Straße auflesen kann — so kommt eben doch noch ganz anderes in Betracht, wovon aber nur der weiß, der in diese Verhältnisse wirklich eingeweiht ist.

Hierfür nur ein einziges Beispiel: Nach Paragraf 68 des betreffenden Gesetzes muss der die Trauung schließende ›Mann‹ das vierzehnte, das Mädchen das zwölfte Lebensjahr erreicht haben.

So ist es! Aber das wird einem so lange nicht geglaubt, bis man dem Zweifler oder dem Spötter dieses Gesetz gedruckt zeigt.

Der Mann 14, die Braut 12 Jahre alt. Keine Einwilligung der Eltern, gar nichts. Nur zwei Zeugen. Die einfache Unterschrift gilt als Eid, falsche Angaben heben den Ehekontrakt unter Umständen noch nicht auf, aber wissentlich falsche Angaben werden mit Zuchthaus bestraft.

Diese Kinder sind gesetzlich getraut, dürfen zusammen in ehelicher Gemeinschaft leben. Nun sind sie aber noch nicht volljährig, das werden sie erst mit dem 18. bzw. 16. Jahre, und so lange stehen sie noch unter der Macht der Eltern. Diese können ihnen also das eheliche Zusammenleben verbieten, sie mit polizeilicher Gewalt voneinander trennen — aber die zwischen den Kindern geschlossene Ehe wieder aufheben, das können die Eltern nicht.

Dieses Gesetz ist schon von Wilhelm dem Eroberer eingeführt und gilt noch heute. Jeder mag hierüber denken wie er will; man kann darin etwas Herrliches erblicken oder auch etwas ganz Ungeheuerliches. England will jedem Menschen die größtmögliche persönliche Freiheit sichern, und die muss vor allen Dingen in Sachen der Liebe gelten, für das Heiraten, da sollen nicht einmal die Eltern etwas dreinzureden haben. Diese gute, sogar edle Absicht dabei muss jedenfalls anerkannt werden — und bei solchen drakonischen Gesetzen geht es eben ohne Übertreibungen niemals ab. —

Über solche englische Verhältnisse hatten sich die vier Zurückgebliebenen unterhalten, bis Wichtelmann wiederkam, und er war kaum zehn Minuten fort gewesen.

»Fertig! Um fünf sollen wir in Stratford auf der Oberregistratur sein, und um vier fährt der letzte Zug, der dazu passt.«

Ja, damit abgefunden und einverstanden erklärt hatten sich die Schwestern innerhalb dieser zehn Minuten.

Dazu freilich gehörte, wenn man die ganze Schnelligkeit in Betracht zog, selbst wenn es geborene Engländerinnen gewesen wären, dass es eben die richtigen Personen waren.

Nicht jedes andere Mädchen wäre ja so ohne Weiteres darauf eingegangen, mochte es sonst auch noch so freidenkend sein — oder es wäre ganz einfach ein leichtfertiges Weib gewesen.

Aber im Roman schildert man oder soll man nur solche Gestalten schildern, welche aus der Menge hervorragen. Oder der Roman ist nicht mehr das, was er sein soll — die Kunst wird zur Fotografie.

Diese beiden Mädchen waren eben ganz besondere Exemplare ihres Geschlechts, deshalb eben sind sie auch einer ausmalenden Schilderung würdig.

Trotzdem, ein kleiner Widerstand der zögernden Scham gehörte nun einmal dazu, sonst wären es keine wirklichen Kinder der mädchenhaften Unschuld gewesen.

»O, Wichtelmann, Wichtelmann, was machst du!!«

»Na was denn? Ob wir uns heute heiraten oder heute übers Jahr, das ist dem Himmel doch ganz egal — ich glaube sogar, der Himmel ist mehr für den heutigen Tag.«

Er hatte recht, die Mädchen verstanden ihn, trotz seiner drastischen Ausdrucksweise.

»Wenn es wenigstens eine kirchliche Trauung wäre?!«, wurde der letzte schüchterne Widerstand gemacht.

»Wenigstens? Kinder, ihr wollt doch nur fünf Schillinge fünf Groschen sparen. Sonst lasst euch sagen, dass der Geist Gottes in keinen von Menschenhand gebauten Kirchen wohnt.«

Es war seitens der Schwestern auch gar kein richtiger Einwand aus religiösen Bedenken gewesen. Dazu lebten sie schon zu lange in England, kannten die Verhältnisse zu genau. Die Trauung auf dem Standesamt ist dort etwas vollständig anderes als in Deutschland, hat mit einer Verachtung der Religion absolut nichts zu tun, was sich aber in Kürze nicht erklären lässt. Es sei nur erwähnt, dass auf der Registratur stets ein Superintendent zugegen ist, der den Segen Gottes erteilt, ob die Betreffenden ihn nun haben wollen oder nicht, und sehr oft ziehen gerade die kirchlichst gesinnten Leute diese Art von Trauung vor. Eine doppelte, auf dem Standesamt und in der Kirche, gibt es also in England gar nicht, darf nicht sein, ist überhaupt eine Unmöglichkeit, und das schon zeigt den großen Unterschied.

* * *

9. Kapitel

Eine halbe Stunde später begaben sie sich nach dem Bahnhofe. Mrs. Bellair ging mit, das war schon der eine Zeuge, der zweite war noch zu suchen.

In der Bahnhofshalle stand der Schalterbeamte, brannte sich eine Pfeife an — ein Zeichen, dass er jetzt dienstfrei war.

»Excuse me, Sir«, redete ihn Wichtelmann an. »Ich lud Sie schon vorhin zu meiner Hochzeit ein, und es war mein Ernst. Haben Sie zwei Stunden Zeit? Darf ich Sie bitten, in Stratford zu meiner und meines Freundes Doppeltrauung Zeuge zu stehen?«

»Very well — ehrt mich sehr!«

Nur die Namen genannt, und er war fertig zum Mitkommen. Es ist ja auch eine Ehre, die gar nicht ausgeschlagen werden darf.

Der Beamte schien überhaupt schon recht gut Bescheid zu wissen. Es handelte sich ja um eine Trauung durch SpezialLizenz, das hat doch etwas Besonderes zu bedeuten.

»Haben Sie auch schon Ringe?«

Nein, die hatte man noch nicht, aber gedacht hatte man doch schon daran. Wichtelmann hatte auch seinen Freund vor dem Fortgehen ermahnt, genügend Geld einzustecken. Denn Wichtelmann war, wie er ja selbst gestanden, wieder einmal ganz blank, und die Mitgift seiner zukünftigen Frau wollte er nicht angreifen.

Sie wurden unterwegs in Stratford gekauft, der mit Schnörkeln ziselierte Verlobungsring, den die Mädchen, und der glatte Trauring, den die Männer an die linke Hand steckten.

Vor der Registratur lungerten ein Dutzend Männer, sowohl tadellose Gentlemen in Zylindern, wie etwas verkommen aussehende Individuen, Eckensteher.

»Werden noch Zeugen gebraucht?«

Solch ein Zeuge kostet hinterher ein Pint Bier bis eine mehrgängige Mahlzeit, je nach seiner Kleidung, und einige Kupfer- respektive Silbermünzen.

Diese Art von professionellem Zeugestehen ist nun freilich ein großer Auswuchs, den dieses schnelle Trauen gezeitigt hat.

In dem vornehm eingerichteten Büro brauchte man nur fünf Minuten zu warten, ein Diener fragte, ob es auch die richtigen Personen seien, ordnete die auf dem grünen Tisch liegenden Papiere und Bücher, dann ein Geistlicher, der aber keine Amtstracht trug — der sogenannte Superintendent, in England aber eine ganz andere Stellung einnehmend als in Deutschland.

Die beiden Paare mussten vor den Tisch treten, der Superintendent, ohne sich als solchen oder überhaupt als Geistlichen vorzustellen, hielt eine kurze Ansprache, er setzte voraus, dass sich die zu Vermählenden der Bedeutung des beabsichtigten Schrittes bewusst seien, sprach von der Heiligkeit der Ehe, dann kam der Registrator dran, fragte jeden einzelnen, ob er und sie gewillt seien, die Ehe einzugehen, fragte nach den Personalien, schrieb die Antworten in ein dickes Buch ein, dann nochmals auf einen Trauschein, dann machte er darauf aufmerksam, dass die nachfolgende Unterschrift als Eid gelte, Paare und Zeugen unterschrieben, der Superintendent erteilte den Segen, wirklich mit aller Feierlichkeit, wobei der Mann der Gattin seinen Ring gab, den sie fernerhin ebenfalls an der linken Hand trägt — der Mann trägt gar keinen Trauring, die Frau hat alle beide — auf jeden Trauschein wurde eine Pennymarke geklebt und durch Überschreiben des Datums entwertet, den Trauschein erhielt die Gattin — und die Sache war geschehen, in noch nicht einer Viertelstunde.

Doch nein, eins fehlte noch, für die eine Partei die Hauptsache.

»Zweimal zwei Pfund vierzehn Schilling six Pence, please.«

Morrus bezahlte und drückte dem Diener etwas in die Hand, was dessen bartloses Jockeygesicht ganz verklärt machte.

Es war geschehen — und es war tatsächlich feierlich gewesen. Woran dies bei aller Geschäftsmäßigkeit gelegen, lässt sich nicht schildern.

Erst in dem Vorzimmer, wo sie die Hüte abgelegt hatten, wagten die Schwestern wieder aufzuatmen. Und jetzt erst kam es ihnen zum Bewusstsein: heute früh, heute Mittag, und jetzt, nur nach wenigen Stunden — dieser Unterschied!

»Toni, ist es denn nur möglich?!«

»Ich glaube auch, es ist alles nur ein Traum!«

»Nein, Toni, es ist kein Traum«, sagte Wichtelmann zärtlich, sie schnell einmal in seine Arme schließend. »Jetzt bist du meine Wichtelfrau...«

»Halt, halt, ich bin ja die Klara!«

»Ach so, na dann die andere...«

Aber Wichtelmann hatte sicher keinen Witz machen wollen. Er war immer der feierliche Ernst selbst gewesen, und daran hatte auch sein Sporthemd nichts geändert.

Sie traten hinaus auf die sonnenbeschienene Straße. Sofort wurden sie von anderen Männern umringt, die sich vorhin im Hintergrund gehalten hatten.

»Haben die Herrschaften schon eine Wohnungseinrichtung? Das Möbelhaus Samuel Cohen begnügt sich ohne jede Sicherheit mit der allergeringsten Anzahlung...«

Und so ging es weiter. Sie stehen auch vor der Kirche, benehmen sich aber ziemlich anständig, begnügen sich, einem ihre Karten und Prospekte aufzudrängen.

Dieses Angebot löste doch eine große Frage aus, an die man noch gar nicht gedacht hatte. Es war ja alles so schnell gegangen.

Aber auch jetzt, da man zum ersten Male daran dachte — bei Besichtigung des leeren Hauses war man auf diese schnelle Trauung ja noch gar nicht vorbereitet gewesen — sollte man nicht dazu kommen, sie zu erörtern.

Die Fabriken und Kontore schlossen, im Nu glich die Straße einem aufgestöberten Ameisenhaufen, und ehe sie es sich versahen, waren die neuvermählten Paare und Zeugen voneinander getrennt worden, konnten sich nicht wiederfinden. Ein Glück war es, dass sie schon vorher ausgemacht hatten, in welchem Hotel sie das Hochzeitsmahl einnehmen wollten, oder es war mehr eine große Speisewirtschaft nach englischem Stil, in der nicht erst vorher bestellt zu werden brauchte.

In der Salonbar dieses Hotels fanden sie sich nach und nach wieder zusammen, Wichtelmann und Toni waren die letzten, die kamen, und sie hatten ziemlich lange Zeit gebraucht, um sich hierherzufinden. Bei diesem letzten Paare hatte sich auch die alte Laune wieder eingestellt, wenigstens musste Toni immer mit sich kämpfen, um ihr Kichern zu unterdrücken. Die beiden mussten sich unterwegs recht gut unterhalten haben.

»Ja, Freund Wuuichtelmann«, begann Morrus, als in einem separaten Zimmer als erster Gang Schildkrötensuppe mit Portwein serviert wurde, »wie ist es nun mit eurer Hauseinrichtung...«

»Nein, nein, haben wir gar nicht nötig!«, fiel Toni ein, noch ehe Wichtelmann zu Worte kommen konnte, und jetzt brach sie in schallendes Gelächter aus.

»Aber ihr könnt doch nicht in dem leeren Hause wohnen«, lachte auch Klara mit.

Es half alles nichts — die beiden mussten unterwegs etwas verabredet haben, sie beharrten dabei, keiner Möbel zu bedürfen, wollten aber auch nichts weiter verraten. Im Übrigen war es ja selbstverständlich, dass sie die nächste Zeit noch in Mistress Bellairs oder jetzt vielmehr in Mister Morrus' Hause blieben, Mistress Bellair wisse schon auskömmliche Schlafgelegenheit zu verschaffen.

Unter solchen lustigen Gesprächen wurden die fünf Gänge absolviert, der Eisenbahnbeamte verabschiedete sich, er wolle mit der Straßenbahn nach London fahren, die andern begaben sich auf die Station und benutzten den nächsten Zug nach Loughton.

Die Nacht war schon angebrochen, als sie dort eintrafen. Der Schwestern Gepäck war bereits besorgt und von dem Hausmädchen in Empfang genommen worden.

Morrus war zuerst in den erleuchteten Korridor getreten, wandte sich gleich um und schloss seine junge Frau in die Arme.

»Das ist nun dein Heim, meine Klara...«

»Nein, das nehme ich nicht an, denn ich bin die Toni.«

Jetzt fing der auch schon an! Es war übrigens gar nicht das erste Mal, dass auch Morrus diese Verwechslung beging, Mistress Bellair war es auch schon mehrmals passiert. Die beiden Schwestern waren ja absolut nicht zu unterscheiden.

Die jetzige Verwechslung, hier beim ersten Eintritt unter den neuen Verhältnissen in das Haus, ließ aber nun gar keine ernste Stimmung aufkommen. Nur während der Trauung hatte diese vorgehalten, was besonders Wichtelmanns wegen betont sein mag.

»Himmel, ihr seid doch wenigstens richtig getraut worden?!«, ließ sich jetzt sogar Mistress Bellair vernehmen, obgleich das sonst gar keine humoristische Natur war.

»Der Persönlichkeit nach wohl«, rief da Klara wirklich erschrocken, »an meiner Seite stand Thomas, der gab mir seinen Ring — aber die Trauscheine... Ob da die doppelten Namen zusammen passen, ich weiß nicht recht...«

Schnell zog jede ihren Trauschein, den die Frau als einzige Legitimation für immer behält, hervor — und tatsächlich, die Trauscheine waren verwechselt, jede hatte den der anderen... sonst aber stimmte alles zum Glück. Morrus hatte Klara, Wichtelmann Toni.

Es war ein Lachen der wirklichen Erleichterung, das erklang. Allen war der Schreck in die Glieder gefahren.

»Nein, das geht nicht mehr«, entschied Mistress Bellair. »Mädchen — oder junge Frauen — jetzt zieht euch zuerst schnell um — aber jede ein anderes Kleid, sonst ist es ja wieder die alte Geschichte!«

Die Schwestern gingen wieder in ihr altes Zimmer, wo schon ihr Gepäck untergebracht war.

Zuerst sanken sie, zum ersten Male wieder allein, einander in die Arme.

»Toni — Klara, ist denn das alles wirklich nicht nur ein Traum?«

Nein, es war kein Traum, und als sie während des Umziehens noch einmal besprachen, wie alles gekommen war, dieser Umschwung in wenigen Stunden, da konnten sie doch wieder nichts als lachen.

Auch an die Brüder und sonstigen Verwandten wurde gedacht. Nun, das konnte bald erledigt werden, durch einen Brief. Man war eben schon längere Zeit verlobt gewesen, so ganz die Unwahrheit war das gar nicht, und überdies war man den Brüdern und Verwandten keine besondere Rücksicht schuldig. Das Verhältnis war zwar immer ein inniges, aber durch den selbstständigen Beruf der Schwestern, und zumal die Brüder alle verheiratet, doch nur ein lockeres gewesen.

»Ja, wie ist das nun eigentlich mit euch?«, sagte Toni.

»Mit uns? Wie meinst du das?«

»Dein Mann kann doch nun nicht immer unterwegs und nur des Sonntags zu Hause sein.«

»Gewiss, das bleibt alles beim Alten.«

Erschrocken hielt Toni mit Umkleiden inne. Sie hatten hierüber ja noch gar nicht gesprochen, Toni wenigstens nichts davon zu hören bekommen.

»Es ist doch nicht möglich!«

»Aber warum denn nicht?«, entgegnete Klara gelassen oder mit aufrichtiger Verwunderung. »Thomas muss die ganze Woche draußen herumreisen, kommt am Sonnabend hierher, bleibt den ganzen Sonntag bei uns und will nun sehen, dass er erst Montag früh wieder abfährt. Sonst ist er schon am Sonntagabend wieder aufgebrochen. Daran ändert sich nichts. Das ist sein Beruf. Und wie viele Ehen gibt es nicht, wo es genau so ist, noch ganz anders, wo der Mann nur alle Vierteljahre für einige Tage nach Hause kommt.«

Klara hatte recht. Gerade in dem fleißigen, geschäftsmäßigen England kommt das wie in Amerika sehr häufig vor, schließlich ja auch in Deutschland. Man denke nur an die vielen Geschäftsreisenden, an auf fremden Plätzen beschäftigte Ingenieure, Monteure und dergleichen.

Toni sah es ein, war aber doch etwas niedergeschlagen.

»Hat er dir denn das schon vorher gesagt? Wichtelmann erwähnte bei seiner Brautwerbung doch nichts davon.«

Klara gestand, dass auch sie erst vorhin davon gesprochen hatten, als in dem Hotel noch das andere Paar gefehlt hatte, also erst nach der Trauung.

»Ja, aber glaubst du denn etwa, das hätte bei mir irgend etwas beeinträchtigt? Das habe ich überhaupt von vornherein angenommen.«

Toni küsste die Schwester, und auch diese Angelegenheit war erledigt.

Jedenfalls aber war das eine überaus merkwürdige Eheschließung. Die Schwestern konnten auch schon wieder lachen.

»Und was wird denn nun aus der Abschreiberei?«, fragte Toni.

»Auch darüber haben wir vorhin in aller Eile gesprochen, als wir auf euch warteten. Das bleibt alles so, wie wir ausgemacht haben.«

»Ja, was haben wir denn eigentlich ausgemacht?«

»Nun, dass wir beide zusammen Mistress Bellairs Arbeit übernehmen. Du bist doch damit einverstanden?«

»Wöchentlich 9000 Zeilen abzuschreiben? Für 60 Schilling?«

»Jawohl.«

»Nu, gewiss bin ich damit einverstanden«, lachte Toni freudig. »Mein Wichtelmann scheint es ja auch nicht so nötig zu haben — wie der sich steht, ist mir freilich noch unklar, wir haben noch gar nicht weiter darüber gesprochen — aber die 60 Schilling in der Woche werden natürlich mitgenommen. Und dein Mann ist auch damit einverstanden, dass du die Arbeit übernimmst?«

»Ei freilich, das ist sogar gewissermaßen Voraussetzung gewesen. Ja, was soll ich denn auch sonst den ganzen Tag machen? Nun sage aber, Toni, wie ist es eigentlich mit eurem leeren Hause, mit der Einrichtung...«

Das Gespräch wurde durch einen Wortwechsel unterbrochen, den Wichtelmann mit Mrs. Bellair auf dem Korridor dieser ersten Etage führte. Es hatte schon lange Zeit gepoltert.

»Was wollen Sie denn da mit der auseinandergenommenen Bettstelle, Mrs. Bellair?«

»Sie unten im Dining Room aufschlagen.«

»Wozu denn?«

»Ja, Sie müssen doch irgendwo schlafen, und Ihrem bisherigen Zimmer muss doch...«

»Nein, nein, wir bleiben heute Nacht nicht hier.«

»Ja, wo denn? Oder soll ich das Bett drüben in Ihrem Hause...«

»Wo denken Sie hin! In mein Haus kommt kein fremdes Möbel!«

»Ja, aber wo wollen Sie denn nur mit Ihrer Frau heute nach...«

»Lassen Sie nur, lassen Sie nur das unsere Sache sein, das ist schon alles arrangiert, und ihr hausbackenen Menschen sollt wieder einmal staunen, denn bei uns...«

Die Stimmen hatten sich schon zu weit entfernt, um noch etwas verstehen zu können.

Und Toni kicherte.

»Ja, Toni, was habt ihr nur eigentlich vor?«

»Lass doch, Klara«, bat auch die Schwester, »ja, wir haben etwas verabredet — du hast's doch eben gehört — ihr seid hausbackene Menschen — mein Wichtelmann ist bei der Trauung ja ganz vernünftig gewesen, aber eine eigentliche Hochzeit war das doch nicht für ihn, der muss die Trauung erst noch richtig nachholen — so etwas nach seinem Geschmacke arrangieren... nein, nein, gib dir keine Mühe, ich verrate nichts, und im Übrigen bist du doch schon etwas vorbereitet, dass du dann nicht gar zu sehr erschrickst.«

Und dabei blieb Toni. Die große Überraschung sollte noch heute Abend stattfinden.

Sie begaben sich hinab, Klara ein braunes, Toni ein helles Kleid tragend.

Im Dining Room wurde das Abendessen aufgetragen. Wichtelmann fehlte. Eine halbe Stunde verging, man unterhielt sich über dies und das, malte sich die Zukunft aus, und Wichtelmann war noch nicht da, nicht im Hause, niemand wusste, wohin er sich begeben hatte.

»Er wird sich umziehen«, meinte Morrus.

»Ja, aber wo denn, wenn er gar nicht im Hause ist?«

»O, der hat noch eine ganze Masse Wohnungen.«

»Wo denn nur?«

»Hier im Walde, in hohlen Baumstämmen, und unter der Erde, so wie ihr ja solch eine Wohnung gleich am ersten Tage zufällig gefunden habt.«

Durch das Regenwetter waren die Schwestern damals ja nicht mehr in den Wald gekommen, Wichtelmann hatte ihnen alle seine Geheimnisse zeigen wollen, aber es hatte eben nicht sein sollen.

»Und da hat er auch Garderobe drin?«

»Alles, alles, was der Mensch nur braucht.«

»Wusstet ihr auch, dass Wichtelmann fast alle seine Sachen selber macht, seine Kleider, seine Stiefel?«

»Und Hut und sogar Regenschirm — ja, das wissen wir!«, wurde gelacht.

»Nun hat er irgendwo seine Werkstätte unter der Erde oder sonst wo, vielleicht auch mehrere.«

»Eine ganze Tischlerwerkstatt muss er haben«, schaltete sich Mrs. Bellair ein. »Er bringt ja immer einmal etwas Gezimmertes angeschleppt. Wenn ich einmal ein Regalbrett brauche, und Wichtelmann ist hier, so sage ich's ihm, er nimmt Maß, verschwindet im Walde, und wenn er in kurzer Zeit wiederkommt, so bringt er das fertige Brett mit, fein gehobelt und mit der richtigen Farbe gemalt oder gar poliert, wie es der Schrank verlangt, und wie es nur ein Kunsttischler machen kann.«

Die Schwestern staunten. Immer wieder bekamen sie über dieses Universalgenie, das die eine seit drei oder vier Stunden ihren Mann nannte, etwas ganz Neues zu hören. Und der geneigte Leser wird nun schon etwas gemerkt haben.

Am ersten Ferientage hatte Mr. Morrus den Schwestern etwas über Wichtelmann erzählt, aber das waren doch nur Andeutungen gewesen. Am zweiten Tage hatten sie Wichtelmann zufällig in der unterirdischen Höhle entdeckt, er hatte ihnen noch das Geheimnis der ›Zebrafalle‹ gezeigt — sonst nichts weiter. An den letzten beiden Tagen hatte er ihnen immer von seinen Reisen, von der Schriftstellerei und von seiner früheren Lebenslaufbahn erzählt, für ihre Einweihung in seine Wald- und Wiesengeheimnisse sie auf besseres Wetter vertröstend.

Da war die fluchtähnliche Abreise dazwischengekommen. Nun waren sie zwar alle wieder zusammen, sogar für immer, als Mann und Frau — aber die Erfahrung der Schwestern hatte sich dadurch nicht im Geringsten bereichert.

Kurz, diese Stunde hier war als die Fortsetzung jener letzten zu betrachten, die dazwischenliegenden dreiundeinhalb Wochen konnte man einfach aus dem Register der rollenden Zeit streichen, und dass aus zwei Männlein und zwei Weiblein unterdessen regelrechte Ehepaare geworden waren, das änderte im Grunde genommen ebenfalls gar nichts daran.

Hier lag ein fast ähnlicher Fall vor, wie bei dem französischen Gerichtsprofessor Savigny, der vom Katheder weg wegen Hochverrats verhaftet wurde. Zwei Jahre schmachtete er in der Bastille. Dann erwies sich seine Unschuld, er durfte seine Vorlesungen wieder aufnehmen. In zwei Jahren hatte sich manches geändert, aber wer von seinen ehemaligen Schülern nur irgend konnte, der hatte sich eingefunden, um dem vergötterten Meister bei seinem ersten Wiederbetreten des Lehrsaales zu huldigen. Aber aus der beabsichtigten Ovation sollte nichts werden. Savigny, vor zwei Jahren noch ein rüstiger Mann, in der Bastille zum ausgezehrten Greis geworden, winkte den aufstehenden Studenten würdevoll wie immer ab, begab sich hinter das Katheder und hub an:

»Wir sind gestern stehen geblieben bei der Ursache des mazedonischen Krieges...«

Und die Ovation soll auch nachträglich unterblieben sein. Gegenüber solch einer gewaltigen Erhabenheit des menschlichen Geistes über Raum und Zeit und alles das, was man ›Schicksal‹ nennt, muss ja auch alles andere verstummen.

So etwas Erhabenes lag ja in diesem unseren Fall nun allerdings nicht vor. Aber einige Ähnlichkeit war doch vorhanden.

»Und da schläft er wohl auch des Nachts in einer dieser unterirdischen Höhlen?«, fragte Klara.

»Gewiss. Wenigstens sehr oft. Diese seine Wohnung hat er eigentlich nur als Postadresse. Aber das dürft ihr nicht gar so buchstäblich nehmen. Er hat hier auch schon noch sein Bett und seine Bücher und vieles andere...«

Jetzt allerdings ging Klara eine Ahnung auf, wo Wichtelmann mit seiner Neuvermählten zu quartieren beabsichtigte. Natürlich war Toni schon eingeweiht, das hatte sie ja selbst gestanden.

Morrus wurde in seiner Erklärung unterbrochen, Klara konnte ihren Gedankengang nicht vollenden.

Plötzlich erscholl draußen auf dem Korridor ein Brüllen, das sehr an das indianische Kriegsgeheul erinnerte, und die Gestalt, die da zur Tür hereingestürzt kam, war denn auch ein Indianer, ein ganz echter Indianer auf dem Kriegspfad, wenigstens soweit man das in der Schnelligkeit unterscheiden konnte. Denn es ging alles sehr schnell.

Bunte Federn auf dem Kopfe, die noch halb über den Rücken hinabliefen, ein in allen Regenbogenfarben schillerndes Gesicht, in der Stulpnase und in den ziemlich großen Ohren mächtige Goldringe — wahrscheinlich aber waren sie aus Messing — rotbraune Gliedmaßen, nackt, wenn sie nicht mit Trikot oder Leder oder sonst einem Stoffe überzogen waren, der Bart offenbar in eine enganschließende Weste geknöpft, um den Leib ein Schurz aus Papageienfedern — das war die Hauptsache, woran man den echten Indianer erkannte, der freilich eher einer Jahrmarktsbude als der Wildnis entsprungen zu sein schien. Im Übrigen war es ein sehr kleiner und ziemlich dicker Sohn des großen Geistes.

Also, es ging alles außerordentlich schnell.

Einen Tomahawk oder sonst irgendein Hackebeil schwingend, war der Indianer brüllend hereingestürzt, brauchte aber gleich eine Vorsicht.

»Färchten Se sich net, meine hochgeehrten Herrschaften, ich komme nur, um das zu holen, was mir gehört — geraubt muss das Liebchen sein!!«

Mit diese Worten stürzte er, den Tomahawk fallen lassend, auf Klara zu, riss sie hoch, hob sie kraftvoll auf seine Arme, eilte mit seiner Beute der Türe zu...


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»Halt, halt, halt, das ist die falsche, das ist ja die Klara!!!«, schrie aber die Toni auf, dem Räuber nacheilend.

Kaum, dass der wilde Mädchenräuber einen Moment stutzte!

»Hugh! Die falsche? Totletimtamtumtschichatscheikaramtotle — das ist pawneesch und heißt frei übersetzt: ä, das ist ja ganz egal! Aber wenn du willst — dann komm du her.«

Und er ließ seine Beute zu Boden gleiten, nahm dafür Toni auf seine Arme und stürmte mit ihr hinten durch den Garten in den stockfinsteren Wald hinein, hinterher mit freudigem Gekläff Wichtelmanns Wachtelmann.

Der weitere Kommentar sei dem Leser überlassen.

Geraubt muss das Liebchen sein... Wichtelmann hatte doch noch eine Nachfeier veranstaltet, die seinem romantischen Geschmack mehr entsprechend war als die Trauung auf dem Standesamt. Er schrieb doch nicht umsonst solche Romane, in denen derartige Szenen nie fehlen durften.

* * *

10. Kapitel

Es war früh um fünf, durch die bunten Scheiben des Treppenfensterchens drang der erste Morgensonnenschein, als Klara aus dem ehelichen Schlafgemach trat, nur im leichten Unterrock und Nachtjäckchen.

Da öffnete sich ebenso leise die gegenüberliegende Tür, auch Mistress Bellair erschien, aber im regelrechten Morgenkostüm, schon frisiert.

»Sie sind schon auf?«

»Sie sind schon munter, Mistress Morrus?«

»Ich wollte... der herrliche Morgen«, stammelte die ganz frischbackene junge Frau in leicht begreiflicher Verlegenheit, »auch Tom zieht sich schon an — ja, ich muss jetzt Tom zu ihm sagen — der herrliche Morgen, wir wollten gleich in den Wald — ach, wie das durch das offene Fenster hereinduftet — da wollte ich erst schnell Kaffee kochen...«

»Das überlassen Sie nur mir, meine Liebe, ziehen Sie sich fertig an, so weit man hier fertig zu sein braucht.«

»Und um sechs fangen Sie im Sommer schon immer an zu arbeiten, nicht wahr?«

»Ja. Weshalb?«

»Nun, ich will dann gleich dabei sein, ich muss doch erst die Maschine kennen lernen, ich kann nur Remington und Sie haben...«

»O, aber doch nicht jetzt schon! Das hat doch nicht solche Eile!«

»Doch, und diese Arbeit ist ja mein größtes Vergnügen, ich brenne wirklich darauf, dieses saubere Abschreiben zu übernehmen...«

»Nein, nein, davon kann diese Woche noch keine Rede sein. Mister Morrus bleibt diese Woche noch hier, da haben Sie sich ihm noch ganz zu widmen, erst mit nächstem Montag beginnt es...«

Mistress Bellair brach ab und lauschte. Unten kläffte ein dünnes Hundestimmchen.

»Das ist Wichtelmanns Wachtelmann, er begehrt Einlass.«

»Ach, Wichtelmann — und Toni — wir haben in dieser Nacht manchmal... ich wollte sagen, wo mögen denn nur die beiden geblieben sein?«

»Mich soll es gar nicht wundern, wenn Ihnen das kluge Tierchen das gleich selbst erzählen wird.«

Die kleine, flinke Frau huschte trotz ihrer fünfzig Jahre wie ein Wiesel die Treppe hinab, in der nächsten Minute kehrte sie zurück, von dem Wachtelhündchen begleitet, das sich vor Freuden ganz außer sich gebärdete.

»Erst hier dein Zuckerchen zur Belohnung — so — ja er hat richtig eine Botschaft in seiner Tasche.«

Mistress Bellair hatte an dem sehr breiten Halsband ein Täschchen aufgeknöpft, entnahm ihm ein dünnes, zusammengefaltetes Leder.

»Eine Botschaft?«, begann Klara schon jetzt zu staunen.

»Von Wichtelmann. Das macht er immer so, wenn er uns etwas mitzuteilen hat. Da schickt er seinen Hund mit einem Zettelchen. Wachtelmann führt uns auch hin, wenn wir zu ihm kommen sollen, und wenn's auch meilenweit entfernt ist, an der anderen Grenze des Waldes, wenn Wichtelmann irgendwo versteckt liegt.«

»Ach, das ist ja großartig!«

»Der Hund macht noch etwas ganz anderes. Wie den Wichtelmann dressiert hat! Manchmal sollte man meinen, er habe Menschenverstand. Den Wachtelmann meine ich natürlich, den Hund. Ja, aber was schreibt er denn nun? Ach, das ist ja wieder Chaldäisch — oder so ein Indianertotem, wie er dies nennt — das kann ich nicht verstehen, das muss Mister Morrus entziffern.«

»Zeigen Sie her!«

Mit leuchtenden Augen griff Klara, die zwar etwas weniger romantisch veranlagt war als die Schwester, von dieser das ganze Leben verklärenden Gabe der Phantasie aber doch ebenfalls eine gute Portion mitbekommen hatte, nach dem dünnen Leder.

Es zeigte sich auseinandergefaltet ziemlich umfangreich. Da war auf gelbem Grunde mit roter Farbe eine sich windende Schlange gemalt, von einem Ende zum anderen reichend. Die Figuren darunter, eine Reihe bildend, waren bedeutend kleiner. Zuerst kam, von links nach rechts, wieder eine kriechende Schlange, auf der rittlings ein kleines Mädchen saß, das aufrecht einen Stab in der Hand hielt, der ungefähr wie ein Quirl aussah. Dann kam ein Tier, in dem man zur Not einen Hund erkennen konnte, in voller Karriere, den buschigen Schweif der Schlange zugekehrt. Dem Hunde folgte eine deutlich erkennbare Tasse, aus der Qualm emporstieg, und den Schluss bildete ein Feuerchen.

Auch darunter war etwas gemalt, was aber trotz seiner Größe schwer zu beurteilen war. Ein langgestreckter Klecks, aber aus lauter einzelnen Strichelchen bestehend, von dem aus es wie kleine menschliche Arme und Beine abging — so klein, dass die Gliedmaßen gegen den gestrichelten Klumpen gar nicht in Betracht kamen.

»Ach, das ist ja großartig!«, rief Klara wiederum mit ganz verklärtem Gesicht.

»Ja, was das aber nun bedeuten soll, das soll ein Mensch wissen, der nicht darauf studiert hat, von Wichtelmann eingeweiht worden ist.«

»Na, das kann doch jedes Kind übersetzen — das ist doch ganz einfach, wollte ich sagen — das oben ist die Adresse des indianischen Briefes — eine große Schlange — also an Chingachgook, die große Schlange — und dann kommt er nochmals — und auf ihm sitze ich, als gern kochende Hausfrau durch einen Quirl charakterisiert — wir sollen dem Wachtelhunde folgen — er führt uns zu einem Feuer, an dem Kaffee gekocht wird — und das ist Wichtelmanns Unterschrift, sein Totem — ein mächtiger Bart, gegen den die Gliedmaßen gar nicht in Betracht kommen — Wichtelmann ladet uns zum Kaffee ein.«

Während Mistress Bellair staunte, wie Klara das so schnell enträtseln könne, brach diese in ein herzliches Lachen aus.

In der Tür erschien Morrus, schon angekleidet, nur noch in Hemdsärmeln.

»Was gibt es denn?«

»Nein, ist das großartig, ist das alles großartig — nein, dieser Wichtelmann — hier, lies nur!«

Morrus deutete das Bilderrätsel sofort ebenso.

»Ich habe mir gleich gedacht, dass so etwas Ähnliches kommt, als ich Wachtelmann bellen hörte. Nun, da wollen wir nur hin.«

»Ziehen Sie sich schnell an«, drängte auch Mistress Bellair, »oder Sie brauchen sich gar nicht weiter anzuziehen, jetzt begegnet Ihnen niemand im Walde, und wenn's auch wäre.«

Fünf Minuten später verließen die beiden das Grundstück durch den Garten, Klara in einem grauen Turnkostüm, auch Morrus in einem entsprechenden Anzuge.

»Denn einmal ist der Wald noch ganz nass«, hatte letzterer schon gesagt, als sie sich die Anzüge wählten, »und zweitens ladet uns Wichtelmann nicht umsonst als Indianerhäuptling ein, der wird uns heute schon etwas durchmachen lassen.«

Hierüber wurde auch noch gesprochen, als sie den lustig kläffenden, sich immer noch ganz außer sich vor Freude gebärdenden Wachtelhündchen folgten, das aber jetzt noch Wege wählte, immer hin und her jagend, ohne jedoch die Richtung zu ändern.

»Ist das großartig, nein, ist das großartig!«, wiederholte Klara noch immer mit jubelndem Munde.

Es war ja auch herrlich im taufrischen Walde, Anfang August, die Männchen der Vogelwelt überboten sich zum zweiten Male in lockenden Melodien, um weibliche Gunst zu erringen.

»Bist du glücklich, mein Klärchen?«

Ach, welche Frage! An diesem sonnigen Morgen, in diesem zwitschernden Walde, in dem alles vor Liebe girrte, dieses neuvermählte Paar, bei dem es nicht das Geringste zu sagen hatte, dass die eine Partei schon schneeweißes Haar besaß.

»Ach, Tom, Tom, wenn ich dich glücklich machen kann...«

Sie begann zu weinen. Es war begreiflich. Es waren Tränen des unaussprechlichen Glückes — und dennoch gepaart mit grenzenlosem Schmerze — das höchste Glück, dessen der Mensch fähig ist — verständlich nur für den, der solche Tränen selbst schon geweint hat.

Vielleicht hatten sie schon über die Katastrophe gesprochen, die diesem Mann alles geraubt hatte, was er schon früher einmal über alles geliebt — vielleicht auch nicht. Nötig wäre es nicht gewesen. Sie verstanden sich ohne Worte.

Morrus wusste, dass sie es wusste — das genügte, hätte genügt.

»Ich bin glücklich, meine Klara.«

Sie blieben stehen, sie zwang ihn dazu — sie blickten einander an.

»Wirst du es aber auch bleiben?«

»O, Klara, was für eine Frage wagst du an die Zukunft zu richten...«

»Schon diese ersten Worte zeigen mit, wie ehrlich du bist. Ein anderer hätte wohl gleich eine ganz andere Antwort zur Hand gehabt. Doch nein, antworte mir nicht. Oder etwas anderes will ich dich fragen. Und sei so ehrlich, wie du bist.«

»Frage!«

»Bist du einverstanden, dass ich die Schreibarbeit übernehme?«

»Ja, von ganzem Herzen.«

»Und ich weiß, weshalb.«

»Nun?«

»Weil du dann, während du fern bist, deine Frau mit einer ernsten Arbeit beschäftigt weißt.«

»Du sagst es, Klara.«

»Das sind aber nur fünf Stunden, die ich täglich beschäftigt bin.«

»Nun, das genügt gerade, das ist eine gar anstrengende Arbeit.«

»Willst du mich mit Mrs. Bellair, dieser alten Dame, beschämen?«

»Die ist das gewöhnt.«

»Auch ich werde mich daran gewöhnen. Und was mache ich dann?«

»Dich im Hausstande beschäftigen.«

»Den übernimmt Mrs. Bellair, das ist schon abgemacht, das ist wieder deren Freude, und ich kenne aus Erfahrung, wie es ist, wenn zwei Personen mit gleichen Rechten im Hausstande wirtschaften, das wird nie gut, und wenn es auch sonst die verträglichsten Seelen sind.«

»Ja, wo willst du eigentlich hinaus, Klara?«

»Wir haben doch schon folgendes ausgemacht: Wir, Toni und ich, arbeiten des Morgens fünf Stunden fleißig, desgleichen Wichtelmann. Wir Frauen schreiben mechanisch ab, Wichtelmann stenografiert seine Manuskripte, die er nach Leipzig zum Abschreiben schickt. Der Nachmittag gehört der Erholung. Dann streifen wir drei durch Wald und Busch, durch jene Welt, die sich Wichtelmann in seiner Phantasie geschaffen und die er uns bereits zu suggerieren verstanden hat — da besuchen wir in unserer Einbildung fremde Länder, gehen in Wirklichkeit auf Entdeckungsreisen aus... ist es nicht so?«

»So wird es werden, Klara.«

»Könntest auch du da mitmachen, Tom?«

»Du siehst ja, wie gern ich mitmache«, lächelte der Gefragte.

»Sei ehrlich, Tom.«

»Wie?«, stutzte jener.

»Könntest du auf die Dauer an solcher Spielerei Gefallen finden?«

»Auf die Dauer? Hm. Bei mir ist das ja etwas ganz anderes. Sieh, ich muss mich die ganze Woche draußen herumplagen, in Wartesälen liegen und in schlechten Hotelbetten schlafen, ich reise in Wirklichkeit vielleicht mehr, als Wichtelmann in seiner Phantasie — da bin ich des Sonntags gern zu Hause, in meinem wirklichen Heim, rauche behaglich mein Pfeifchen, arbeite etwas in meinem Gärtchen.«

»Nein, nein, Tom, du weichst mir aus! Nun denn, so will ich von mir sprechen: Ich kann diese romantische Spielerei auf die Dauer nicht mitmachen.«

»Nicht?!«, erklang es mit freudigem Staunen.

»Nein. So ab und zu einmal, ja — aber nicht so täglich. Ich bin nicht für solche Spielerei geschaffen...«

»Höre, Klara«, fiel ihr Morrus ins Wort, den Weg fortsetzend, weil das ungeduldige Hündchen gar so trieb, »halte meinen Freund Wichtelmann nicht etwa für kindisch. Das, was er da treibt, bedeutet für ihn gar keine Spielerei, sondern... es ist schwer zu definieren — er ist eben Schriftsteller, selbstschöpfender, also Dichter, er braucht das zur Belebung seiner Phantasie...«

»Ich verstehe. Bei Wichtelmann ist das etwas vollkommen anderes. Aber für mich ist das für die Dauer nichts. Würdest du mir gestatten, dass ich Tonis Arbeit mit übernehme?«

Morrus bekam etwas so Überraschendes zu hören, dass er wiederum stehen blieb, und zwar musste es etwas sehr Angenehmes sein, das drückte sein Gesicht aus.

»Du würdest, Klara?!«

»Ja, ich habe es mir überlegt und meinen Entschluss ganz bestimmt gefasst — wenn du damit einverstanden bist, mir es erlaubst.«

»Aber täglich zehn Stunden!«

»Das ist eine ganz normale Arbeitszeit, und glaubst du etwa, ich werde es nicht mit Mrs. Bellair aufnehmen, die sich sieben Jahre lang bei dieser zehnstündigen Arbeitszeit höchst wohl gefühlt hat?«

»Oder Mr. Howard braucht ja auch nur die Hälfte seiner Manuskripte...«

»Nein, nein, Tom, dann wäre es ja wieder die alte Geschichte. Ich will den ganzen Tag mit ein und derselben Arbeit beschäftigt sein, nur einen freien Sonntag haben, um diesen ganz dir zu widmen. Verlass dich darauf, es ist meine Freude, sogar mein Glück. Und willst du dein junges Frauchen nicht glücklich wissen, wenn du in der Ferne bist?«

Was sollte Morrus tun oder sagen? Das Allereinfachste: Er schloss seine junge Frau in die Arme und küsste sie zärtlich.

»Ach, Klara, wenn du wüsstest, was für eine Last du mir jetzt vom Herzen genommen hast!«

»Na, endlich gestehst du's«, lachte Klara, obgleich ihr schon wieder ein paar Tropfen an den Wimpern hingen.

»Ja, woher wusstest du denn...«

»Ich habe es schon immer gewusst. Wir Frauen sind eben in gewisser Hinsicht sehr, sehr klug, und dabei braucht man gar nichts gelernt zu haben. Du armer Mann musst dich die ganze Woche draußen herumplagen, von früh bis spät, und ich laufe den ganzen Nachmittag bis in die Nacht hinein mit Wichtelmann draußen im Walde herum, spiele Räuber und Soldatens...«

»Wenn es dir Vergnügen machte, so würde ich dennoch glücklich sein.«

»Aber glücklicher macht es dich, dass es mir kein Vergnügen ist.«

»Ja«, gestand er offen.

»Dass ich lieber den ganzen Tag an der Schreibmaschine sitze.«

»Wenn du dich dabei bloß nicht...«

»Das lass nur meine Sorge sein, dass ich mich nicht überanstrenge. Ich werde mir schon keinen krummen Buckel dabei wachsen lassen. Und du glaubst gar nicht, mit welcher unsäglichen Freude ich an diese Arbeit gehe, und verlass dich darauf, dass diese Arbeitslust anhalten wird.«

»Ja, wie kommt das nur? Das ist doch gar keine so interessante Arbeit...«

»Ich weiß es selbst nicht. Hier liegt wirklich ein Rätsel vor. Ich habe mit Toni Schreibmaschine gelernt, weil man's doch einmal brauchen kann... mir hat die Tipperei gar nicht so gefallen. Na, und das Abschreiben ist doch auch ganz mechanisch, da wäre es doch viel einfacher, die Romane von Howard, wenn sie mir so sehr gefielen, später gedruckt zu lesen.

Nein, es ist... ich weiß es selbst nicht. Und doch, ich weiß es. Aber die Worte, die Worte fehlen. Wie dieser Howard arbeitet, was ich da erfahren habe, wie sich mein Urteil über diese Romanschreiberei plötzlich geändert hat... es hat mir ganz mächtig imponiert, ich brenne danach, eine Gehilfin dieses Mannes zu werden, ich sehe im Geiste, wie er die von mir geschriebenen Manuskripte einbindet, illustriert, sie in seine Bibliothek stellt, sie von Zeit zu Zeit herausgreift, wie sein Auge wohlgefällig auf meiner Schrift ruht... ja, ich würde mich ärgern, wenn ich erführe, dass dieser Howard auch noch andere Abschreiberinnen beschäftigte, ich würde Nachtstunden opfern, um auch noch diese Arbeit für ihn zu tun... Und da werde ich doch nicht die leichtsinnige Toni an diese Arbeit lassen! Nein, nein, da gibt's keine Teilung!«

Sie gingen wieder. Klara hätte auch gar nicht ruhig stehen können, sie hatte sich in eine richtige Begeisterung hineingeredet — etwas schwer zu verstehen.

Kopfschüttelnd blickte denn auch Morrus die Geliebte an — aber mit strahlendem Auge.

»Klara, du scheinst doch für diesen Howard recht zu schwärmen?«, lächelte er.

»Na, dein Lächeln sagt mir schon genug. Ja, 's ist eben merkwürdig. Denn dabei habe ich nur zwei oder drei seiner Ehestandsnovellen für drei Pence gelesen. Von den kleinen Dingern gar nicht zu sprechen, die schreibt er ja auch pseudonym oder anonym, was ich jüngst erst erfahren habe. Und mehr zu lesen, dazu hatte ich in den letzten Wochen gar keine Zeit. Und doch... 's ist eben merkwürdig — 's ist wie Sympathie... meinetwegen werde eifersüchtig.«

»Ja, ja, ich weiß schon, so rätselhaft es auch sonst sein mag«, lachte aber Morrus fröhlich. »Aber was wird Toni dazu sagen?«

»Na, der tue ich doch nur den größten Gefallen. Ich kenne doch meine Toni. Allerdings nicht etwa, dass sie erst die Arbeit mit Feuereifer aufnehmen und dann bald wieder hinwerfen würde. O nein, ganz im Gegenteil, da hat nun Toni wieder eine viel bessere Natur als ich, das ist ein ganz tapferes, starkes Mädel. Die würde ohne einen Mucks die ihr widerwärtigste Arbeit von früh bis abends verrichten, sogar scherzend mit heiterstem Gesicht. Das muss man ihr nun lassen, da ist sie geradezu heroisch.«

»Du, Klara, da habe ich eine Einwendung zu machen«, fiel Morrus der Sprecherin mit sehr ernstem Gesicht ins Wort.

»Nun?«

»Wir müssen darüber sprechen. Wir beiden Paare gehören doch ganz eng zusammen, bilden schon jetzt eine einzige Familie. Das Glück jener ist auch unser Glück. Und ich kenne doch auch Wichtelmann zur Genüge. Dass sein romantisches Treiben gar nicht eigentlich Spielerei ist, oder doch zu seinem Berufe gehört, habe ich schon gesagt, und du hast es gleich verstanden. Aber nun etwas anderes. Wichtelmann ist eine rastlose Arbeitsnatur. Buchstäblich rastlos. Er besitzt auch eine außerordentlich Geschicklichkeit der Hand, die er instinktiv verwerten muss. Deshalb macht er sich alles selbst. Er wird dazu getrieben. Du sollst ihn nur erst einmal solche mechanische Arbeiten verrichten sehen. Das kommt wohl auch noch von seinem ehemaligen Seemannsberufe her. Dabei aber, wenn er seine Hände beschäftigt, arbeitet er im Kopfe auch schon seine Romane und Erzählungen fix und fertig aus, die er dann mit wunderbarer Schnelligkeit niederstenografiert. Und dasselbe gilt, wenn er seine Höhlen gräbt und seinen sonstigen Phantasien nachgeht. Es ist der Kopf, der dabei hauptsächlich immer arbeitet, da simuliert und meditiert er, da macht er schon die eigentliche Schriftstellerei ab, das andere ist dann nur noch ein mechanisches Niederschreiben. Daher auch seine gewaltige literarische Arbeitsleistung. Insofern sind ja Wichtelmann und jener Howard ganz verwandte Naturen, und es mag noch viele andere Schriftsteller und Dichter geben, von deren Arbeitsweise die Welt nichts weiß, die so etwas nur als Genie anstaunt. Nun muss aber Wichtelmann bei solchen Arbeiten, und eben gerade bei diesen mechanischen, immer ganz allein sein, da stört ihn jeder Mensch, das weiß ich am allerbesten...«

»Und das weiß ich auch schon«, fiel jetzt Klara dem Sprecher ins Wort. »O, so dumm bin ich doch nicht, etwas kann ich mich da auch schon hineindenken, hineinleben, mitfühlen. Ich aber glaube, das Rezept gefunden zu haben, wie wir die beiden noch enger zusammenbringen können. Auch geistig, seelisch. Und das ist es eben, weshalb Toni gar nicht mit mir arbeiten soll. Die muss sich jetzt voll und ganz ihrem Wichtelmann widmen. Die muss dessen Stenogramme abschreiben, und wenn die beiden herumflattern und spielen, müssen sie sich nur über das unterhalten, was Wichtelmanns Kopf beschäftigt, oder er kann ihr ja auch diktieren, bei jeder Arbeit, die er unter der Hand hat...«

»Vortrefflich, vortrefflich!!«, jauchzte Morrus förmlich auf. »Ja, das müssen wir dann den beiden gleich vortragen, wir brauchen ja nicht mit der Türe ins Haus zu fallen...«

Und so unterhielten sich die beiden weiter.

Über Arbeit. Und Arbeit ist Arbeit. Das Aufknacken von Geldschränken erfordert freilich auch viel Arbeit, aber das ist doch wieder etwas anderes. Eine negative Arbeit wollen wir einmal zum Unterschied sagen. Hier aber wurde von positiver Arbeit gesprochen.

Und doch, wie mancher Zuhörer — und leider gerade mancher deutsche — hätte wohl da gesagt: Über was für Mumpitz unterhalten die sich da, über das Zusammenschmieren von Romanen — kann man denn das auch als eine ernste Arbeit betrachten, als einen ernsten Lebenszweck?

Wenn aber die beiden die Millionengründung einer Schnapsbrennerei besprochen hätten... jaaa, Bauer, das ist etwas anderes!!!

Armselige Geisteskröpel! Doch diese beiden gehörten nicht dazu.

Und noch etwas anderes: Sie besprachen die Arbeit, das Glück von anderen!

Die Unterhaltung wurde dadurch schwierig, weil Wachtelmann jetzt den Weg verließ, in das Unterholz drang, sich prüfend umsehend, ob man ihm auch folge, und weil hier sehr viele Brombeeren wuchsen, die den unvorsichtig Schreitenden mit tausend scharfen Klammern zu fesseln suchen.

Umging Wachtelmann Wege, kürzte er nur ab, oder befand man sich schon in der Nähe des Versteckes? Das konnte nur er selbst sagen, und jetzt sprach er nicht, hatte sein sonstiges fortwährendes Bellen mit Verlassen des Weges plötzlich eingestellt.

»Das macht er immer so«, erklärte Morrus, und auch er begann zu flüstern, »wenn Wachtelmann den Weg verlässt, hört er auf zu bellen, wird ganz anders. Sieh nur, jetzt schleicht er doch förmlich wie ein Indianer auf dem Kriegspfade.«

So war es. Das Hündchen hatte sich ganz verwandelt, hielt sich immer dicht vor den ihm Folgenden, wartete auf sie, huschte geduckt schnell einige Schritte vorwärts, dann spähte es lauschend mit erhobenem Pfötchen um sich, bis jene ihn wieder erreicht hatten.

»Wir nähern uns gewiss dem Ziele, wo die beiden versteckt liegen«, flüsterte Klare noch leiser.

»Nein, noch nicht. Wenn das der Fall ist, dann benimmt sich Wachtelmann noch anders, wird noch viel vorsichtiger, duldet auch nicht, dass wir uns auch nur einige Schritte voneinander trennen, holt uns gleich wieder zusammen, ermahnt uns auch noch durch leises Knurren zu besonderer Vorsicht. Ein kluges Tier! Und in diesem Falle ist es doch nicht eigentlich Dressur.«

»Hast du schon alle diese geheimen Verstecke besucht?«

»O nein, nicht alle. In den letzten Jahren kümmerte ich mich gar nicht mehr darum, und Wichtelmann legt ja fortwährend neue solche Tuskula oder Vorratskammern oder sonst etwas an. Wenn wir dann einmal des Sonntags in unserem Heim zusammentreffen — auch auf Reisen — dann erzählt er mir, was er wieder neu geschaffen hat, zeigt mir seine Generalstabskarte, wie er es eingetragen — nichts weiter. Und seine größten Heimlichkeiten verrät er auch mir nicht.«

»Werden denn solche Verstecke nicht öfters von anderen entdeckt, wo hier doch so oft spielende Kinder alles durchstöbern?«

»Das ist in den sieben Jahren, seit denen Wichtelmann hier haust, nur ein einziges Mal passiert, und zwar durch eigene Schuld.«

»Das wundert mich.«

»Wichtelmann weiß seine Verstecke eben anzulegen.«

»Aber in jener unterirdischen Kammer stand der Baum doch dicht am Wege, auch noch so offenbar auf dem kleinen Hügel, und wir haben sie ja denn auch richtig gefunden.«

»Ja, ihr Akrobatinnen«, lachte Morrus leise, und wir wollen die etwas undezente Bemerkung machen, dass er jetzt wohl die stählernen Muskeln dieser jungen Damen, von denen ja eine genau der anderen glich, richtig kennen gelernt haben musste. »Aber wer denkt denn, dass diese kerngesunde Eiche hohl ist? Und wie soll denn da ein irdischer Mensch hinaufkommen, wenn er keine Leiter oder wenigstens einen längeren Strick bei sich hat?«

Morrus hatte recht. Es waren eben zwei gewandte Turnerinnen, schon mehr Akrobatinnen gewesen, die sich da hinaufgeschwungen hatten, wie wir es beobachteten.

Schon eine gute Viertelstunde waren sie nun durch das Unterholz des Waldes gedrungen, ohne wieder auf einen Weg gestoßen zu sein. Klara sprach hierüber ihre Verwunderung aus. Denn eine Viertelstunde selbst langsamen Vordringens hat doch schon etwas zu bedeuten, und es handelte sich ja immer um einen stark frequentierten Wald ganz in der Nähe Londons, da hätte man doch hin und wieder wenigstens einen kleinen Fußsteig antreffen müssen.

Morrus konnte Erklärung geben. Es ist eben ein ganz merkwürdiger Wald. Es gibt nur fünf fiskalische Wege, die in schnurgerader Linie die umliegenden Ortschaften miteinander verbinden. Die Herstellung und Instandhaltung aller anderen Wege bleibt dem Publikum überlassen. Das heißt, sie müssen ausgetreten werden. Nach dem Winter müssen sie mühsam immer wieder von den ersten Pfadfindern aufgesucht werden.

Auf diese Weise, zumal noch dichte Brombeerdistrikte in Betracht kommen, gibt es hier Strecken von vielen, vielen Quadratkilometern, die auch nicht von einem nur leise angedeuteten Fußpfad durchzogen werden, die wirklich in jungfräulicher Reinheit daliegen, und wer tagelang in diesem Wald herumbummelt, wirklich auf Entdeckungsreisen ausgeht, der kann die größten Überraschungen erleben, nämlich gerade, wenn er dabei die Generalstabskarte benutzt, auf der doch eigentlich alles, selbst einzeln stehende Bäume, eingezeichnet sein sollen.

Aber das ist gar nicht die Generalstabskarte, nur eine Generalkarte. Natürlich gibt es auch eine richtige Generalstabskarte, die sicher nichts zu wünschen übrig lässt — in der Kartografie hat England etwas los, man braucht nur die See- und Küstenkarten zu betrachten, alles englische Arbeit! — Aber diese Generalstabskarten kommen nicht wie in Deutschland in den Handel, sind überhaupt gar nicht zu haben.

Daher also kann man, wie schon gesagt, in diesem manchmal sehr schwer zu begehenden Walde die größten Überraschungen erleben, und das sollte auch jetzt bei Morrus der Fall sein.

Immer dichter wurde das Unterholz, immer undurchdringlicher das Brombeergebüsch. Nur Wachtelmann wusste immer noch einen Durchgang zu finden. Aber ohne diesen Führer wäre man gar nicht durchgekommen. Gerade weil sich ab und zu eine freie Schneise zeigte. Es war tatsächlich so. Wollte man dem Hunde einmal nicht direkt folgen, gedachte durch Benutzung einer anderen Schneise den Weg abzukürzen, so geriet man regelmäßig in eine Sackgasse, bald durch mannshohe Stachelbüsche verbarrikadiert, zu deren Überwindung man eines schweren, für tropische Schlingpflanzen berechneten Haumessers benötigt hätte.

Das Hündchen hingegen irrte sich nie; niemals brauchte man in einer Sackgasse umzukehren, ja, und wenn jetzt jemand den Weg auf diese Weise abkürzen wollte, durch Erfahrung immer noch nicht klug geworden, so kam der sich immer umblickende Wachtelhund sofort zurück und zupfte ihn an den Kleidern wieder heraus.

So hielt er es wenigstens in letzter Zeit, begann dabei auch leise zu knurren.

»Merkst du, wie er sich jetzt benimmt?«, flüsterte Morrus. »Jetzt nähern wir uns dem Versteck, wo sich die beiden befinden. Hier herum...«

Morrus blieb stehen und unterdrückte einen Ruf der Überraschung.

Plötzlich traten Büsche und Bäume zurück, vor ihnen lag ein See — oder ein Teich, wollen wir richtiger sagen, sogar nur ein kleiner Teich, aber durch die Umrahmung einen viel größeren Eindruck machend.

»Sapristi, hier ist wahrhaftig ein See! Der Große Schlangensee! Ich denke doch immer, Wichtelmann hat nur in seiner Phantasie aus irgendeiner kleinen Pfütze seinen Großen Schlangensee gemacht und das dann so in seiner Karte eingetragen — nein, wahrhaftig ein See! Oder doch ein recht ansehnlicher Teich. Und ich bin hier doch auch nicht so unbekannt, habe aber noch nicht einmal davon gehört, dass hier solch ein großes Wasser ist.«

Seine Überraschung war wirklich eine außerordentliche.

Klara hingegen war ganz in den sich ihr so plötzlich eröffneten Anblick versunken.

»Das ist ja herrlich, herrlich!«, jubelte sie mit unterdrückter Stimme. »Nein, diese Szenerie, dieses Idyll, sieh nur diese Wasserrosen... ach, hier eine Hütte haben, ein Boot...«

»Still!«

Sie lauschten.

»Hast du?«, erklang in ziemlicher Nähe eine Stimme. Wir wollen gleich verraten, dass es der tiefe Bass Wichtelmanns war.

»Fertig.«

»Ui ui ui ui ui ui«, quieckte es jetzt wie ein angestochenes Ferkelchen, aber doch sicher aus Wichtelmanns Munde kommend. »Neue Zeile. Hahahaha. Neue Zeile. Francis warf sich schnell zu Boden. Neue Zeile. Ui ui ui ui ui ui«, erklang es abermals in der stillen Nacht, und wiederum folgte das Gelächter. »Halt! Lies mir erst einmal vor!«

Toni wiederholte alles. Besonders das ui ui ui ui ui brachte sie wunderbar schön heraus.

»Na, siehst du, es geht ja. O, aus dir will ich bald eine perfekte Stenografin oder vielmehr Sekretärin gemacht haben.«

Die beiden Ankömmlinge blickten sich an.

»Du, Tom, da kommen wir wohl mit unserem genialen Vorschlage etwas zu spät.«

Weiter konnten auch sie sich nicht darüber unterhalten, Wachtelmann hatte sie unterdessen angemeldet.

Unter einer Eiche brannte ein tüchtiges Feuer, darüber hing von einem Aste herab ein Kessel mit brodelndem Inhalt, noch andere Gegenstände lagen umher, Wichtelmann und Toni hockten mit untergeschlagenen Beinen daran.

Klara hatte sich unnötige Sorge gemacht, dass die Schwester bei ihrem Raube ihr zweitbestes Kleid oder sogar ihr bestes angehabt hatte und wie das jetzt aussehen möchte. Toni trug es nicht mehr, sondern eine Bluse und einen Rock aus festem Lodenstoff — oder es konnte auch besseres Segeltuch sein, so eine Art Khaki — Klara wunderte sich nur, woher sie dieses Kostüm bekommen hatte. Sollte Wichtelmann...«

Nun, das würde sich ja bald aufklären.

Wichtelmann trug sein altes Lodenkostüm, rauchte eine Pfeife und diktierte, Toni stenografierte in einem Buch nach.

»Hugh! Die große Schlange und seine Squaw sind am Feuer des bärtigen Laubfrosches willkommen. Hugh.«

Doch das war nur die Begrüßung, weiter wurde das Indianische nicht getrieben. Einmal fühlte sich Wichtelmann in diesem Sportkostüm nicht mehr als richtiger Indianerhäuptling, und dann hatte seine Squaw die ganze Geschichte auch gleich dadurch verdorben, dass sie aufgesprungen war und die Schwester umschlang, sie abküssend, welche Prozedur sich dann auch der Schwager von ihr gefallen lassen musste.

»Hi hi hi hi!!! Das bin nicht ich, das ist Morrus, und wir sehen uns doch gar nicht so zum Verwechseln ähnlich! Na, da kommt her, das Kaffeewasser kocht gerade. Na, Klara, wie gefällt's dir denn in dem Stande der heiligen Ehe? Ich dächte, sie bekäme dir recht gut, du hast dich recht herausgemacht, seitdem wir uns nicht mehr gesehen haben.«

Und so ging es weiter. Oder es wäre doch so weitergegangen, wenn nicht Wichtelmann bald ein anderes Thema angeschlagen hätte.

»Hört, ich habe mit euch erst etwas Wichtiges zu besprechen — hauptsächlich mit dir, Klara, du kommst dabei am meisten in Betracht.«

»Wir auch mit dir.«

»Ich habe dir einen Vorschlag zu machen.«

»Ich dir auch — hauptsächlich dir, Toni, — aber du brauchst mich deswegen gar nicht so ängstlich anzublicken, es wird dich vielmehr sehr freuen.«

»Lass mich erst einmal den meinen machen.«

»Na, dann mal zu!«

»Würdest du dir, Klara, als Mitarbeiterin nicht eine andere Maschinenschreiberin zulegen...«

»Damit du deiner Frau immer diktieren kannst. Dasselbe wollte ich dir vorschlagen.«

Sie hatten beide ganz genau dieselben Ideen gehabt, nur hatten Wichtelmann und Toni nicht geglaubt, dass alles so leicht gehen würde. Jetzt war die Freude eine desto größere, besonders, da Klara wegen ihrer gewaltigen Arbeitslast schnell alle Bedenken zu zerstreuen wusste.

»Ach, das wird ja nun erst recht herrlich!!«, rief Wichtelmann ein übers andere Mal, dabei aber auch das Kaffeemachen nicht vergessend.

Dieses muss näher beschrieben werden. Dazu hatte er als ersten Apparat eine Art Kugelgießzange mit längeren Griffen. In diese Höhlung, freilich viel größer als bei einer Kugelzange, tat er eine Handvoll ungerösteter Kaffeebohnen, die er in einem Ledersäckchen bei sich hatte, oder er zählte sie sogar gewissenhaft hinein, die geschlossene Kugel ward ins Feuer gesteckt und so lange schnell herumgedreht, bis der Fuge jener aromatische Dampf entströmte, anzeigend, dass die Röstung den nötigen Grad erreicht hatte.

Nun wurden die noch glühend heißen Bohnen in einen kleinen Mörser getan und schnell zu feinem Pulver zerstampft, dieses kam in den Kessel mit kochendem Wasser — aber dessen Quantität wurde erst richtig ausgemessen — wurde einfach oben draufgeschüttet, das Wasser hörte für wenige Sekunden auf zu kochen, stieg dann wieder im neuen Sieden, das Kaffeepulver ganz durchnässend, und als der Schaum den Rand erreichte, wurde der Kessel abgenommen.

So bereitet sich der Araber seit alters seinen Kaffee, in der Stadt wie in der Wüste, das ist auch in die orientalischen Kaffeehäuser übergegangen, die erst viel später eröffnet wurden. Für jedes bestellte Tässchen Kaffee werden die Bohnen frisch gebrannt und gepulvert, wird in einem besonderen Kesselchen gekocht. Sind mehrere Tassen gleichzeitig bestellt, können diese natürlich auch gleichzeitig auf diese Weise in größeren Gefäßen hergestellt werden. Aber die absolute Frische von Grund auf ist immer die Hauptsache. Auf diese Weise trinkt der ärmste Orientale einen Kaffee, von dessen Köstlichkeit wir in Europa gar keine Ahnung haben. Wir verpfuschen den Kaffee, wissen gar nichts damit anzufangen.

So erläuterte Wichtelmann bei seiner Arbeit, die schnell genug vonstatten ging, und fuhr auch weiter fort.

Der Orientale entfernt nicht den Satz, das feine Pulver ist ihm sogar der letzte Hochgenuss. Zuletzt rührt er den Kaffee in dem Schälchen mit dem kleinen Finger um und gießt ihn hinter.

»Das ist aber Geschmacksache, wohl nichts für euch. Wir entfernen den Satz. Doch durch ein Tuch filtrieren, das ist Barbarei, der Kaffee ist sofort verdorben, und dieses Pulver geht auch durch das feinste Haarsieb. Nein, das mache ich folgendermaßen, meine eigene Erfindung.«

An dem Kessel waren oben zwei Haken, an diesen befestigte er die zwei Enden eines starken Fadens, schwenkte den Kessel hin und her, immer schneller, immer größere Bogen beschreibend, bis er ihn in vertikalem Kreise durch die Luft sausen ließ. Durch die Zentrifugalkraft konnte dabei kein Tropfen der Flüssigkeit herausfließen, und die Zentrifugalkraft drückte auch das schwere Kaffeepulver fest an den Boden, wo es dann ruhig liegen blieb, während es bei einfachem Stehenlassen sehr lange Zeit gedauert hätte, bis es sich gesetzt, und auch dann wäre es noch ganz unvollkommen geschehen.

Es war der köstlichste Kaffee, den die Schwestern je getrunken. Sie erfuhren überhaupt zum ersten Male, was Kaffee eigentlich ist. Und dabei hatte Wichtelmann einen ganz normalen Hauskaffee gebraut, nicht im Entferntesten so stark, wie man ihn im Orient trinkt, obgleich man sich auch da sehr täuschen kann, es ist eben die ganz andere Herstellungsart, die richtige Ausnutzung der Bohne. Auch wurde er nicht aus winzigen Tässchen, sondern aus ansehnlichen Porzellanbechern getrunken, die Wichtelmann einem Holzkasten entnahm.

»Und hier ist Zucker, und hier in dieser Kürbisflasche ist frische Milch, falls jemand so dumm ist, seinen Kaffee mit Milch verderben zu wollen.«

»Woher hast du denn das nur alles?«, staunte Klara.

»Frag nicht so dumm. Das ist natürlich Pferdemilch. Meine Stute, die dort hinten weidet, ist gerade milchend.«

Dem war selbstverständlich nicht so, es war ganz frische Kuhmilch, die sich Wichtelmann wahrscheinlich schon aus der nächsten Ortschaft besorgt hatte. Aber er befand sich doch hier nicht etwa in dem englischen Walde nahe Londons, sondern das hier war der Große Schlangensee in Mexiko. Das wusste er seinen Gästen auch ganz gründlich einzuschärfen.

Außerdem muss noch bemerkt werden, dass er zu alledem keine fünf Minuten gebraucht hatte, die Schilderung hat viel länger gewährt, und ebenso schnell wickelte sich auch alles andere ab.

»Nun wollen wir sehen, ob unterdessen das Brot fertig geworden ist.«

Neben dem großen Feuer war noch eine kleinere, schon erloschene Brandstelle. Wichtelmann räumte die Holzkohlen beiseite und hob mit seinem langen Bowiemesser aus der Erde einen eisernen Topf, der am Grunde des Loches wieder auf Holzkohlen gestanden hatte.

Der Topf enthielt ein Weißbrot, reichlich zwei Pfund, wunderbar braun gebacken, allerdings noch sehr warm, zum sofortigen Essen ein ganz gefährlicher Stoff — aber in England und noch mehr in Amerika wird dieses noch ganz heiße Brot zum Frühstück allgemein gegessen — nicht zu verwechseln mit Toast, gerösteten Brotscheiben, das ist wieder etwas ganz anderes — und man hört niemals, dass davon jemand an Magenkrämpfen gestorben ist.

»Und hier ist Butter und hier Honig und hier Bärenschinken und hier Pemmikan, den ihr Greenhorns immer Schlack- oder, wenn ihr ganz vornehm sein wollt, auch Zervelatwurst nennt.«

Es wurde geschmaust. Aber keine Zervelatwurst, sondern Pemmikan, das ist getrocknetes Büffelfleisch, mit Fett zerrieben und in Ledersäcke gestopft, das Hauptgericht der kanadischen Pelzjäger, und der delikate Schinken hatte ebenso nicht einem Schweine, sondern einem Bären angehört, Wichtelmann ließ es nicht an Worten fehlen, um diese Illusion zu verstärken, er erzählte ganz ausführlich, wie er diesen Bären erlegt hatte, wie er vorhin einen wilden Bienenstock mit Honig ausgenommen, wie er die Bienen ausgeräuchert und den hohlen Baum gefällt hatte, und er verstand zu erzählen, dass seine Zuhörer es zuletzt wirklich glaubten.

Weißt du, geneigter Leser, oder denkst du daran, wenn du Pfefferkuchen isst, wie der darin befindliche Honig gewonnen wird? In der fabrikmäßigen Pfefferkuchenbäckerei wird dabei ausschließlich mexikanischer und kalifornischer Honig verwendet, und zwar nur von wilden Bienen, er ist der billigste. Und weißt du nun, wie diese Bienenstöcke aufgefunden werden? Wie der Honigjäger in der blumigen Prärie eine mit Blütenstaub beladene Biene durch ein Röhrchen mit Schwefelstaub anbläst, wie er dem davonschwirrenden Insekt nachsetzt, zu Pferd oder zu Fuß, im Galopp oder rennend, manchmal stundenlang und meilenweit, über Ströme hinweg, durch Wüsten und Urwälder, bis er an den hohlen Baum kommt, der den Stock beherbergt, den die heimkehrende Schwefelbiene in Aufruhr versetzt. Und hat er etwas zu viel oder zu wenig Schwefel geblasen, verliert er die Biene während der Verfolgung nur für drei Sekunden aus dem Auge, noch zuletzt, so war die ganze Tagesarbeit vergebens gewesen.

Das ist eine jener Professionen, von denen der anderen Welt noch so gut wie gar nichts bekannt ist, obgleich sie Hunderte und Tausende von Menschen beschäftigen.

Nun, Wichtelmann hatte auf diese Weise vorhin solch eine Bienenjagd abgehalten, daher stammte dieser Honig. Also nicht hier im Walde von Robin Hood, sondern man befand sich ja in Mexiko. Ob er wirklich in Mexiko Bienenjäger gewesen war, oder ob er das gelesen oder ob ihm das ein echter Bienenjäger berichtet hatte — man erfuhr es nicht, wusste es nicht — man glaubte ihm, immer mehr unterlag man der Illusion. Es war eben ein gottbegnadeter Erzähler — und dabei konnte man sich manchmal auch vor Lachen wälzen, wobei das weiche Gras die beste Unterlage abgab.

»Ich schlage vor«, sagte der aus seinem kurzen Pfeifenstummel mächtig qualmende Wichtelmann, »nachdem wir in Mexiko auf arabische Weise Kaffee getrunken haben, begeben wir uns jetzt nach Arabien, um dort auf mexikanische Art Schokolade zu kochen. Die Reise dorthin machen wir aber nicht wie gewöhnliche Menschen über den Atlantischen und die anderen Ozeane, sondern wir machen den kleinen Umweg über das Himalajagebirge.«

Die Siebensachen wurden in einem Ledersack zusammengepackt.

»Ach, hier ist es aber doch so schön!«, sagte Klara. »Können wir uns denn hier nicht baden? Ist das Wasser nicht...«

»Schweig, Squaw, bis dir zu reden von Männern erlaubt wird! Gebadet wird überhaupt nur, wenn ich's befehle — zu Ostern und Michaelis — in Arabien hingegen ist das etwas anderes, da werden wir uns erst einmal nach gute, alter Wüstensitte mit Sand abreiben — damit dann hier das Wasser nicht so schmutzig wird. Hier, Squaw, buckele den Sack auf.«

Aber er nahm ihn doch selbst, verschwand in den Büschen, wohl um die Sachen irgendwo zu verstecken.

»Woher hast du nur das Kostüm?«, fragte Klara unterdessen die Schwester.

Die Sportbluse war von Wichtelmann, die konnte ja auch von einer Dame getragen werden, sah gar nicht so übel aus, und den Rock, auch ganz manierlich, hatte er heute früh in aller Schnelligkeit aus einem Stück besserer Sackleinewand gefertigt.

»Ja, und die — die...«

Klara hatte bei der sitzenden und liegenden Schwester noch ein anderes Kleidungsstück gesehen, das sie gestern bei ihrer Entführung nicht angehabt, und leise kichernd musste Toni gestehen, dass sie auch eine Sportspumphose ihres Gatten trug.

»Wo seid ihr denn nur in der Nacht gewesen?«

»O, wir hatten ein ganz schönes Unterkommen.«

»In jener unterirdischen Höhle?«

»Nein, in der nicht. Viel, viel feiner! Aber wenn euch mein Herr und Gebieter nicht hinführt oder euch doch davon erzählt — ich darf nichts verraten...«

»Ich hab's mir anders überlegt«, erklang da Wichtelmanns Stimme aus einer anderen Richtung, als in der er verschwunden, »wir wollen doch lieber den Wasserweg nach Arabien benutzen. Da kommt zuerst also der Stille Ozean daran, auch der Große genannt oder die Südsee.«

Staunend sahen die Schwestern Wichtelmann in einem kleinen, hübschen Boote angerudert kommen. Auch Toni staunte. Sie schien durchaus noch nicht in alles eingeweiht zu sein.

»Woher hast du denn das Boot?«

»Selber gemacht.«

»Aber das kann doch nicht immer hier liegen bleiben.«

»Nein, natürlich nicht. Das hat seinen versteckten Hafen.«

»Wo ist denn der?«

»Ja, das werde ich dir sagen, damit du einmal mit meiner Kasse nach Amerika durchbrennen kannst.«

Sie stiegen in den Kahn, der sie gerade fasste, und gondelten auf dem Großen Schlangensee herum, der sich jetzt in den Stillen Ozean verwandelt hatte.

»Hat jemand eine Uhr bei sich?«, fragte Wichtelmann nach einer Weile.

Nein, niemand.

»Auch du nicht, Tom?«

»Ich werde mich hüten«, entgegnete Morrus, welche Antwort einem pfiffigen Kopf gleich zu denken geben musste.

Klara war gerade daran, das Schaufelruder handhaben zu dürfen, Toni pflückte... keine englischen Wasserrosen, sondern indische Lotosblumen, mitten aus dem Großen Ozean heraus, als Wichtelmann erklärte, dort der Vorsprung, das sei das Kap Hoorn, jetzt käme man also in den Atlantischen Ozean, der bekanntlich viel mehr Wellenschlag habe als der Indische, ganz besonders hier bei Kap Hoorn sei eine ganz gefährliche Stelle, wo schon mancher Schiffbruch...

Und da lagen sie auch schon alle im Wasser. Man hatte es ja kommen sehen. Die vorsichtige Frage nach der Uhr wäre gar nicht nötig gewesen.


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Illustration 1910


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Illustration 1924


Das brühwarme, übrigens ziemlich klare Teichwasser, ging selbst dem kleinen Wichtelmann nur bis ans Kinn, aber er rang mächtig mit den häuserhohen Wellen, dabei ein Büchelchen hochhebend.

»Wer nicht schwimmen kann«, rief er prustend, »hier ist noch eine Gelegenheit, dem Ertrinkungstode zu entgehen — Haumanns Leitfaden des praktischen Schwimmunterrichts, oder wie man in vier Lektionen ein perfekter Schwimmer wird — Preis nur einen Silbergroschen!!«

Ja, die beiden Schwestern hätten den Leitfaden fast auch sehr nötig gehabt, sie konnten vor Lachen keine Schwimmtempi machen.

Wichtelmann hatte sein Miniaturbüchlein Klara aufgedrängt, diese wollte in komischer Weise zu studieren anfangen.

»Ja, das ist aber doch gar kein Schwimmbuch — Professor Vichellis Klavierschule, oder wie man in acht Tagen ein perfekter Klavierspieler wird.«

»Na, dann lernst du eben einstweilen Pianoforte«, sagte Wichtelmann, legte sich auf den Rücken und strampelte mit den Beinen.

Und so ging es weiter. Ein Witz jagte den anderen, und nicht nur von Wichtelmanns Lippen. Auch Morrus erkannte man gar nicht mehr wieder.

Die leichten Anzüge hinderten nicht gerade beim Schwimmen und Plätschern, aber das Richtige war es doch nicht.

»Hast du nicht auch Badekostüme hier auf Lager?«, meinte Toni.

»Neneneneee, das gibt's nicht, dazu sind wir noch zu jung verheiratet — später einmal, wenn's eine alte Geschichte geworden ist — jetzt würde ich mich noch zu sehr genieren — übermorgen kannst du wieder anfragen.«

Nachdem man sich genügend ausgetollt hatte, trockneten und frisierten sich die Damen etwas die Haare — das war das einzige, was getrocknet wurde — dann ging es per pedes apostolorum durch ganz Nordamerika über die BeringStraße nach Asien hinüber, über das Himalajagebirge und durch Persien nach Arabien hinein.

»Oder ich schlage vor, wir gehen lieber nach der Wüste Sahara, ich hätte gerade Vergnügen an einer Straußenjagd.«

Gut, der kleine sandige Fleck wurde mit einem größeren vertauscht. Als sie das Zentrum der Sahara erreicht hatten, waren die nassen Kleider noch nicht ganz getrocknet. Allerdings hatte man sich in Amerika und Asien auch gar nicht weiter aufgehalten, nur im Himalaja hatte ihnen Wichtelmann einen altindischen Göttertempel mit den kostbarsten Reliquien gezeigt.

Was er ihnen in der kleinen Steinhöhle alles vorgemacht hatte, dabei wollen wir uns nicht aufhalten, nur immer das Hauptsächlichste erwähnen.

»Hier setzen wir uns einstweilen hin, bis... halt, halt, halt, Klara, nicht setzen, nicht dorthin setzen, um Gottes Willen nicht!!«

Erschrocken war Klara wieder aufgesprungen. Sie hatte wirklich schon an afrikanische Schlangen gedacht.

»Hm, das sieht hier recht merkwürdig aus, fast als ob...«

Er scharrte den Sand weg.

»Aaaah! Richtig ein Nest mit Straußeneiern!«

Jawohl, da lagen wohlgeordnet ein Dutzend Eier — allerdings keine Straußeneier, sondern Hühnereier.

»Ja, wie hast du denn... wie kommen denn die Hühnereier hierher?!«, rief Toni erstaunt, sich nur in etwas verbessernd. Also auch sie wusste wirklich nichts davon.

»Was? Hühnereier nennst du diese kolossalen Dinger?!«, rief Wichtelmann erbost. »Hier, beguck sie dir nur erst ordentlich!«

Und er reichte seiner Frau ein Vergrößerungsglas, das er in der Westentasche trug. Unter diesem wurden ja nun allerdings Straußeneier daraus.

»Hoffentlich habt ihr doch alle ein Vergrößerungsglas in der Tasche — jeder gebildete Mensch hat ein solches bei sich — und wenn es doch nicht der Fall sein sollte, so bildet ihr euch einfach ein, vom Größenwahn geplagt zu werden. Also, verzehren wir diese Straußeneier.«

»Aber die müssen doch erst gekocht werden, und woher bekommen wir hier in der Sahara das Wasser?«

»Erstens gibt es in der Sahara auch Oasen und isolierte Quellen, von einer solchen sind wir sogar nur sechzig geografische Meilen entfernt — und zweitens sind diese Eier schon gekocht, gebraten, das hat bereits die afrikanische Wüstensonne besorgt, was du blindes Kiekindiewelt natürlich nicht von außen erkennen kannst, während sich der Scharfblick solch eines echten Beduinen, wie ich einer bin, in Derartigem niemals täuscht.«

»So wenig, wie sich Herrn Wichtelmanns Scharfblick jemals täuscht, wenn er für seinen Freund Brautwerber spielt«, musste Toni doch noch einen Trumpf aufsetzen.

Aber Wichtelmann blieb als Beduine die Antwort nicht schuldig.

»Arabigumma el muselmanni salem salami aleikum katasternummerahadderatatschin — das lass dir auf deine vorlaute Bemerkung gesagt sein, Toni, ich will dir diese arabischen Worte lieber nicht übersetzen, du würdest vor berechtigter Scham auf der Stelle hundert Klafter tief in die Erde versinken und aus diesem Loche nicht wieder herauskönnen — und wenn du jetzt überhaupt noch einmal den Mund auftust zu einem anderen Zwecke, als um ein Straußenei hineinzustopfen, dann werde ich, wie es sich für eine sittsame Araberin überhaupt schickt, dein Gesicht verhüllen, aber den Schleier zuvor inwendig mit Pech beschmieren — und dann werde ich ihn auch noch annageln — danach richte dich — selam.«

Ja, die ganz frischen Eier waren durch den afrikanischen Wüstensand schon ganz hart gekocht — oder nein: gerade recht schön pflaumenweich. Wie es nun die Strauße machen, dass ihre Eier in dem heißen Wüstensande nicht hart gekocht werden, nicht einmal pflaumenweich — auf solche kleinliche Erklärungen ließ sich der Beduine Wichtelmann nicht erst ein. Viel wichtiger war, dass er Salz bei sich hatte.

Aber ein großes Rätsel lag hier doch vor. Woher hatte Wichtelmann diese offenbar ganz frisch gekochten Eier bekommen, wann hierher praktiziert?

Gestern war er doch in London gewesen, hatte Hochzeit gehalten — wolle sich der geneigte Leser einmal zu Bewusstsein ziehen, dass die Trauung dieser beiden Paare erst vor vierzehn Stunden erfolgt war, denn jetzt war es erst früh um sieben — da hatte er alles dies noch nicht arrangieren können, und seine Wichtelfrau konnte dann der Schwester im Geheimen nach bestem Gewissen versichern, dass er die ganze Nacht bis heute früh bei ihr gewesen war, immer unter der Erde.

Es gab nur eine einzige Erklärung. Man war doch immer sehr nahe von Ortschaften. Die anderen wussten ja überhaupt gar nicht, wo sie sich befanden. Und Wichtelmann hatte sich während der zwei Stunden zweimal entfernt. Am längsten war er ausgeblieben, als er vorhin sein Boot wieder versteckt und die Damen sich getrocknet und frisiert hatten.

Es konnte nicht anders sein: Während dieser Viertelstunde oder nur zehn Minuten hatte er sich irgendwo in der Nachbarschaft, vielleicht auch aus einem Laden, diese Eier besorgt und hier versteckt, hatte sie fünf Minuten kochen lassen, oder es waren schon gekochte gewesen.

Aber hierüber sollte man gar nicht grübeln. Und dennoch, Morrus konnte es nicht lassen, dieses Thema offen zu berühren, das Gespräch wurde einmal ernst — obgleich es ja immer ernst genommen werden sollte.

»Mister Wichtelmann, Sie haben Ihren Beruf verfehlt. Sie hätten ein Impresario werden sollen — oder sonst so ein Mann, der das Publikum immer mit Überraschungen unterhalten muss — oder ein reisender Fürst, dem alles überall vorbereitet werden muss — Sie sind darin ein gottbegnadetes Genie.«

Auch Wichtelmann nahm diese Zwischenbemerkung sehr ernst auf, ging darauf ein.

»Nein, meinen Beruf habe ich nicht verfehlt — und dennoch — in gewissem Sinne haben Sie recht — aber kein solcher Impresario... nein, aber eine deutsche Ferienkolonie möchte ich einmal hier haben, Jungens, mit ihnen vier Wochen lang hier spielen... das möchte ich. Englische Jungen eignen sich nicht dazu, das kenne ich aus Erfahrung... ein ganz anderer Schlag, ganz anderer Charakter... 's ist merkwürdig, aber 's ist so... mit englischen Jungens lässt sich da gar nichts anfangen, die sind zu praktisch, oder... ich kann den Unterschied nicht recht ausdrücken... aber einmal so eine deutsche Knabenschule hier haben und mit ihnen herumspielen — ja, das möchte ich.«

Allgemeiner Beifall wurde ihm gezollt, besonders von den beiden deutschen Lehrerinnen, und man konnte nur bedauern.

Dieses Thema wäre wohl noch etwas fortgesetzt worden, da brachte Wichtelmann, der bei seinem Sprechen spielend mit der Hand im Sande gewühlt hatte, aus diesem ein Kartenblatt hervor, ganz verblichen, die Farbe eben noch zu erkennen.

Als er es gefunden, machte er ein Gesicht, dass man gleich merkte, jetzt würde wieder etwas kommen.

»Halt! Toni, Klara, Tom... nicht wahr, es ist eine recht kindliche Spielerei, die ich hier treibe?«

»O, Wichtelmann...«

»Nicht?«

»Das gehört gewissermaßen zu deinem Beruf, das ist...«

»Gut! Genug! Das seid ihr. So könnt ihr urteilen, weil ihr mich kennt. Aber die anderen? Was ist das, was ich hier zufällig gefunden habe?«

»Zufällig?«, frage Toni zunächst.

Klara dagegen zuckte plötzlich zusammen und auf.

»Aha, ich weiß... frage mich, frage mich!!«, rief sie hastig.

»Was ist das für ein Ding, das ich hier gefunden habe?«

»Ein Kartenblatt.«

»Ein Kartenblatt? Was ist denn das? Habe noch nie solch ein Ding gesehen, noch nichts davon gehört.«

»Dann lass es dir erklären«, entgegnete Klara, die sich einmal bedeutend intelligenter als die Schwester zeigte. »Dieses viereckige Pappstück gehört zu einem sogenannten Kartenspiel, aus einer gewissen Anzahl solcher Pappstücke bestehend, die in verschiedenen Farben mit verschiedenen Figuren und sonstigen Zeichen bemalt sind. Es setzen sich zwei oder drei oder vier oder noch mehr Menschen — solche andere Menschen meine ich — um einen Tisch herum, die bunten Pappstückchen werden untereinander gemischt und verteilt, und dann — und dann... wird gespielt, je nachdem ausgemacht... der eine gewinnt, der andere verliert...«

»Was gewinnen und verlieren sie denn dabei?«

»Geld, das sie sich gegenseitig abzuluchsen suchen — meistenteils sind's nur wenige Pfennige — oder Groschen...«

Wichtelmann schüttelte verwundert den Kopf, als bekäme er etwas ihm vollständig Neues zu hören.

»Und wie lange spielen sie denn da mit diesen bunten Pappstücken?«

»O, stundenlang, manche Menschen Abend für Abend, die ganze Nacht hindurch können sie sich mit diesen bunten Pappstücken amüsieren, immer nur für Pfennige oder Groschen, die hin und her gehen...«

»Merkwürdig, merkwürdig!«

»O, da gibt es auch noch andere merkwürdige Spiele, mit denen sich die Menschen unterhalten — sie stellen neun Hölzer auf und schieben eine Kugel danach, um sie umzuwerfen, und dann haben sie einen Tisch, da rollen drei Kugeln darauf herum, und das kindliche Spiel besteht darin, dass die eine Kugel die anderen treffen muss, und dann erst das Kindlichste aller kindlichen...«

Wichtelmann streckte gravitätisch beide Arme aus.

»Genug! Der bärtige Laubfrosch spricht: Die weiße Squaw der großen Schlange hat das Gehirn eines Büffels — schade, dass sie keine rote Haut hat — sie kann einen Platz heraufrücken. Der bärtige Laubfrosch hat gesprochen — uff.«

Ja, er hatte gesprochen! Wenn auch mehr mit Klaras Munde.

Wehe dem, der da richtet! Er wird wieder gerichtet werden und keine mildernden Umstände finden.

Wachtelmann, den man längere Zeit nicht gesehen hatte, ohne ihn zu vermissen, kam angesprungen.

»Wo ist denn der gewesen?!«

»Ich hatte ihn vorhin einmal nach Hause geschickt — ob die Post etwas für mich gebracht hat...«

Sein Herr öffnete das Täschchen am Halsband, es enthielt einen Zettel.

»Hört, ich muss einmal nach Hause. Ein eingeschriebener Brief ist für mich da. Mistress Bellair kann zwar in meinem Namen unterschreiben, ihn auch öffnen — aber sie kann ja kein Deutsch lesen, und das ist eben der wunde Punkt bei dieser Postadresse — war es. Ihr braucht nicht hier hocken zu bleiben, übrigens bin ich in zehn Minuten wieder...«

Wichtelmann erhob sich, wechselte den Ton, wurde wieder zum Beduinenscheich, blickte sich gebieterisch um.

»Wo ist mein Ross? Sattelt mir den Sausesturm! Sause, Sausesturm, sause — mit den Schwingen der Morgenröte trage mich über Meer, Gebirg und Tal — ehe die Sonne einhundertundeinundsiebzigmal gesunken ist, musst du mich wieder zurückgebracht haben in deine heimatliche Wüste.«

Und Wichtelmann streichelte und klopfte in der Luft herum, hob den linken Fuß, setzte ihn in den unsichtbaren Steigbügel, warf das rechte Bein mit einem eleganten Schwung über den Pferdeleib, dann tänzelte er, schlenkerte hinten mit den Beinen aus, und dann ging er im Galopp mit der Haltung eines englischen Jockeys ab.

Die Zurückgebliebenen lachten, dass ihnen die Tränen über die Wangen liefen. Er hatte das gar zu possierlich zu imitieren verstanden. Dazu kam nun die kleine Gnomengestalt mit dem mächtigen Barte — es war wirklich von überwältigender Komik gewesen.

Dann unterhielten sie sich weiter über das Thema, welches Wichtelmann angeregt hatte. Toni holte nach, was sie vorhin versäumt hatte. Und die beiden Schwestern hatten auch Schopenhauer gelesen.

Es sei doch einmal zitiert, was dieser Scharfsinnigste aller Menschenbeobachter über das Kartenspiel sagt, wobei man auch erkennt, wie gerecht er urteilen will, er sucht trotz alledem immer nach einem Entschuldigungsgrund — in dem Kapitel ›Von dem, was einer ist‹, aus ›Parerga und Paralipomena‹, 1. Band:(1)


Daher also [nämlich wegen Mangels an eigenen Gedanken] ist, in allen Ländern, die Hauptbeschäftigung aller Gesellschaft das Kartenspiel geworden: es ist der Maaßstab des Werthes derselben und der declarirte Bankrott an allen Gedanken. Weil sie nämlich keine Gedanken auszutauschen haben, tauschen sie Karten aus und suchen einander Gulden abzunehmen. O, klägliches Geschlecht! Um indessen auch hier nicht ungerecht zu seyn, will ich den Gedanken nicht unterdrücken, daß man zur Entschuldigung des Kartenspiels allenfalls anführen könnte, essei eine Vorübung zum Welt- und Geschäftsleben, sofern man dadurch lernt, dievom Zufall unabänderlich gegebenen Umstände (Karten) klug zu benutzen, um daraus was immer angeht zu machen, zu welchem Zwecke man sich denn auch gewöhnt, Contenance zuhalten, indem man zum schlechten Spiel eine heitere Miene aufsetzt. Aber eben deshalb hat andererseits das Kartenspiel einen demoralisirenden Einfluß. Der Geist des Spiels nämlich ist, daß man auf alle Weise, durch jeden Streich und jeden Schlich, dem Andern das Seinige abgewinne. Aber die Gewohnheit, im Spiel so zu verfahren, wurzelt ein, greift über in das praktische Leben, und man kommt allmälig [so geschrieben und nicht ganz sinnlos allmählich, wie es die neue Rechtschreibung verlangt] dahin, in den Angelegenheiten des Mein und Dein es ebenso zu machen und jeden Vortheil, den man ebenin der Hand hält, für erlaubt zu halten, sobald man nur es gesetzlich darf. Belege hierzu giebt ja das bürgerliche Leben täglich.

(1) Anmerkung des Herausgebers: Da Arthur Schopenhauer (1788—1860) stets forderte, dass seine Texte ohne jede Änderung gesetzt und gedruckt werden sollten, wird hier der unveränderte Originaltext wiedergegeben (Aphorismen zur Lebensweisheit, Kapitel II: Von Dem, was Einer ist. In: Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften von Arthur Schopenhauer. Erster Band. Leipzig: F. A. Brockhaus, 4. Aufl. 1877, S. 348f.). Die beiden Anmerkungen Robert Krafts stehen hier in eckigen Klammern.

Nicht lange währte es, so kam Wichtelmann wieder angaloppiert — doch nein, jetzt war er offenbar zu Fuß, rannte wie ein Junge, hatte wohl vergessen, dass er sich hier in der Wüste Sahara befand. Dabei schwang er in seiner Hand ein Papier.

»Hip hip hurra!!«, jubelte der aus der Rolle gefallen Beduinenscheich, der übrigens schon vorhin einmal zum Indianerhäuptling geworden war, schon von Weitem. »Herr August Wichtelmann hat bei dem Preisausschreiben des ›Mädchenhorts‹ den ersten Preis gewonnen — tausend Märkers!!«

Er hatte den Lagerplatz erreicht, das Papier in seiner Hand erwies sich als ein Kuvert mit mehreren Siegeln, aber geöffnet war es schon, und Wichtelmann hatte es so gefasst und schwenkte es dermaßen, dass jetzt einige der sogenannten ›blauen Lappen‹ heraus und durch die Luft flatterten, um sich hier und da in den Sand der Wüste Sahara zu betten.

»Da liegt der Dreck«, sagte Wichtelmann, den schnöden Mammon am Boden wieder zusammensuchend, und die aufgesprungenen Schwestern waren ihm dabei behilflich. Denn Geld ist eben Geld, und wenn es besonders noch Hundertmarkscheine sind, die durch die Luft flatterten und sich am Boden zerstreuen, so ist es doch der erste Gedanke, diese wieder zusammenzusuchen, da wurde jede andere Frage jetzt zunächst zurückgedrängt.

»Hier sind zwei.«

»Hier sind drei.«

»Und ich habe vier. Macht zusammen neun. Und zehn müssen es sein.«

»Es ist noch einer im Kuvert.«

Nein, da war nur noch das Begleitschreiben drin, nichts weiter.

Suchend irrten die Augen über den Boden hin. Auf dem gelbweißen Sande konnte einem doch kein blauer Lappen entgehen, aber da war nichts zu sehen.

»Es waren zehn Stück. Kinder, da hat einer von euch einen gemaust.«

»Wichtelmann!!«, wiesen die Schwestern entrüstet solch einen Verdacht zurück.

»Na, denn verschwinden lassen. Ihr leidet an Kleptomanie. Dreht mal die Taschen um. Macht's Maul auf, ich will neingucken, eure Backentaschen visitieren. Oder ihr seid auch imstande, solch einen Lappen zu verschlucken. Da, die Klara würgt ja noch an dem Bissen.«

Aber die Schwestern versicherten in einer Weise, nicht aus Scherz einen der blauen Lappen beiseite gebracht zu haben, dass es Wichtelmann gleich glaubte.

»Nicht?! Ihr habt wirklich nicht gegaunert? Es waren aber tausend Mark, zehn Hundertmarkscheine. Da muss ich vorhin geradezu einen verloren haben, als ich sie zählte.«

Auch kein anderer Mensch hätte die vorigen Vorwürfe übelgenommen, von den Schwestern gar nicht zu sprechen. Jetzt blieb nur der Schreck, dass ein Hundertmarkschein fehlte. Bei Wichtelmann freilich war absolut nichts von Schreck zu merken.

»Wann hast du sie denn gezählt?«

»Gleich als ich den Brief öffnete — zu Hause — in Gegenwart von Mrs. Bellair. Es waren zehn Stück, ich steckte sie richtig wieder hinein. Allerdings — da fällt mir ein — unterwegs las ich noch einmal den Brief — möglich, dass ich dabei einen herausgerissen habe...«

Da — es war unterdessen ja kaum eine halbe Minute vergangen — kam der noch ausgebliebene Wachtelhund angesprungen, machte vor seinem Herrn ›schön‹ und präsentierte in der Schnauze den noch fehlenden Hundertmarkschein.

»Da ist er ja!«, rief Wichtelmann, gar nicht mit besonderer Freude. »Also ich hatte ihn richtig verloren — hab's mir doch gleich gedacht.«

Die Schwestern waren starr.

»Nein, so etwas! Solch ein Leichtsinn!!«, konnten sie zunächst nur hervorbringen.

Auf die Vermutung, dass Wichtelmann hier wieder etwas inszeniert haben könne, kam keine. Es war auch ganz sicher wirklich nicht so, man kannte dieses Männchen nun doch schon, es wäre gar nicht nötig gewesen, dass Morrus noch eine Erklärung gab.

»Ach, wenn es weiter nichts ist!«, lachte der nach dem Rufe der Schwestern. »Unser Wichtelmann bringt noch etwas ganz anderes fertig, der hat noch etwas ganz anderes verloren!«

»Na, was ist denn da weiter dabei«, verteidigte sich der Angegriffene, sogar etwas gekränkt. »Den Hundertmarkschein hätte doch ein armer Kerl finden können, der ihn gerade recht nötig brauchte — und einen Hundertmarkschein kann doch überhaupt jeder gebrauchen — und überhaupt wenn man zehn solche Lappen hat, kommt's doch auf einen gar nicht drauf an... na, freuen tut's mich ja schließlich doch, dass sie alle zehn wieder hübsch beisammen sind — Wachtelmann, du bist ein patentes Vieh, du sollst dann gleich eine ganze Kette der feinsten Bratwürste bekommen, kannst sie fernerhin um den Hals tragen — nein, Kinder, ich bin wirklich glücklich — tatsächlich effektiv, wie die darin vorkommende humoristische Figur immer sagen muss — beim ›Mädchenhort‹ den ersten Preis gewonnen, juhu!!! — Hier, Klara, meine heißgeliebte Schwägerin, hast du auch zwei solche blaue Lappen — na, nimm nur drei — oder vier.«

»Halt, halt, halt, halt!!!«, schrie aber seine Frau, dem austeilenden Gatten die Scheine schnell wegnehmend. »Nein, nein, mein Wichtelmann, das gibt's nicht — die ist imstande und nimmt's wirklich an.«

Jetzt aber wurde Wichtelmann wirklich ärgerlich, machte wenigstens so ein Gesicht.

»Na, was denn? Wenn's mir Freude macht? Und warum soll ich denn an meiner Freude nicht auch andere teilnehmen lassen? Und ist es nicht deine Schwester? Bleibt's da nicht in der Familie? Na, was habt ihr denn da nur zu lachen?«

Ja, die um ihr Geldgeschenk gekommene Klara lachte wie Morrus aus vollem Halse. Der Grund hierzu lässt sich nicht weiter erklären. Es war eben Wichtelmann, der dies alles hervorbrachte.

Toni hingegen blieb ernst, schüttelte nur immer den Kopf, als sie, die Arme in die Hüfte gestützt, ihren nunmehrigen Ehegatten betrachtete.

»Wichtelmann, o, August Wichtelmann — bei dir ist es aber endlich Zeit gewesen, dass du heiratetest! Und zwar eine Frau, die den Wert des Geldes etwas mehr zu würdigen weiß als du. Nicht wahr, Wichtelmann, die Kasse lässt du mir?«

Der Gemaßregelte schüttelte ebenfalls den Kopf, aber nicht im verneinenden Sinne.

»Ja, ja, o, weiß schon«, gab er zu. »Ich habe etwas, was ihr nicht habt — aber mir geht etwas ab, was sonst jeder vernünftige Mensch besitzt. Ja, es ist wirklich besser, wenn du die Kasse führst, das Geld hat für mich wirklich gar keinen Wert — und trotzdem, dass ich vom ›Mädchenhort‹ den ersten Preis mit tausend Märkers gewonnen habe, das macht mich wirklich glücklich, juhu!!«

Diese Angelegenheit war erledigt. Das mit dem verlorenen und wiedergefundenen Hundertmarkschein und wie Wichtelmann dann das ganze Geld gleich verteilen wollte, war ja nur ein kleines Intermezzo gewesen, aber der Wiedergabe doch wohl wert.

Jetzt stimmten die anderen mit ein in seine Freude, wenn auch nicht gerade so jubelnd, die Mütze in die Luft werfend, und nun wollten die Schwestern doch auch erst das Nähere hören.

»Ganz einfach, vor einem halben Jahre veröffentlichte der ›Mädchenhort‹ ein Preisausschreiben für die besten Romane — erster Preis 1000, zweiter 500 Mark — ich beteilige mich eigentlich prinzipiell nicht an solchen literarischen Wettrennen, denn es ist ein Unfug — ganz abgesehen davon, dass dadurch Federn in Bewegung gesetzt werden, die sonst niemals so etwas schreiben würden, und so entstehen zahllose Romane oder sonstige Sachen mit ein und derselben Tendenz, die dann um jeden Preis verkloppt werden sollen, zur Verzweiflung der unter dieser Manuskriptenflut erstickenden Redakteure und Verleger — es gibt auch noch ein ethisches Moment, um diese literarischen Preisausschreiben zu verurteilen — na, aber ich habe doch einmal mitgemacht, es reizte mich, einmal solch einen simplen Backfischroman zu schreiben — ich hatte auch gerade eine famose Idee dazu — da habe ich in fünf Tagen die 10 000 Zeilen zusammengehauen und richtig den ersten Preis gewonnen.«

Die Schwestern lasen den Begleitbrief. Freudige Mitteilung, dass sein Roman ›Das Pensionatsfräulein‹ von dem seinerzeit bekanntgegebenen Prüfungskomitee so ziemlich einstimmig den ersten Preis erhalten habe, die unterzeichnete Redaktion schätze es sich zur höchsten Ehre und hoffe zuversichtlich, dass Herr Wichtelmann ein ständiger und recht fleißiger Mitarbeiter des ›Mädchenhorts‹ würde, und wenn man jetzt auch überreichlich mit Romanen und Novellen und Miszellen versehen sei, seine Manuskripte würden immer umgehend geprüft und stets bevorzugt werden, statt des beim ›Mädchenhort‹ üblichen Zeilenhonorars von fünf bis acht Pfennigen offeriere man ihm das Maximum von zehn Pfennigen, das man sonst nur ganz exklusiven Literaturgrößen gewähre, zu denen ja aber auch Herr Wichtelmann gehöre.

Nachdem der Brief gegen Ende schon schon immer höflicher geworden war, erstarb die unterzeichnende Dame zuletzt vollends vor Ergebenheit, und es war ein gar hochklingender Adelstitel.

Die Schwestern blickten erst einander und dann etwas unsicher Wichtelmann an. Sie waren beide sehr ernst geworden.

»Da gratuliere ich«, sagte Klara endlich nach längerem Räuspern, während Toni mit ihrem Räuspern noch nicht fertig war. »Ach Gott, was müssen sich da doch andere Menschen plagen! Der ›Mädchenhort‹? Eine Mädchenzeitung?«

»Wie der Name sagt. Für ganz simple Backfische berechnet. Soll etwas ganz Apartes sein, wenn auch nicht gerade für die exklusivsten Kreise.«

»Und dieser Roman erscheint unter deinem Namen?«, konnte auch Toni jetzt herausbringen.

»O nein, wo denkst du hin!«, lachte Wichtelmann.

»Ja, warum denn nicht?«

»Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einmal, meine liebe Wichtelfrau, kannst du auf deinen Wichtelmann gar nicht stolz sein. Ich habe als Schriftsteller meinen Namen verpfuscht. Meine ersten Sachen erschienen, wie ich euch erzählte, in den besten Zeitschriften. Unter meinem ehrlichen Namen. Dann also wandte ich mich wegen des ständigen Brotes dem Kolportageroman zu. Der Verleger kannte mich nun schon aus jenen Zeitschriften, fragte an, ob ich nicht auch diese Romane unter meinem Namen schreiben wolle; er lege großen Wert darauf; wolle dann mit mir gleich Kontrakt für fünf Romane machen, für fünf Jahre Beschäftigung. Ja, warum denn nicht? Ich verstand damals gar nicht, was der Mann eigentlich wollte. Ich kann und muss doch verantworten, was ich schreibe.

Also, diese ersten fünf Volksromane, auch Schundromane genannt, sind unter meinem Namen A. Wichtelmann gegangen. Ich habe mich ihrer durchaus nicht zu schämen. Dabei hatte ich doch viel Zeit, ich schrieb nebenbei noch für Zeitungen und Zeitschriften, bekam immer mehr Routine darin. Gewiss, es würde gern akzeptiert werden. Aber ob ich nicht ein Pseudonym wählen wolle. Warum denn? Nun verstand ich unschuldiger Jüngling wieder das nicht. Und die Herren gaben mir auch keine Aufklärung. Entweder oder. Na, zunächst fügte ich mich immer unbelehrt. Bis mich so eine literarische Agentur aufklärte. Unter ein und demselben Autornamen Schundromane und bessere Bücher und gar für erstklassige Zeitschriften zu schreiben, das ist doch nicht angängig! Den Verlegern wäre es ja natürlich ganz schnuppe, aber das liebe Publikum, wenn das so etwas erfährt...«

Wichtelmann zupfte an seiner Weste und reckte seine kleine Gestalt dann empor.

»Es hat mir damals einen harten Ruck gegeben. Ja, ich habe geheult wie ein Kind. Aber das war auch schnell wieder vorbei. Well, habe ich gesagt, und nicht viel mehr. Aber du, Toni, wenn du wieder von mir geschieden sein willst — Gründe wären vielleicht vorhanden — na, und eine fünfzehnstündige Ehe hat doch schon lange genug...«

Toni ließ ihn nicht weitersprechen, sie warf sich an seinen Hals.

»Wichtelmann, Wichtelmann, was sprichst du da für Narrheiten!«, lachte sie, und nur ein klein wenig war auch ein anderer, zitternder Ton dabei.

»Von da an habe ich in diese Kolportageromane erst recht mein bestes Können hineingelegt, tue es noch jetzt, da ich auch diese nicht mehr unter meinem ehrlichen Namen schreibe. Für die Literatur ist, da solche Volksromane doch nicht durch die Ewigkeit dauern, der Schriftsteller Herr August Wichtelmann einfach mausetot, existiert nicht mehr, hat sogar niemals existiert. Das Pseudonym, unter dem ich für Zeitschriften und Zeitungen sogenannte Familienromane schreibe, kennt ihr ja, habt es schon früher gekannt. In dieser Hinsicht darfst du nun wieder stolz sein auf deinen Mann, Toni, auch wenn man sonst nichts von August Wichtelmann weiß. Da bin ich das vielbesungene, bescheidene Veilchen, das im Verborgenen blüht; die Klatschrose besingt niemand.

Das wäre also der eine Grund, weshalb dieser Jungfernroman nicht unter meinem Namen veröffentlicht werden kann. Sind auch schon viele Jahre verflossen, der Name August Wichtelmann ist immer noch... Hautgoût. Es könnte doch einmal sein — ein böser Zufall... nein, es geht nicht. Nun gibt es aber noch einen anderen Grund zur unfreiwilligen Bescheidenheit, die im Verborgenen blüht. Kinder, der Verleger ist doch in erster Linie Geschäftsmann, danach hat sich der Redakteur zu richten, auch der Schriftsteller muss es. Sonst ist und bleibt er ein dienender Bruder, und kann Zeit seines Lebens an den abgeschriebenen Hungerpfoten saugen. Deshalb braucht er nicht etwa seine Feder zu entwürdigen. Durchaus nicht. Aber da kommen Kniffe und Schliche in Betracht, woran ihr harmlosen Menschlein, die ihr nicht zum lieben Federvieh gehört, ja gar keine Ahnung habt. Denkt doch nur — ›Das Pensionatsfräulein, Roman von August Wichtelmann‹ — seht das im Geiste an erster Stelle in der Propagandanummer eines Unterhaltungsblattes stehen, das ausschließlich für höhere Töchter von acht bis achtzig Jahren bestimmt ist — nein, das geht nicht, das wirkt gleich wie eine kalte Dusche, passt wie die Faust aufs Auge — aber ›Das Pensionatsfräulein, Roman von Lilia von Lilienfeld‹... Kinder, ich bin die Lilia von Lilienfeld.«

Und der bärtige Gnom, der diese letzten Worte gepiepst hatte, steckte verschämt den kleinen Finger in den Mund und machte einen Knicks.

Die drei Zuhörer lachten aus vollem Halse.

»Und was ist nun der Inhalt des Romans, der unter doch jedenfalls vielen Hunderten den ersten Preis davongetragen hat?«, wurde dann weiter gefragt.

»Ja, da werdet ihr euch ebenfalls wundern. Er spielt in einem Mädchenpensionat. Da wäre mir ja freier Spielraum für die tollsten Szenen gegeben, für den tollsten Humor und... für etwas anderes Tolles. Das letztere wage ich gar nicht näher anzudeuten, selbst euch nicht, denen gegenüber ich doch nun etwas freier sein dürfte. Ich bin in gewisser Hinsicht sehr zimperlich. Das kommt bei solch einem Backfischroman ja aber überhaupt gar nicht in Betracht. Bliebe nur noch ein toller Humor, drastische Szenen. Und ich bin ein Humorist durch und durch, ich nehme es mit Mark Twain und mit jedem anderen Humoristen auf, es wäre falsch, wenn ich da bescheiden sein wollte. Aber nicht einmal ein guter Humor, über den unsereiner herzlich lacht, darf in solch einem Backfischroman verwendet werden. Von lustigen Mädchenstreichen gar nicht zu reden. Die Backfische sollen doch zum Idealen erzogen und nicht zum Bösen verleitet werden. Und es ist auch noch etwas anderes dabei, was ich jetzt nicht näher definieren kann. Kurz: nur immer hübsch bei der althergebrachten Methode bleiben. Nur um Gottes willen nichts Neues, nichts Originelles bringen. Der Held ist ein Mann, der natürlich alles kann, selbstverständlich mit einem wunderbaren Schnurrbart, am besten ist er Referendar, auf alle Fälle aber muss er Reserveleutnant sein — und die Heldin ist einfach die verfolgte Unschuld oder sonst ein unschuldig leidender Engel. Entweder ist er reich und sie hat nischt, oder er hat nischt und sie ist reich. Auf alle Fälle sind Papa und Mama partout gegen eine Heirat — am besten ist, wenn zwischen den Elternpaaren seit Jahrhunderten die furchtbarste Todfeindschaft herrscht. Da eines schönen Tages purzelt die Tochter aus der Gondel ins Wasser oder bricht beim Schlittschuhlaufen ein, der Herr Reserveleutnant huppt ihr nach und holt sie raus — ich lasse meinen so nebenbei auch noch ein halbes Dutzend andere Gören herausholen — na, und da bleibt den Eltern doch gar nichts anderes übrig, als gerührt zu sprechen: Kinder, da habt ihr unseren Segen! Und nun geht's im Dauerlauf zum Traualtar, als das einzige Lebensglück und Lebensziel aller Jungfrauen im Alter von acht bis achtzig Jahren.

Seht, das ist der Inhalt aller und sämtlicher Romane, die in Zeitungen und Zeitschriften erscheinen. Das darf ja nicht so buchstäblich genommen werden, der Variationen können zahllose sein, aber das durchklingende Grundthema derselben ist doch immer genau dasselbe. Wer sich dieser kategorischen Vorschrift nicht fügen will, etwas Neues, Originelles schaffen will, dem bleibt nichts anderes übrig, als seine Gedanken in Buchform herauszugeben, hat dann aber auch die sicherste Aussicht, als Schriftsteller zu verhungern. Denn es ist noch kein Prozent der Bücher, die dabei auf ihre Rechnung kommen. Wohl der Verleger, der sich die Herstellungskosten vom Autor bezahlen lässt.

Ich habe ganz genau nach jenem alten Rezepte gearbeitet. Nur immer so blödsinnig wie möglich. Das genügt freilich noch nicht. Man muss die nötigen Ingredienzien ganz genau kennen. Möglichst viel Zuckerwasser und Mondschein in die Bowle hinein — und immer noch mehr Zuckerwasser und Mondschein, es kann gar nicht genug Zuckerwasser und Mondschein sein — und dann die üblichen Gewürze: von bebenden Lippen zitternde Seufzer, von Tränen aufgeweichte Spitzentaschentücher, errötende Augenaufschläge und dergleichen mehr — und die tadellose Bowle ist fertig, die von jedem Backfisch und jeder sonstigen Jungfer mit Wohlbehagen geschlürft wird. Dank dieser meiner Kenntnis des Bowlebrauens je nach Geschmack habe ich vom ›Mädchenhort‹ den ersten Preis gewonnen.

Aber nun kommt, Kinder, mir tut's Maul weh, und hier in der Wüste Sahara wird auch die Sonne zu heiß, wir wollen ein bisschen nach dem Nordpol hinaufspazieren.«

Die sich totlachen wollenden Schwestern hatten aber noch nicht genug gehört, sie wollten noch mehr hinter die Kulissen blicken.

»Darf denn in solch einem Roman auch geküsst werden?«, war die nächstliegende Frauenfrage.

»Geküsst? Ei gewiss! Und das feste! Das heißt: alles mit Unterschied. In den Büchern, soweit sie nicht gerade die moralische Tendenz am Kopfe tragen, darf im Allgemeinen geküsst und geliebt werden, soweit es die Polizei nur irgend erlaubt. Das hängt von dem Urteil des literarischkritisch gebildeten Herrn Polizeiwachtmeisters ab. In den Familienzeitschriften und Zeitungen ist die Grenze schon enger gesteckt, da muss zwischen den sich Küssenden wenigstens eine Barriere sein. Wie durchlässig diese Barriere ist, wie weit ihre Spalten oder Löcher, das hängt nun wieder von der Art des Blattes ab. Bei den katholischen Zeitschriften zum Beispiel darf diese Barriere überhaupt keine Löcher haben, da muss es eine festgeschlossene Bretterwand sein, über die das Liebespaar eben mit den Köpfen gucken und mit den Händen langen kann, um sich beim Wickel zu packen. Aber nicht tiefer. Na, und bei den Zeitschriften, von denen man weiß, dass sie in die richtigen Hände kommen, da darf die Barriere schon ziemlich weite Lücken haben, oben und unten. Nur nicht gleich durchkriechen! Was aber nun so ein Mondscheinblättchen wie den ›Mädchenhort‹ anbetrifft, da muss, sobald es zum Küssen kommt, unbedingt ein Elefant dabei sein.«

»Ein Elefant?«

»Ach so, das wisst ihr nicht. Wir Federvieh haben unsere besonderen technischen Ausdrücke, ein ganzes Wörterbuch, wenn's auch ungeschrieben ist. Da ist ja schon Federvieh. Es sind nämlich meistens Tiernamen. Alle professionellen Schriftsteller, die von ihrer Feder leben, gehören zur Gattung des Federviehs. Der Elefant ist eine Anstandsperson, die dabei sein muss, wenn im Roman ein Männlein und Weiblein sich küssen oder sonst ein Techtelmechtel machen. In Sachen der Liebelei unterscheiden wir Federviehjer übrigens zwischen den Graden Techtel und Mechtel und Techtelmechtel. Es gibt noch Schlimmeres als Techtelmechtel, aber den Ausdruck hierfür kann ich hier nicht wiedergeben, ich würde erröten, dass die Sonne den zwecklosen Konkurrenzkampf aufgeben und für immer erlöschen könnte. Das Harmloseste ist das Mechtel. Da kommt es noch nicht einmal bis zum richtigen Kuss, nur bis zu den gespitzten Lippen mit einigem Zittern der Gliedmaßen. Aber bei solchen Backfischromanen muss auch bei diesen Mechteln schon ein Elefant zugegen sein.

Ei, wir Federviehjer haben gar feine Ausdrücke, um uns kurz zu verständigen! Wisst ihr, was ein Bandwurm ist? Manchmal wird darunter überhaupt ein lehr langer Roman verstanden, so von 100 000 Zeilen. Aber das ist nicht ganz richtig. Es kann auch Bandwürmer von nur 5000 Zeilen Länge geben. Der Bandwurm ist ein Roman, der auf Bestellung oder nach Kontrakt geschrieben wird, und an dem der Autor noch schreibt, während der Anfang schon erscheint. Wenn der Autor inzwischen stirbt oder in die Tobzelle kommt, muss der Roman entweder abgebrochen oder von einem anderen fortgesetzt werden. Das ist ein echter literarischer Bandwurm. Und, ach, was für Bandwürmer werden in die Welt gesetzt! Gerade die vornehmsten Zeitschriften, welche die bekanntesten Autoren haben wollen, die aber nur auf sichere Bestellung schreiben... ich will schweigen.

Kommt, vertauschen wir die Sahara mit dem Nordpol. Hast du die zehn blauen Lappen auch gut eingesteckt, Toni? Dass du sie nicht etwa hier in der Sahara liegen lässt! Mir wenigstens könnte das passieren. Selbsterkenntnis ist der Anfang aller Weisheit. Ja, Toni, du sollst die Kasse bekommen. Meine Hosen hast du ja sowieso schon an.«

* * *

11. Kapitel

Es wurde weitergespielt. Während er nur zu Hause gewesen sein sollte, um den eingeschriebenen Brief zu holen, musste Wichtelmann wohl Zeit gefunden haben, in aller Schnelligkeit noch andere Überraschungen vorzubereiten. Wo man sich befand, wusste der in diesem Walde Unbekannte ja niemals — vielleicht dicht neben der Geschäftsstraße, Wichtelmann war schnell in einige Läden gesprungen, hatte versteckt, was er dann finden lassen wollte.

Die Hauptsache war, dass die Illusion immer vollständig glückte.

Wir erwähnen vor alledem nur noch, dass man auf dem Wege zum Nordpol noch einmal in Norwegen auf den Hummerfang ging, um ein zweites oder richtiger drittes Frühstück zu bekommen.

Wichtelmann griff denn auch wirklich aus einer Pfütze, die er seinen Gästen als norwegisches Fjord zu suggerieren wusste, einen kleinen Krebs heraus, den er sicher erst vor einiger Zeit hineingesetzt hatte, und an diesem kleinen Krebse wiederholte er Christi Wunder mit der Speisung der 5000 Mann.

Einen Topf hatte er sofort zur Hand — freilich woher, das war den Zuschauenden wiederum ein Rätsel — er erklärte, dass er für die Zubereitung von Krebsen und Hummern ein ganz neues, eigenartiges Rezept habe, wobei das Fleisch vor allen Dingen ungemein aufquelle, der ziemlich große Topf ward mit Wasser gefüllt und übers Feuer gestellt, der kleine Krebs hineingetan.

»Aber doch nicht lebendig in kaltem Wasser aufsetzen!«, riefen die Schwestern entsetzt.

»Jawohl, das ist dazu unbedingt nötig.«

Aber es wäre gar nicht nötig gewesen, dass er dabei so pfiffig mit den Augen geblinzelt hätte. Dieser Mensch war doch keiner Tierquälerei fähig.

Und doch, er ließ das Wasser kochen.

»Dann hast du den Krebs vorhin auch gar nicht hineingetan!«, behaupteten die Schwestern.

»Beweist mir mal das Gegenteil. Und hier habt ihr das Resultat.«

Er schüttete das Wasser weg, sagte, der Topf müsse noch etwas erkalten, und als er dann den Deckel abhob, zeigte sich der ganze Topf mit Hummerfleisch gefüllt, mit großen Scheren und Schwänzen und allem, was dazugehört.

Natürlich war das konservierter Büchsenhummer. Aber wie Wichtelmann den in den Topf praktiziert hatte — die anderen konnten es nicht begreifen, die Überraschung war grenzenlos. Er war eben ein unvergleichlicher Taschenspieler, aber in einer originellen Weise, in seinem eigenen Genre, war ein Naturpfeifer seine Tasche, aus der er alles herausholte und wieder verschwinden ließ, war dabei der ganze Wald, die ganze Natur.

Die Schmauserei war wieder beendet, der Weg nach dem Nordpol wurde fortgesetzt.

»Ein Steinpilz!«, rief Klara, ein unansehnliches Exemplar vom Boden lösend.

Dieser Steinpilz musste in Wichtelmanns Kopfe natürlich gleich wieder einen besonderen Gedanken auslösen.

»Wisst, jetzt wollen wir einmal Pilze suchen. Nur Steinpilze, andere gibt es jetzt hier gar nicht — nicht hier in Schweden. Jeder geht für sich, wer die meisten findet. Eine Stunde lang. Jetzt ist es um zehn — um elf treffen wir wieder zusammen. Oder jedes Paar für sich. Wer die wenigsten hat, der muss für jeden fehlenden Steinpilz der anderen Partei einen Penny geben. Ja?«

Während Toni gleich beistimmte, erhob Klara zuerst Widerspruch. Es sah hier gar nicht nach Steinpilzen aus, das war das erste Exemplar gewesen, und Wichtelmann kannte die Flecke, wo sie vielleicht in Masse wuchsen.

Doch dann gab sie schnell nach, zumal sie hörte, dass die Ehepaare zusammengehen sollten, es war doch einmal recht schön, wenn jedes neuvermählte Paar eine Stunde für sich allein verbringen konnte, und das mit dem Strafe bezahlen war ja auch nur Scherz.

»Sucht nur unterholzfreie Waldgegenden auf, die wir bis jetzt vermieden haben, da stehen sie massenhaft.«

»Gut, machen wir. Aber wie finden wir uns wieder zusammen?«

»Das lasst nur meine Sorge sein. Ich habe doch meinen Wachtelhund, der weiß euch gleich zu finden. Also, Punkt elf sind wir wieder bei euch. Wer dann die meisten Pilze hat! Aber nur Steinpilze!«

Sie trennten sich in entgegengesetzte Richtungen.

»Weißt du, wo wir hier sind, Toni!«

Keine Ahnung.

»Na, dann komm! Nun will ich dir zeigen, wo es hier massenhaft Steinpilze gibt.«

Nur wenige Schritte, so lichtete sich der Wald, zwischen den Bäumen tauchten Cottages auf, nach Passieren einer Schlippe befanden sie sich in der Haupt- und Geschäftsstraße von Loughton.

Wichtelmann steuerte einem Gemüseladen zu, in dessen Auslage ein großer Korb mit den schönsten Steinpilzen stand, kaufte fünf Pfund.

»So, wir wären versorgt. Mehr brauchen wir nicht. Wenn die fünf Stück finden, so können sie zufrieden sein. Im Papiersack dürfen wir sie natürlich nicht mitnehmen, du nimmst sie dann in dein aufgerafftes Kleid.«

»Ei, Wichtelmann, Wichtelmann, was bist du für ein Sünder!!«, lachte Toni.

»Na, was denn? I, Ich werde mich doch hüten, in dem Walde nach Steinpilzen herumzukriechen, wo dort gar keine wachsen, und hier liegen sie massenhaft zum Verkaufe! Komm, Toni, jetzt gehen wir ins Public House, trinken ein Glas Portwein und spielen eine Partie Sechsundsechzig.«

Es geschah wirklich. Nur dass sie nicht Karten, sondern im Nebenraum Billard spielten.

Und Toni war die Natur, um den Reiz zu verstehen, der hier vorlag: während die anderen nach nicht vorhandenen Steinpilzen suchten und glaubten, die Gegenpartei täte dasselbe, spielten die hier in einem gemütlichen Public House Billard, die Wette trotzdem schon gewonnen habend.

Das Spiel währte nicht lange.

»Halt, jetzt habe ich noch eine andere Idee, wie wir diese Stunde am nützlichsten verwenden. Am Sonnabendabend hat Morrus von einem Hausierer eine große Melone gekauft, sie war noch nicht ganz reif, er hat sie in eine Kiste mit Stroh gelegt. Komm, wir laufen nach Hause, die essen wir schnell auf.«

Gedacht, getan. Sie begaben sich auf den Weg, die Luck's Cottages waren gar nicht weit.

»Und da habe ich immer noch eine ganz andere Idee«, sagte Wichtelmann, als sie an einem Papiergeschäft vorbeikamen, das, wie häufig, auch einige Spielsachen führte.

Er sprang hinein, kam gleich wieder heraus, verriet noch nichts.

Zum ersten Male betrat Toni das gemeinschaftliche Zimmer der beiden Freunde. Zwei Betten und eine Unmenge Kisten, weiter nichts.

»Da ist schon unsere Hauseinrichtung drin — wenigstens der Dekorationsschmuck, aus allen Ländern zusammengetragen — o, du sollst staunen! Doch lassen wir das jetzt, erst die Melone.«

In einem Koffer, der nichts weiter als Stroh enthielt, lag die große, schöne, kugelrunde Melone, jetzt offenbar reif geworden.

»Gerade weil sie so kugelrund war, kam ich auf den genialen Gedanken. Nun pass auf.«

Wichtelmann hatte in jenem Laden eine Luftballonhülle gekauft, wie es solche in England überall gibt. Man braucht das enge Ende nur über einen Gashahn zu stülpen, die Gummihülle bläst sich auf, der Luftballon ist fertig, die Hülle kann immer wieder benutzt werden.

So tat auch Wichtelmann, der Luftballon, ebenso groß und auch von derselben Farbe wie die Melone, ward statt ihrer in den Koffer getan, der Deckel schnell zugemacht.

»Verstehst du, Toni?«

Und ob Toni verstand! Sie schüttelte sich schon jetzt vor Lachen, wenn

sie sich in ihrer nicht minder lebhaften Phantasie vorstellte, wie Morrus hinaufgeschickt wurde, um seine Melone zu holen, die doch nun reif sein müsse, wie er den Kofferdeckel öffnete und die Melone schwebte zur Decke empor.

»Nein, nein, Mr. Wuuichtelmann!«, sagte auch Mrs. Bellair kopfschüttelnd, beteiligte sich aber ebenfalls ohne Gewissensbisse am Vertilgen der Melone, und selbst das Dienstmädchen musste mithelfen.

So blieb es auch für Toni immer derselbe Reiz, den sie ihrem Manne nachempfand: Morrus und Klara mühten sich im Walde ab, nicht existierende Steinpilze zu finden, während die Gegenpartei hier gemütlich zu Hause saß und der anderen Melone heimlich verspeiste.

»So, nun müssen wir aber zurück, die Stunde ist bald vorbei.«

Sie begaben sich dorthin, wo sie sich getrennt hatten, Toni jetzt die fünf Pfund Pilze im hochgerafften Rock. Nur ein Wort, und der Wachtelhund nahm die Spur der anderen auf.

Es dauerte gar nicht lange, bis Wichtelmann die beiden erblickte. Jedenfalls befanden auch sie sich schon auf dem Rückweg.

Schnell duckte sich Wichtelmann hinter einem Busche.

»Nicht sehen lassen, nicht sehen lassen!«, flüsterte er. »Das gibt immer noch einen anderen Spaß!«

Sie schlichen in einem Halbkreise, bis sie an eine kleine Waldblöße kamen. Die beiden anderen waren immer noch hin und wieder zwischen den Bäumen zu erblicken.

»So, jetzt machen wir immer noch etwas anderes.«

Und Wichtelmann begann, mit einem Stück Holz hier und da ein Loch in den moosigen Boden zu bohren, in jedes einen schönen Steinpilz steckend. Er arbeitete wie eine Ameise, und Toni hatte schnell genug begriffen, was er beabsichtigte, mit unterdrücktem Kichern half sie ihm, den Waldboden mit Steinpilzen zu tapezieren, die im fernen Südwesten Englands, das ein weit wärmeres Klima hat, wenn nicht in Frankreich oder Deutschland gewachsen waren.

Endlich war es genug. Allerdings enthielt der geschürzte Rock noch weit mehr als die Hälfte der Pilze.

»Juhu!!«, schrie dann Wichtelmann, sich sichtbar machend und den anderen winkend. »Die Stunde ist vorbei — schnell, Toni, schnell, hier ist noch einmal ein Fleck — schnell, ehe die kommen!«

Morrus und Klara kamen angelaufen. Letztere trug die Steinpilze in der Hand, die beide während der ganzen Stunde gefunden hatten — nicht fünf, wie Wichtelmann gesagt, sondern nur vier, sodass also nur noch drei hinzugekommen waren, lauter klägliche Exemplare.


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Illustration 1910


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Da sahen sie nun, wie Wichtelmann und Toni in aller Eile die schönsten Steinpilze aus dem Boden herausdrehen.

»Nein, so etwas!«, staunte besonders Klara. »Wir finden alle Viertelstunden einen, und hier stehen sie haufenweise!«

Sie wollte sich an dem Sammeln beteiligen, allein die beiden sorgten dafür, dass sie nur noch einige wenige bekam, und an diesen merkte Klara nicht, dass es nur nachträglich in den Boden gesteckte waren, was ja bei Pilzen auch leicht zu machen ist.

»Na, da könnt ihr ja gut berappen«, meinte dann Wichtelmann. »Also pro Pilz, den wir mehr haben, einen Penny.«

Erst jetzt sah Klara, welche Unmenge Pilze die Schwester in der künstlich hergestellten Schürze hatte.

»Nein, wie ist das nur möglich!«

Sie wühlte zwischen den Pilzen, die ihr Toni stolz mit lachendem Munde und unter dementsprechenden Worten präsentierte, von Intelligenz und Sammelfleiß sprechend, dabei blickte Klara einmal nach dem Gatten — und da sah sie diesen so eigentümlich lächeln.

»Hört, das scheint mir nicht mit rechten... ha, was ist denn das?!«

Sie hatte nämlich zwischen den Pilzen eine Artischocke gefunden.

»Wie kommt denn hier die Artischocke zwischen eure Pilze?«

»Wie waren eben in Italien, da haben wir auch eine Artischocke abgepflückt«, gab Wichtelmann gemütlich zur Antwort.

Toni aber glaubte, dass diese Ausrede nicht genüge.

»Die — die — haben wir vorhin auf dem Wege gefunden.«

»Und hier... was habt ihr denn sonst noch auf dem Wege gefunden?!«

Diesmal aber war Klara vorsichtig, das zwischen den Pilzen Entdeckte in der geschlossenen Hand behalten.

»Was denn?«

»Ja, was denn?! Was habt ihr denn sonst noch gefunden und zwischen die Pilze geworfen?«

»Du meinst wohl den Diamantring? Ja, ich finde immer einmal einen Diamantring oder dergleichen Zeug.«

»Nein, kein Diamantring — sondern eine Kirsche ist's — wo wachsen denn jetzt noch in England Kirschen? Und hier auch noch ein Stück Johannisbrot...«

Es war verraten. Da half nun alles nichts mehr. Toni konnte sich auch vor Lachen nicht mehr halten, sie platzte los, und so erzählte sie, woher die Pilze stammten, und wie sie unterdessen Portwein getrunken und Billard gespielt hatten.

Von der Melone und dem Luftballon erzählte sie freilich nichts, und dementsprechend waren natürlich auch Mistress Bellair und das Dienstmädchen instruiert worden.

»So eine niederträchtige Gesellschaft!«, stellte sich Klara erzürnt. »Wir kriechen eine Stunde lang durch die Büsche...«

»Und klebt euch gegenseitig Fichtennadeln auf den Rücken«, lachte Wichtelmann. »Na, ihr scheint nicht so viel herumgekrochen zu sein und nach Pilzen gespäht zu haben!«

Für das Mittagessen, das zu Hause abgesagt worden war und das wegen des vielen Hummers etwas spät eingenommen wurde, erlegte Wichtelmann einen Bären, der sich dann in der Nähe als ein Karnickel erwies, statt der Därme ein großes Stück Speck im Leibe habend.

Kaninchen in der verschiedensten Zubereitung, steht auf der feinsten französischen Hotelspeisekarte, auch in England ist es ein Volksnahrungsmittel, worüber wir noch ein Wort zu sagen haben werden.

Zunächst sei nur erwähnt, dass das Kaninchen ein weißes, äußerst zartes Fleisch hat, das beste Hühnerfleisch noch übertreffend. Aber es muss gekocht werden, am besten wie Frikassee zubereitet, oder eben nach französischer, raffinierter Kochkunst. Gebraten ist es sehr trocken. Oder es muss tüchtig gespickt werden, in England bratet man es mit einem Stück Speck, das in den Leib eingenäht wird.

Nun, dieses ganz frisch geschossene Karnickel hatte also den Speck schon im Bauche. Oder nein, es war ja ein Bär. Und Wichtelmann, obgleich als Flinte nur einen aufgelesenen Knüppel benutzend, hatte es an nichts fehlen lassen, was zu einer wirklichen Bärenjagd gehört, hatte Bärenspuren entdeckt und sie verfolgt, war in des Bären Höhle gedrungen und hatte zweimal auf ihn geschossen — einmal durchs linke, einmal durchs rechte Auge — war von dem unsterblichen Ungeheuer noch angefallen worden und hatte mit ihm Brust an Brust gerungen, bis er ihm sein Bowiemesser ins Herz gestoßen, bis er endlich den mit Speck ausgelegten KarnickelBär abhäutete und ausweidete, während die Schwestern schon die Steinpilze putzten.

Es lässt sich nicht weiter erzählen. So zum Beispiel nicht, wie sich Wichtelmann von den Squaws seine im Ringkampfe mit dem Bären davongetragenen Wunden verbinden ließ, wie er heldenmütig dabei alle Schmerzen ertrug.

Alles Spielerei, alles Phantasie — aber nun eben wie hervorgebracht! Entweder wollten sich die Schwestern totlachen, oder sie begannen an eine Wirklichkeit zu glauben, unterlagen vollkommen der Suggestion.

Dazwischen aber wusste Wichtelmann auch immer einmal anderes zu erzählen, Belehrendes und doch Interessantes, die Schwestern bekamen vielerlei zu hören, was sie auch noch nicht gewusst hatten.

Wichtelmann erkannte doch einmal an, dass das über dem Feuer schmorende Vieh doch nur ein Karnickel sei, oder fing überhaupt von Kaninchen an, welche in Deutschland als Nahrungsmittel doch noch immer ziemlich verpönt sind. Man findet doch sehr selten Familien, in denen Kaninchen öfter auf den Tisch kommt.

Anders als in England. Hier ist das Kaninchen sogar noch viel, viel mehr Volksnahrung als in Frankreich. Allerdings erst seit einigen Jahren. Und das hat seinen besonderen Grund. Und eben hierüber wusste Wichtelmann etwas höchst Interessantes und Belehrendes mitzuteilen.

Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts stand man in Australien auf dem Punkte, alle und jede Landwirtschaft, das heißt, den Ackerbau, vollständig aufzugeben. Werden nun auch in Australien nicht gerade intensiv Feldprodukte gebaut — am meisten Weizen, Mais, Zuckerrohr und Baumwolle — so hat das doch immerhin etwas zu bedeuten. Australien ist gar groß. Und zum Beispiel von Sydney nach Melbourne fährt man ununterbrochen zwischen wohlbestellten Feldern hin. Und dann der Gemüsebau um die Städtchen herum.

Dies alles wollte man gänzlich aufgeben, Australien hätte nichts weiter mehr als noch Schafwolle hervorgebracht.

Die Ursache zu diesem Entschlusse war die Kaninchenplage. Die Kaninchen sind in Australien nicht einheimisch, kein ähnliches Tier, sie sind erst von Kolonisten eingeführt worden, einige entweichen doch immer einmal, sie verwildern, und allerorts, im Norden wie im Süden wie in den Zentralgegenden, sagten dem europäischen Karnickel der australische Boden und das Klima ausgezeichnet zu.

Die Hauptsache ist, dass das Kaninchen kein Wasser braucht. Die Feuchtigkeit der Pflanzen, mit denen es nicht wählerisch ist, genügt ihm, bis auf die Wüstengegenden findet es in Australien überall etwas zu fressen, kann überall seine Höhlen anlegen.

Kurz, im Laufe der Zeit hatten sich die Kaninchen in ganz Australien ungeheuerlich vermehrt. Und wie schwer dem wilden Karnickel beizukommen ist, das weiß jeder, in dessen Revier sie sich eingenistet haben, nicht von denen zu sprechen, die nur einmal auf die Karnickeljagd gehen. Sie sind unausrottbar.

Was damals allüberall in den australischen Kolonien und ganz besonders in Neusüdwales und in Victoria für eine Karnickelplage gewesen ist, davon vermögen wir uns gar keine Vorstellung zu machen. Einen Begriff bekam man, wenn man eine australische Zeitung las. (Übrigens hochinteressant, solche fremde Zeitungen zu lesen.) Nicht Artikel und Aufsätze über diese Plage — an denen es allerdings auch nicht fehlte — sondern allein hinten der Annoncenteil. Ganze Seiten voll großer und kleiner Annoncen und Reklamen, die Giftpillen und Giftwasser und Fallen und Schlingen und andere Mittel zur Vertilgung der ›rabbits‹ anboten. Am gefürchtetsten scheint der ›Torpedobohrer' gewesen zu sein. Was das alles aber nützte, zeigt am besten, dass selbst kluge Männer und Frauen ihre Dienste anboten, um die Karnickel zu versprechen, sie waren bereit, auf Kosten des Gepeinigten Hunderte von Meilen zu reisen, und wenn erst wegen so etwas Zauberei begehrt wird, dann muss es schon sehr bös sein.

Aber die Karnickel kümmerten sich so wenig um alle Teufelsbeschwörung wie um Gift und Torpedobohrer. Sie vermehrten sich lustig weiter, machten zuletzt sogar mitten in Sydney alle Gartenkultur unmöglich, nachdem sie draußen in den Feldern schon alles kahlgefressen hatten.

Also, man beschloss, allen Feldbau überhaupt gleich ganz aufzugeben. Weil, draußen die Schafe hatten ja noch genug, das war wieder etwas anderes.

Da machte im Parlament von Neusüdwales ein Abgeordneter den Vorschlag, den er aber auch erst von einem anderen unterbreitet bekommen hatte.

Es sollten überall, wo es passe, kleine Kochereien angelegt werden, man müsse die frischgetöteten Kaninchen — natürlich nicht vergiftete — gleich in Büchsen einkochen, präservieren. Die Farmer müssten dazu angelernt werden. Diese Präservedosen sollten dann ins Ausland versandt werden, wenigstens nach England. Er, der Vortragende, kalkuliere, dass in kürzester Zeit die Kaninchenplage beseitigt sei, wenn sie sich nicht in einen Segen verwandle. Vielleicht würde man sich bald nach der alten Karnickelplage zurücksehnen.

Und dieser Mann sollte sich nicht verkalkuliert haben. Es ist wirklich alles so gekommen.

Eine ganz einfache Idee, nicht wahr? Ja, es ist eben immer die alte Geschichte mit dem Ei des Kolumbus.

Kaninchen waren in Australien ja schon immer gegessen worden. Aber man kann doch nicht jeden Tag Karnickel essen und wenn es auch ganz Australien getan hätte, die Karnickel hätten dennoch die Menschen aufgefressen. Auch an Export auf Eis hatte man schon gedacht. Aber da können doch immer nur ganz frisch getötete Tiere in Betracht kommen, und Australien ist gar groß. Also hätte das auch gegolten, wenn die Kaninchen in großen Fabriken durch Kochen präserviert werden sollten.

Jetzt aber war es etwas ganz anderes. Jeder einzelne Farmer erhielt gegen billiges Geld auf Kredit zurechtgeschnittenes Blech — wegen des Transportes nicht schon fertige Büchsen — herumziehende Lehrmeister zeigten, wie man die Teile zu Büchsen zusammenlötet, wie man das Karnickel kocht und konserviert, die Büchse luftdicht schließt.

Die verzweifelten, wenn nicht schon bankrotten Farmer ergriffen mit Freuden diese letzte Gelegenheit, sich über Wasser zu halten. Und wenn man die Jagd gut bezahlt bekommt, dann ist das doch etwas ganz anderes. Da lohnt es sich auch, möglichst viele Tagediebe zu engagieren.

Kurz, da man in England willige Abnehmer für die präservierten Kaninchen fand, war fast innerhalb eines Jahres die ganze Plage beseitigt. Wer damals in Australien weniger als dreißig Schilling die Woche verdiente, ging lieber auf die Kaninchenjagd. Da verdiente er mehr, und da fleckte es natürlich.

Kaninchen gibt es ja in Australien noch überall, sie sind eben unausrottbar, aber sie sind keine Plage mehr, der Ackerbau ist wieder möglich, und dann hat man auch noch direkten Nutzen von ihnen. Denn noch immer gehen die Präservedosen, jede ein ganzes Kaninchen enthaltend, wenn auch zerkleinert, schiffsladungsweise nach England.

Damals im Anfange kostete solch eine Dose, zwei Pfund wirklich delikates Fleisch enthaltend, zweiunddreißig Pfennig, jetzt noch immer nicht ganz fünfzig Pfennig. Das frische Kaninchen spielt die Rolle unseres in England sehr seltenen Hasen.

Der Kernpunkt der ganzen Sache aber, wie Wichtelmann auch betonte, ist der, wie hier wieder einmal gezeigt worden ist, wie menschliche Intelligenz jeden Fluch in Segen verwandeln kann. Oder mindestens kann man doch auch aus jeder übelriechenden Blume guten Honig ziehen. Die Gartenquecke ist ein lästiges, fast unausrottbares Unkraut. Sofort aber, wenn man ihre langstöckigen Wurzeln zu verwenden wüsste, etwa zur Spiritusbrennerei, würde man sie kultivieren und ihre Wurzeln noch länger zu machen suchen. Wo Gänse umsichtig gezüchtet werden, da sorgt man für Kalkschutthaufen, auf denen Brennnesseln gedeihen können. Und so fort.

Von Quecken und Gänsen fing Wichtelmann nicht an, wohl aber von Maikäfern, und er hatte recht.

Man findet in Deutschland hin und wieder einen Menschen, der in der Saison Maikäfer sammelt, um von ihnen Suppe zu kochen oder sie geröstet zu verzehren, oder es gibt sogar ›Barbaren‹, welche den gefangenen Käfer gleich so aussaugen.

Wer das nicht glaubt, lese in ›Brehms Tierleben‹ nach, wo angeführt ist, dass sich aus Maikäfern eine vortreffliche Kraftsuppe herstellen lässt, besonders Rekonvaleszenten sehr zu empfehlen.

Und was ist denn da weiter dabei? Abgesehen davon, dass fast alle Negervölker geröstete Heuschrecken und Termiten essen, an welch letzteren aber auch vielfach Europäer Wohlgeschmack finden — essen wir denn nicht auch Muscheln aller Art, womöglich roh, Weinbergschnecken und dergleichen?

Und jene kleine Krabbe, die selten jemand verschmäht, die Garnele, an der deutschen Nordseeküste Granat genannt, in England Shrimp, in Frankreich Crevette — ist das denn etwas anderes als ein Insekt? Der Unterschied zwischen Krustentier und Insekt ist doch nur ein wissenschaftlicher.

Und so viel steht fest: Der sich fast ausschließlich von Aas nährende Krebs ist ein viel ekelhafterer Fraß als der nur reines Laub verzehrende Maikäfer.

Und wenn es gelänge, den Maikäfer, der weniger an sich als durch seine Larve, den Engerling, untaxierbaren Schaden anrichtet, als gesuchtes Nahrungsmittel einzuführen, es wäre ein großer Segen.

Aber wir sind Sklaven unserer Einbildung, noch mehr der Tradition.

»Wir aber«, schloss Wichtelmann seinen langen Sermon, »werden uns in der nächsten Saison ganz der Maikäferjagd hingeben. Was wir nicht gleich frisch verzehren können, wird eingesalzen, gepökelt und geräuchert. Ihr müsst nur erst einmal kennen lernen, was eine Schüssel Maikäferklein mit Reis zu bedeuten hat. Oder Maikäfereisbeine mit Sauerkraut, Erbsensuppe mit Maikäferohren — auch Maikäfermaulsalat ist nicht zu verachten. Jetzt aber will ich euch zunächst zeigen, wie man Steinpilze richtig schmort. Nämlich im eigenen Fett. Denn auch Pilze haben Fett. Man muss es nur herauszulocken wissen. Pfeifen hilft dabei freilich nichts.«

Da er nun das Wort ›Pfeifen‹ benutzt hatte und früher das Wort ›Krebs‹, verband er beide gleich zu einem Witz. Denn Wichtelmann war mit Witzen und Anekdoten angefüllt wie das Ei mit Dotter. Es war gerade kein neuer Witz, den er jetzt wieder zum Besten gab, aber die Schwestern hatten ihn noch nicht gehört.

Ein Herr geht mit einem großen Hunde auf den Markt. Tyras beschnüffelt am Stande einer Fischfrau einen großen Hummer, dieser will sich die Anriecherei nicht gefallen lassen, kneift mit seiner Schere das Riechorgan des Hundes zusammen, und Tyras hinwieder kneift nun seinen Schwanz zwischen die Beine und läuft, was er laufen kann, den großen Hummer an der Nase baumeln habend.

»Mein Hummer!!«, schreit das Fischweib. »Pfeifen Sie Ihrem Hunde, pfeifen Sie doch nur Ihrem Hunde!!«

Aber der Herr hat es mit der Pfeiferei nicht so eilig.

»Was geht Sie denn mein Tyras an«, entgegnet er, »pfeifen Sie doch Ihrem Hummer!«

Es gab wohl kein Wort, das den kleinen Erdgeist, wenn er nur wollte, nicht gleich auf einen neuen Einfall gebracht hätte. Ja, es waren manchmal fürchterliche, haarsträubende Witze, die er riss — nur obszön wurde er nicht, nicht einmal pikant.

Kaum war der Karnickelbärenschmaus beendet, Wichtelmann kaute noch am letzten Bissen, als er gleich seinen kurzen Meerschaumstummel zwischen die Zähne steckte. Ohne qualmende Pfeife sah man ihn überhaupt selten.

»Wichtelmann, wenn du nur dieses schreckliche Rauchen lassen wolltest!«, sagte seine Wichtelfrau.

»Toni, lass dir erzählen, eine gar rührende Geschichte. Als Matrose hatte ich mir, wie es kaum anders sein konnte, das Tabakkauen angewöhnt. Rauchen tat ich damals nicht, priemen desto mehr — fürchterlich — immer beide Backentaschen voll. Als ich nun in kultiviertere Verhältnisse kam, wurde ich mir dieser Untugend bewusst. Wie sie mir abgewöhnen? Einfach durch Angewöhnen des Rauchens. Also ich griff zur Pfeife. Aber es dauerte gar nicht lange, da hatte ich den Kautabak doch wieder in den Backentaschen und noch zwischen den Zähnen die Pfeife. Da gab mir jemand den Rat, ich sollte den Tabakspriem durch eine gebackene Pflaume ersetzen — ein probates Mittel. Gut, ich legte mir gebackene Pflaumen zu. Jedoch dauerte es wiederum gar nicht lange, so hatte ich in der linken Backentasche eine gebackene Pflaume, in der rechten Backentasche einen Tabakskloß und in der Mitte zwischen den Zähnen die qualmende Pfeife. Bis ich endlich meine Schwäche erkannte, mich schämte. August, sagte ich mir, sei nicht nur ein Wichtel, sondern auch ein Mann. Zuerst gab ich mannhaft die gebackene Pflaume auf. Das fiel mir — offen gestanden — auch am leichtesten. Dann nahm ich die Pfeife aus den Zähnen. Dann den Kautabak aus dem Munde, steckte dafür aber wieder die Pfeife zwischen die Zähne... sprich, Toni, soll ich nun die Pfeife durch den Kautabak ersetzen und schließlich gar bis zur gebackenen Pflaume herabsinken? Oder soll ich der Abwechslung halber zur Morphiumspritze greifen?«

»Nein, nein, dann bleibe nur bei deiner Pfeife«, lachte Toni. — —

So verging der Nachmittag. Klara begann doch daran zu zweifeln, dass sie dieses Spielens jemals überdrüssig werden könnte. Denn Wichtelmann war an Überraschungen einfach unerschöpflich, desgleichen im Erzählen, im Witze wie im Ernst, und nie wiederholte er sich.

Er musste ja auch noch viel in Bereitschaft haben, er war noch gar nicht dazu gekommen, ihnen seine anderen unterirdischen Wohnungen zu zeigen, seine Werkstatt, da gab es noch zu viel anderes.

Gegen Abend begann es zu regnen, und Wichtelmann selbst schlug vor, das Weltreisen aufzugeben, einmal wieder die heimatlichen Penaten aufzusuchen.

Zu Hause führte er noch einen Trick aus, der alles bisher Gebotene übertraf — unbegreiflich, schier übernatürlich.

Wichtelmann marschierte voraus, nahm den Weg durch den Garten seines Hauses — welches er wenigstens schon das seine nannte — führte die Gesellschaft durch den Korridor, öffnete die Tür des Parlours, der sich den Hineinblickenden in seiner ganzen schamlosen Nacktheit präsentierte.

»Ja, Wichtelfrau, wie denkst du es dir mit unserer Wohnungseinrichtung?«

»Ja, Wichtelmann, das möchte ich dich lieber fragen.«

»Na, wollen einmal sehen. Bleibt einmal hier draußen stehen, nur ein paar Minuten. Und dass ihr nicht draußen durchs Fenster blickt. Hier auf dem Korridor bleibt ihr stehen.«

Er ging in den Parlour, schloss die Tür. Man hörte ein leises Klappern.

»Was hat der nur vor?«,

Man wusste es nicht.

Fünf Minuten waren sicher noch nicht vergangen, als Wichtelmann wieder die Tür weit öffnete, und... die Hineinblickenden waren starr vor Staunen.

Der Parlour war plötzlich vollkommen möbliert. Allerdings sehr einseitig. In eleganter Nonchalance standen da ein großer Tisch und zwei kleinere, mit schönen Decken belegt, sechs einfache und dennoch zierliche Stühle, fein poliert, und dann noch ein ziemlich umfangreicher Kleiderschrank.

Weiter nichts. Aber wenn man das Zimmer soeben noch vollständig nackt gesehen hatte, so konnte man jetzt von einem ›vollständigen Meublement‹ sprechen. Der Unterschied, die Überraschung war eine grenzenlose.

Woher hatte das Wichtelmann bekommen? Nun war da allerdings schon ein eingemauerter Schrank vorhanden, aber dass er in diesem die vielen Sachen verborgen gehabt hätte, das war ganz ausgeschlossen, auf solch einen sinnlosen Gedanken kam gar niemand. Desgleichen nicht, dass sie draußen im Vorgarten gestanden hätten und von Wichtelmann durchs Fenster hereingeholt worden wären.

Kurz und gut, die drei waren wirklich starr vor Staunen, ganz fassungslos.

»Das ist wahrhaftig Zauberei!«

»Geht noch einmal hinaus!«

Wieder nach kaum fünf Minuten durften sie abermals eintreten. Alles wieder verschwunden.

»Ihr denkt durchs Fenster? Wo steht denn draußen etwas? Im Wandschrank? Der ist leer. Hohle Dielen? Reißt doch das ganze Haus ab. Oder dann könnt ihr doch auch lieber an Gespenster glauben.«

»Ja, war denn das nur eine Illusion, eine Sinnestäuschung, durch Spiegel hervorgebracht? Oder sind wir hypnotisiert?«, fing denn Klara auch richtig an.

»Jawohl, jetzt hast du's erfasst!«, lachte Wichtelmann. »Hier, das ist die ganze Hypnotik.«

Das Geheimnis stak wirklich in dem eingemauerten Schranke. Er brachte aus diesem, allerdings unter gewaltiger Kraftanstrengung, einen Holzkasten zum Vorschein, den man beim flüchtigen Hineinblicken leicht übersehen konnte, 40 Zentimeter im Kubik haltend.

Dieser kleine Kasten, also 40 Zentimeter hoch, 40 breit und 40 lang, enthielt die sämtlichen Möbel.

Da muss zunächst etwas bemerkt werden. Es dürfte bekannt sein — oder auch nicht so allgemein, leider nicht — wie leicht man sich täuschen lässt, wenn es sich um Kubik handelt. So lassen sich im täglichen Einkauf die Hausfrauen fortwährend beim Einkauf der Eier täuschen. Wie erstaunt würde die Hausfrau sein, wenn sie immer die einzelnen Eier wöge. Das Durchschnittsgewicht eines Hühnereies ist 55 Gramm — ein nur ein klein wenig größeres wiegt schon 20 Gramm mehr.

Oder ein anderes ausgerechnetes Beispiel: alle Häuser Berlins lassen sich fein säuberlich in einer Kiste verpacken, die tausend Meter im Kubik groß ist. Nicht etwa nur die Steine, die auseinandergenommenen Häuser, sondern so, wie sie sind, Kirchen und Paläste und alles. Wer es nicht glaubt, probiere es. Dann wird immer noch Platz für ein paar andere Städtchen bleiben.

Das regelrechte Kubikmaß täuscht kolossal. Ein Kubikmeter fasst zehn Hektoliterfässer.

In dieser doch nur kleinen Kiste, 40 Zentimeter im Kubik, waren der Schrank, sechs Stühle und sechs Tische vorhanden, von denen vier einen großen bildeten. Allerdings dementsprechend auseinandergenommen, gearbeitet, lückenlos zusammengepasst.

Jede der Platten, aus bestem Eichenholz, war sechs Millimeter stark, was vollkommen genügte. Stühle und Tische brauchten zusammen zwölf Platten, welche zusammen eine Dicke von noch nicht siebeneinhalb Zentimeter ergaben. Blieben noch rund zweiunddreißig Zentimeter Höhe übrig für die Platten, aus denen der Schrank zusammengesetzt wurde, und für die Stuhlbeine, von denen zwei zusammengeschraubt ein Tischbein ergaben, für Stuhllehnen und Querleisten. Und dann war immer noch Platz für die zusammengelegten Decken, für Bänder und Scharniere.

Wichtelmann zeigte, wie alles zusammengesetzt wurde. Es ging sozusagen im Handumdrehen. Mit einer Umdrehung war jedes Stuhl- und Tischbein eingeschraubt, der Schrank im Nu zusammengefalzt. Lehnen und Leisten brauchten nur gesteckt zu werden. Nur die Teile, welche geschraubt wurden, waren aus Metall, also auch die Öffnungen mit dem Gewinde in den Stuhl- und Tischplatten.

Alles selbst gemacht, erklärte Wichtelmann, mit Ausnahme der Metallteile. Sonst alles selbst gesägt und gehobelt und zusammengepasst und poliert, in seiner unterirdischen Werkstatt. Aber auch Mistress Bellair hatte gar nichts davon gewusst, dass er diese Kiste schon immer drüben in seinem Zimmer stehen gehabt hatte. Vorhin hatte er sie heimlich herüberpraktiziert. Der Zweck dieser Einrichtung war ursprünglich gewesen, sie mit auf seine Reisen zu nehmen, um überall, wo er sich niederließ, seine eigenen Möbel zu haben. Der praktische Vorteil liegt auf der Hand. Wenn der Block auch anderthalb Zentner wog, so ist das doch etwas ganz anderes, als wenn man so viel Tische und Stühle mit sich schleppt, und nun gar bei Schiffsverfrachtung wird der Preis überhaupt nur nach den Größenverhältnissen berechnet. Da wird jede Kistenleiste mitgemessen.

Ja, diesmal war Wichtelmann auf das, was er da zeigte, wirklich stolz, konnte es auch sein.

Aber was er dann noch experimentierte, auf das konnte er weniger stolz sein.

Dieser Tag, oder diese erste Periode der Neuvermählung, sollte noch ein recht tragisches Ende nehmen — oder doch ein tragischkomisches. Ob mehr tragisch oder mehr komisch, das sei dem Urteil des Lesers überlassen.

»Auch ein Bett mache ich, das man in die Westentasche stecken kann. Das ist aber noch nicht ganz fertig. Für heute werde ich ein anderes zimmern.«

Hiermit hatte Wichtelmann schon stark angedeutet, dass er nicht gewillt sei, diese Nacht wieder mit seiner jungen Frau in einer seiner unterirdischen Höhlen zu kampieren. Es regnete stark, da mochten doch einige Nachteile dabei sein.

Als sie drüben im DiningRoom noch beim Abendessen saßen — auch die Luftballonmelone war noch nicht darangekommen, welche Szene wir überhaupt nicht zu schildern brauchen — stand Wichtelmann, nach der Uhr blickend, schnell auf.

»Jetzt muss ich erst einmal gehen, die Geschäfte schließen bald.«

»Wohin denn?«

»Nun, unser Bett holen.«

»Unser Bett?«

Wichtelmann ließ sich auf keine weiteren Erklärungen ein, eilte davon, kehrte bald mit einem kleinen Handwagen zurück, der hochbeladen mit leeren Apfelsinenkisten war, wie man sie in England überall zum Preise von Brennholz zu kaufen bekommt, wenn sie die Kunden nicht gleich geschenkt erhalten. Denn die Kisten sind kaum zu etwas anderem zu verwerten, weil sie nicht geschlossen sind, die Bretter haben überall Lücken. Diese einzelnen Bretter kann man ja sonst manchmal ganz gut brauchen.

Und Wichtelmann wusste sie zu verwenden. Aus seinem Zimmer holte er Hammer, Zange, Fuchsschwanz und einiges anderes Werkzeug, und drüben im großen Schlafzimmer seines eigenen Hauses zeigte er im Scheine einer Küchenlampe den ihm Zusehenden, wie man aus solchen Apfelsinenkisten oder vielmehr aus deren Brettern eine solide Bettstelle verfertigen kann.

Ja, die Schwestern staunten. Es war auch wirklich fabelhaft, wie das kleine Männchen, dessen Lebensberuf doch in rein geistiger Arbeit bestand, mit dem Handwerkszeug umzugehen wusste. Wie der hämmerte und sägte, keinen Griff umsonst tuend, wie dem alles wie durch Zauberei unter den Händen hervorging. Zu beschreiben ist ja so etwas sonst nicht weiter. Aber zwischen Handarbeit und Handarbeit ist eben ein gewaltiger Unterschied.

Und noch einmal: So etwas lässt sich nicht beschreiben. In Wildnisse muss man gehen, in Urwälder, Prärien und Wüsten, wo die Wanderlager der Ingenieure stehen, welche als Pioniere der Zivilisation für den zukünftigen Eisenbahn- und Brückenbau nivellieren, da sieht man manchmal solche Männer, für deren Handfertigkeit es einfach nichts Unmögliches gibt. Das sind die Genies der Handwerkerzunft, in ihrem Fache echte Genies wie ein Raphael oder Mozart, die zu solchen Expeditionen angeworben und schwer bezahlt werden. Sehr oft aber sind es die höchsten Ingenieure selbst, in deren Hand sich ein einfaches Stück Eisen in ein Universalwerkzeug verwandelt, mit dem sie wirklich Zauberei treiben. Eben durch dieses ihr Genie sind sie zu ihrem Berufe geführt worden, der abseits aller Landstraßen liegt. Aber es gibt auch genug Stubengelehrte, Professoren, besonders unter den Physikern, die in technischer Handfertigkeit alles in den Schatten stellen, was ein Mensch, der so etwas noch nicht gesehen hat, nur erträumen kann.

In noch nicht einer halben Stunde war die große Bettstelle fertig. Gewiss, sie war nur aus kleinen, schmalen, rohen Brettern zusammengenagelt. Aber nun eben das Wie!

Toni vergaß, um was es sich eigentlich handelte, sie war ganz entzückt.

»Da schlafen wir diese Nacht drin? Natürlich, die behalten wir, die behalten wir, mit der lässt sich doch gar keine andere vergleichen, und wenn die hundert Taler kostet und vergoldet ist!«

»Ja, das ist das Fabelhafteste, was ich je gesehen habe!«, bestätigte Klara. »Warum hast du uns nur nicht schon eher so etwas vorgemacht?«

Wir wollen uns bei dieser Verwunderung nicht länger aufhalten. Wichtelmann war noch einmal im Walde gewesen und mit einem mächtigen Fuder Heu zurückgekommen, das er irgendwo gestohlen hatte — oder vielleicht auch gekauft — das selbstgebaute Hochzeitsbett war fertig.

Denn wenn die beiden gestern Indianer gespielt hatten, so sollte das doch heute erst die richtige Hochzeitsnacht werden, die sie als zivilisierte Menschen feierten — was man so zivilisiert nennt — dieses aus Apfelsinenkistenbrettern zusammengenagelte Bett mit dem doch eher gemausten als gekauften Heu war ja auch nicht so zivilisiert zu nennen.

Der Abend wurde drüben im DiningRoom in fröhlicher Laune verbracht, dann zogen sich die Paare zurück.

Im Laufe des Tages hatte Mrs. Bellair umgeräumt, jetzt stand dem neuen Hausherrn das große Schlafzimmer zur Verfügung, sodass die beiden Paare also nur durch die Brandmauer getrennt waren.

»Morgen früh breche ich durch!«, hatte Wichtelmann zum Abschied gerufen.

Er sollte noch früher durchbrechen.

Es mochte noch vor Mitternacht sein, als das Ehepaar in dem ersten Cottage jäh aus dem Schlafe schreckte.

Drüben hatte es einen gewaltigen Krach gegeben.

Darauf hörte man — die Brandmauer war nur dünn — ein vorsichtiges Hämmern.

Dann wurde es wieder still.

Da abermals ein Krach.

Und wieder ein Hämmern, diesmal energischer.

Wieder Stille.

Kladderadatsch — ein dritter Krach!

Da konnte sich Klara denn doch nicht mehr bezähmen, sie musste einmal gegen die Wand pochen.

»Wichtelmann, Toni — ihr seid wohl schon beim Durchbrechen? Ich denke, ihr wolltet erst morgen früh anfangen?«

Die Antwort blieb aus. Sie genierten sich doch etwas. Es ward auch nicht von neuem genagelt. Aller guten Dinge sind drei. Sie blieben lieber gleich auf dem Boden liegen.

Am Morgen in aller Frühe hörte Klara wieder ein Hämmern, das aber aus dem Garten kam, und als ans Fenster schlich, sah sie Wichtelmann in seinem Garten Kistenbretter zerhacken.

Und dann kochte seine Wichtelfrau im neuen Ehestande mit ihrem genialen Hochzeitsbett den ersten Kaffee.

* * *

12. Kapitel

Die anderen Tage dieser Woche vergingen wie der erste. Am Montag früh nahm Morrus Abschied von seiner jungen Frau. Er ward durchaus nicht schwer.

»Wenn ich dir nun etwas Wichtiges mitzuteilen habe, wohin soll ich schreiben?«

»Mrs. Bellair weiß es.«

»Ach, wie ich mich auf den Sonnabend freue, wenn du wiederkommst! Aber auch auf meine Arbeit.«

Sie sprach die Wahrheit. Ja, ihr war die Trennung sehr lieb, weil sie nun ernstlich an ihre Arbeit gehen konnte.

Es war auch schon etwas anderes dabei.

Kein Mensch hätte etwas erkennen können, dass nun Wichtelmann mit der vielen Gesellschaft nicht mehr ganz zufrieden war. Er wollte allein sein — oder doch nur mit seiner Frau zusammen, um ihr zu diktieren, seine Arbeit zu besprechen.

Nein, davon war absolut nichts zu bemerken. Nur der feine Instinkt des echten Weibes, das nur für andere lebt, fühlte es heraus.

Jetzt war es gut. Das neue Leben begann, und sie waren wiederum glücklich dabei — vielleicht glücklicher als zuvor, mindestens befriedigter.

Von Wichtelmann bekam seine Frau — aber auch Klara — wieder etwas Neues zu erfahren, wovon sie sich ebenfalls nichts hatten träumen lassen.

Die Mädchenkammer in der ersten Etage wandelte er noch nicht in einen Fischteich um, in dem er dem Angelsport nachgehen konnte, sondern er hatte darin eine Hobelbank aufgestellt, die er auseinandergenommen nach und nach aus dem Walde hervorgebracht hatte, da hobelte und nagelte und leimte er, denn jetzt begann er wirklich, Möbel zu bauen, die aber ganz anders werden würden als die Hochzeitsbettstelle, und dazu fluchte er und weinte und schimpfte und lachte wie ein Wahnsinniger, bis er in Schweiß ganz gebadet war, vor Erschöpfung wirklich zusammenbrach, und das nicht etwa in Folge der körperlichen Arbeit, sondern vor seelischer Anstrengung.

Er diktierte nämlich seiner stenografierenden Frau, und er erlebte alles mit. Bei den Zeitungsromanen ging es im Großen und Ganzen friedlich zu, da säuselte er so hin, lachte einmal, weinte öfters — dann säuselte er wieder eine halbe Stunde lang, während er schon die Beine des zukünftigen Sofas bearbeitete, sie ohne Drehbank kunstgerecht drehte, nur mit der Raspel.

Aber bei den Kolportageromanen, da ging es in der Tischlerwerkstatt nun freilich manchmal hanebüchen zu.

Toni mochte sich schnell daran gewöhnt haben, Klara musste sich erst einmal besehen, was da drüben eigentlich los sei — wenn sie auch schon wusste, wie dieser Dichter arbeitete, alles in seiner Phantasie miterlebte.

Ach du großer Schreck!

Wie ein Rasender fuhr Wichtelmann mit dem geschwungenen Leimtopf auf die Eintretende los.


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Illustration 1924


»Hinaus, hinaus mit dir, elendes Bettelweib, Gedankenstrich, neue Zeile!«, donnerte er seine Schwägerin an.

Dann freilich verwandelte er sich im Nu, sein Gesicht wurde ein ganz anderes, die eben noch rollenden Augen füllten sich mit Tränen, als er, während er den Leimtopf auf den Gasofen setzte, mit weinerlicher Stimme flüsterte:

»Vater, mein Vater, verstoße doch dein armes Kind nicht, Ausrufungszeichen, neue Zeile.«

Und dann wieder wie ein wildes Tier auf die Schwägerin los:

»Was, du ehrlose Bettel wagst, mich noch deinen Vater zu nennen, Fragezeichen, neue Zeile, na, was willste denn schon wieder?«

Zum Tode erschrocken machte Klara schleunigst, dass sie wieder hinauskam, nicht mehr sehend, wie die in einer Ecke kauernde Schwester sich plötzlich an den Boden warf, um sich dort vor Lachen zu wälzen. Die fliehende Klara hörte nur noch einige Wechselreden.

»War nicht Klara jetzt eben hier?«

»Du hast sie doch so angeschnauzt — hahaha — nein, das Gesicht, das die machte — hahaha!«

»Ich deine Schwester angeschnauzt?«

»Na, aber wie!«

»So, hm. Sie wird doch nicht etwa...«

»I, mach doch keine Geschichten!«

»Was wollte sie denn?«

»Gar nichts weiter. Fahre nur fort.«

»Na gut. Wo war ich stehen geblieben?«

»Neue Zeile, na, was willste denn schon wieder?«

»Was? Du bist wohl verrückt!«

»Hahahaha!!«

Mehr als dieses Lachen hörte Klara nicht.

Ja, sie wusste sich alles zu deuten, und dennoch, sie war wirklich entsetzt.

»Macht er das denn nur immer so?«, fragte sie dann Mrs. Bellair.

»Ja, das macht er immer so. Das heißt, wenn er diktiert. Er hatte schon früher einmal eine deutsche Stenografin hier. Sie wohnte aber anderswo. Freilich dauerte es nicht lang. Es hat ja auch große Schwierigkeiten. Er muss sich an die fremde Person erst gewöhnen, und das dauert gar lange, und wenn sie ihm auch nur im Geringsten unsympathisch ist, dann bringt er kein Wort heraus, dann versagen ihm die Gedanken. Bei seiner Frau ist das etwas ganz anderes, und Ihre Schwester scheint gerade wie dazu geschaffen zu sein.

Ja, beim Diktieren tobt er immer so. Aber nicht, wenn er selbst seine Gedanken niederstenografiert. Dann ist das alles schon überlegt. Dann hat er sich schon irgendwo anders ausgetobt, da arbeitet er eben immer im Walde oder sonst wo. Wir wissen ja überhaupt wenig, wie er es sonst getrieben hat. Nur so zu schreien braucht er dabei nicht. Aber wenn er diktiert, die neuentstandenen Gedanken sofort festnagelt, dann muss er dabei toben, das weiß ich. Und ich glaube sogar, wenn er es tut, ist es gewissermaßen ein Ausleben.«

Ja, Toni passte vortrefflich dazu. Da hatte Wichtelmann einen glücklichen Griff getan. Von einer ›Wahl‹ konnte man ja da nicht groß sprechen. Es ist eben die alte Geschichte vom ›ersten Besten‹.

So wenigstens sagte der unverbesserliche Wichtelmann, wenn er sich einmal darüber äußerte.

Wenn drüben nicht gepocht und geheult und gejauchzt wurde, dann strolchten die beiden nach wie vor im Walde herum, kletterten auf die höchsten Bäume oder bohrten sich in die Erde hinein, spielten wie die kleinen Kinder — und dennoch war es Arbeit, alles Arbeit.

Kamen sie zurück, so setzte sich Toni gleich an die Schreibmaschine, die sich Wichtelmann angeschafft hatte, schrieb das ab, was ihr draußen auf einem Baume oder in einem Erdloche diktiert worden war, inzwischen stenografierte Wichtelmann selbst, ganz ruhig, wie ein gesitteter Mensch, und dann nahm Toni wieder das Diktatbuch, und Wichtelmann begann wieder zu brüllen und zu jammern und zu säuseln, während er dabei hobelte und pochte und...

Als Klara, mit dieser Wüterei schon vertrauter geworden, einmal hinüberging, fand sie Toni im Parlour oben auf dem Kleiderschrank sitzen, während Wichtelmann unten auf den Knien lag und den Fußboden scheuerte. Diesmal säuselte er, wie er diese Tonart nannte. Und er diktierte gar schnell.

»Mein süßes Lieb Ausrufungszeichen neue Zeile ach, mein einziger Theodor Ausrufungszeichen neue Zeile wirst du mir auch immer drei Gedankenstriche neue Zeile Gänsefüßchen pst neue Zeile sie fuhren auseinander neue Zeile hörtest du nichts Fragezeichen fragte Isolinde neue Zeile der junge Mann errötete und flüsterte Doppelpunkt neue Zeile was willst du denn, meine liebe Klara?«

»Hat diese letzte Frage mir gegolten? Ich störe doch nicht etwa?«

»Du störst überhaupt niemals, meine liebe Klara.«

»Na, na.«

»Fünf Gedankenstriche Fragezeichen neue Zeile.«, lachte Toni oben auf ihrem Himmelsthrone. »Wichtelmann macht immer Gedankenstriche statt unterbrechende Punkte, das fleckt besser, meint er.«

»Ja, heute hat's gefleckt. Nun, meine liebste, teuerste Klara, mit was darf ich dir denn dienen?«

Wichtelmann war in ungemein süßer Stimmung — er hatte eben ›gesäuselt‹ — und dabei war er aufgestanden und rang den schmutzigen Scheuerlappen aus, schlug ihn dann breit.

»Nein, nein, teuerste Klara, du brauchst nicht so zurückzuprallen. Du dachtest wohl, ich wollte dir den nassen Lappen um die Ohren hauen? — O nein, dazu habe ich meine Schwägerin viel zu lieb — das tue ich nachher erst, wenn Isolindes Mutter dazu kommt, die kriegt den Scheuerlappen um die Ohren gehauen — wenn auch nur sinnbildlich, und das ganz besonders deshalb, weil das hier ein Roman für eine hochvornehme Zeitschrift ist.«

»Was sehe ich, du scheuerst die Stube?«, machte Klara ihrem Staunen Luft.

»Jawohl, wenn du nichts dagegen hast«, blieb Wichtelmann bei seinem süßen Tone. »Ich verrichte überhaupt alle Hausarbeit, koche, wasche das Geschirr auf, mache die Betten, fange die Flöhe und so weiter und so weiter. Weshalb? Erstens, weil so ein alter Matrose das überhaupt alles viel besser versteht als solche Frauenzimmer, wobei ihr beiden Damen natürlich ausgeschlossen seid, was wenigstens diesen Ausdruck anbetrifft, und zweitens, weil hierdurch nicht ein Teil der Arbeit verloren geht. Ich kann gleichzeitig mit dem Kopfe und den Händen arbeiten, dazu auch noch, wenn's sein muss, mit den Beinen — nu ja — aber kannst du dir Toni vorstellen, wenn sie mit der einen Hand scheuert und mit der anderen Hand mein Diktat nachstenografiert? Oder wenn sie mit der einen Hand Teller aufwäscht und mit der anderen Hand auf der Schreibmaschine herumtippt? Kannst du dir das wirklich vorstellen, meine liebe Klara? Dann, meine liebe Klara, hast du noch mehr Phantasie als ich.«

So war es. Aber Klara bekam es erst jetzt zu erfahren. Es war ja auch noch in den ersten Arbeitstagen, die Schreibmaschine erst angeschafft worden.

Wichtelmann verrichtete die ganze Hausarbeit. Überhaupt alles. Auch waschen und plätten tat er. Toni hatte nichts weiter zu tun, als zu stenografieren oder auf der Maschine zu schreiben — oder mit ihm spazieren zu gehen.

»Ja, du stenografierst doch aber manchmal selbst.«

»Täglich, sogar stundenlang. Immer, wenn ich nicht diktiere.«

»Das kann aber doch Toni nicht alles abschreiben.«

»Nein, meine eigenen Stenogramme schicke ich nach wie vor nach Leipzig.«

»Und was du hier diktierst?«

»Das ist eben wieder eine andere Arbeit. Verstehst du denn nicht? Ich habe mein Arbeitsquantum jetzt eben verdoppelt — und das wollte ich ja, deshalb habe ich euch doch nur geheiratet — oder doch wenigstens die Toni, dich als Zugabe mitgenommen.«

»Das doppelte Quantum?! Ja, findest du denn nur für solch eine Unmenge von Manuskripten auch immer Abnehmer?«

»Meine liebe Klara. In Deutschland erscheinen nach der Statistik alljährlich rund 30 000 neue Bücher, und außerdem gibt es noch ungefähr 6000 Zeitungen, welche alle mit Lesestoff versehen sein wollen. Wenn ich nun die Hälfte dieses ganzen Materials schreibe, welche das deutsche Publikum jährlich braucht wie das tägliche Brot, so mögen sich die 20 000 deutschen Schriftsteller, welche Kürschners Literaturkalender aufzählt, in die andere Hälfte teilen, in die anderen 15 000 Bücher und 3000 Zeitungen. Diese andere Hälfte überlasse ich meinen Kollegen großmütig.«

Natürlich verstand Klara sofort diesen fürchterlich übertreibenden Witz. Sie hatte ihre letzte, in zu großer Eilfertigkeit gestellte Frage auch gleich bereut.

Aber das verstand sie nicht, wie ein Mensch dieses ungeheuere Quantum rein schöpferischer Geistesarbeit bewältigen konnte, wie so etwas überhaupt nur möglich war.

Das heißt, dass es wirklich möglich ist, das hatte sie nun schon zur Genüge erkannt. Einmal hatte Wichtelmann im Laufe der Tage die Schwestern immer mehr hinter die Kulissen blicken lassen, und immer mehr bekamen sie in Sachen der literarischen Produktion Dinge zu hören, von denen sich ein Uneingeweihter auch im kühnsten Traume nichts träumen lässt. Wie zu den 20 000 Schriftstellern, die man als professionelle bezeichnen kann, nach ungefährer Berechnung noch 100 000 andere kommen, welche sich durch gelegentliches Schreiben ein kleines Nebeneinkommen zu verschaffen suchen, und da sind immer noch nicht die mit eingerechnet, welche die Redaktionen mit ihren poetischen Ergüssen überfluten — Gedichte, Herrgott im Himmel verschone mich!! — und was nun zwischen all diesem Federvieh für Hass und Neid und Gift und Galle herrscht, und das umso mehr, je professioneller die Literaten sind — und wie es nun kaum zwei Promille sind, einige wenige Dutzend, die den ganzen Markt mit Manuskripten versorgen und daher ein auskömmliches, wenn nicht glänzendes Leben führen können, während die anderen 998 Promille, wenn sie nicht Vermögen oder eine andere Einnahmequelle haben, des langsamen Hungertodes sterben.

Zweitens hatte Wichtelmann den Schwestern den literarisch bedeutsam klingenden Namen eines deutschen Schriftstellers genannt, dessen Romane nur in den vornehmsten Zeitschriften und Verlagen erschienen, literarische Kunstwerke, mit denen sich die Kritiker intensiv beschäftigten, die jeder Gebildete gelesen haben musste, weil sie das Gespräch der Salons bildeten — und diese selbe Literaturgröße, deren nähere Bekanntschaft Wichtelmann einmal gemacht hatte, schrieb gleichzeitig pseudonym oder anonym Kolportageromane, Schundromane, und zwar des ordinärsten Genres, und zwar zur Zeit nicht immer nur einen, sondern damals hatte er gleichzeitig an sieben — an sieben! — diktiert, pro Woche lieferte er sieben mal zwei, gleich vierzehn Hefte solcher Romane, sieben à 100 Hefte. Und das war wieder ein anderer gewesen als jener, dem damals Wichtelmann die Indianerschmöker abgetreten hatte, der an der Riviera eine palastähnliche Villa besaß. Solcher gab es eben noch mehrere. Freilich an den Fingern abzuzählen. Wenn auch nicht einreihig.

Und dass Wichtelmann da nicht fürchterlich aufschnitt, dass es wirklich solche Menschen gab, für deren eigenartige Genialität oder sonstiges Können erst noch ein besonderer Name erfunden werden musste, das konnte sie ja am besten beurteilen, seitdem sie in zehnstündiger rastloser Maschinenarbeit die Stenogramme des Romanciers Edgar Howard abschrieb. Denn das war ganz genau derselbe Fall in englischer Ausgabe. Und je länger sie abschrieb, desto mehr wuchs ihr Staunen. Wovon später noch zu sprechen ist.

Jetzt gegenwärtig war Klara plötzlich ganz kleinlaut geworden. Wie eine furchtbare Last drückte es sie plötzlich nieder.

»Das doppelte Quantum!«, flüsterte sie ängstlich. »Ihr sollt zum Tee herüberkommen.«

Denn wenn die beiden nicht im Walde kampierten, so ließen sie sich zur Mahlzeit meist ins Nachbarhaus einladen. Im eigenen kochten sie nur ganz selten.

»Gott sei Dank der Tee drei Ausrufezeichen Gänsefüßchen oben neue Zeile!«, jubelte Toni und schwang sich mit der Kautschukelastizität eines unzerbrechlichen Zirkusclowns von ihrem hohen Schranke herab. Wichtelmann wusch sich die Hände im Scheuereimer, sonst machte er einen ziemlich anständigen Eindruck; sie begaben sich hinüber, wo im DiningRoom der Tee mit Weißbrot und Butter und der in England unvermeidlichen Brunnen- oder Wasserkresse serviert war. Nur Klara zog dem Landesgetränk Kaffee vor.

»Das doppelte Quantum!«, fing Klara bald immer noch einmal an. »Ja, ich weiß — ich weiß — dass du's kannst — aber w i e kannst du's nur!«

»Das ist eine Gabe. Der eine kann's gleich, und der andere lernt's nie — und dann auch noch mangelhaft.«

»Ich bin mir immer noch nicht im Klaren darüber — musst du dir denn das nur vorher überlegen oder nicht?«

»Ja und nein. Ich weiß es selbst nicht, wie ich das mache. Gewiss, ich überlege, meditiere. Wenn's aber verlangt wird, ist die Ausarbeitung im Geiste in einem einzigen Nu fertig. Es ist wie im Traume. Da lässt sich die Zeit doch auch nicht kontrollieren. Man träumt eine lange Geschichte, wie man einen Turm besteigt, oben Umschau hält, träumt sonst noch alles Mögliche, einen ganzen Roman, einen ganzen Lebenslauf — bis man herunterstürzt. Und da ist man aus dem Bett gefallen. Und das alles, alles hat man während des einzigen Momentes des Sturzes zusammengeträumt. Das ist von den Physiologen und mehr noch Psychologen bereits als Tatsache konstatiert worden.

So ist es bei mir auch in der Disposition meiner Sachen. Ich kann mich einfach nicht ausdrücken, es ist mir selbst ein Rätsel. Nehmen wir doch lieber ein praktisches Beispiel an. Gib mir irgendein beliebiges Thema auf, oder nenne mir nur irgendein Wort, und ich will sofort eine Erzählung draus machen.«

»Sofort?«, fragte auch Toni, als hätte sie wiederum etwas ganz Neues an ihrem Wichtelmanne entdeckt, und es musste wohl auch so sein.

»Hier auf der Stelle. Nur verlangt nicht gleich einen Roman in hundert Heften, auch nicht einen von nur 5000 Zeilen. Das wäre übrigens dein eigener Schaden, Toni, denn du sollst nachstenografieren. Ich will mein Geistesgenie doch nicht für nichts und wieder nichts kujonieren lassen. Machen wir ein Feuilleton zu den üblichen 200 Zeilen.«

Toni hatte sofort Bleistift und genügend Papier zur Hand.

»Feuilleton, eine Erzählung, der irgendein xbeliebiges Wort zugrunde liegt?«, fragte sie gespannt.

»Jawohl. Aber ich bemerke sogar, dass es weit leichter ist, über ein einzelnes Wort eine Erzählung zu improvisieren als über ein gegebenes Thema. Los! Oder auch nur ein Wort. Ganz wie ihr wollt.«

»In Klaras Kaffeetasse ist soeben eine Fliege gefallen! Das sei dein Thema.«

»Die Fliege im Kaffee?«

»Ja.«

Schnell stand Wichtelmann auf, trat aber erst einmal zu Klara, beugte den Kopf.

»Siehst du hier hinterm Ohre die kleine Schraube?«

»Schraube? Jetzt wirst du wohl...«

»Es ist keine Schraube, die in meinem Kopfe locker geworden ist, sondern eine Kurbel, die zu meiner Gehirnmaschinerie gehört. Ich drehe sie einmal rum, zweimal... so, fertig, die Drehorgel ist eingestellt — los!!«

Und während Wichtelmann im Zimmer auf und ab wandelte, begann er zu diktieren, ziemlich schnell, etwa zehn Zeilen in der Minute, was Toni auch mit Leichtigkeit nachstenografieren konnte.

Wir können die Erzählung hier natürlich nicht wiedergeben, deuten nur mit wenigen Worten ihren Inhalt an.

Ein neuvermähltes Ehepaar sitzt beim ersten Morgenkaffee, in die Tasse der jungen Frau fällt eine Fliege, der Gatte hänselt sie, weil sie wegen solch einer Kleinigkeit den Kaffee nicht mehr trinken will, daraus entsteht der erste Zank, bis die Wiederversöhnung erfolgt.

Es war eine ganz hübsche, harmlose, etwas humoristische Erzählung, eine von jenen, von denen zwölf auf ein Dutzend gehen, die Wichtelmann in noch nicht einmal zwanzig Minuten heruntergeleiert hatte.

»Schluss. Nun, gefällt euch das?«

Die Schwestern wussten wirklich nicht recht, was sie dazu sagen sollten. Sie dachten nicht mehr daran, was hier eigentlich vorlag.

»Ja, wenn du das gleich so aus der Luft greifen kannst, das ist ja allerdings fabelhaft...«

»Fertig! Ich ziehe in meinem Kopfe ein anderes Register... vorwärts, los! Überschrift: Die Fliege im Kaffee.«

Und dasselbe Thema wurde noch einmal behandelt. Jetzt aber spielte die Erzählung in Indien, sie hätte auch ›Die Rache des Malaien‹ heißen können, und wie der englische Hausherr nur dadurch dem Vergiftungstode entging, den ihm sein malaiischer Diener zugedacht hatte, weil in die vergiftete Tasse Kaffee eine Fliege gefallen war.

»Schluss. Ich ziehe ein anderes Register. Fertig! Die Fliege im Kaffee. Nach einer wahren Begebenheit von S. W. Windler.«

Die dritte Erzählung über dasselbe Thema oder doch mit derselben Überschrift spielte in Brasilien, und — mit die Hauptsache — wie die vorige ein echt indisches Milieu gehabt, so hatte diese auch wirklich ein echt brasilianisches, man sah das südamerikanische Plantagenleben ganz deutlich vor sich.

Der Inhalt war der — wieder eine ganz andere Variation — dass die Hausdame kurz vor der Gesellschaft ihre Brosche vermisst, eine Fliege darstellend, mit Brillanten besetzt, und es kann nicht anders sein, als dass ihr diese ein kleines Negermädchen, das bei der Toilette einmal in ihrem Zimmer gewesen, entwendet hat. Die Sklavin wird zum Erpressen des Geständnisses sofort durchgepeitscht, die Gesellschaft trinkt unterdessen gemütlich Kaffee, die Hausdame erzählt lächelnd, man solle sich nicht wundern, wie dann aus der Kaffeekanne eine Bohne zum Vorschein kommen würde, ihr einjähriges Söhnchen habe vorhin im Spiele eine Bohne in den Kaffee geworfen — und als der brasilianischen Gesellschaft die Meldung gebracht wird, dass das Negermädchen unter der Peitsche gestorben sei, ohne gestanden zu haben, kommt aus der Kaffeekanne die blitzende Fliege zum Vorschein.

Es hatte ja nicht anders kommen können — trotzdem war der Effekt der kleinen Erzählung ein vollkommener, er lag in der kurzen Pointe, in der ganzen Ausdrucksweise am Schlusse.

»Schluss!«

Wichtelmann, der mehr oder weniger schnell hin und her gelaufen war, wischte sich den Schweiß von der Stirn und einige Tränen aus den Augen, blickte nach der Uhr, nahm das stenografierte Manuskript und reichte es der anderen hin.

»Es fehlen zwei Minuten an einer Stunde. Das ist normal. Hier, meine liebe Klara, hast du die drei Feuilletons, ich dediziere sie dir. Schreibe sie dir selbst ab — oder lass das meine Frau besorgen, falls du es nicht gut lesen kannst — dann will ich dir drei der ersten deutschen Zeitungen sagen, an welche du die Erzählungen schicken sollst, unter welchem Pseudonym und so weiter. Nur geändert darf daran nichts mehr werden, keine Silbe — mit Ausnahme natürlich, wenn sich Toni einmal verschrieben haben sollte. Und wenn du für jede nicht mindestens zwanzig Mark erhältst, dann... will ich dir aus meiner eigenen Tasche das Doppelte zahlen, 120 Mark, weil ich dann renommiert habe.«

Ja, jetzt erst begriffen die Schwestern voll und ganz, was hier eigentlich vorlag, was sie in dieser einen Stunde, die sie aber wie zehn Minuten gedeucht, erlebt hatten!

Zuerst waren sie sprachlos — bis sie Worte fanden.

»Das ist ja das Erstaunlichste, was ich je erlebt habe! Du hast dieses Thema mit der Fliege im Kaffee wirklich noch nie bearbeitet?«

»Na, Kinder, nun fangt mal nicht so an! Oder ich will euch noch etwas anderes sagen. Nehmt ein anderes Thema oder nur ein Wort unter den ungezählten Millionen, die es da gibt, und ich will dieses Thema ebenfalls in derselben Weise bearbeiten, aber in zahllosen Varianten — oder es kann ja immer noch die Fliege im Kaffee sein — oder das Loch im Strumpf — oder sonst etwas — und ich will Tag und Nacht diktieren bis an mein Lebensende — und es soll doch immer und immer wieder eine total andere Erzählung werden — mit total anderem Sujet — und so will ich dieses Thema in millionenfacher Variation behandeln — wenn Gott mich so lange leben lässt.«

Ja, die Schwestern verstanden. Zunächst blickte Klara mit gefalteten Händen zum tapezierten Himmel empor.

»Ach Gott, wir armen Menschlein!«, seufzte sie kläglich. »Und ich habe dabei vergebens ein Dutzend Federhalter aufgefressen — es wollte nichts nützen.«

»Ja, wie ist das aber nur möglich!«, riefen dann die beiden Schwestern gleichzeitig.

»Das... kann ich euch nicht erklären. Fragt den Frosch, wer ihn schwimmen lehrt. Oder erklärt mir, weshalb der Mensch und der Affe die beiden einzigen Säugetiere sind, die nicht von allein schwimmen können, und ich will euch auch dieses Rätsel erklären. Ihr könnt es nicht — ich kann es nicht. Was ich sonst darüber zu sagen habe, das... sind nur so Redensarten. Obschon vielleicht ganz interessant. Wir, die wir so etwas können — denn ich bin doch nicht etwa eine einzige Ausnahme — wir sind die Akrobaten, die Jongleure der belletristischen Schriftstellerei. Der Akrobat und der Athlet und der Jongleur und der Seiltänzer muss aber schon eine stark ausgeprägte Veranlagung zu seinem Berufe haben, sonst wird er es niemals zu etwas bringen. Und dann natürlich Übung, beständige Übung, und zwar eine regelrechte, die wir Training nennen. So wächst ständig die Kraft und Geschicklichkeit — wenigstens bis zu einem gewissen Grade, jedenfalls aber doch bis zur Höchstleistung des Betreffenden, womit er alle die anderen Menschen in Erstaunen setzt — der Jahrmarktsgaukler das Jahrmarktspublikum und der erstklassige Zirkusartist die verwöhntesten Zuschauer, deren Nerven sonst kaum noch gekitzelt werden können.

Bei uns literarischen Akrobaten wird diese Übung durch ein vollständiges Versenken in die Arbeit ersetzt. Für alles andere abgestorben sein, das Schreiben macht man nur noch mechanisch. Nichts mehr im Kopfe haben als das, woran man eben arbeitet. Bis man zuletzt davon träumt, ganz regelrecht auch im Traum daran weiterarbeitet, und dennoch muss es ein erquickender Schlaf sein.

Wenn man seine Geisteskonzentration so weit gebracht hat, auch im lärmendsten Menschengewühle sich in sein stilles Gedankenkämmerlein zurückziehen kann, dann tritt bald von selbst etwas ein — etwas Magisches, wofür der Mensch wohl nie eine Erklärung finden wird. Das Volk drückt dies einfach durch das Sprichwort aus: Wo Tauben sind, da fliegen Tauben zu. Der Meister der Wahrheit aber, der die Geheimnisse der Weltengetriebe am gründlichsten durchschaut hatte, drückte es mit den Worten aus: Dem, der da hat, dem soll gegeben werden.

Und so ist es. Jeder, der mit heißem Bemühen Tag und Nacht nach der höchsten Ausbildung seiner Kräfte ringt, wird die Wahrheit an sich selbst probieren. Dann vermehren sich diese Kräfte von ganz allein immer weiter. Für solch einen Schriftsteller gibt es dann kein ›SichAusschreiben‹. Sondern je mehr er produziert, desto mehr wächst nur seine Phantasie und seine Arbeitskraft.

So bin ich zu der Gabe gekommen, von der ich euch soeben eine Probe vorgemacht habe. Früher konnte ich Derartiges nicht, das hat sich erst mit der Zeit entwickelt. Sonst kann ich hierüber keine andere Erklärung geben. Nur will ich euch noch auf ein anderes Wunder aufmerksam machen, das sich hierbei zeigt. Ich sagte doch, das Feuilleton sollte 200 Zeilen lang werden. Nur schreibt die erste Erzählung ab, stellt die Maschine für die Zeilen auf 52 Druckpunkte ein, das ergibt eine vierzehnsilbige Normalzeile — und ihr werdet sehen, dass dieses erste Feuilleton ganz genau 200 Zeilen lang geworden ist. Bei der zweiten Behandlung des Themas gab ich weniger auf die genaue Länge, ich zählte im Geiste nur 186 Zeilen. Das ist doch etwas zu kurz, dachte ich, das wirst du beim dritten Feuilleton wieder gutmachen, gibst also vierzehn Zeilen zu. — Nun zählt dann ab, ob dieses dritte Feuilleton nicht genau 214 Zeilen umfasst.«

Die Schwestern glaubten, nicht richtig verstanden zu haben.

»Wie? Du weißt auch immer, wie viele Zeilen du diktiert hast?«

»Ganz genau.«

»Ja, wie ist denn das nur möglich! Du blickst doch gar nicht auf das Stenogramm, das würde dir auch nicht viel nützen.«

»Wie ich das mache, kann ich wiederum nicht erklären. Das ist mir eben in Fleisch und Blut übergegangen. Beim Diktieren entsteht vor meinen Augen, und zwar ohne dass mich das im Geringsten stört, auch immer gleich das Geschriebene, und zwar in meiner eigenen Handschrift. Ich habe das ganze Manuskript immer vor mir, kann alles wieder lesen. Es ist ein geistiges Schreiben. Das geht so weit, dass, wenn ich mich einmal verspreche, oder etwas verbessere, ich diese Verbesserung auch in der geistigen Schrift vornehme, ausstreiche und darüber schreibe. Auf diese Weise also weiß ich immer, wie viele Zeilen ich schon geschrieben, diktiert habe, ich brauche sie ja nur nachzuzählen. Das ist natürlich immer rein geistig aufzufassen. Und die vieljährige Übung bringt es nun mit sich, dass ich eine Erzählung bis auf eine bestimmte Anzahl Zeilen ausdehnen kann, bis zur runden Summe, ohne dass ich den Schluss deshalb etwa einschränke. Das wird eben schon im Anfange und während des ganzen Diktierens fortwährend kalkuliert, ohne dass mich dies bei meiner geistigen Hauptarbeit im Geringsten stört.«

Die beiden Schwestern konnten nur den Kopf schütteln. Immer wieder bekamen sie etwas zu hören, wovon sie sich noch nichts hatten träumen lassen.

»Seht, Mädels«, fuhr der noch immer auf und ab gehende Wichtelmann fort, »auf diese Weise sind wir die literarischen Akrobaten und Jongleure. Ob ich nun ein Jahrmarktsgaukler oder ein erstklassiger Zirkusartist bin, das ist mir dabei vollständig gleichgültig. Denn da kommt auch noch etwas anderes in Betracht. Auf allen denen, zu denen auch ich gehöre — auf uns allen lastet es wie ein Fluch. Aber wir verstehen ihn in einen Segen, in unser Glück zu verwandeln. Wir sind die Hexenmeister, die den Geist der Phantasie zu beschwören verstanden haben, dass er uns jederzeit dienstbar sein muss... und nun können wir in nicht wieder bannen. Wir müssen schreiben, schreiben, rastlos schreiben... oder wir ersticken im eigenen Fett. Denn ich phantasiere ja nicht nur, diktiere nicht nur, sondern ich schreibe wirklich — wenn auch nur im Geiste — so, wie ich euch vorhin geschildert habe. Und ich weiß, dass es auch bei jenem berühmten Literaten, der sich mir einmal offenbart hat, ganz genau so der Fall ist. Seine glühende Phantasie und unerschöpfliche Arbeitskraft konnte sich an den schöngeistigen Produktionen nicht genügend abnutzen, da fiel es ihm ein, sich einmal an solch einem Kolportageroman zu versuchen, nur des Scherzes halber, ob er so etwas auch könne — und da hat es ihn gepackt. Aber das war kein Zufall, sondern ein innerer, furchtbarer Drang, er musste seiner Schöpfungskraft einen gewaltsamen Ausfluss verschaffen, oder er wäre erstickt. Und seitdem schreibt auch er solche Kolportageromane, immer sieben gleichzeitig — er, die gefeierte Literaturgröße. Wenn er einmal dabei geklappt wird? Was der sich daraus macht! O, Mädels, wenn ihr wüsstet, wie wir, wir, über so etwas denken! Wir sind ja vollständig für allen Ruhm und literarische Ehre abgestorben, wir schreiben nur, weil wir schreiben müssen, immer schreiben, schreiben, rastlos schreiben...«

Wichtelmann brach ab, er konnte nicht weitersprechen.

Und da kam wieder solch eine Szene.

Wieder warf sich das kleine Männchen plötzlich auf das Sofa und weinte und schluchzte herzzerreißend.

Die Schwestern wagten nicht, ihn zu stören, nicht ihn zu beruhigen.

Sie selbst waren furchtbar erschüttert, hätten am liebsten selbst mitgeweint.

Warum? Sie wussten es nicht.

Sie konnten nur ahnen, dass hier etwas vorlag, was kein Mensch jemals begreifen wird — so wenig wie Gott den Schöpfer — und etwas Gottähnliches war es auch — wenn nicht Gott selbst — Gottschöpfer manifestiert in einem kleinen Menschenhirn.

Es dauerte auch nicht lange, so erhob sich Wichtelmann wieder, und er war wieder ganz der Alte.

»Nun Schluss dieser Debatte. Nur zweierlei möchte ich noch hinzufügen, und das erstere dürfte euch unschuldigen Mägdelein auch sehr neu sein. Wir sind alle zusammen Sklaven, selbst wir, die Lieblinge der Götter, mit denen an Freiheit sich sonst kein anderer Mensch messen kann, von einem König und Kaiser gar nicht zu sprechen. Aber sobald wir schreiben, um gedruckt gelesen zu werden, begeben auch wir uns in Sklaverei. Versteht ihr? Nein, ihr versteht nicht. Ich will nicht von Feuilletons anfangen, welche nicht länger als 200 bis höchstens 250 Zeilen sein dürfen. Ich will gleich das Allerhöchste herbeiziehen. Und wenn ich Goethe oder Schiller heiße und bin, und ich schreibe das allerherrlichste Drama, welches über vier Stunden dauert, so muss ich es entweder auf die normale Zeit von drei Stunden kürzen, oder ich muss mir die Kürzung gefallen lassen, oder... das Theaterstück wird nicht angenommen! Und damit basta! Und wenn es von Goethe oder Schiller oder Shakespeare ist. Die Tradition wird nicht gebrochen, sie darf nicht gebrochen werden, sie darf nicht!

Und mit dem zweiten will ich mich kurz fassen. Dass solche Kolportageromane, mögen sie auch noch so blutrünstig sein, die Volksseele vergiften sollen, das ist der horrendeste Blödsinn, der je in die Welt gesetzt worden ist. Stellt mich dem gegenüber, der so etwas behauptet, und ich will den Wahrheitsbeweis antreten, ich will ihn an meiner Hand durch die Literatur und ins Theater führen — in jene öffentlichen Theater, in denen die französische Unzucht und Ehebrecherei verherrlicht wird — und ich will ihm noch andere Beweise geben, ganz sanfte, aber er soll sie als Keulenhiebe empfinden, die ihn für immer stumm machen! Futterneid ist es, nichts als Futterneid und nachgeplapperte Gedankenlosigkeit!

Und nun gebt mir noch eine Butterstulle und etliche jener köstlichen Grasbünde. Vielleicht bringe ich es mit meiner Einbildung wo weit, dass ich sie auch wiederkäuen kann, desto leichter wird mir dann der Aufsatz fallen, den ich schon im Kopfe habe: Wie Zeus die Europa entführte, oder philosophische Betrachtung eines Ochsen über die Menschheit.«

* * *

13. Kapitel

Die beiden jungen Ehepaare gingen in die vierte Woche. In ihrer Lebensweise veränderte sich nichts. Wenigstens nicht dem Charakter nach. In anderer Hinsicht war ein ständiger Wechsel. Zumal auf der einen Seite des Doppelcottage.

Wenn nämlich die Schwestern geglaubt hatten, Wichtelmann könne sich nun an phantastische Ideen und Überraschungen nicht mehr überbieten, so sollten sie sich gründlich geirrt haben.

Zunächst ließ er aus seiner MädchenkammerWerkstatt die verschiedensten Möbel hervorgehen, wirklich reizende Erzeugnisse der modernsten Kunsttischlerei, von ihm mit eigner Hand von Grund auf gefertigt, poliert, furniert, gepolstert und alles. Schon hierbei, wenn man ihm da zusah, musste man immer wieder staunen über die Handgeschicklichkeit des kleinen Männchens.

Aber diese nach und nach unter Tränen und Lachen und Flüchen entstehenden Möbel — denn diktiert wurde dabei unausgesetzt — waren nur für den Parlour bestimmt.

»Na ja, wenn uns jemand einmal besucht, muss man doch erkennen, dass auch wir zivilisierte Europäer sind.«

Bei ihrem Schlafzimmer, dem großen, hörte... nicht gerade die Zivilisation und Kultur, aber doch das europäische Christentum auf.

Dieses Schlafzimmer wurde orientalisch eingerichtet. Die dazu nötigen Polster und Kissen und Decken und Teppiche musste Wichtelmann allerdings kaufen — möglichst billig, aber möglichst bunt.

»Das ist ja nur für einstweilen. Dieses billige Gelumpe behalte ich doch nicht etwa. Aber man kann nicht alles auf einmal machen, und ich hoffe doch, Toni, wir bleiben noch längere Zeit zusammen. Dann später mache ich die Polster und Teppiche selber, und pass auf, das soll etwas ganz anderes werden. Und du wirst das Teppichweben schon von mir lernen.«

»Dann soll auch ich weben?«

»Nu sicher. Und nicht nur Gebetsteppiche, sondern auch meine Hemden.«

»Aber wenn ich immer stenografieren und abschreiben soll?«

»Na, du stenografierst und tippst doch nicht mit den Füßen. Und wozu hast du denn deine zwei gesunden Beine und Füße? Hast du noch keine solche armlose Person gesehen, die alles mit den Füßen macht? Das kann jeder andere auch lernen. Du musst dir nur fest einbilden, keine Arme und Hände zu haben, dann wirst du mit Leichtigkeit das Weben und Sticken mit den Füßen lernen, und dann dankst du Gott dafür, dass er dir die Arme und Hände hat wieder wachsen lassen und kannst beim Weben nun auch noch stenografieren und auf der Schreibmaschine tippen.«

Das war so eine Unterhaltung der beiden — und dass solch eine Unterhaltung noch einen ganz anderen Zweck hatte, einen äußerst praktischen, das werden wir etwas später sehen.

Dass sie die beiden Schlafzimmer nach orientalischer Weise eingerichtet hatten, welche anstatt hoher Bettstelle nur auf den Boden liegende Polster kennt, hatte einen ziemlich durchsichtigen Grund. Klara hatte es denn auch an einigem Spott nicht fehlen lassen. Die beiden mochten vor allen auf hohen Beinen stehenden Bettstellen einen unbesiegbaren Widerwillen bekommen haben.

Dann kam die Küche daran, die ja, wie schon erwähnt, in den kleinen und mittleren Familien Englands, überhaupt in solchen Cottages, in denen manchmal recht ›gute‹ Leute wohnen, mit als Wohnraum dient.

Diese ›kitchen‹ verwandelte Wichtelmann in ein amerikanisches Blockhaus, das heißt in das Innere, in den einzigen Raum eines solchen. Dazu wurden die so schön tapezierten Wände mit Baumrinde verkleidet, dass es genau so aussah, als wären es gespaltene Baumstämme, an denen man die Rinde gelassen — und jetzt war es doch in Wirklichkeit so, nur von außen durfte man sich die Geschichte nicht betrachten — an diese rohen Wände kamen Waffen und Fischergeräte und alles, was in eine Hinterwäldlerhütte gehört. Was nicht seine Koffer von früheren Reisen enthielten, das wurde gekauft, in Wichtelmanns Phantasie allerdings vielmehr erbeutet oder sonst wie beschafft, dann noch einige ganz roh gezimmerte Möbel, von Wichtelmanns Hand wirklich nur mit der schweren Axt hergestellt, außerdem aber auch noch einige Pferde- und Ochsenschädel, die er irgendwo aufzutreiben gewusst hatte.

Und die echt hinterwäldlerische Blockhütte war fertig. Der eingebaute Kamin mit kleinem Backofen störte den ganzen Eindruck durchaus nicht, den findet man wirklich fast in jeder Blockhütte des wilden Westens.

Das beste aber hatte er mit dem DiningRoom gemacht. Dieses geräumige Zimmer hatte er gleich ganz in eine amerikanische Wildnis verwandelt.

Ein Dutzend Fichten genügen, um einen Nadelwald darzustellen, dort, wo sie abgesägt und wohl auf Holzkreuzen befestigt waren, verschwanden sie in Fichtennadeln, welche in fußhoher Schicht den Boden bedeckten, auf der einen Seite waren durch Kisten, mit grauer Leinewand überspannt, hier und da grün bemalt, moosige Felsblöcke markiert, und nicht nur diese imitierte Realität, sondern auch die Malkunst Wichtelmanns hatte diese Szenerie noch fortgesetzt.

Er hatte nämlich die tapezierten Wände mit Leinwand verhangen, und auf der rechten Seite nun sah man den Nadelwald, etwas hügelig werdend, sich in die endlose Ferne fortsetzen, während links die wirklichen Kistenfelsen zu einem himmelhohen, schneebedeckten Gebirge emporwuchsen, mit wild zerissenen Schluchten und anderen Szenerien, hier und da ein Wald oder einzelne Bäume, Flüsse mit Wasserfällen und dergleichen mehr.

Kurz, ein Panorama. Die Täuschung war ja nicht gerade eine perfekte, Perspektive und überhaupt die ganze Malerei ließ gar viel zu wünschen übrig, in anderer Hinsicht aber hatte das kleine Männchen wirklich Großartiges geschaffen.

Erwähnt sei noch, dass er an der Decke segelnde Wolken dargestellt hatte, das nach dem Garten führende Fenster war geschickt durch Tannenreisig verdeckt, eben eine Lichtung im Walde, die Tür hatte er ja vollständig verschwinden lassen können, und die andere Tür führte aus der Hinterwäldlerhütte direkt in diese Wildnis.

In noch nicht ganz vier Wochen hatte er dies alles geschaffen, und anderes mehr, wie wir gleich sehen werden.

Während dieser Zeit hatte Klara nicht das Nachbarhaus betreten dürfen, wenigstens nicht hier unten. Nur in das orientalische Schlafzimmer hatte sie kommen dürfen, in dem Toni auch auf der Schreibmaschine arbeitete und dessen Wand Wichtelmann schon längst durchgebrochen hatte.

Dann kam der Tag, an welchem sie von dem in Leder gehüllten Hinterwäldler mit entsprechender Einleitung in das Blockhaus geführt wurde — nämlich nicht etwa durch den Korridor, sondern auf einem meilenlangen Wege durch den Urwald — so wenigstens verstand ihr der sie führende Trapper zu suggerieren, ohne ihr dabei die Augen verbinden zu müssen.

Klara war vor Staunen wirklich außer sich, und dann wurde sie von Entzücken erfasst.

»Ach, das ist ja reizend, herrlich, großartig! Ja, das wäre auch für mich etwas, solch eine Küche möchte ich auch haben! Wo hast du denn nur diese Pferdeschädel her? Und diese Pantherfelle?!«

Wichtelmann irritierte es durchaus nicht, dass die offenherzige Klara gleich aus der Rolle gefallen war, das wusste seine Phantasie sofort zu korrigieren, und nun wie!!

»Das«, sagte er, die Hand zärtlich auf den gebleichten Pferdeschädel legend, und schon begann seine Stimme zu zittern, schon füllten sich seine Augen mit Tränen, »das war mein treues Ross, das mir einst das Leben rettete. Ohne dieses treue Tier säße ich jetzt nicht mehr hier. Lass dir erzählen, Klara.«

Und er begann zu erzählen. Eine lange Geschichte. In Amerika spielend oder sonst wo. Wie er von Apachen verfolgt wurde oder irgendein anderes Abenteuer, mehr oder minder haarsträubend. Und er erzählte gleich druckfertig. Denn seine Wichtelfrau, jetzt als Cowgirl gekleidet, stenografierte gleich nach. Und 12 Tage später erhielt Wichtelmann von einer der deutschen Zeitschriften für diese Erzählung 150 Mark zugeschickt, mit der ergebensten Bitte, doch noch recht viel von seiner wertgeschätzten Feder zu schicken.

O, das konnte geschehen. Denn da gab es noch einen anderen Pferdeschädel, mit dem aber war er, als dieser noch einem lebendigen Vieh angehörte, wieder wo ganz anders gewesen, vielleicht in Italien, hatte auf dem Rücken dieses treuen Tieres wieder etwas ganz, ganz anderes durchgemacht. Und da gab es auch noch Ochsenschädel. Und über diesen Knochensesseln lagen echte Panther- und Tigerfelle, die Wichtelmann zwar in London gekauft, in seiner Phantasie aber selbst erbeutet hatte. Und an den Wänden der Blockhütte waren die verschiedensten Geweihe befestigt...

Doch es genügt wohl. Es gab nichts, auch nicht den geringsten Gegenstand, über den Wichtelmann nicht eine Geschichte zu erzählen wusste, und wenn er sie nicht selbst erlebt hatte, so erlebte er sie doch jetzt im Geiste, und dabei wusste er schon, an welche Zeitungen er sie schicken würde, danach schnitt er sie schon zu und setzte ihre Zeilenlänge im Voraus fest.

Doch wir greifen vor. Klara hatte nur die eine Pferdegeschichte anhören müssen, dann musste sie dem Hinterwäldler hinaus ins Freie folgen, in den DiningRoom.

Klara war einfach baff. Sie hatte die beiden ja immer rumoren hören, war auf eine große Überraschung vorbereitet gewesen, aber so etwas hatte sie doch nicht geahnt. Und sie wurde immer baffer.

Wieder hatten sie im Geiste einen meilenweiten Weg gemacht, dort über die schneebedeckten Kordilleren waren wie gekommen.

»Ich dächte, hier wäre ein geeigneter Lagerplatz. Macht gleich ein Feuer an, ich werde sehen, ob ich noch ein Stück Wild erbeuten kann.«

Und der Trapper oder was er sonst war, eine richtige Büchse über die Schulter, verschwand mit ›weitausgreifenden Schritten‹ zwischen den Tannen, während Toni einige Steine ›zusammensuchte‹, dann einiges Holz, einen Feuerherd machte.

»Was? Du willst doch hier nicht etwa gar wirkliches Feuer anmachen?!«, rief Klara erschrocken, als Toni ein schwedisches Streichholz anriss.

»Ja, warum denn nicht?«

»Wenn das ganze Haus in Flammen aufgeht!«

»Du bist ja verrückt, wir sind doch hier in Kanada, im Urwalde. Nur verrate mich nicht — eigentlich muss ich mit Stahl und Feuerstein Funken schlagen, aber diese Geschichte ist mir doch etwas zu langweilig, und ich schlage mir dabei immer die Fingerknöchel kaputt. Na, bilden wir uns ein, diese schwedische Zündholzschachtel wäre so ein urwüchsiges Feuerzeug. Ich wenigstens kann's schon, ich habe nun auch schon etwas davon profitiert, wie man mit seiner Phantasie arbeitet.«

Und wahrhaftig, sie brannte das Holz an. Freilich ging es etwas plötzlich. Aus dem Scheiterhaufen schlug gleich eine große Flamme, die nach und nach wieder kleiner ward, bis das Holz zwischen den Steinen zu glühen anfing.

Wir wollen nicht weiter Klaras anfängliche Angst und späteres Staunen schildern, sondern die Erklärung sofort geben.

Alles Theaterdekoration, es war auch ein Theaterlagerfeuer. Unter der Schicht Fichtennadeln führte ein Gummischlauch nach der betreffenden Stelle, es wurde Gas gebrannt.

Die Gasheizung ist in England sehr beliebt, auch gar nicht so teuer. Um nun dennoch das offene, gemütliche Kaminfeuer, ohne das ein englisches Haus nicht denkbar ist, zu erhalten, wird die Gasleitung in den offenen Kamin gelegt, und zur weiteren Imitation hat der Erfindergeist ein Material gezeitigt, das ganz wie Kohle oder Koks oder auch wie Holzscheite aussieht, in Wirklichkeit aber aus Asbest oder einem unzerstörbaren Kalk besteht. Diese Masse liegt immer fix und fertig im offenen Kamin, nur der Gashahn braucht aufgedreht zu werden, und wenn das Zeug glüht, sieht es genau wie ein Kohlen- oder Holzfeuer aus, je nach der Imitation, welche man vorzieht.

Die hier herumliegenden Äste, scheinbar von den Tannen gefallen, das waren solche Asbestknochen. Und die ganze Einrichtung war so beschaffen, dass nichts von der Umgebung Feuer fangen konnte.

Das Übrige kann sich der geneigte Leser wohl selbst ausmalen. Wie sie in dem Speisezimmerurwalde um das Feuer lagen, dem Singen des Teekessels lauschten, das Schmoren des großen Fleischstückes beobachteten, oder, den Blick auf die fernen, fernen Kämme des schneebedeckten Felsengebirges gerichtet, den Erzählungen des weitgereisten Mannes zuhörten, der alle seine Erlebnisse aber auch aus seiner Hosentasche hervorzaubern konnte.

Nur schade, dass Toni immer gleich nachstenografieren musste! Aber sie tat es nur gar zu gern. Es war immer so gut wie bares Geld, und sie hatte die Kasse.

Ja, es war eine sehr, sehr einträgliche Spielerei! Es gab ja nichts, absolut nichts, keinen Gegenstand und kein Wort, das diesen Schriftsteller nicht zu mindestens einer kleinen Erzählung inspiriert hätte.

Hierzu nur noch ein einziges Beispiel.

Klara fragte einmal, ob er denn wirklich viel gejagt habe.

»Ja, früher, in allen Weltteilen.«

»Jetzt nicht mehr?«

Törichte Frage! Dieses Männlein, ganz aus Gefühl zusammengesetzt, konnte schon längst kaum noch das ihn peinigende Insekt töten.

Zunächst aber wurde Klara aus einem anderen Grunde etwas verlegen. Wichtelmann hatte doch soeben gesagt, er habe in allen Weltteilen gejagt.

»Ich meine hier — hier im Walde von Robin Hood. Ich habe hier schon so viele Kaninchenbaue gesehen. Hast du hier nicht einmal ein bisschen gewildert? Das wäre deinem abenteuerlichen Charakter doch ganz entsprechend. Freilich, Wilddieberei wird gerade in England sehr schwer bestraft...«

»O, was das anbetrifft«, unterbrach Wichtemann sie sinnend. »So eine Strafe wegen Wilddieberei wäre... auch Shakespeare hat... hmmmmm... Toni stenografiere!«

Eine Erzählung! Er ließ sie in England spielen, hatte da freiere Hand, konnte nicht so leicht kontrolliert werden. Ein junger Schriftsteller, Dichter, Dramatiker. Das heißt, er schreibt Theaterstücke. Ganz vortrefflich, genial, er bringt sie aber nicht an. Da hat er eine Idee. Reklame machen! Sein Name muss auf andere Weise bekannt werden. Und er lässt sich beim Wildern erwischen. Wird ein Vierteljahr eingesperrt. Das kommt schon in die Zeitungen. Der Schriftsteller Soundso als Wilddieb bestraft. Als er wieder herauskommt, wird er gleich abermals beim Wildern ertappt. Diesmal muss er ein halbes Jahr lang Taue zupfen. Schadet nichts. Jetzt beschäftigen sich die Zeitungen schon ganz anders mit ihm. Das ist ja der reine Shakespeare! Denn auch Shakespeare wurde bekanntlich wegen Wilddieberei eingespundt. So berichtet wenigstens die Legende. Und jetzt weiß man auch, dass dieser ›allbekannte‹ Schriftsteller Soundso — von dem aber bisher nur ein paar harmlose Feuilletons erschienen sind — auch effektvolle Dramen geschrieben hat, hat sie mit Absicht nur noch nicht eingereicht. Und während der intelligente junge Mensch noch im Kerker Taue zupft, wenden sich schon ein halbes Dutzend Manager an ihn, er solle ein sensationelles Theaterstück schreiben, womöglich ein Wildschützendrama. Und als er wieder herauskommt, ist ihm der Weg zur Bühne geöffnet, die Theater reißen sich um seine Stücke, die Zeitungen bitten um seine Mitarbeiterschaft — er ist ein gemachter Mann.

Nun noch die nötige Liebe dazu, die obligate Braut mit den Eltern, welche den elenden Wicht verachten — Kuss, Schluss, Traualtar — und die Mayonnaise war fertig, die wieder mit mindestens einem blauen Lappen bezahlt wurde.

Ja, es war eine gar einträgliche Spielerei!

Eine Spielerei? Etwa weil dieser eigentlich als Speisezimmer bestimmte Raum mit Tannennadeln und Fichtenbäumen und Felsenkisten und gemalten Panoramen zur kanadischen Wildnis improvisiert war, weil sie am Boden um ein Feuer lagen, das scheinbar mit Holz genährt wurde?

Eine Spielerei? Torheit? Blöder Unsinn?

Auch hierüber ließ sich Wichtelmann einmal aus.

»Wenn ich es mir leisten kann, ich habe eine große Wohnung mit zehn Zimmern, richte sie mir nach meinem Geschmack ein — dieses altdeutsch, jenes im Rokokostil — in das eine kommen blaue Polstermöbel, in das andere rote, in das dritte grüne — und so weiter und so weiter — dementsprechend die Tapeten, die zum Teil auch Holztäfelungen darstellen, oder Balken — oder an der Decke Engelchen und Blümchen — und so weiter und so weiter... nicht wahr, dann bin ich ein ganz vernünftiger, moderner Mensch. Und der Zweck von alledem? Damit ich jetzt einmal im grünen Zimmer sitze und nachher im blauen Salon, heute im altdeutschen Gastzimmer ein Frühstück gebe und morgen Abend im Renaissancesalon Skat spiele. Auch einen Wintergarten werde ich mir zulegen, mit Palmen und allem anderen Gemüse, was dazugehört. Nicht wahr, das ist ganz normal, modern? Wenn aber einmal jemand auf die Idee kommt, eins seiner Zimmer in einen Urwald zu verwandeln, so wie ich es hier getan, hier auf dem Bauche um ein Feuer zu liegen, das aus der Erde kommt... i, der Kerl hat einen Piepmatz im Kopfe!! O, geistesschwache Menschheit! Bar jedes eigenen Gedankens! Und wenn nun... soll ich fortfahren?«

Nein es war nicht nötig. Es war schon genug gewesen.

Auch wir wollen kein Wort mehr hinzufügen, nicht erst von Maskenbällen, Karnickeljagden und dergleichen Dingen anfangen, die alle als Miniaturersatz für etwas Großes, Unerreichbares dienen. Die Zahl dieser ›Spielereien‹ ist fast Legion.

Und über diese Spielereien hier änderte wohl jeder Mensch, sobald er ihren Hauptzweck erkannte, seine Ansicht. Wenigstens den Hauptzweck nach seiner eigenen Weltanschauung. Denn die Spielerei brachte immer bares Geld ein. Und Geld ist eben Geld.

»Nun hast du doch noch das kleine Schlafzimmer.«

»Jaaa, was ich aus dem noch machen werde! Eine Affen... pst pst pst, es wird nichts verraten! Du sollst schön staunen.«

»Wichtelmann, Wichtelmann«, sagte dann wohl Klara bei solchen Gelegenheiten, von denen wir nur die eine wiedergaben, »weißt du denn nur eigentlich, was für ein glücklicher Mensch, was für ein Liebling der Götter du bist?«

»Ich weiß es«, entgegnete dann Wichtelmann jedes Mal feierlich, um darauf stets zärtlich die Schwägerin zu fragen, und an dieser Zärtlichkeit war nichts Gemachtes: »Und du, meine Klara, bist du denn glücklich?«

* * *

14. Kapitel

Ja, auch drüben im Nachbarhause wohnte das Glück, das echte Glück. Glück? Sogar echtes Glück? Dann muss man vor allen Dingen von der Arbeit sprechen. Alles andere ist nur Schaum.

Klaras Arbeitsfreudigkeit hatte angehalten, sich nur noch vermehrt, und das war die sicherste Garantie für die Dauer.

Zuerst hatte sie das Tippfieber zu überstehen gehabt, wobei sie auch im Schlafe immer auf der Bettdecke herumgefingert hatte, dann konnte sie allerdings noch immer nicht täglich zehn Stunden auf der Schreibmaschine arbeiten, aber das kam mit der Zeit, und dann war ja noch immer Mrs. Bellair da, welche auf die leiseste Bitte hin mit wirklichem Vergnügen zu der altgewohnten Arbeit zurückkehrte.

Aber diese Bitte kam seitens Klara immer seltener. Es ist ja wohl schwer zu verstehen, wie ein junges Weib, das bisher nur körperlichen Übungen nachgegangen ist, plötzlich eine solche Freude daran haben kann, täglich zehn geschlagene Stunden auf der Schreibmaschine herumzuklappern.

Doch es gibt eben solche Menschen, die alles fertig bringen. Klara war solch eine Natur. Sie hatte ja auch schon einmal gesagt, dass sie gern den ganzen Tag an der Strickmaschine sitzen oder hinter der Ladentafel stehen würde, wenn sie nur dann ihren unabhängigen Feierabend und Sonntag haben könnte.

Nun, hier hatte sie ja eine viel bessere Arbeit. Die zehn Stunden konnte sie sich leicht so einteilen, dass sie dazwischen immer die nötigen Erholungspausen hatte, sie brauchte nicht nach der Uhr zu essen, und des Abends war sie noch stundenlang mit Schwester und Schwager zusammen, plauderte auch oft genug während der Arbeitszeit mit ihnen, und überdies war es ja eine höchst interessante Arbeit, ein nur etwas langsameres Lesen von wirklich hochspannenden Romanen und Erzählungen.

Allerdings hätte sie diese Arbeit gar nicht nötig gehabt. Ihr Mann gab ihr reichlich Wirtschaftsgeld, auch Nadelgeld, und sie hätte noch ganz anderes von ihm bekommen, sie hätte jeden Tag nach London fahren und ins Theater gehen können, und so weiter und so weiter.

Aber dieses junge Weib war eine gar kluge, vernünftige Frau, ein Sitz unter denen stand ihr offen, welche man Weise nennt, wenn man darunter sonst auch etwas viel Höheres versteht. Sie gehörte zu denen, welche wert sind, über sie einen Roman zu schreiben.

Der Schreiber dieses möchte einmal ganz persönlich sein. Ein kleines Erlebnis.

Durch die Zeitungen ging die Notiz, dass Thomas Alva Edison, der ehemalige Zeitungsjunge, durch seine Erfindungen ein Vermögen von 20 Millionen Dollar erworben habe.

Und da sagte ein Herr, sonst eigentlich ein recht vernünftiger Mann, mit dem es sich unterhalten ließ:

»Na, da könnte der sich endlich zur Ruhe setzen.«

Ha, du Menschlein, hast du eine Ahnung von der Kraft, welche diese Erde beherrscht, soweit es sich nicht um ihre Rotation handelt — und doch entspringt diese Rotation offenbar derselben geheimnisvollen Kraftquelle.

Wenn alle Menschen so wie du dächten dann würden wir heute noch hier in Deutschland mit dem Flitzebogen das Wild schießen, um mit seinem Fleische unsern ewigen Hunger zu stillen und uns in sein Fell hüllen, dann würde die ganze Geisteskraft nur vom Bauche aus regiert werden, und zwar nur vom leeren. Beim vollen hört sie sofort auf.

Nein, darin war Klara gar vernünftig. Wenn nicht aus Überlegung, dann aus Instinkt, aus angeborener Klugheit. Und die 90 Schilling, die ihr wöchentlich prompt zugeschickt wurden, nahm sie ja allerdings auch gern mit, trug sie auf die Bank, freute sich darüber.

Und dann nach getaner Arbeit kamen die schönen Feierstunden mit denen drüben vom Nachbarhause, und dann kam der herrliche Sonnabend, der nachmittags den Gatten brachte, und der Sonntag war nur eine Fortsetzung der Herrlichkeit. Nach so viel genossenem Glück hatte die Trennung nichts mehr zu bedeuten.

O, ihr Bedauernswerten, die ihr keine Arbeit kennt, in der man mit Leib und Seele freudig aufgeht! Ihr wisst ja gar nicht, was Ruhe, Freude, Genuss und Glück ist. Wie armselig dagegen sind alle die sogenannten ›Amüsements‹.

Am zweiten Sonntage hätte zwischen den beiden allerdings leicht eine Missstimmung entstehen können.

Beim ersten Besuch nach wöchentlicher Trennung war Morrus am Montag früh abgereist.

Am folgenden Sonntag, als die beiden nachmittags allein waren, wurde Morrus plötzlich unruhig.

»Weißt du, Klara, ich... möchte dir... du nimmst es aber doch nicht...«

»Nein, nein, Tom reise du nur schon heute Abend ab, und das immer so.«

»Was, woher weißt du denn...«

»Still, kein Wort mehr«, lächelte sie, und das durchaus nicht trübe, als sie sich in seine Arme legte. »Woran du dich sieben Jahre und wohl noch länger gewöhnt hast, das sollst du nicht entbehren. Still, kein Wort mehr!«

Er hätte wenigstens noch sagen sollen: »Du bist ja ein Ideal von einer Frau!«

Er tat es nicht, es war nicht nötig. Und seitdem reiste Morrus schon immer am Sonntag spät abends nach London zurück. Deswegen wurde kein Wort mehr verloren.

Wenn nun noch gesagt wird, dass Morrus niemals von seinen Inspektionsreisen, die ihn durch ganz England führten, sprach, Klara niemals danach fragte, keine Ansichtspostkarte und nichts anderes Schriftliches erwartete, so mag das dem deutschen Leser etwas merkwürdig vorkommen, für englische Verhältnisse war das ganz normal.

Die englische Ehe ist ein eigentümliches Ding. Teils sehr schön, hochideal — teils recht hausbacken und ein deutsches Gemüt durch eine nüchterne Rücksichtslosigkeit direkt verletzend.

Vor allen Dingen gibt es in der englischen Ehe — immer natürlich eine englische Musterehe gedacht, Ausnahmen bestätigen nur die Regel — nicht so etwas wie eine gemeinsame Arbeit, ein ganzes Aufgehen der Gatten ineinander. Haus und Geschäft sind vollkommen getrennt, vollkommen! Das Hausleben ist reizend — ideal, wenn auch wohl nicht nach eines jeden deutschen Mannes Geschmack. Die erste Bedingung zu einem glücklichen Eheleben ist: Zu Hause hat der Mann absolut nichts zu sagen! Nicht einen einzigen Mucks darf er tun! Vom Geschäft hat er direkt nach Hause zu kommen, hat das angebrannteste Essen mit dem liebenswürdigsten Lächeln hinterzuwürgen, Punkt zehn Uhr hat er das Haus zuzuschließen — aber von innen! — das Gas auszudrehen, und dann marsch ins Bett! Auch den ganzen Sonntag hat er bedingungslos zu Hause zu bleiben. Nur in die Kirche.

Anderseits aber nun, wie die echte Engländerin ihren Mann zu Hause verpflegt! Das ist wieder reizend, ist großartig! Da geht sie wieder ganz in ihrem Gatten auf. Und wenn sie auch den Tabaksgeruch nicht ausstehen kann — in den Zimmern, wo das Rauchen erlaubt ist, stopft sie ihm selbst die Pfeife, rückt ihm das Kissen unter die Füße, stellt sie darauf.

Dann gibt sie ihm auch einen Abend in der Woche frei. Das ist sein Klubabend — auch wenn er keinem Klub angehört. Dann wäre er eben kein echter Sohn Old Englands, und von diesem sprechen wir hier nur. Da braucht er erst nachts um zwei Uhr nach Hause zu kommen. Und jede echte Old Engländerin hält es für ganz selbstverständlich, dass ihr edler Gatte da... besoffen nach Hause kommt. Wenn er überhaupt noch gehen kann. Aber für diese gute, alte Sitte sind auch Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Für diese Nacht steht ein Bett in einem besonderen Zimmer. Natürlich muss er sich danach betragen. Sonst wär's ja eben kein echter Engländer. Dann zieht ihm die Gattin geduldig Hosen und Stiefel aus, und am anderen Morgen bekommt er kein Wort zu hören.

Zu Hause wird also nicht über das Geschäft gesprochen, kein einziges Wort. Da kann Folgendes vorkommen: Ein Mädchen heiratet einen Mehlhändler. Aber bald geht er zu den Kohlen über. Und will es nicht der Zufall, so können die beiden die goldene Hochzeit feiern, und die Frau denkt noch immer, ihr Mann macht in Mehl, während er schon seit 48 Jahren ein intensives Kohlengeschäft betreibt.

Das ist der Typ, das Musterbild einer englischen Ehe, repräsentiert durch den Mittelstand, dem in England jeder solide Arbeiter angehört. In Whitechapel und in den obersten Kreisen geht es natürlich anders zu. Oder wenn der Mann einen offenen Kaufmannsladen hat, da hilft auch die Frau mit. Und doch, der große Unterschied zwischen Geschäft und Haus offenbart sich dem scharfsichtigen Beobachter immer noch.

Der beiden Schwestern Mutter war eine Engländerin gewesen, auch in ihrem deutschen Hause war es etwas englisch zugegangen, mehr noch hatte ihnen die Mutter davon erzählt, bei in Deutschland wohnenden echt englischen Verwandten hatten sie dies alles beobachten können, sie waren ein Jahr in England, hatten in einer echt englischen Familie gewohnt — sie fanden alles, wie es jetzt war, ganz selbstverständlich. Also auch bei Wichtelmann. Bei dem war das ja wieder etwas ganz anderes. Der hätte ja zu solch einem echt englischen Familienleben Talent gehabt sie ein Bär zum Klavierspielen.

Aber Morrus, wie der kam und ging, nie ein Wort über sein Geschäft, über seine Reisen verlor — alles ganz in der Ordnung.

Nachträglich sei noch bemerkt, dass dieses englische Geschäfts- und Hausleben noch etwas sehr Altgermanisches an sich hat. — —

Die sechste Woche der Ehe, Freitag morgens.

Der ›postman's knock‹ erscholl zur gewöhnlichen Zeit.

Eine Depesche.

Die Adresse war originell.

»Mistress Klara Antoinette MorrusWikelman.«

Die beiden Schwestern waren zur Stelle.

Wenn in der Adresse durch Zusammenziehung gespart worden, so war die Depesche selbst umso ausführlicher gehalten. Das hatte Geld gekostet.


HABE WESTMINSTER-LADIES-COLLEGE IM KONKURSE ERSTANDEN. WILL SOFORT ERÖFFNEN. WOLLEN SIE BEIDE UNTERRICHT ERTEILEN? ODER NUR EINE? EVENTUELL EINIGE TAGE. WELCHES TAGESHONORAR? BITTE SOFORT UM DRAHTANTWORT.

YOURS TRULY C.W.G.H. RIL, WESTMINSTERLADIESCOTTAGES, LONDON WC.


Und ein Blankoformular zur Rückantwort. Wenn die ganze Bibel draufging, hätte man es tun können, Mister C.W.G.H. Ril hätte berappen müssen.

Auch Wichtelmann hatte gelesen.

»Daraus wird natürlich nichts!«, lachte Toni als erste.

»Na, warum denn nicht?«, ließ sich Wichtelmann vernehmen.

»Wie, du denkst... was der sich einbildet!«

»Nicht so viel wie du. Du denkst, weil du jetzt die Mistress Klara Anoinette Morrus Wikelman geworden bist, wenigstens irgendeine Hälfte von diesem Zwilling? Oder hast du dein Hopsen schon verlernt?«

Die Wichtelfrau wurde unsicher, blickte ihren Wichtelmann starr an.

»Du meinst... ach, daran ist ja nicht zu denken! Fällt mir ja gar nicht im Traume ein!«

Wichtelmann entgegnete zunächst nichts, sondern zog bedachtsam sein Vergrößerungsglas aus der Westentasche und hielt es Toni vors Gesicht.

»Zeig mal deine Zunge — du brauchst sie gar nicht herauszustrecken, ich sehe sie schon so hinter dem Gehege deiner Zähne — i, Toni, du hast ja, wie wir Indianerhäuptlinge und auszudrücken pflegen, eine gespaltene Zunge! In gewähltes Deutsch übersetzt: Du lügst ja wie gedruckt!«

»Wichtelmann!«

»Bitte, Wikelman. Toni, mache mir doch nichts vor! Du hopst doch gar zu gern wieder einmal eine Woche da herum. Aber nun Scherz beiseite. Einmal erweist ihr hier einem Geschäftsmanne einen ganz außerordentlichen Dienst; der spekuliert und hofft auf euch wie mein Wachtelmann hier auf das Stück Zucker, das ich in der Tasche habe und ihm schon verlockend zeige — Kinder, tut dem Manne doch die Gefälligkeit...!«

»Wichtelmann, du würdest es gestatten?!«, fragte Toni etwas ängstlich.

Und da sprach Wichtelmann ein großes Wort gelassen aus, und es lag hauptsächlich im richtigen Tone:

»Wie du willst, meine Toni.«

»Aber deine, unsere Arbeit?«

»Das lass meine Sache sein, ich bin froh, wenn ich dich einmal eine Woche los bin«, fiel Mr. Wikelman jetzt wieder in einen anderen Ton.

»Ja, wenn's so ist«, lachte Toni. »Offen gestanden, es machte mir wieder einmal Spaß. Natürlich musst du mit, Klara.«

»Nein, o nein, ich komme nicht in Betracht!«

»Ja, dann gehe natürlich auch ich nicht!«

»Auch du gehst mit, Klara«, fing Wichtelmann wieder an. »Auch dir sehe ich es ja an der Nasenspitze an, wie gern du möchtest, wenn du nur dürftest. Und gerade dir tut eine solche körperliche Ausarbeitung einmal sehr not, du hast dich schon etwas breitgesessen...«

Und Wichtelmann fuhr fort, auseinanderzusetzen, dass die Schwestern unbedingt dem Rufe Folge leisten müssten, und dass auch Morrus aus ehrlichem Herzen damit einverstanden sei, dafür garantiere er.

Als die dazugekommene Mrs. Bellair dasselbe erklärte, und wie gern sie einstweilen die Schreibarbeit übernehme, da zeigte es sich, dass die Schwestern nur gar zu gern damit einverstanden gewesen waren, ihrem alten Berufe für einige Zeit wieder nachgehen zu dürfen.

»Aber nur für eine Woche.«

»Ihr macht es nur von Tag zu Tag aus. Pro Tag zehn Pfund. Jede.«

»Was? Jede täglich zehn Pfund?«

»Ja, Kinder, das muss bezahlt werden. Jede täglich zehn Pfund bei dreistündiger Arbeitszeit. Und innerhalb dieser drei Stunden eine halbe Stunde Frühstück, eine Stunde Mittagspause und eine halbe Stunde Vesper. Und dann noch die sogenannte akademische Viertelstunde. Doch Scherz beiseite. Ihr werdet wohl wieder von früh um zehn bis abends um zehn antreten müssen. Aber unter zehn Pfund pro Tag, und zwar pro Person, gibt's da nichts. Wenigstens nicht bei meiner Frau. Wenn ich verborge oder vermiete, will ich auch etwas davon haben. Du könntest überhaupt gleich noch einen Kontrakt mache, Toni. Dass du auch später wenigstens einen Tag in der Woche Unterricht gibst. Wenigstens für fünf Pfund. Das reicht schon für mich, damit komme ich schon ganz fein aus. Dann brauche ich nischt mehr zu machen. Denn da hänge ich diese elendigliche Schriftstellerei natürlich sofort an den...«

»Wichtelmann, Wichtelmann, wohin verirrst du dich wieder!!«, lachten die Schwestern. »Du wolltest doch ernst sein!«

»Wollte ich? Na, da wollen wir.«

Es war ihm Ernst mit zehn Pfund täglich pro Person. Ebenso beharrte auch Klara darauf, dass sie nicht eher eine Zusage gäbe, als bis sich ihr Mann mündlich oder schriftlich damit einverstanden erklärt habe.

»So werde ich das Telegramm danach aufsetzen, ich!«, sagte Wichtelmann. »Denn das ist schon etwas Bindendes, da könntet ihr festgenagelt werden, und Herr August Wichtelmann kann wohl einmal vergessen, sich den Hut über die Ohren zu stülpen, aber ihn mit einem Kontrakt über die Ohren zu hauen, das kann man nicht mehr so leicht.«

Er setzte die Antwort auf. Also jede zehn Pfund pro Tag. Ohne jede weitere Verbindlichkeit. Das Verhältnis konnte beiderseits jeden Augenblick wieder gelöst werden. Und dieses hier war noch keine Annahme, sondern die erfolgte definitiv erst nächsten Montag spätestens. Wie sich Mr. Ril hierzu stelle.

Unterdessen schrieb Klara auch schon ihrem Mann einen Brief. Zum ersten Male trat sie mit ihm in schriftliche Verbindung.

Ob der Eilbrief ihn rechtzeitig oder überhaupt erreichte, war allerdings sehr die Frage.

Der immer auf Reisen befindliche Mann hatte in London eine ›Box‹. Es ist dies eine England eigentümliche Einrichtung. Die englische Post lässt sich nicht auf unter Chiffre lagernde Sendungen ein, auch die englischen Zeitungen kennen diese Einrichtung nicht. Da nun aber auch in England das Bedürfnis vorhanden ist, manchmal seinen Namen und die Adresse zu verschweigen, so sind dafür besondere Geschäftsunternehmungen entstanden. Büros, an die man solche Briefe schicken lassen kann. Für ganz billiges Abonnement erhält man einen Kasten, Box, der seine bestimmte Nummer hat, von dort holt man sich die eingelaufenen Sachen ab, oder sie werden einem nachgeschickt, wohin man will, auch Telegramme und Geldsendungen, der Boxvorsteher kann unterschreiben, was nur erst auf der Post notariell zu regeln ist.

Solch eine Box hatte auch Morrus. Es war dies viel praktischer, als wenn er für ihn bestimmte Postsachen nach der Versicherungsgesellschaft hätte richten lassen. In den Riesenbüros wurden die einlaufenden Briefe der Reihe nach erledigt, Geschäft ist überhaupt Geschäft und keine Gefälligkeit — ganz abgesehen davon, dass die Leiter solcher Boxunternehmen das Briefgeheimnis wie die Post zu wahren haben, darauf formell vereidigt werden. Und dann überhaupt die große Routine.

Telegramm und Eilbriefe gingen ab. Die Eile wäre gar nicht nötig gewesen. Schon am Abend desselben Tages traf ein Telegramm von Morrus ein, der sich in London aufgehalten hatte. Gewiss, mit allem einverstanden.

Nun musste man erst wieder den Bescheid des Managers abwarten. Der traf erst am anderen Morgen brieflich ein.

Ja, ebenfalls mit allem einverstanden. Ob die Schwestern am Montag früh anfangen könnten. Dann sofort bindend zurücktelegrafieren, damit er noch für Sonnabend Reklame machen könnte.

Es geschah, jetzt hatten sich die Schwestern verpflichtet, wenigstens für einen einzigen Tag, konnten aber immer erst noch mit Morrus sprechen, was allerdings daran nichts mehr geändert hätte.

Nach wie vor ging Morrus am Sonntagabend wieder auf die Reise, am nächsten Morgen in aller Frühe traten die beiden jungen Frauen mit ihren Turnkostümen die Fahrt nach London an.

Erst um elf Uhr abends kamen sie zurück, Blasen an den Händen und auch sonst ganz kreuzlahm von der ungewohnt gewordenen Akrobatik, aber sonst seelenvergnügt.

»Mein Geld her!«, empfing Wichtelmann seine Frau mit finsteren Blicken. »Was? Du willst nicht? Du denkst wohl, die zehn Pfund sind deine? Weißt du nicht, was du mit an dem grünen Altarschreibtisch gelobt hast? Und soll ich dir das englische Gesetz beibringen? Was du verdienst, gehört mir... mein Geld her!! Fix, ich will in die Kneipe!«

Dieser Empfang trug ja nur bei, um die fröhliche Stimmung der Heimkehrenden noch zu erhöhen. Übrigens hätte die arme Frau dem Wüterich ihr sauer verdientes Geld gar nicht ausliefern können, weil sie selbst den Tagelohn noch gar nicht bekommen hatte.

»Mache mir nichts vor, ich bringe dich zur Wache...«

Dann, als dies genügend ausgeschlachtet worden war, begannen die Schwestern ihre Erlebnisse zu erzählen. Es war schon wieder eine recht zahlreiche Kundschaft dagewesen.

»Ach, und da ist jetzt ein Monstrum dabei — eine Fleischersgattin — das heißt, die hat nicht nötig, im Laden zu stehen — noch jung — aber so eine dicke Maschine — zweiunddreiviertel Zentner — und nun trägt sie ein Herrenkostüm — die wollte partout den Bauchaufschwung lernen — und wie die Klara immer schob... nein, die Toni erst... und dann machten wir einen Kran, und alle Damen mussten ziehen...«

Man verstand die beiden Erzählerinnen nicht recht. Sie konnten vor Lachen nicht sprechen. Es musste etwas gar zu Komisches gewesen sein.

»Da geht's wohl überhaupt manchmal toll zu?«, meinte Wichtelmann.

»Na, ich sage dir — diese englischen Frauenzimmer — gerade, weil die alles so ernst nehmen — aber heute — dieser kolossale Fleischkloß — wie der am Reck baumelte — und wie wir dann alle zogen.«

Da mochten alle Damen so gelacht haben wie jetzt noch die Schwestern.

»Kann man denn da nicht einmal zusehen?«

Nein, das gab's nicht. Nur Damen hatten als Zuschauer Zutritt, ein Schilling Entree, damit nicht zu viel kamen. Aber kein Herr. Ganz ausgeschlossen. Und wenn er hundert Pfund bot. Das ließen sich die prüden Engländerinnen nicht gefallen.

»Das heißt — Klara — jetzt wäre eigentlich eine Gelegenheit — oben in den Galeriezimmern sind noch die Maler — und du kannst doch malen.«

Toni setzte ihre Idee weiter auseinander. Und es war wieder etwas sehr Humoristisches dabei.

Der ganze Saal war renoviert worden, nur die Maler waren noch nicht ganz fertig. Im Saale selbst hätten sie sich ja während der Turnzeit, die ununterbrochen von früh zehn bis abends zehn ging, nicht aufhalten dürfen, aber es waren nur noch die neuen auf der Galerie befindlichen Zimmer zu malen, die dann später als Tee- und Lese- und dergleichen Unterhaltungszimmer dienen sollten. Da waren die acht bis zehn Männer ja unsichtbar.

Das heißt, sie hätten unsichtbar sein sollen und können. Aber sie machten es nicht. Die turnenden Damen hatten sich schon darüber aufgehalten. Die malenden Herren der Schöpfung hatten nämlich zu oft ein unaufschiebbares Geschäft zu erledigen, wobei sie einen ziemlich langen Weg über die Galerie zurücklegen mussten. Es war ihnen ja verboten, stehenzubleiben und hinabzusehen, aber so im Vorbeigehen nach den Turnenden zu blicken, das konnte man ihnen doch nicht verbieten, der englische Arbeiter lässt sich überhaupt nicht viel verbieten — und was will man machen, wenn die Verdauung eines Menschen nicht ganz normal ist?

Nun, die Damen hatten sich beruhigen lassen. Es handelte sich höchstens noch um zwei Tage. Diese englischen Arbeiter ließen sich sonst durchaus nichts zuschulden kommen. Kein Wort, kein Lächeln. Nur die Lauferei und das Schielen war ihnen nicht abzugewöhnen.

»Da wäre eine Gelegenheit.«

Die Schwestern setzten auseinander, wie Wichtelmann da ankommen könne; doch dem genügte schon die erste Andeutung, dann brauchte er keinen Rat mehr, und wir geben nur wieder, wie er es ausführte.

Am nächsten Morgen dreiviertel acht stand Wichtelmann vor dem noch geschlossenen Tore der Turnhalle, ganz anständig angezogen, sogar vielleicht ›anständiger‹ als vor dem grünen Traualtarschreibtisch, denn jetzt hatte er sogar einen Stehkragen mit grünem Schlips um, und auch die Manschetten fehlten nicht. In England arbeiten nämlich alle Bauhandwerker mit Stehkragen und steifem Hut. Nichts wird abgelegt. Nur die Maler, weil die sich gar zu sehr vollschmieren würden, werfen noch einen Kittel über, und den hatte Wichtelmann in Papier gewickelt unterm Arm, denselben, in dem er seine Stubenwildnis perspektivisch ins Unendliche vergrößert hatte.

Nach und nach stellten sich die Maler ein, mussten noch auf das Öffnen des Tores warten.

»Good morning, gentlemen.«

So sagte ein jeder, und kein Wort weiter, versenkte sich in den Genuss seiner Pfeife und eventuell in die gestrige noch nicht gelesene Abendzeitung.

Unser Held hatte sich seinen Mann bereits ausgesucht — und sein Romanschreiberblick wollte ihn da nie trügen — bat ihn, etwas zur Seite zu kommen.

»Soundso — ich bin Maler, möchte gern hier anfangen, kann ich Ihre Arbeit übernehmen?«

»Well, was zahlen Sie?«

»Ein Pfund.«

»Zwei Pfund.«

Wichtelmann gab ihn die zwei Goldstücke, jener führte ihn zum ›Foreman‹, der sich unterdessen eingefunden hatte, er wolle aufhören, könne diesen Kollegen empfehlen.

Und der Mann ging sofort seines Weges, hatte nur den gestrigen Lohn eingebüßt, zehn bis fünfzehn Schilling, dafür ja aber zwei Pfund bekommen.

Wichtelmann konnte diese zwei Pfund allerdings umsonst hingegeben haben. Aber es ging alles gut.

»Sie sind Maler?«

»Ja.«

»Well, dann fangen Sie an.«

Nichts weiter. Das ist Englisch. Einen halben Tag musste der neue Bauhandarbeiter umsonst arbeiten, dann bestimmte der Foreman nach seiner Leistungsfähigkeit den Lohn. Keine Frage, wo er früher gearbeitet habe. Nur sein Name wurde eingeschrieben.

Die Tore öffneten sich, und die Arbeit begann oben in den Zimmern der Galerie. Der neue Gehilfe bekam eine Wand zu streichen, dann musste er mit der Schablone eine Girlande ziehen, sich erst die Farbe dazu anrühren.

»That's all right«, sagte der hin und her gehende Foreman einmal.

So vergingen zwei Stunden. Die Turnerinnen kamen. Jetzt kriegte Wichtelmann die Lauferei. Ja, das war wirklich köstlich, was man da unten erblickte, und es wurde immer köstlicher.

Der neue Gehilfe wurde vom Foreman in einen anderen Raum geführt, mit einigen Wandgemälden geschmückt, idyllische Szenen darstellend, badende und ballspielende Jungfrauen und dergleichen.

Es waren ganz hübsche Leistungen, aber durchaus keine Kunstwerke. Dekorationsmalern entsprechend, die die Woche 60 bis 80 Schilling bekommen, nicht mehr als ein Maurer.

Einige Wandfelder waren noch unbemalt.

Der Foreman rollte ein Papier auseinander, eine buntfarbige Skizze, eine sich im Waldbach badende Nymphe.

»Führen Sie das aus — hier in dieses Feld hinein — dort stehen die Farben.«

Der Foreman sprach's und ging, ehe Wichtelmann noch hätte ein Wort erwidern können.

Auweh!! Wichtelmann konnte recht leicht eine Girlande schablonieren, auch eine Perspektive zusammenmalen, wobei es doch nicht so darauf ankommt — aber zu solch einer badenden Nymphe langte seine Kunst nicht aus. Nein, das wagte er wirklich nicht; er hätte sich die größte Mühe geben können, da wäre nichts Gescheites herausgekommen.

Doch Wichtelmann wusste schnell Rat. Er kannte die englischen Arbeitsverhältnisse, gerade die der Bauhandwerker, und hier schien es noch ganz besonders leger herzugehen. Der Werkmeister war ein ganz besonderer NevermindMan. Nur immer flott arbeiten, alles andere war ihm gleichgültig. Er machte die ganze Arbeit jedenfalls im eigenen Akkord. Wenn sie vor seinen Augen nur irgendwie bestehen konnte.

In dem Zimmer befand sich noch ein anderer Maler, ein baumlanger Kerl. Wichtelmann hatte ihn vorhin nicht gesehen, er musste später hereingekommen sein. Jetzt rührte er eine Farbe an, nicht zum eigenen Bedarf, sondern en gros, würde damit lange zu tun haben.

»Sir!«

»Ay.«

»Können Sie das ausführen?«

Der baumlange Kerl, der in seinem hageren Gesicht eine künstlerische Hakennase hatte, betrachtete die gezeigte Skizze.

»Well.«

»Wollen Sie das für mich ausführen, dort in jenes Feld hinein?«

»Well.«

Wichtelmann hatte geglaubt, jener würde ein Extrahonorar verlangen, aber es geschah nicht. Der Mann nahm die Skizze, heftete sie an der Wand an, setzte die kleinen Farbentöpfe und die Pinsel in Bereitschaft.

Dafür übernahm nun Wichtelmann seine Arbeit, rührte den großen Eimer Ölfarbe weiter an, ließ sich von seinem Vorgänger dazu einige Anleitung geben. Sie war einfach genug. Immer hinein mit dem Dreck und ab und zu eine kleine Portion Öl dazwischen, immer feste verrührt, auf diese Weise musste der ganze Eimer voll werden.

Also Wichtelmann rührte. Die Kunstleistung seines Stellvertreters zu bewundern, dazu kam er nicht.

Der Foreman erschien wieder. Kein Wort darüber, dass die beiden die Rollen gewechselt hatten. Er holte den Farbenrührer, dass er helfe, ein Gerüst zu transportieren.

Bei diesem Transport mussten die Arbeiter einmal längere Zeit auf der Galerie sein. Gerade Wichtelmann stand immer an der Brüstung, hatte so die beste Gelegenheit, unten die turnenden Weiber zu beobachten, jetzt war auch die dicke Fleischersfrau da, sofort zu erkennen, sie machte das Bockspringen mit, von Toni geleitet, und es war wirklich gottvoll!!

Ferner bemerkte Wichtelmann, dass auch sein nymphenmalender Stellvertreter stark von der Neugier geplagt wurde und infolgedessen der Lauferei huldigte. Innerhalb der Stunde, während Wichtelmann draußen war, ging der baumlange Kerl wenigstens ein halbes Dutzend Mal vorüber, abwärts nach der Turnhalle hinabschielend.

Die Gerüstarbeit war fertig. Wichtelmann begab sich in sein Zimmer zurück. Der lange Kerl hatte an seinem Wandgemälde trotz der vielen Lauferei fleißig gearbeitet, aber... Wichtelmann wäre vor Schreck bald auf den Rücken gefallen.

Herrgott, war denn der Kerl wahnsinnig?!

Einen Wald und eine Quelle und ein Frauenzimmer hatte er allerdings hingemalt, sogar fabelhaft fix — aber nun eben wie!

Der Mann hatte von der edlen Malerei einfach gar keine Ahnung! Es war nicht anders, als wenn ein ganz untalentiertes Kind an der Wand herumpinselt. Ein schwarzer Strich und obendrauf ein grüner Klecks, das sollte ein Baum sein — und nun erst die Nymphe, die zum größten Teil schon fertig war — aber nun wie — so eine Karikatur aus dem Struwwelpeter — oder eben die Zeichnung eines hilflosen Kindes — eine große Null, daran unten zwei Striche und oben zwei Striche und an diesen letzteren je fünf Striche als Finger — und jetzt setzte der Künstler noch gerade eine kleine Null als Kopf darauf und markierte mit ein paar Pinselstrichen Ohren, Mund, Nase und Augen...

»Hö hö hö hööööhhh!!!«, ließ sich da der eintretende Foreman vernehmen. What's that?«

Der Künstler ließ sich in seiner Arbeit nicht stören, gab seiner Nymphe mit dem Pinsel noch ein paar tüchtige Klatsche, blieb aber auch dabei die Antwort nicht schuldig:

»Kein ehrlicher Mensch kann mehr tun, als was er kann — ich kann nicht besser malen.«

Es war merkwürdig, wie kaltblütig der Werkmeister diesen tollen Streich auffasste. Oder er mochte schon etwas ahnen, sogar wissen.

Gelassen zog er sein Notizbuch hervor, in dem die Namen seiner Arbeiter standen mit Tag und Stunde ihres Antritts.

»Wie heißen Sie?«

Zunächst zog der lange Kerl, nachdem er den Pinsel hingeworfen und sich die Hände abgewischt hatte, unter dem Kittel seine Uhr vor — und zwar eine schwergoldene, an der die Juwelen noch funkelten.

»Lord James Beresford — good bye.«

Sprach's, warf auf den Werktisch ein paar Goldstücke und marschierte hinaus, draußen seinen Kittel abstreifend, unter dem er einen Anzug trug, der zwar ganz anständig war, aber doch nicht verriet, dass sein Besitzer der steinreiche und wegen seiner tollen Streiche bekannte Lord James Beresford war.

Und ihm nach schnellstens Wichtelmann! Denn nun wusste auch er alles. Zwischen die Schafe hatten sich gleich zwei Wölfe geschlichen. Und zufällig waren die aneinandergeraten, ohne sich gegenseitig zu erkennen. Eines weiteren Kommentars bedarf diese kleine Episode wohl nicht.

Etwas danach kommen konnte ja nicht. Der eine Wolf in Schafskleidern hatte sich zuletzt noch höchst nobel gezeigt. Aber Wichtelmann machte doch lieber, dass er fortkam. Schon deshalb, um sich an einer Stelle nach Herzenslust auslachen zu können, wo man dies schon eher durfte.

Das war unten in der kleinen Boxhalle. Hier stand Wichtelmann in seinem buntscheckigen Kittel und lachte, dass ihm die Tränen über die Backen in den Bart rannen, als Toni und Klara anspaziert kamen, in ihrer Straßentoilette, etwas erregt.

»Du hier? Wir wollten dich gerade abholen, denn wenn wir aufhören, wirst du doch nicht weiterarbeiten wollen, du bist doch kein Streikbrecher.«

Diese Worte machten Wichtelmann ernst und noch einmal ernst. Er warf den Kittel ab, ließ ihn liegen, sie begaben sich auf die Straße hinaus, wo ihm erzählt wurde.

Es hatte einen Krach gegeben. Während der neue Manager gestern kein Wort gesagt, hatte er heute den beiden Turnlehrerinnen Knüppel zwischen die Beine werfen wollen, hatte sie einige Male in sein Büro bestellt und dies und das an ihren auszusetzen gehabt, oder hatte ihnen doch wegen des Unterrichts Vorschriften machen wollen, und das ließen sich die selbstständigen Schwestern doch nicht gefallen. Vor fünf Minuten war's zum Generalkrach gekommen, Klara und Toni hatten die Arbeit hingeworfen, sich schnell umgezogen, waren auf dem Wege gewesen Wichtelmann zu holen, den sie doch dort oben wussten. Der Weg zur Galerie führte durch das Entree.

»Habt ihr denn euer Geld bekommen?«, war des sonst so ideal veranlagten Wichtelmanns erste Frage, nachdem er diesen Bericht vernommen hatte.

Ja, jede zehn Pfund, nur für gestern.

»Und für die heutigen Stunden?«

»Da machte der Kerl Schwierigkeiten. Mag er doch den Bettel behalten.«

So dachte auch Wichtelmann gleich.

»Also jede zehn Pfund? Na, dann können wir ja hier erst mal einen trinken.«

Sie traten in die Salonbar des nächsten Public Houses, und hier erzählte Wichtelmann, weshalb er vorhin so fürchterlich gelacht hatte — nicht darüber, was er unten in der Turnhalle erblickt, sondern über sein eigenes kleines Abenteuer, wie er bei dem langen Malerkerl an die falsche Adresse geraten war, wie aber Lord James Beresford, der sich auf gleiche Weise eingeschlichen hatte, nicht so zimperlich wie Wichtelmann gewesen war, sondern die übergebene Arbeit gleich angenommen und frisch drauflos gemalt hatte, ohne die geringste Ahnung davon zu haben.

Und Wichtelmann verstand ja nun zu erzählen, und er machte vor, wie der baumlange Kerl den Pinsel geführt hatte, die Schwestern konnten sich im Geiste vorstellen, was für eine Karikatur da an der Wand entstanden war, Wichtelmann gab es dann auch auf dem Papier wieder, und auch die Schwestern lachten, dass das Barpersonal die drei Germans misstrauisch beobachtete, wegen ihres Geisteszustandes.

Endlich war es überwunden.

»Ja, Kinder, was nun? Wie vollenden wir diesen angerissenen Tag in würdiger Weise? Denn nach Hause gehen wir jetzt noch nicht.«

Nein, daran dachten auch die Schwestern nicht. Dieser Tag musste doch gefeiert werden. Zum allerersten Male waren alle drei zusammen in London.

»Kinder, ich weiß! Wir machen einen Ausflug. Wart ihr schon einmal in... ach, ihr seid nirgendwohin gekommen. Wenn es um London herum etwas Schöneres gibt als Robin Hoods Wald — ich werde euch hinführen. Es ist überhaupt etwas ganz, ganz anderes. Mehr wird nicht verraten.«

Wichtelmann mietete eine Automobildroschke. Aber das Ziel bekamen die Schwestern nicht zu hören. Anderes desto mehr. Wichtelmann war wieder einmal in der besten Laune. Doch wann war er das nicht?

»Was? Fünfzehn Schilling? Sie sind wohl verrückt! Mit so einer Lumperei lasse ich mich gar nicht erst ein. Wo ich zwei Portemonnaies bei mir habe, jedes mit zehn Sperlinge. Ein Pfund wollen wir sagen. Na, dann steigt ein, Mädels. Jawohl, ihr seid meine beiden Portemonnaies.«

Und so ging es weiter. Wichtelmann sprudelte über. Die Schwestern merkten nicht einmal die Himmelsrichtung, nach der es ging.

Zuvor hatte sich Wichtelmann seine etwas mit Farbe bespritzten Stiefel putzen lassen, hatte sich einen neuen Kragen gekauft, machte so einen ziemlich gentlemanliken Eindruck.

»Aber die Haare hättest du dir einmal schneiden lassen können — und den Bart etwas stutzen«, wurde erst jetzt im Automobil gesagt.

Ja, mit den Haaren sah Wichtelmann etwas verwildert aus. Ohne lange Haare zu tragen, waren diese doch lang genug, und der Vollbart hatte auch eine Verschönerung sehr nötig.

»Haare schneiden? Bart stutzen? Nu, das machen wir gleich hier. Deshalb erst einen Friseurladen aufsuchen? Sparsam, Kinder, immer sparsam, jeden Penny zusammennehmen! Ihr könnt nicht Haare schneiden? Dann lernt ihr's eben. Material habt ihr ja an meinem Schädel genug. So, hier sind zwei Scheren. Ich setze mich auf Tonis Schoß — nein, lieber auf Klaras Schoß, bei der Toni ist mir das schon eine zu alte Geschichte — Klara schneidet mir die Locken, Toni setzt sich mir gegenüber und stutzt mir den Bart.«

Und es geschah. Auch in diesem Anzuge hatte Wichtelmann sein Nähzeug bei sich, zu dem natürlich auch eine Schere gehörte, und eine zweite, kleine, befand sich an seinem Taschenmesser. Die letztere bekam die ihm gegenübersitzende Toni, die an des Gatten mächtigen Barte herumschnipselte, während Klara ihm, der vorn auf ihren Knien balancierte, das Kopfhaar kürzte, so gut sie es konnte. Sie schnitt eben ab, was abzuschneiden war.

Und das geschah, als das Automobil noch auf dem Asphalte einer belebten Hauptstraße dahinrollte! Doch was machten sich diese drei daraus, was die Passanten dachten. Sie lebten in ihrer eigenen Welt, sie lebten nach ihrem eigenen Geschmacke.

Von der nächsten Kirche hörte man die zwölfte Stunde verkünden. Die eigentliche Mittagsstunde war es nicht, die ihren Anfang nahm. Meistenteils wird in England und speziell in London ja durchgearbeitet. Gegen Mittag wird nur ein Imbiss eingenommen, der Lunch, das zweite Frühstück. Dazu dient gewöhnlich die halbe Stunde zwischen halb eins und um eins. Fabriken und Manufakturen, welche ihren Leuten eine ganze Stunde Mittag geben, nehmen dazu allgemein die Zeit zwischen ein und zwei Uhr. Nun kommen aber doch Ausnahmen vor, dass schon um zwölf die Pause gemacht wird. Jedenfalls müssen alle Lokale und Geschäfte, welche den Lunch liefern, das aber meistenteils nicht nur ein kleines Gabelfrühstück, sondern eine tüchtige Mittagsmahlzeit ist, Punkt zwölf Uhr vollkommen zu der Massenabfütterung vorbereitet sein.

Es dürfte wohl interessant sein, einmal zu schildern, wie solch eine Riesenstadt von sieben Millionen Einwohnern zu Mittag abgefüttert wird. Das ist nämlich so ganz anders als zum Beispiel in Berlin, und wenn dieses auch ebenfalls sieben Millionen hätte.

Während wir doch nur Hotels und Restaurants haben, in denen wir unsern Hunger stillen können, gibt es in England mehr als ein Dutzend völlig verschiedener Einrichtungen, welche diesem Zwecke dienen.

Zunächst ebenfalls Hotels und Restaurants, auch letztere so genannt, von den unsrigen nicht viel unterschieden. Nur dass bei beiden noch unbedingt der ›grill room‹ hinzukommt, ohne den England nicht England wäre, und es ist unbegreiflich, dass diese praktische Einrichtung nicht auch in anderen Ländern allgemein eingeführt wird.

To grill heißt rösten. Die Fleischstücke werden über offenem Feuer geröstet, dabei auf Eisenstangen liegend, also auf einem Rost, der in den teuren Lokalen von Silber ist. Die Hauptsache aber nun ist, dass man das Fleischstück, welches man geröstet haben will, sich selbst vorher im rohen Zustande aussucht. Auf einem großen Tische stehen viele Teller, auf jedem liegt ein rohes Stück Fleisch, Rumpsteak oder Beefsteak oder Kotelett oder sonst etwas, schon ganz appetitlich garniert, und nun kann man sich aussuchen, fett oder mager, dick oder dünn geschnitten, lang oder kurz — man bringt das Stück dem Koch hin, der legt es auf den Rost, und fünf Minuten später hat man es geröstet wieder. Oder man kann es sich auch in Butter braten lassen.

Es ist wirklich unbegreiflich, dass das keine Nachahmung findet, dass man in jedem anderen Lande das Stück Fleisch essen muss, was einem der Koch auszusuchen beliebt, was er schickt.

Dann die PublicHäuser, die wenigstens in der City alle des Mittags warmes Essen führen, das man aber stehend an der Bar verzehren muss.

Dann die zahllosen Tee- und Kaffeestuben, in denen es hauptsächlich Pasteten gibt, den eigentlichen Lunch des Engländers, meist gefüllt mit gehacktem Schinken und Hühnerfleisch. Die größte Pastetenbäckerei ist die von Wright in Bow, der durch ganz London täglich mehr als 200 eigene Transportwagen gehen lässt, jeder mit zwei IsabellePferden bespannt.

Dann die ›fish shops‹, in denen es nur gebratene Fische mit Bratkartoffeln gibt, äußerst billig.

Wieder etwas ganz anderes aber sind die ›eels hops‹, in denen nur Aalsuppe mit Brot serviert wird.

Ferner führt zur Mittagszeit in London jede Fleischerei warmes, gekochtes Schweinefleisch und Erbsensuppe, dort ›pea's pudding‹ genannt, das in Papier gehauen wird. Für drei Pence — 25 Pfennige — gibt es eine wirklich vollständig sättigende Portion, und zwar auch dem Fleische nach. Bei dieser Gelegenheit kommt der einzige Fall vor, dass der Engländer Fleisch gekocht isst.

Die Hauptrolle aber bei dieser plötzlichen Massenabfütterung der Siebenmillionenstadt spielen doch die ›cook shops‹, und diese Einrichtung ist nun vollends eine Originalität. Es sind ebenfalls Restaurants, aber mehr mit Kaufmannsläden zu vergleichen. Indem nämlich zur Reklame im Schaufenster gekocht wird. Der ganze Herd, meist mit Gas beheizt, steht direkt am Schaufenster, und da sieht man nun den Koch hantieren, wie er das Steak bratet und den Eierkuchen herumwirft, und es lässt sich denken, welche peinliche Sauberkeit da am offenen Schaufenster herrscht. Da wird solch ein Reklamebild einmal zur Wirklichkeit. — —

»Kommt, jetzt essen wir erst einmal in einem Kochladen!«, rief Wichtelmann beim Anblick eines solchen.

»In einem Cook Shop? Ach, um Gottes willen!«, lachten die Schwestern erschrocken.

»Na, ihr geniert euch doch nicht etwa? So etwas wie genieren gibt es hier doch nicht.«

Er hatte recht. Allerdings sind diese Straßenküchen trotz ihrer Sauberkeit und sonstigen Vortrefflichkeit nur für das kleine und mittlere Publikum bestimmt, aber das ist ja eben das Schöne in England, dass auch der feinste Gentleman in Gehrock und Zylinder die armseligste Suppenküche betreten und sein Schüsselchen auslöffeln kann, er wird von dem anderen Publikum mit keinem Blick belästigt. Über so etwas ist der Engländer absolut erhaben. Dafür aber will auch der geringste Engländer als Gentleman behandelt sein und wird es auch.

Das Automobil hielt vor dem nur kleinen Kochladen, der Chauffeur wurde eingeladen, die Schwestern fanden sich bald auf den Holzbänken zurecht, die Jagd nach Futter hatte ja noch nicht begonnen, und dann mussten sie gestehen, selten so gut und noch niemals so originell und dabei so spottbillig gespeist zu haben.

Dann ging es weiter. Noch durch einige Vorstädte, Ansiedlungen von reizenden Cottages, dann kam das freie Land, die abgemähten Felder schon recht herbstlich, desto lieblicher die grünen Wiesen, und auch an kleinen Wäldern fehlte es nicht.

Wichtelmann wollte das Ziel nicht nennen, und die Schwestern konnten es nicht erraten, wenn sie auch wussten, dass es südwestlich ging.

Da verplapperte sich Wichtelmann einmal.

Richmond war das Ziel, das liebliche Städtchen mit den königlichen Lustschlössern, uns am meisten bekannt geworden durch die Oper ›Martha‹.

Aber die Schwestern dachten beim Hören dieses Namens jetzt nicht an den historischen Mägdemarkt, der früher in Richmond abgehalten wurde. Besonders Klara machte eine erschrockene Bewegung.

»Du willst doch nicht... Mister Howard aufsuchen?!«

Denn dieser englische Schriftsteller wohnte in Richmond, von dorther kamen seine Stenogramme, dorthin musste Klara die Abschriften eingeschrieben schicken, nach Grave's Road Nummer 4.

Wichtelmann hinwieder versicherte, gar nicht an diesen Edward Howard gedacht zu haben, er habe den Schwestern nur einmal das herrliche Richmond zeigen wollen.

Aber nun war dieses Thema doch einmal angeschnitten.

In den Luck's Cottages hatte man sich über diesen englischen Schriftsteller ja oft genug unterhalten, besonders Klara hatte natürlich mehr von dem Manne hören wollen, dessen Romane und Erzählungen sie abschrieb, was noch etwas anderes zu bedeuten hat als das aufmerksamste Lesen, von dem sie wöchentlich die recht nette Summe von neunzig Schilling erhielt.

Es war nicht viel, was Mistress Bellair erzählen konnte.

Nach dem Tode ihres Mannes, eines kleinen Beamten, hatte die ziemlich gebildete Frau, um nicht die wenigen Ersparnisse aufzuzehren, sich nach einer ihr zusagenden Beschäftigung umgesehen, immer vergeblich, bis sie den Rat erhielt, durch Annonce sich als private Maschinenschreiberin anzubieten. Da hatte sie noch die meiste Aussicht, eine einkömmliche und ziemlich selbstständige Beschäftigung zu finden.

Denn obgleich die Erfindung der Schreibmaschine schon viel früher gemacht worden war, begann sie sich doch damals erst richtig einzuführen, und zwar in England in einer Weise, von der man in anderen Ländern — Nordamerika ausgenommen — noch heute nichts weiß.

Da unsere Erzählung zwischen Schriftstellern spielt, so sei nur erwähnt, dass in England auch das kleinste Wurstblättchen durch eine Kopfnotiz verlangt, dass alle eingesandten Manuskripte mit der Maschine geschrieben sein müssen. Handschrift findet keine Berücksichtigung.

Woher dieses doch sehr pedantische Reglement entstanden ist, ist nicht mehr zu ergründen. Leicht möglich, dass da die großen Schreibmaschinenfabriken gespickt haben. Jetzt ist das eben Usus, eine Respektsache. In England und Amerika ist ein mit der Feder geschriebenes Manuskript ebensolche Unmöglichkeit, als wollten wir einen mit Fettflecken dekorierten Brief abschicken. Dem ›litterary man‹, Journalisten und Schriftsteller, ist die Schreibmaschine das notwendigste Handwerkszeug geworden, und das hat man auch gesetzlich anerkannt, indem die Schreibmaschine und auch eine zweite als Reserve nicht gepfändet werden kann. Oder er muss seine Handschrift eben abschreiben lassen, die kleinste Notiz, die er abschicken will, und so ist ein ganz neuer, recht ansehnlicher Erwerbszweig entstanden, der Tausenden von Menschen Arbeit gibt. Auch in Deutschland ist das ja schon recht verbreitet, aber nicht zu vergleichen mit England und Amerika.

Mistress Bellair hatte Glück. Auf ihre Annonce, in der sie Hausarbeit für die Schreibmaschine suchte, bekam sie gleich eine Offerte. Aber was für ein fabelhaftes Glück das war, erfuhr sie erst, als sie sich in Richmond bei Mister Howard vorstellen musste.

Er bot ihr mehr als das Doppelte, als er sonst für solche Abschreiberei gibt. Aber eben ganz, ganz peinlich ausgeführt. Doch das war schließlich ja nur Gewohnheit. Mistress Bellair hatte sich in den sieben Jahren so viel gespart, dass sie sich um den Rest ihres Lebens nicht mehr zu sorgen brauchte.

Doch Klara wollte anderes wissen.

Nun, Edward Howard hatte schon damals gegen hundert seiner Ehestandsnovellen geschrieben, à Stück drei Pence, unter seinem Namen, und die doppelte Anzahl Pennyhefte pseudonym und anonym, hatte die Abschriften schon damals selbst illustriert und selbst eingebunden, seine bisherige Maschinenschreiberin hatte ihm im Stich gelassen.

Berühmt war er auch durch seine Ehestandsnovellen nicht geworden. Aber was heißt denn das, berühmt? Lächerlich! Die erste Hauptsache war, dass ihn seine Arbeit voll und ganz befriedigte, und die zweite Hauptsache — in den Augen der Welt aber noch vor jener rangierend — dass er durch sie das Einkommen eines Millionärs hatte. Und schließlich gab es ja dennoch mindestens hunderttausend Menschen, die ihn als eine literarische Größe bewunderten, auch wenn sich die Zeitungen nicht mit ihm beschäftigten.

Also schon damals hatte er in Richmond gewohnt, Grave's Road Nummer vier, war Junggeselle, hauste in der großen, schön eingerichteten Villa allein mit einigen wenigen Dienern. Daran hatte sich im Laufe der Zeit nichts geändert. Vor zwei Jahren hatte Mistress Bellair ihn noch einmal besuchen müssen, wegen Besprechung einer besonderen Arbeit. Da hatte er ihr auch seine Bibliothek gezeigt und die kleine Werkstatt, in der er die Manuskripte selbst einband. Es war ein sehr ernster, stiller, aber liebenswürdiger Mann. Mit dem Kopfe, den seine Ehestandsnovellen gewissermaßen als Warenschutzzeichen trugen, hatte er ja einige Ähnlichkeit, aber das war eine Fotografie von vor zwanzig Jahren gewesen.

Mehr hatte Mistress Bellair der fragenden Klara nicht erzählen können, Wichtelmann wusste erst recht nichts.

»Du willst doch nicht etwa... Mister Howard aufsuchen?«, hatte also Klara wie erschrocken gerufen, als Wichtelmann endlich das Ziel genannt, Richmond.

Wichtelmann machte zuerst ein ganz verwundertes Gesicht.

»Wie kommst du denn auf so eine Idee? Ich habe an diesen Howard wirklich gar nicht gedacht. Ich wollte euch nur das schöne Richmond zeigen, in dem sich früher die Londoner Mägde verauktionieren ließen.«

»Ja, wie wär's denn aber, wenn wir ihn einmal besuchten?«, meinte Toni.

»Toni, wo denkst du hin! Wir sind doch in England!«

Ja, das hatte Toni sicher vergessen. Denn die englischen Verhältnisse kannte sie sonst doch. Der Engländer sucht wohl im Auslande gern berühmte Persönlichkeiten auf, kann da geradezu unverschämt werden, aber auf seiner eigenen Insel ist so etwas ganz ausgeschlossen. My home is my castle — mein Heim, mein Haus ist meine Burg — dieser uralte Spruch gilt noch heute in vollem Umfange. Mit Ausnahme des Kriminalbeamten, der den Verhaftungsbefehl in der Tasche hat, darf kein anderer Beamter ohne Erlaubnis des Bewohners das englische Haus betreten, der Gerichtsvollzieher darf, wenn sich die Tür nicht öffnet, nur den Weg durch ein offenes Fenster oder den Schornstein nehmen — so steht es tatsächlich im englischen Gesetz. Von neugierigen Besuchern ist in England gar keine Rede. Dem Fremden ist es unsäglich schwer gemacht, in ein englischen Haus eingeführt zu werden.

Ein reizend gelegenes Gasthaus lockte zum Aussteigen. Aus dem einen Glas Portwein wurden zwei.

Die Stimmung hob sich.

»Ja, könnten wir es nicht einmal probieren, ob er uns vorlässt? Wir können doch nichts weiter als abgewiesen werden.«

»Kinder, da ist ja gar kein Gedanke dran!«

Es wurde noch einmal eingekehrt, dieses Gasthaus führte deutschen Rheinwein.

»Wenn ich mich als seine Sekretärin legitimiere«, sagte Klara mit verdächtig strahlenden Augen.

Und so ging es bis nach Richmond, und da sah auch Wichtelmann nicht mehr ein, warum man dem englischen Kollegen von der Feder, um den sich in den Luck's Cottages ja so viel drehte, nicht einmal einen Besuch abstatten solle.

»Gut, wir riskieren es. Rausgeschmissen können wir überhaupt nicht werden, denn wir kommen gar nicht hinein. Sie, Chauffeur, wissen Sie, wo hier die Grave's Road ist?«

Der Chauffeur brauchte nicht erst zu fragen, es war eine der vornehmsten Straßen Richmonds, in die er bald in langsamem Tempo einlenkte. Links und rechts nur prächtige Villen, kleine Paläste, in parkähnlichen Gärten liegend.

»Da ist Nummer vier!«

Es war eine der größten und schönsten Villen. In dem herrlichen Vorgarten harkte ein Mann die Wege.

Aber das Automobil hielt nicht. Die drei hatten sich unterdessen überlegt, dass sie nicht so ohne Weiteres unmöglich vorsprechen konnten. Da musste wenigstens erst eine schriftliche Bitte hingeschickt werden.

Sie stiegen im nächsten Hotel, das aber erst viel später kam, ab, und ihre Unternehmungslust hatte sich noch nicht gelegt, Klara selbst setzte den Brief auf, brauchte dazu nicht Wichtelmanns Hilfe.

Wie Mister Howard aus der Unterschrift erkenne, sei sie die Nachfolgerin der Mistress Bellair, sie halte sich zufällig in Richmond auf, mit Schwester und Schwager, welche nicht minder die größten Verehrer des berühmten Romanciers seien — ob es nicht einmal gestattet wäre, ihn zu besuchen, um ihm ihre Hochachtung zu Füßen zu legen.

»Ganz gut«, sagte Wichtelmann, als er das Schreiben kuvertierte. »Wenn er kein Ruppsack ist, hat er keine andere Entschuldigung, als dass er durch einen Diener antworten lässt, er sei nicht zu Hause.«

Der noch in ihren Diensten stehende Chauffeur wurde abgeschickt, gleich per Automobil.

»Herrgott, was haben wir gemacht!«, flüsterte Klara, als das Automobil davonknatterte.

»Na, was denn! Wenn wir nun einmal die englische Sitte gebrochen haben, dann ist doch gar nichts weiter dabei.«

So dachte auch Toni. Klara war und blieb äußerst unruhig.

Bald kam das Automobil zurück, der Chauffeur übergab ein kleines Kuvert.

Die Adresse war an Mistress Morrus gerichtet, genau dieselbe Handschrift, welche auch des Schriftstellers Postsendungen trugen. Ein Begleitbrief hatte noch nie beigelegen.

Auf die einfache Karte war nur eine Zeile geschrieben, von derselben Hand.


I am very glad. Please. Howard.


»Na, da wollen wir«, sagte Wichtelmann. »Wir fahren mit dem Automobil noch hin, dann kann es zurückgehen.«

Etwas Toilette hatten sie schon gemacht. Klara befand sich in einer fast unbegreiflichen Aufregung.

»Was hast du nur, Klara!«

»Ich — ich — ich weiß nicht — ich verliere diese Arbeit...«

»I Gott bewahre!«, wurde da gelacht. »Na und wenn auch dieser Howard so ein komischer Mensch wäre — du hast's doch wahrhaftig nicht nötig!«

Sie fuhren hin. Der Chauffeur war schon bezahlt, fuhr gleich ab. Zur Rückfahrt wollten sie die Eisenbahn benutzen.

Schon, als sie ausstiegen, kam ein Diener durch den Garten, öffnete das Gittertor.

»Mistress Morrus? Es ist Mister Howard sehr angenehm.«

Sie wurden die Terrasse hinauf in das Entree geführt. Schon hier atmete alles Vornehmheit und gediegenen Kunstgeschmack. Viele Gemälde, wenigstens Kopien berühmter Meister, und noch mehr schien der Hausherr Statuen zu lieben.

Er kam. Ein älterer, schlanker Herr. Ja, der ideale Lockenkopf war es noch immer. Aber schon ganz grau.

Er war die Zuvorkommenheit selbst, ohne dabei etwas von einer Unnahbarkeit zu verlieren.

»Mistress Morrus? Es freut mich ungemein, die Nachfolgerin meiner treuen Gehilfin Mistress Bellair persönlich kennen zu lernen. Ihre Frau Schwester, Ihr Herr Schwager? Sehr angenehm. Nun, Sie wollen gewiss die vollendeten Bücher sehen, die als lose Blätter unter Ihren Händen hervorgegangen sind, und ich muss Ihnen das aufrichtige Kompliment machen, dass Ihre Arbeit nicht mehr zu übertreffen ist.«

Sehr höflich, aber... sonst ganz sachlich, weiter nichts.

Er führte die drei in die Bibliothek, ein großer Saal, dessen Wände nicht nur mit Büchern bedeckt waren, sondern auch kreuz und quer liefen Bücherstellagen, sodass der ganze Raum in lauter kleine Abteilungen geteilt war, und den Ehrenplatz nahmen die selbsteingebundenen Bände ein, viele hundert.

Auf weitere Erklärungen ließ sich der vornehme Herr gar nicht ein, er beschrieb höchstens den Weg und das, was dazu gehörte.

»Sie wissen doch von Mistress Bellair, dass ich die Manuskripte selbst einbinde. Hier ist mein Schreibzimmer, hier angrenzend die Buchbinderwerkstatt. Das ist meine Liebhaberei...«

Er führte so schnell, dass die drei kaum folgen konnten.

Während sich der flinke Wichtelmann schon in der originellen Werkstatt befand und hier den alten Herrn einmal ›fasste‹, sich einige nähere Aufschlüsse geben ließ, schaute sich Toni noch in dem sehr einfachen Schreibzimmer um, und Klara war sogar noch in der Bibliothek.

Dann trat auch Toni in die Buchbinderei, und Klara kam in das Schreibzimmer, betrachtete ehrfürchtig den mächtigen Tisch, an dem dieser Mann solch ein ungeheureres Quantum Geistesarbeit leistete, wenn er nicht diktierte.

Hierüber sollten sie gar keine Aufklärung erhalten. Mister Howard war äußerst höflich, fertigte aber doch den uneingeladenen Besuch so schnell wie möglich ab.

Nur in der Werkstatt ließ sich Wichtelmann, wie gesagt, nicht so schnell abspeisen, forderte und bekam auch ganz höflich nähere Erläuterungen, wie dieser und jener Handgriff gemacht wurde.

Toni fand das ganz interessant, vermisste aber zunächst die Schwester. Sie ging in das Schreibzimmer zurück, sah Klara neben dem Schreibtisch stehen...

»Klara, um Gottes willen, was hast du denn, wie siehst du aus!«, flüsterte sie erschrocken.

Ja, das sonst so gesunde Antlitz der jungen Frau, die auch bei der vielen Stubenarbeit am offenen Fenster immer die köstliche Waldluft einatmete, war plötzlich weiß wie der Tod, und sie zitterte an allen Gliedern, hielt sich krampfhaft am Schreibtisch fest.

»Mir ist... nicht ganz wohl«, hauchte sie »der Wein...«

»Setze dich, ein Glas Wasser...«

»Nein, nein — nicht nötig — es ist schon wieder vorbei...«

Und wirklich richtete sie sich gleich kräftig auf, konnte fest gehen, nur dass die blasse Farbe noch längere Zeit anhielt.

Als aber die beiden Herren wieder herauskamen, war auch davon nichts mehr zu merken.

»Es hat mich äußerst gefreut, Mistress Morrus, ich hoffe, dass wir recht, recht lange zusammen arbeiten werden. Sie sind mir bereits unentbehrlich geworden. Ich empfehle mich sehr.«

Sie waren entlassen, wurden von einem Diener hinausbegleitet.

Wichtelmann war nicht dazu gekommen, sich als Kollegen von der Feder vorzustellen, und es war auch besser so, hätte ja gar keinen Zweck gehabt.

»Na, da hast du dein Ideal gesehen, Klara. Bist du etwa ernüchtert?«

»Du, Klara ist unwohl geworden, sie wäre vorhin bald umgefallen.«

Das verdrängte bei Wichtelmann jeden anderen Gedanken, er war die Besorgnis selbst um die Schwägerin, diese aber wollte nichts mehr davon wissen, sie war sogar äußerst aufgeräumt, und das verstand sie so zu machen, dass ihr niemand die Erkünstelung anmerkte. Auch war ihr Aussehen wirklich wieder ein ganz normales.

»Ja, was nun? Nun wollen wir einmal die Lustschlösser besichtigen.«

»Ach, Wichtelmann!!«, erklang es in sehnsüchtigem Tone.

»Na, was denn?«

»Haben wir denn nicht Lustschlösser genug zu Hause? Wir wollen doch lieber gleich wieder nach Hause. Ach, wie ich mich sehne!«

Da war Wichtelmann sofort dabei. Und unterwegs offenbarte er sich, erklärte erst jetzt, dass er nur deswegen darauf bestanden hatte, die beiden ›Mädels‹ sollten noch einmal ihre Turnerei aufnehmen, weil er ganz bestimmt gewusst habe, dass das nichts mehr für sie sei, wie bald sie sich nach dem Glücke der Häuslichkeit zurücksehnen würden.

Der Weg von hier bis direkt zum Bahnhof führte nur durch vornehme Straßen mit Privathäusern, kein einziges Geschäft.

In einer halben Stunde waren sie wieder in London, hielten sich nicht auf, begaben sich sofort nach der nächsten Station, von der aus sie Loughton erreichen konnten, um drei Uhr waren sie schon wieder zu Hause.

»Gott sei Dank, Gott sei Dank!«, jubelte Toni immer weiter.

Klara war etwas still geworden, was aber nicht weiter auffiel.

»Ja, was nun anfangen?«, meinte Wichtelmann. »Zum Arbeiten habe ich jetzt wirklich keine Lust mehr, ich bin aus meiner Ordnung gekommen. Nein, das mache ich nicht wieder. Einmal nach London, wenn's unbedingt sein muss, weil man etwas braucht... aber sonst bringt mich niemand mehr aus meinem Hause, aus meiner Welt. Komm, Toni, wir gehen gleich schlafen, um mit diesem verpfuschten Tage gar nicht mehr zu tun zu haben.«

Und die beiden gingen faktisch gleich in ihr orientalisches Bett, nachmittags um drei Uhr, und das nicht nur zu einem verspäteten Nachmittagsschläfchen, das sie übrigens sonst gar nicht kannten, sondern um bis zum nächsten Morgen nicht wieder aufzustehen. Erhaben über Raum und Zeit!

Drüben aber im Nachbarhause tat Klara etwas anderes.

»Mistress Bellair, bitte, ich möchte Sie einmal sprechen — im DiningRoom — nein, oben in Ihrem Zimmer, da sind wir am ungestörtesten.«

Betroffen blickte die alte Dame nach der Sprecherin, und dann erschrak sie erst recht.

»Um Gott, Klara, was ist Ihnen denn?!«

Ja, dieses Gesicht, diese Augen, die sie sah!

Ganz mechanisch folgte sie der Hinaufgehenden.

»Wissen Sie, wo wir gewesen sind?«

Nein, Mistress Bellair hatte noch nichts davon zu hören bekommen.

»In Richmond.«

Jetzt war es Mistress Bellair, die plötzlich ein aschfarbenes Gesicht bekam.

»In — in... Richmond?«, stotterte sie, und dann versuchte sie sich wieder aufzuraffen. »Ein reizendes Städtchen, nicht wahr?«

»Wir haben Mister Edward Howard aufgesucht.«

Ein starrer Blick nach der jungen Frau, die wie eine Richterin vor ihr stand, und mit einem Schrei brach die alte Dame vollends zusammen, wie eine, die ihr Todesurteil vernommen hat.

Wir lassen die beiden allein. Es war gut, dass sie sich in dem Zimmer befanden, welches dem Nachbarhause abgekehrt war. Denn es ging recht leidenschaftlich bei der Unterhaltung zu. —

Am nächsten Morgen, als die Nachbarsleute zu dem sie nichts kostenden Frühstück herüberkamen, entschuldigte Klara das Fernbleiben der Mistress Bellair.

Sie habe gestern Abend einen Brief erhalten, in dem ihr der Tod einer alten Freundin mitgeteilt worden, und das habe sie so angegriffen, dass sie die ganze Nacht schlaflos in einem etwas fiebernden Zustand verbracht hatte.

Klara hatte fast die ganze Nacht wachend an ihrem Bett gesessen, und damit entschuldigte sie gleich ihr eigenes Aussehen.

Dies alles war keine Lüge, es war wirklich solch ein Trauerbrief ins Haus gekommen.

»Und wir liegen seit gestern Nachmittag um drei drüben im Bett!«, rief Toni. »Aber Klara, warum hast du mich da nicht geholt!«

Deswegen war nichts mehr zu entschuldigten.

Mistress Bellair kam erst am Abend wieder zum Vorschein, sah recht vergrämt aus, war noch mehr verschüchtert, aber am anderen Tage war alles schon wieder in Ordnung.

* * *

15. Kapitel

Wieder waren vier Wochen vergangen. In den Luck's Cottages hatte sich nichts geändert. Die beiden Häuser führten ihre Namen ausnahmsweise einmal mit Recht.

In einem Hause wurde gezimmert und geschneidert und geschustert, dabei immer diktiert und stenografiert und abgeschrieben, dazwischen einmal einen Streifzug durch den herbstlichen Wald — und im anderen Hause klapperte Klara den ganzen Tag auf der Schreibmaschine, während Mistress Bellair die Wirtschaft führte, und wenn die vier zusammenkamen, so war alles ein Glück, eine Seligkeit, und das galt noch mehr, wenn am Sonnabendnachmittag Morrus eintraf und bis zum Sonntagabend blieb.

Wie wir es beschrieben haben, daran hatte sich absolut nichts geändert.

An einem Mittwochnachmittage, es begann schon zu dämmern, hatte sich Klara einmal zur Schwester hinüberbegeben, während Wichtelmann vor der Tür seines Hauses stand, die Straße auf und ab blickend, sein Pfeifchen schmauchend.

Plötzlich kam er zu den beiden in den Parlour gestürzt.

»Hört, da kommt ein Herr, der nach den Hausnummern späht — ich lasse mich doch gleich hängen, wenn das nicht unser Howard ist, der zu uns will.«

Im Parlour selbst war es schon zu dunkel, als dass man hätte sehen können, welch furchtbaren Eindruck diese Worte auf Klara machten.

Aber dann war sie schon hinaus, und sie war ganz ruhig, unnatürlich ruhig, als sie vor ihrer Haustür mit dem Herrn zusammentraf.

»Mister Howard! Sie wollen gewiss zu mir!«

»Ah, Mrs. Morrus! Wenn ich Mrs. Bellair sprechen darf!«

Der ältliche Herr war aufgeregter, als es sich für einen wahren Gentleman ziemt, und wenn er auch, wie Dickens sagt, Frau und Kinder und ›sogar‹ sein ganzes Vermögen verloren hat. Das alles muss ein echter Gentleman mit würdevoller Ruhe zu tragen wissen.

»Bitte treten Sie ein. — Missis Bellair!!«

Sie kam. Und die alte Dame wurde, als sie den Herrn erkannte, gleich noch viel aufgeregter, während Klara ganz normal blieb.

»Was ist geschehen?«

»Mrs. Bellair, ich muss Sie unter vier Augen sprechen«, stieß Mr. Howard hervor, sich vergebens zur Ruhe zwingen suchend.

»Sprechen Sie!«

»Missis Morrus...«

Sie befanden sich im Parlour, der schon erleuchtet war. Und Klara war mit eingetreten, und jetzt verschränkte sie die Arme über der Brust.

»Ich bleibe!«

Verständnislos und erschrocken blickte Mr. Howard bald auf sie, bald nach Mrs. Bellair.

»Sie weiß alles!«, stieß da diese hervor.

Der alte Herr prallte fast zurück.

»Sie weiß... alles?!«

»Ja, schon seit vier Wochen, seit ich Sie damals in Richmond besuchte«, bestätigte Klara in hoheitsvoller Ruhe. »Und nun verheimlichen Sie mir nichts mehr, die Komödie ist aus — was ist denn mit meinem Gatten?«

Ein kurzer, aber furchtbarer Kampf, und dann kam es heraus:

»Er ist heute Nachmittag — vor drei Stunden — von der Bücherleiter gestürzt...«

Nur ein Ruck — Klara hatte sich schon höher aufgerichtet.

»Tot?«, erklang es ruhig, freilich, in ganz anderem Tone.

»O nein — nur ein doppelter Schenkelbruch — der Arzt versichert gänzliche Heilung...«

Klara löste die Arme von der Brust, um sie gen Himmel zu erheben.

»Gelobt sei Gott!«

»Aber er ist nicht transportfähig...«

Schon hatte Klara die Tür geöffnet.

»Und Sie wollten die Sache hier arrangieren?«

»Ja.«

»Ich komme selbst mit.« — —

Anderthalb Stunden später waren die beiden schon ich Richmond, standen vor dem Gartentor der Villa, Mr. Howard klingelte.

Ein Diener kam und öffnete.

»Wie geht es?«

»Der Arzt war noch einmal da. Es wäre alles ganz normal. Er will eine Krankenpflegerin schicken.«

»Ich bringe sie gleich selbst mit.«

In recht freudigem Tone hatte es der rückkehrende Hausherr gesagt.

Sie schritten die Terrasse hinauf, gingen durch das elektrisch erleuchtete Entree, durch die Bibliothek.

»Hier geschah es«, sagte Howard im Vorbeigehen.

Klara interessierte sich nicht für die Unglücksstelle, wie von einem Magneten angezogen, schritt sie in dem ihr sonst doch ganz fremden Hause einer Tür zu.

Sie führte in ein luxuriös eingerichtetes Schlafzimmer. In dem Bette lag ein Mann — Thomas Morrus.

»Tom, es ist alles ganz vortrefflich arrangiert, und ich bringe gleich die Krankenschwester mit«, rief der, der sich Howard nannte, hinter der verschleierten Dame, die sofort auf das Krankenbett zueilte.


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Noch auf diesem Wege riss sie den Schleier ab.

»Klara!!«, stöhnte da Tom auf, abwehrend die Hände gegen sie ausstreckend.

Da aber lag sie schon neben dem Bett auf den Knien, hatte ihn schon umschlungen.

»Du guter, alter Tom, was machst du nur für närrische Geschichten?!«, schluchzte und lachte sie gleichzeitig.

»Klara!«, wiederholte Morrus nur, an eine Lösung zum Guten noch nicht glauben könnend.

»Ich weiß alles!«

»Du weißt...«

»Alles, alles und das schon seit vier Wochen, Mrs. Bellair hat mir schon früher alles erzählt, was ich nicht selber bereits gewusst habe!«

Wir geben wieder, was ihr Mrs. Bellair erzählt hatte, ihr hatte berichten müssen, mit halber Gewalt dazu gezwungen, von der aus Richmond zurückkehrenden Klara.

Im Grunde genommen eine sehr einfache Geschichte, und doch wohl kaum verständlich für den, der so etwas nicht selbst erlebt hat oder nicht in innerster Seele mitfühlen kann.

Ein junger Schriftsteller, der nach dem Höchsten strebt. Bis er zeitig genug, ehe ihm das Fieber des Ehrgeizes das Mark ausgesogen hat, erkennt, dass er es nie erreichen wird, und klug genug ist, den aussichtslosen Wettlauf nach der Palme der Ehre und des Ruhmes aufzugeben. Oder es ist eigentlich nicht Klugheit, sondern eine gütige Fee hat an seiner Wiege Pate gestanden, sie zieht ihm zur rechten Zeit den Schleier von den Augen weg und lässt ihn die Eitelkeit der Eitelkeiten erkennen, und was er dazu braucht, um vollkommen zufrieden zu sein, hat sie ihm schon früher als Patengeschenk mitgegeben.

Kurz, er ist zufrieden, ist glücklich. Er schreibt und dichtet, was er kann, nicht mehr, und er hat erkannt, dass überhaupt kein Mensch mehr schaffen kann, als was er selbst ist, und er schreibt nur, weil er schreiben muss — so lebt er ganz in seiner eigenen Welt und ist dabei glücklich, wobei es gleichgültig, aber auch gänzlich, vollständig gleichgültig ist, ob man in der Woche fünf Mark oder fünftausend verdient und zu verzehren hat.

Da hat er auch noch das Glück, ein Mädchen kennen zu lernen, schön und liebenswürdig und trotz ihrer Zartheit an die zehntausend Pfund schwer — und die Hauptsache natürlich ist, denn sonst hätte das alles ja gar nichts für ihn zu sagen, das ›Kennenlernen‹ allein tut's doch nicht — die Hauptsache ist, dass dieses Mädchen ihn liebt und ihn heiratet — oder er sie, was ja dem Effekt nach dasselbe ist.

Oder ist das etwa kein Glück? Ja, das ist Glück, und der junge Schriftsteller saß drin wie die Made im Speck.

Aber bald findet er ein Haar in diesem Glück. Da ihr Mann nun einmal Schriftsteller ist und wirklich wunderschöne Erzählungen schreiben kann, soll er auch etwas aus sich machen, nicht nur für solche unbekannte Winkelblätter schreiben — mit einem Wort: die junge Frau will einen berühmten Schriftsteller zum Manne haben, mit dem sie sich zeigen kann — und wenn er's nicht bezahlt bekommt, so hat das schließlich ja auch nichts zu sagen, sie haben's ja dazu, sie hat doch zehntausend Pfund mitgebracht, sie kann ihren Mann, wenn er nichts verdient, doch ernähren — und überhaupt, solch ein einsiedlerisches Leben, das ist nichts für sie, sie will möglichst jeden Abend ins Theater gehen, mindestens einmal im Jahre eine größere Reise machen, und dann flaniert sie mit ihrem stattlichen Gatten so gern auf der Straße...

Versteht der geneigte Leser? Es ist so schwer, so sehr schwer zu schildern.

»Ach, Klara«, weinte jetzt der starke Mann im Bett wie ein kleines Kind, »wenn du wüsstest, wie tief, tief unglücklich ich war und immer unglücklicher wurde, durch dieses Weib, das mich aus meinem himmlischen Paradiese gerissen hatte — und das ja nur in ihrer Liebe zu mir — und ich liebte sie ja auch über alles — und dennoch hätte ich sie fast lassen mögen — ach, wenn ich dir nur diesen Widerspruch erklären könnte...«

»Du hast es nicht nötig«, flüsterte Klara, die Hand und das Haupt des Weinenden streichelnd, »ich verstehe alles, alles.«

So wollen wir uns genügen lassen, wenn ihn nur seine Frau, diese jetzige hier, verstand.

Seine erste hatte ihn in all ihrer Liebe eben nicht verstanden, das war der ganze Witz, und im Übrigen muss man wohl selbst ein ähnlicher Charakter sein, um das als das tiefste Unglück zu empfinden, was andere für das grüßte Glück halten.

Da wird der närrische Kauz plötzlich von seinem eingebildeten Unglück erlöst. Freilich durch eine furchtbare Katastrophe, die ihn anfangs erst recht an den Rand der völligen Verzweiflung bringt.

Nach achtjähriger Ehe, es sind schon zwei Kinder da, wieder einmal eine Vergnügungsreise nach Frankreich, auf die der träumende Dichter wie ein Schlachtopfer mitgeschleppt wird, so wenigstens ist ihm immer zumute — auf dem Kanal wird der Dampfer im Nebel gerammt, viele Passagiere finden ihren Tod, darunter auch Mistress Morrus und ihre beiden Kinder.

Der überlebende Gatte ist der Verzweiflung nahe, und das umso mehr, weil er innerlich jauchzt, dass ihm das Schicksal endlich die Sklavenketten abgenommen hat.

Dieser nur scheinbare Widerspruch ist wohl eher zu verstehen. Er verabscheut sich, weil er sich über so etwas freuen kann, und außerdem hat er seine Frau wirklich innig geliebt, von den Kindern gar nicht zu sprechen.

Aber das ist eine Stimmung, die nicht immer währen kann. Die Erkenntnis des Vorteils der neuen Situation bleibt. Der Dichter zieht sich wieder in seine Einsamkeit zurück, die jetzt allerdings sehr luxuriös ausgestattet ist, kehrt nach den letzten fortwährenden Misserfolgen wieder zu seiner alten schriftstellerischen Tätigkeit zurück, ist wieder vollständig glücklich, lebt wirklich im Himmel, der ihm immer offen steht, so oft er kommt und anklopft — das heißt, sobald er sich in seine Arbeit, in die Gebilde seiner Phantasie versenkt.

Nun aber dürfte wohl kein Mensch, vom irdischen Standpunkte aus betrachtet, ein ständiges Wohnen im Himmel aushalten, ohne sich bald gründlich zu langweilen. Das hat schon Ferdinand Lasalle gesagt — ›sollte ich einmal ins Paradies kommen, dann schlage ich dort alles in Trümmer, um alles wieder neu aufzubauen‹ — das sagt auch ein noch lebender, hochberühmter und tieffrommer Kirchenlehrer. Ewig unter den Lebensbäumen zu träumen und sich von den Englein etwas vorflöten zu lassen — das ist ein Unding, das hält kein Mensch aus, solche Phantastereien dürfen dem Kinde gar nicht erst eingepflanzt werden. Wenn dein Leben köstlich gewesen ist, so war es Mühe und Arbeit, und das kann unmöglich auch in einem anderen Leben anders sein, oder... ich verzichte darauf. Das einzige wahre, weil dauernde Glück ist, Befriedigung in seiner Arbeit zu finden, alles, alles andere ist dummer Larifari. Freilich gibt es nicht sehr viele Menschen, die dieses dauernde Glück gefunden haben.

Also, es ist nötig, ab und zu aus dem Himmel zu treten, um die himmlische Seligkeit dann wieder richtig würdigen zu können. Dazu ist für die Menschen, welche ›wissen‹, der Feiertag bestimmt. Ein schrecklich langweiliger Tag, dieser Feiertag, den man sich selbst bestimmt hat, an dem man sich zwingt, absolut nichts zu arbeiten, nichts zu lesen, womöglich auch nicht zu denken, wo man still in der Stube sitzt und die nackte Wand anstarrt.

Das ist allerdings die höchste Kunst, einen Feiertag zu verbringen. Wer das fertig bringt, wer solch eine ungeheure Willenskraft besitzt, nur der kennt die Seligkeit, die einen überkommt, wenn dieser schreckliche Tag vorüber ist und die Arbeitswoche wieder beginnt.

Aber so weit bringen es die wenigsten. Schließlich genügt es auch schon, zeitweilig eine Abwechslung in der Beschäftigung eintreten zu lassen. Die einen beschäftigen sich während des Feiertages zur Abwechslung mit göttlichen Gedanken, das erfrischt und kostet nicht viel, andere gehen in den Wald, um sich die lahmgesessenen Beine wieder auszurecken, und können sich dabei die Natur betrachten. Oder sie gehen nach jenen Plätzen, wo die anderen, die ›Nichtwissenden‹, ihre Feiertage verbringen, sich amüsieren, machen ihre Beobachtungen, die sie teils zum Lächeln zwingen, teils mit tiefem Mitleid erfüllen. Denn der gewaltige Unterschied zwischen diesen beiden Kategorien der Menschen ist der, dass jene in der Woche sechs Freudentage haben und nur einen, an dem sie sich mehr oder weniger langweilen, diese dagegen jubeln in der Woche nur an einem einzigen Tage und haben dabei im Hintergrunde immer noch das Schreckgespenst von sechs langen, mühseligen Arbeitstagen.

Thomas Morrus, wie er tatsächlich hieß, was sogar betont werden muss, hatte schon früher, als er Herr seiner selbst gewesen, den Feiertag immer außerhalb seines Zimmers verbracht, am nahen Meere oder sonst wo, wo er sich danach sehnte, wieder in sein Zimmer zurückkehren zu können.

Gleich bei Anfang seines nunmehrigen neuen Lebens war er durch eine Annonce wieder auf seine alte Tante aufmerksam geworden, die schriftliche Arbeit suchte. Mistress Bellair hatte also gar nicht gelogen. Nur ihre Verwandtschaft hatte sie verschwiegen. Auch ging es ihr ja nicht etwa so schlecht, dass sie daran gedacht hätte, ihren reichen Neffen um Unterstützung anzugehen.

Morrus setzte sich mit ihr in Verbindung, übertrug ihr die Abschreiberei, fand in der alten Dame, die er seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte, immer noch die sympathische Frau, die in Loughton dicht am Walde in einem reizenden Heim wohnte — er beschloss, hier immer den Sonntag zu verbringen.

So war es gekommen. Ganz einfach. Und bald darauf hatte sich noch ein zweiter Schriftsteller eingestellt, der gern dicht an dem idyllischen Walde wohnen wollte, wenigstens ab und zu. Wichtelmann hatte gehört, dass im Luck's Cottage ein Zimmer mit oder ohne Pension zu vermieten sei, das war zwar gar nicht mehr der Fall, aber Morrus — es war gerade sonntags — hatte gleich solchen Gefallen an dem kuriosen Kauz gefunden, dass er Mistress Bellair bestimmte, auch diesen zweiten Schriftsteller aufzunehmen, der hier ein ständiges Zimmer haben wollte, auch wenn er es nur selten benutzte. Die beiden hatten sogar eins zusammen bezogen.

Aber als Kollegen von der Feder gab sich Morrus nicht zu erkennen. Er hatte von jeher unter dem Pseudonym Edward Howard oder anonym geschrieben, und das ging so weit, dass er für sich sogar eine ganz andere Person vorschob.

Schon damals, als er seine ersten Ehestandsnovellen geschrieben hatte, war der Verleger mit der Bitte an ihn getreten, er möge auf die Hefte, welche den größten Erfolg gehabt und einen noch größeren versprachen, wenn alles richtig gehandhabt würde, doch sein Brustbild setzen. Es sei dies gewissermaßen ein Warenschutzzeichen, das jede Nachahmung unmöglich macht, das Publikum liebe es, es sei jetzt Mode.

Hierzu war Morrus nicht zu bewegen gewesen. Er wusste Rat. Er hatte einen Freund, oder doch guten Bekannten, Schreiber bei einer Versicherungsgesellschaft, der als Junggeselle mit ihm auf demselben Flur wohnte. Dessen idealer Lockenkopf musste ganz einfach herhalten. Aber nicht etwa, dass dieser Edward Howard hieß! Das war ein ganz aus der Luft gegriffener Name, bei dessen Wahl Morrus nur darauf Bedacht genommen, dass er nicht im Adressbuch der englischen und amerikanischen Schriftsteller stand.

Dann später hatte er diesen wirklich zum Freund gewordenen Versicherungsbeamten ganz zu sich genommen, verwendete ihn als Sekretär, und jetzt musste er den Namen Edward Howard völlig annehmen. Denn das ist in England ja angängig. Man kann sich in England nennen, wie man will. Nur wenn es sich um eine amtliche Registration handelt, muss man den Namen angeben, den man vom Vater bekommen hat. Sonst setzt man einfach irgendeinen Namen an seine Haustür, und der unter diesem Namen eingeschriebene Brief wird gegen Unterschrift abgegeben, der einfache Briefträger kümmert sich überhaupt nicht um den Namen, bloß um die Hausnummer, wirft den Brief in den Kasten und damit fertig.

Man sollte meinen, dass hieraus die größte Unsicherheit entstehen müsste. Das ist aber durchaus nicht der Fall. Das viele Jahrhunderte alte England hat dies schon alles einzurichten gewusst. Wie, das lässt sich nicht ohne Weiteres schildern. Erwähnt sei nur, dass in England die postalische Geldauslieferung trotz aller scheinbaren Leichtfertigkeit viel sicherer ist als in Deutschland, indem der Empfänger des Geldes zuvor den Namen des Absenders als Stichwort angeben muss. Er muss also zuvor erst brieflich von der Geldsendung benachrichtigt werden. Sonst kann in England niemand Geld erheben. Aber wie der Empfänger heißt, das ist der Post ganz egal. Es ist dies trotz aller scheinbaren Umständlichkeit, viel einfacher, praktischer und viel sicherer als in anderen Ländern Europas.

Also, das ganze große Haus, das noch einiger Diener benötigte, ging unter dem Namen des Sekretärs, der aber selbst gar nicht einmal Edward Howard hieß, und das ging so weit, dass, wenn mit einem neuen Verleger einmal eine mündliche Besprechung nötig war, dies alles der Lockenkopf Edward Howard erledigte, als Verfasser jener Serien auftrat, ja, als Morrus einmal ein Theaterstück geschrieben, welches auch angenommen und aufgeführt wurde, zwar ohne bleibenden, anfangs aber doch mit starkem Erfolge, der Sekretär sich vor dem ihn herausklatschenden Publikum verbeugte.

Morrus wollte mit all solchen Äußerlichkeiten nichts zu tun haben, er wäre dadurch doch nur in seinen arbeitsamen Träumen gestört worden, in seinem stillen Glück. Dann konnte man es ihm nicht verdenken, wenn er auch in dem auf der entgegengesetzten Seite Londons gelegenen Loughton sein Inkognito wahren wollte. Hier führte er zwar seinen richtigen Namen, Thomas Morrus, hier aber gab er sich, wohl an den früheren Beruf seines Sekretärs denkend, für einen Versicherungsbeamten aus, für einen Inspektor, der die ganze Woche auf Reisen war und nur des Sonntags in seiner Junggesellenwohnung der Ruhe pflegte, das Gärtchen bestellte, im Walde herumbummelte, bei schlechtem Wetter die Beine unter den Tisch steckte, mit seiner Wirtin plauderte und dazu sein Pfeifchen schmauchte.

So hatte es Morrus getrieben, seitdem er Witwer geworden, wiederum fast acht Jahre lang, und auch Wichtelmann hatte keine Ahnung, dass es die Stenogramme dieses Versicherungsinspektors waren, die Mistress Bellair oben abschrieb.

Da waren die beiden Schwestern gekommen. Mistress Bellair hätte gern einmal ein paar Ferienpensionärinnen in ihrem Hause gehabt. Und Morrus hatte nichts dagegen. Denn menschenscheu war der durchaus nicht, nicht einmal ein Kopfhänger. Er hatte sich für die beiden deutschen Turnlehrerinnen sogar so interessiert, dass er sich als Versicherungsinspektor ebenfalls eine Woche Ferien erlaubt hatte. Dass aber die Geschichte so auslief, dass er sich in die eine gleich verlieben würde, mit dem Bewusstsein, sofort Gegenneigung zu finden, das hatte er freilich nicht geahnt.

Wir wissen, wie es weiter gekommen war. Der dazwischen platzende Wichtelmann ahmte seinem Freunde sofort nach, nahm die andere auf sich — und Wichtelmann hatte nicht lange Geduld.

Da allerdings, als die Sache so scharf wurde, hatte Morrus schwere Kämpfe zu bestehen. Ach, wie viele Unterredungen hatte er mit Mistress Bellair gehabt, der er sich schon längst anvertraut! Ja, er liebte Klara. Und es war ja ein so einfaches, gutes, häusliches Mädchen. Aber die bösen Erfahrungen in der früheren Ehe! Und wenn sie nun...

Wichtelmanns wildes Ungestüm unterbrach alle Erwägungen, die sonst wahrscheinlich auch niemals ein Ende genommen hätten.

Es wurde eben geheiratet, und zwar noch plötzlicher, als Morrus selbst als Engländer geahnt hatte. Nun war er gefangen. Was sollte er tun? Nun, er blieb ganz einfach der Versicherungsinspektor, der die ganze Woche auf Reisen war und nur am Sonnabendnachmittag nach Hause kam, hier den Sonntag zu verbringen.

Ja, er fühlte, dass er ein Unrecht beging, aber gar so schlimm war dieses Schuldbewusstsein doch nicht. Eben weil er ein Engländer war. Wir haben damals die englischen Eheverhältnisse nicht umsonst so ausführlich geschildert. Das Haus gehört der Frau, dem Manne das Geschäft, und was für eins das ist, das ist der Frau ganz egal, wenn der Mann nur genügend Geld schafft und zu Hause artig ist.

Was war denn also weiter dabei? Eine kleine unschuldige Täuschung. Was tut man nicht, um seine gemütliche Ruhe zu wahren! So war es sogar auch für die junge Frau ganz gut, für die zukünftigen Kinder. Denn nur auf diese Weise konnte der Dichter intensiv arbeiten und also auch möglichst viel Geld verdienen, das kam später den Kindern zugute, und sie entbehrten ja nichts, dieses Abschreiben war ja ihr Glück, und das dafür gezahlte Geld blieb in der Familie, und nun überhaupt wie köstlich, dass sie die Stenogramme ihres Mannes abschrieb, ohne etwas davon zu ahnen, und wie reizend würde die Überraschung sein, wenn sie es doch endlich erfuhr, zufällig, oder wenn er es ihr doch einmal gestand.

Eine zufällige Entdeckung konnte allerdings nicht so leicht eintreten. Morrus hatte sich schon gar zu sehr in seine Doppelrolle hineingelebt. Alles und jedes war danach eingerichtet. Man hätte in Richmond nach ihm fragen, seine Fotografie zeigen können, niemand hätte gewusst, dass dies der eigentliche Edward Howard war, nicht einmal, dass er in jener Villa wohnte. Er verließ diese ja nur am Sonnabendmittag, verschwand darin wieder Sonntagnacht, und es war eine so exklusive Straße, man kam an keinem Laden vorbei. Und nun überhaupt — England, London! Und auf seine Diener konnte er sich verlassen. Doch die kannten das ganze verzwickte Verhältnis wohl selbst nicht.

Wenn also eine Entdeckung durch Zufall so gut wie ausgeschlossen war, und Klara sollte es doch noch erfahren, so musste er es ihr wohl selbst gestehen. Ja, das wollte er. Aber... morgen, morgen, nur nicht heute. So sprechen nicht nur die faulen Leute. Und es war doch auch so reizend, köstlich, dieses heimliche Doppelleben. Wie die seine Stenogramme abschrieb, sein Geld dafür erhielt! Und wenn der arme, abgejagte Reiseinspektor dann nach Hause kam!

Es hielt ihn auch noch etwas anderes davon ab, endlich reinen Wein einzuschenken. Es war eben doch dennoch ein heimliches Schuldbewusstsein dabei.

»Ach, Klara«, gestand jetzt der bettlägerige Sünder mit bebenden Lippen, wenn er nicht gar manchmal zu weinen begann, »es war so schön, so schön — diese Heimlichkeit — vielleicht gerade wegen ihrer Sünde — denn eine Sünde war es, ich habe schwer gegen dich gefehlt...«

»I, Gott bewahre, Tom!«

»Doch, doch. Als ihr damals hierher kamt, vor sechs Wochen, da hätte ich unbedingt reumütig aus meinem Versteck hervortreten müssen...«

»Das war ja gar nicht mehr nötig.«

»Was? Wie sagtest du?«

»Da habe ich doch schon erfahren, weshalb ich für das Abschreiben der Stenogramme eine so eigentümliche Vorliebe hatte, die nur immer zunahm — da habe ich es doch schon erfahren, wer hier wohnt, und dass Edward Howard eigentlich Thomas Morrus heißt, das habe ich doch dann ebenfalls sofort erkannt, so auf den Kopf gefallen bin ich doch nicht.«

Fassungslos starrte Morrus die zärtlich auf ihn Herabblickende an.

Er glaubte ja nicht anders, als Klara habe erst heute, erst vorhin von Mistress Bellair alles erfahren.

»Ja, mein lieber Tom«, lächelte Klara, »wenn du dein Inkognito wahren willst, und dein Stellvertreter empfängt hier Besuch, sogar deine Frau, dann musst du erst vorsichtiger Umschau halten, ob dich auch nichts verraten kann, darfst doch nicht meine Fotografie mit meiner Unterschrift auf deinem Schreibtisch stehen lassen. Als ich die sah, da war mir nun freilich alles sofort klar. Ich musste nur schnell dafür sorgen, dass nicht auch Toni sie erblickte, drehte sie gleich herum.«

Es dauerte lange, ehe Morrus ob dieses Geständnisses die Sprache wiederfand.

»Schon damals! Und du — und du — und Mistress Bellair — und du erfuhrst...«

»Ja, freilich, dann nahm ich Mistress Bellair gleich ins Gebet, und ich ließ nicht locker, nun musste sie mir alles gestehen.«

Aber Morrus starrte noch immer fassungslos, schüttelte den Kopf, schien noch immer nicht zu verstehen.

»Das ist aber doch schon lange her, und ich — und ich... bin unterdessen doch jeden Sonntag wieder dort gewesen...«

»Ja, denkst du denn«, lächelte Klara nach wie vor, und der schmerzliche Zug dabei um den Mund war so geringfügig, dass ihn auch ein schärferes Auge nicht entdeckt hätte, »denkst du denn, ich hätte dir Vorwürfe gemacht oder dich auch nur in deiner idyllischen Einsamkeit beunruhigen wollen? Nein, mein Tom, auch Toni und Wichtelmann haben davon nichts erfahren, und wenn nicht das mit dem Beinbruch dazwischengekommen, dass ich an dein Schmerzenslager eilen musste — du hättest bis an dein oder mein Lebensende der Versicherungsinspektor bleiben können, der nur Sonntags nach Hause kommen kann, als solchen hätte ich dich stets empfangen, nie hättest du etwas davon gemerkt, dass ich schon alles wusste, dein Geheimnis wäre immer auch das meine gewesen, ohne das du etwas davon wusstest.«

Da endlich erkannte Morrus, was hier eigentlich vorlag, da erst erkannte er, was für eine Frau er bekommen hatte, und mit überströmendem Herzen und überströmenden Augen zog er sie zu sich herab, die sich so gern auf seine Brust legte.

»O Klara, Klara, wie furchtbar habe ich gegen dich gesündigt, wie habe ich dich verkannt, dass ich ein Geheimnis vor dir hatte!«, schluchzte er. »Aber Gott sei Dank, dass es so gekommen ist, und nun ziehst du her zu mir...«

»Nein, o nein, mein Tom«, unterbrach sie ihn aber, und jetzt hatte ihr Lächeln wirklich nichts Schmerzliches mehr. »Wir leben so weiter, wie wir bisher gelebt haben, nur das du jetzt nicht mehr als Versicherungsinspektor des Sonntags zu mir kommst, der die ganze Woche auf Reisen ist, sondern als emsiger Schriftsteller, der in seinem besonderen Büro oder eben in einer anderen Privatwohnung arbeitet, er ist daran gewöhnt, er kann nicht anders, kann nicht jeden Abend nach Hause kommen — nein, mein lieber Tom, ich bitte dich herzlichst, ändere deine Lebensweise nicht, wir waren ja so glücklich, so glücklich dabei!!« —

Und es änderte sich nichts.

Nur dass einmal etwas aus dem alten Gleise gekommen war, was aber schnell wieder einzurichten ging.

Vier Wochen blieb Klara als Krankenpflegerin in der Villa, an einem Donnerstag kehrte sie in das Luck's Cottage zurück, nahm ihre unterbrochene Schreibarbeit wieder auf, als wäre nichts geschehen, als hätte sie nur einmal einen Ausflug nach London gemacht, und am Sonnabendnachmittag kam Morrus, herzlich begrüßt werdend, wie immer.

Natürlich wussten jetzt auch Wichtelmann und Toni davon. Aber es blieb eben alles beim Alten. Morrus hatte schon früher niemals etwas von seinen Inspektionsreisen gesprochen, kein Wort — was brauchte er denn jetzt von seiner Schriftstellerei zu erzählen.

Bei Wichtelmann war das etwas anderes, der war ein gefühlvoller Deutscher, der musste jemand haben, mit dem er ständig über das, was er im Kopfe hatte, sprach. Aber Morrus war ein Engländer, bei dem blieb das Geschäft draußen, wohin es nach englischen Begriffen gehört.

Beim ersten Willkommen war er ja etwas verlegen, niedergeschlagen, so gut ihn auch seine Frau instruiert haben mochte. Aber schon am anderen Tage verlor sich das wieder, und als er am nächsten Sonnabend eintraf, war vollends alles im alten Gleise.

So vergingen wieder Wochen, daraus wurden Monate, der neue Frühling war wieder eingekehrt, der Mai war gekommen.

Und dann kam ein Sonntag, an dem Morrus des Abends nicht wieder nach Richmond zurückkehrte, zum ersten Male wieder hatte er sich eine Woche Urlaub genommen, er war entschlossen, noch länger in Loughton zu bleiben. Aber es war wohl nicht nötig. Oder doch!

Jedenfalls dachte er am nächsten Sonntag in der Frühe noch immer nicht an seine Abreise.

An den letzten beiden Tagen war es recht still in den NachbarCottages zugegangen, Wichtelmann hatte gar nicht mehr gehämmert und geschimpft und gejauchzt, auch die Schreibmaschinen hatten nicht mehr geklappert.

In aller Frühe des schönen Sonntags blickte Wichtelmann zur ersten Etage aus dem Fenster. Zwei Männer gingen auf der in sonntäglicher Stille liegenden Straße unter ihm vorüber.

»Maikatzen sind die besten«, sagte der eine zum anderen.

Das genügte für Wichtelmann. Er setzte sich sofort hin und stenografierte eine Novelle zusammen, betitelt ›Die Maikatze‹.

Während des Stenografierens lauschte er manchmal. Er brachte die Novelle von der Maikatze gerade noch fertig, dann wurde er von der fremden Frau geholt, die sich im Hause befand.

Und eine Viertelstunde später, als Wichtelmann in der ersten Etage nach der Verbindungstür eilte, ging diese von allein auf, Morrus stand im Rahmen, mit einem Gesicht, in dem sich selige Freude mit Sorge und Würde paarte.

»Soeben«, begann er würdevoll, aber mit vor unterdrücktem Glück zitternder Stimme, »hat mir Gott einen gesunden Knaben geschenkt...«

»Und mir von derselben Sorte gleich zwei, ätsch! Und Maikatzen sind die besten.«

* * *

Schlussbemerkung

Im Evangelium Lucä, Kapitel 17, Vers 20 und 21, wird erzählt, wie die Pharisäer zu Christus treten mit der Frage, wann denn das Reich Gottes, das Himmelreich, von dem er immer predige, käme, wo es sei; worauf Christus erklärt, dass das Himmelreich gar nicht Äußerliches sei, und dann wörtlich weiter: »Man wird auch nicht sagen: Siehe, es ist hier, oder es ist da. Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch!«

Das Himmelreich, das Reich des dauernd seligen Glücks ist nicht hier, ist nicht da, nur inwendig in eurem Herzen könnt ihr selbst es euch schaffen!

* * *

ENDE


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