Roy Glashan's Library
Non sibi sed omnibus
Go to Home Page
This work is out of copyright in countries with a copyright
period of 70 years or less, after the year of the author's death.
If it is under copyright in your country of residence,
do not download or redistribute this file.
Original content added by RGL (e.g., introductions, notes,
RGL covers) is proprietary and protected by copyright.


ROBERT KAFT

DIE NIHILIT-EXPEDITION

Cover Image

RGL e-Book Cover
Based on an image created with Microsoft Bing software

MIT 11 ILLUSTRATIONEN VON ADOLF WALD


Ex Libris

Diese E-Buchausgabe: Roy Glashan's Library, 2025
Fassung vom: 2025-10-14

Erstellt von Matthias Kaether und Roy Glashan

Textquelle:
Neuausgabe der erstmals 1909 erschienenen Romane
in neuer deutscher Rechtschreibung. 1. Auflage 2024

Herausbeber:
Verlag Dieter von Reeken
(Mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers)


Illustration

Verlag Dieter von Reeken, 2024


INHALTSVERZEICHNIS

Editorische Hinweise

Die vorliegende Neuausgabe enthält den ungekürzten Text des von Robert Kraft (1869-1916) verfassten Romans, der erstmals 1909 in 7 Lieferungen erschienen ist, unter Verwendung folgender Ausgabe:

Die NihilitExpedition. Roman von Robert Kraft. In: Robert Kraft: Gesammelte Reise- und AbenteuerRomane. Sechste Serie: Die Augen der Sphinx. Sechster Band. Niedersedlitz-Dresden: H.G. Münchmeyer G.m.b.H. o.J. [1910]. 272 S.mit 11 Illustrationen von Adolf Wald.

Zu Robert Krafts Leben und Werk verweise ich auf die umfassende reich farbig illustrierte Bibliografie von Thomas Braatz(1), die ebenfalls farbig illustrierte Biografie von Walter Henle und Peter Richter(2), ein umfangreiches Buch von Arnulf Meifert (3) und auf die Tagungsbände zu den Robert-Kraft-Symposien (4).

(1) Thomas Braatz: Robert Kraft — Farbig illustrierte Bibliographie zum 100. Todestag. Leipzig, Wien: Edition Braatz & Mayrhofer, 3., erweiterte Aufl. 2016. — 1032 S. mit über 1000 farbigen Abb.

(2) Walter Henle, Peter Richter: Unter den Augen der Sphinx. Leben und Werk Robert Krafts zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Leipzig, Wien: Edition Braatz & Mayrhofer 2005. — Das Buch ist vergriffen; eine Neuausgabe ist für 2025 geplant.

(3) Arnulf Meifert: Robert Kraft. Avanturier und Selbstsucher. Eine Annäherung. Leipzig, Wien: Edition Braatz & Mayrhofer 2018.

(4) Robert Kraft 1869—1916. 1. Robert-Kraft-Symposium. 15.—16.10.2016. Mit Beiträgen von Thomas Braatz, Arnulf Meifert, Achim Schnurrer sowie historischen Texten von Dr. S. Friedlaender und Robert Kraft. Leipzig: Thomas Braatz im Rahmen des Freundeskreises Science Fiction Leipzig 2016; Wenn ich König wäre! Robert Kraft zum 150. Geburtstag. 3. Robert-Kraft-Symposium. 12.—13.10.2018. Mit Beiträgen von Jakob Bleymehl, Gerhard W. Bleymehl, Thomas Braatz, Matthias Käther, Walter Mayrhofer, Arnulf Meifert, Karlheinz Steinmüller und Hans Wollschläger. A.a. O. 2019; 4. Robert-KraftSymposium. 16.04.2022. Serienheld Nobody. 100 Jahre KraftFilm von Thomas Braatz, u. a. mit Beiträgen von Michael Bauer, Aurel Lupastean und Franziska Meifert. A.a.O. 2022.


Offensichtliche Rechtschreibfehler und überholte Schreibweisen sind stillschweigend berichtigt worden, z. B. ›Boller‹ in ›Poller‹, ›der Gehalt‹ in ›das Gehalt‹, ›paddeln‹ in ›buddeln‹, ›pulen‹ in ›pullen‹, ›Indier‹ in ›Inder‹, ›Sennor/Sennora/Sennorita/Don/Donna‹ in (spanisch) ›Señor/Señora/Señorita/Doña‹ bzw. (portugiesisch-brasilianisch) ›Senhor/Senhora/Senhorita/Dom/Dona‹, ›Wage‹ in ›Waage‹ usw.

Fußnoten mit Sternchen (*) stehen so auch im Originaltext, solche mit Zahlen in runden Klammern (1) sind vom Herausgeber eingefügt worden.

Die Wiedergabequalität der Abbildungen war abhängig von der jeweiligen Druckqualität der Vorlagen. Da die den Lagen vorangestellten ganzseitigen Abbildungen in der vorliegenden Neuausgabe dem Fließtext räumlich zugeordnet werden konnten, ist auf die fast textgleichen Bildunterschriften verzichtet worden.

Für freundliche Unterstützung durch den Originaltext der Erstausgabe, für Bilder, Hinweise und die bibliografischen Anmerkungen bedanke ich mich bei Thomas Braatz, für die die Korrektur bei Ellen Radszat.



Illustration

Die NihilitExpedition. Roman von Robert Kraft.
Dresden-Niedersedlitz: H.G. Münchmeyer G.m.b.H.
o.J. [1924], Deckelbild und Schutzumschlag,
gezeichnet von Georg Hertting.


--*--

Erstes Kapitel

Originalseiten 1 — 14

Mein Vater war Deutscher, meine Mutter Engländerin, und ich bin in England geboren. Dies genüge für meine Personalien.

Ich studierte Ingenieurwissenschaften, erst in London, dann in Berlin, bis der Tod des Vaters, dem schon die Mutter vorausgegangen war, mich wegen Mittellosigkeit zwang, mir mein Brot auf irgendeine Weise selbst zu verdienen.

Englische Unternehmer projektierten in Adelaide den Bau einer großen Brücke. Ich schrieb, wurde angenommen, fuhr auf meine Kosten hin, fand meine und jede andere Stelle bereits besetzt und konnte nichts dagegen tun. Das Gesetz erklärte den im Auslande brieflich zwischen England und Deutschland geschlossenen Kontrakt für ungültig.

Obwohl mich meine Kenntnisse, glaube ich sagen zu dürfen, zu einer anderen Stellung befähigten, musste ich dreiundzwanzigjähriger junger Mensch mich glücklich schätzen, in der damals von Technikern überschwemmten Stadt gleich in der Waffen- und Fahrradfabrik Cunning und Kompanie als Hilfszeichner anzukommen.

Der Studiosus zum ersten Male in der Praxis, erst dreiundzwanzig Jahre alt! Natürlich würde ich innerhalb eines Jahres mindestens Subdirektor der Firma Cunning und Kompanie sein, so viele Erfindungen und Verbesserungen würde ich gemacht haben. Die ganze Fabrik wollte ich umkrempeln!

Also ich sah mich um in dem Etablissement, dem ich vorläufig noch als letzter Zeichner angehörte. Zufällig fielen meine Blicke zuerst auf einen Gegenstand, der nur ganz indirekt mit unserem Fabrikat zusammenhing: auf den Laufmantel. Wie oft schon hatte ich mich geärgert, wenn der armselige Luftschlauch aus dünnem Kautschuk aus der dicken, soliden Guttapercha bei großer Hitze urplötzlich eine große Blase heraustrieb, und immer war mir dabei dunkel zum Bewusstsein gekommen, dass hier ein Missverhältnis vorliege, welches zu beseitigen gehe, die Guttapercha müsse nur durch technische oder chemische Operationen widerstandsfähiger, auch gegen den Druck von innen, gemacht werden.

Erwähnen muss ich noch, dass mein Vater Agent für Guttapercha und Kautschuk gewesen, ich war mit diesen beiden Substanzen sozusagen aufgewachsen. Ich wusste, wie man in Brasilien und in Indien die Bäume anschneidet, um das Harz zu gewinnen, und ich sah es im Geiste alle Operationen durchmachen, bis es als indischer Kautschuk mit Luft vollgepumpt wird und als südamerikanische Guttapercha die Luft wieder herauslässt.

Ein ganzes Jahr studierte und experimentierte ich, und dann war es fertig. Wirklich eine großartige Erfindung, welche ich zum Patent anmeldete — aber sie war schon vorher von einem anderen gemacht worden. Und so ging es immer. Alle meine Erfindungen und Verbesserungen waren bereits erfunden und verbessert worden.

Schadet nichts, man lernt etwas dabei, und ich ahnte damals noch nicht, was für Nutzen es mir später noch bringen sollte.

Dennoch wurde ich rasch befördert, nur aus ganz anderer Ursache. Von jeher ein eifriger Sportsjünger, trug ich auf einem Elektrikrade — dies der Name unserer Marke — auf der Rennbahn einen großen Sieg davon, und am anderen Tage hatte ich einige Zeichner unter mir. Ein halbes Jahr später gewann ich in sieben Stunden und einigen Minuten das Straßenrennen Adelaide—Vincent, ebenfalls auf dem Elektrik, und ich avancierte zum Konstrukteur. Was das Beinestrampeln mit dem Konstruieren zu tun hat, weiß ich zwar nicht, aber die Erfahrung habe ich gemacht, dass beim fixen Beinestrampeln sicherer etwas herauskommt als beim Erfinden — nur muss man sehr fix strampeln. — —

Kommt eines Tages ein junger Franzose, gibt seine Karte ab — Charles Leonard — wünscht den Herrn Direktor zu sprechen, wird vorgelassen, sagt, er wolle sich eine Elektrikmaschine kaufen, was ihm dafür bezahlt würde, wenn er nach Southport radele.

»Wohin? Was für ein Southport ist das? Was wünschen Sie eigentlich?«

»Southport an der Timorsee, Endstation, der Telegrafenlinie, immer die Telegrafendrähte entlang. Was zahlen Sie, wenn mir's gelingt?«

Quer durch Australien! Auf dem Rade! Der junge Mensch war einfach verrückt. Oder er hatte keine Ahnung, wie die Gegend schon hundert Meilen von hier aussteht. Ja, von Adelaide quer durch Australien nach Southport, ungefähr Stuarts Weg nehmend, ist eine Telegrafenlinie gelegt, alle vierzig Meilen ist auch eine Station da, manchmal ist auch keine da — es war ja die reine Unmöglichkeit! Ich hatte zudem Gelegenheit gehabt, Monsieur Leonard im Wartezimmer zu beobachten, und während ich die Franzosen immer keck und lebhaft gefunden hatte, machte dieses Männchen hier, wie es in der Ecke saß und teilnahmslos vor sich hinstierte, nicht nur einen sehr bescheidenen, sondern sogar einen höchst stumpfsinnigen Eindruck.

»Tausend Pfund Sterling«, sagte der Direktor, um den verrückten Menschen schnellstens loszuwerden. Ein Risiko ist ja nicht vorhanden, er will sich seine Maschine selbst kaufen. Denn für die Briefe derer, welche mindestens eine Maschine geliefert haben wollen, um die Erde oder was Anderes zu umradeln, hat wohl jede Fahrradfabrik einen besonderen Papierkorb.

»Bon!«, und ehe der Unglückliche zurückgehalten werden kann, ist er schon abgefahren, hat wenig mehr mitgenommen als ein belegtes Butterbrot zum Frühstück.

Etwa einen Monat später erhält der Direktor eine Depesche von der MacDonallStation, welche angeschlossen ist — Monsieur Leonard beweist, dass er schon mitten im Herzen Australiens ist, und eine Eisenbahnfahrgelegenheit gibt es da nicht — und am 57. Tage nach seiner Abfahrt von Adelaide meldet er seine Ankunft in Southport, und zwölf Tage später gibt er bei uns wieder seine Karte ab, und weil der Direktor gerade abwesend ist, sitzt er wieder in seiner Ecke, stumpfsinnig vor sich hinblickend, ab und zu gähnend. Unser Direktor ist natürlich ganz Enthusiasmus. Allein Monsieur Leonard lässt sich auf nichts ein, will keine Festlichkeiten haben, kein Buch herausgeben, nicht einmal viel von seinen Erlebnissen erzählen, er verlangt nur seine tausend Pfund Sterling. — —

Ob sich der wortkarge Mensch unserem Direktor doch noch anvertraut hat, oder wie es sonst gekommen ist, weiß ich nicht. Charles Leonard ist verwegen wie ein Teufel und kalt und stumm wie ein Schneemann. Sein eigentümlicher Charakter und auch die Ursache desselben wird in meinem Tagebuche genügend erklärt. Ich erfuhr von alledem erst, als ich in der Privatwohnung des Herrn Cunning sen. diesem selbstmündlich und schriftlich mein Ehrenwort abgeben, förmlich beeiden musste, über alles, was ich erfahren würde, Stillschweigen bis ins Grab zu beobachten, und jede einzelne Hauptperson der NihilitExpedition musste es tun.

Hiermit breche ich mein Ehrenwort. Es gibt etwas, was noch über das Ehrenwort geht. Ich weiß nicht, ob außer uns dreien noch einer von der NihilitExpedition am Leben ist. Ich glaube nicht. Ich stehe mit meinen beiden Kameraden und mit meiner Braut vor einer Flucht, welche uns durch unbekannte Wüsten führt, und wir werden morgen schon von kundigen Jägern verfolgt werden, welche schneller sind als wir. Ich zweifle daran, dass uns die Flucht gelingen wird, aber es gilt, die ganze Menschheit vor einer furchtbaren Gefahr zu warnen, welche ihr aus dem Innern Australiens droht, dass sie sich zum Kampfe wappnet, und nur ich vermag das Mittel anzugeben, wie die heutige Menschheit siegreich aus dem Kampfe hervorgehen kann. Denn mein Tod allein würde genügen, unsere ganze Kultur dem Verfall preiszugeben. Charles Leonard ist ein unberechenbarer Charakter, Ned Carpenter ist ein ungebildeter Mann, und Sanja wäre, würde sie ohne mich die Grenzen der Zivilisation erreichen, wie auf einen fremden Planeten versetzt.

Jetzt weiß ich, dass mir mein Ehrenwort von einer Clique aus krassestem Egoismus abgezwungen worden ist. Aber so soll es nicht sein! Das Geheimnis, welches ich entdeckt habe, soll der gesamten Menschheit zugute kommen und nicht nur wenigen Personen zum pekuniären Vorteil dienen.

So schiebe ich folgende Erklärung meinem Tagebuche ein, in der Hoffnung, dass nach meinem etwaigen Tode wenigstens dieses Tagebuch von einem meiner Mitmenschen gefunden wird, zur Rettung und zum unausgesprochenen Segen aller zivilisierten Völker der Erde. — —

Wenn ich sagte, Charles Leonard hätte zu seiner Radtour quer durch Australien wenig mehr als ein belegtes Butterbrot mitgenommen, so ist dies nicht wörtlich zu nehmen. Ich wollte damit nur die Mangelhaftigkeit der Ausrüstung des französischen Abenteurers andeuten. Gut bewaffnet war er, er hatte nicht nur eine Schachtel Streichhölzer bei sich, sondern ein solides Feuerzeug mit reichlichem Zunder, einen kleinen Wasserschlauch, einige Pfund Hartbrot und präserviertes Fleisch, ebenso viel Pfund Tabak mit dem dazu nötigem Zigarettenpapier und verschiedenes Reparaturwerkzeug, das war aber auch alles. Er hatte nicht daran gedacht, einen Sextanten zur Ortsbestimmung mitzunehmen — wenn er damit umzugehen verstanden hätte — er wollte ja immer den Telegrafendraht entlang fahren — kein Barometer zur Höhenmessung, kein Thermometer, auch keinen Kalender hatte er bei sich gehabt.

So kam es, dass er nicht einmal genau angeben konnte, wie viele Tage er schon wieder unterwegs gewesen war, seitdem er die MacDonallStation verlassen hatte, als sich der wundersame Vorfall ereignete.

Sein Wasservorrat war erschöpft. Ob Charles Leonard die Qualen des Durstes überhaupt empfindet, weiß ich nicht, ich glaube es kaum; aber jedenfalls wollte er trinken und seinen Wasserschlauch wieder füllen. Wie gewöhnlich, wenn er Wasser suchte, spähte er während des Fahrens nach Vögeln und beobachtete deren Flugrichtung, z. B. von Papageien, welche in Australien nirgends fehlen, es sei denn in der trockensten Jahreszeit.

Das Glück war ihm günstig, bald sah er Vögel von verschiedenen Seiten einem Zentrum zufliegen, über einem gewissen Punkte Kreise in der Luft beschreiben und sich herniedersenken. Dort war Wasser in der hügeligen Wüstensteppe.

Leonard schwenkte links ab. Nach etwa zwei Stunden mühsamen Fahrens gelangte er in eine Schlucht mit einem kleinen Süßwassertümpel. Vögel, Kängurus und andere Tiere flohen davon, neunzehn tote Menschen blieben liegen.

Wenn Leonards Annahme richtig ist, dass sie ihren Tod am Tage zuvor gefunden hatten, dass sie also einen Tag lang der glühenden Sonne ausgesetzt gewesen waren, so gehörten dieses Franzosen abgestorbene Sinne dazu, um nicht sofort aus der Schlucht mit den schon stark in Verwesung übergegangenen Leichen zu fliehen.

Achtzehn der Toten waren nackte Australneger, sämtlich furchtbar verstümmelt. Die Folgen eines Kampfes, wie sie Leonard schilderte, würden mir märchenhaft erscheinen, wenn ich später nicht selbst die Waffen kennen gelernt hätte, welche solche Wunden schlagen können, und die Krieger, welche diese Waffen zu führen wissen.

Es muss fürchterlich ausgesehen haben, aller Beschreibung spottend. Wie in einem Schlachthaus, in welchem Menschen regelrecht zerwirkt werden! Hier lag ein Kopf, dort ein Arm, dort ein Bein, alles glatt vom Rumpf getrennt. Keine einzige Leiche war normal. Der eine der Schwarzen war von oben nach unten glatt in zwei Hälften tranchiert, zwei andere sahen aus, als hätte eine Kreissäge sie in Oberkörper und Unterkörper geteilt.

Und der neunzehnte Tote war der Mann, dessen Waffe hier so schrecklich gewütet hatte.

Ich möchte wissen, was Leonard gedacht haben mag, als er sich vergegenwärtigte, nicht im Mittelalter, sondern am Ende des neunzehnten Jahrhunderts zu leben, noch dazu sich mitten im Herzen des unbewohnten Australiens zu befinden. Wir waren vorbereitet. als wir es dann selbst sahen, Leonard war es damals nicht.

Es war ein gepanzerter Riese, vom Kopf bis zu den Fußfohlen und bis zu den Fingerspitzen in weißglänzenden Stahl gehüllt. Dies muss näher beschrieben werden. Seinen ganzen Körper umschloss vom Hals an, diesen noch bedeckend, ein Kostüm, aus einer Art Leinwand bestehend, auf welcher auf irgendeine Weise Stahlschuppen angebracht waren, und dieses Schuppenkleid war so schmiegsam, dass Leonard jeden einzelnen der ebenfalls gepanzerten Finger ohne Hindernis bewegen konnte. Ferner trug der Tote noch einen festen Panzer, welcher Brust und Unterleib schützte, hinten durch stählernen Schuppengürtel befestigt, und ebensolche Stücke als Schutz für die Schienbeine. Endlich gehörte zu der Rüstung ein gewaltiger Helm aus Stahl, mit herabzulassendem Visier, dass nur noch die Augen sichtbar waren, als Schmuck darauf ein fabelhaftes Ungeheuer, ein geflügelter Tiger mit Frauenkopf.


Illustration

Leonard, welcher sein Längenmaß genau kannte, legte sich neben die Leiche und schätzte so die Größe des Mannes auf mindestens zwei und einen viertel Meter. Da kann man wohl von einem Riesen sprechen, und unter dem Schuppenpanzer strotzten Arme und Schenkel von Muskeln.

Die linke gepanzerte Faust umklammerte noch den ebenfalls stählernen Griff eines blitzenden Schwertes, an Länge und Breite mit den riesigen Maßen seines Besitzers übereinstimmend. Die rechte Hand hielt einen langen, zweischneidigen Dolch, für welchen sich am Unterleibpanzer eine festgenietete Stahlscheide befand, desgleichen noch eine andere, in welcher ein zartes, kleines, einschneidiges Messer steckte. Zum bequemeren Tragen des großen Schwertes schien eine Vorrichtung auf dem Rücken angebracht zu sein.

Der gewappnete Krieger einer unbekannten Welt war jedenfalls von ihm nachschleichenden Eingeborenen überfallen worden, als er den Helm abgelegt hatte, um Wasser zu schlürfen. Denn der Helm lag weit entfernt am Rande des Tümpels, und während der Tote sonst keinerlei Verwundung zeigte, waren sein Gesicht und der ganze Kopf furchtbar von Bumerangs und den hölzernen Spießen der Australneger zerfleischt.

Nicht eher aber war der Riese entkräftet niedergesunken, als bis er den letzten seiner Angreifer niedergemacht hatte, es war an der weit voneinander entfernten Lage der Leichen deutlich sichtbar, dass er den Fliehenden nach gerannt war, ihnen die Köpfe abgemäht und sie halbiert hatte, und wenn einige doch entkommen waren, so wagten diese schwarzem Pygmäen nicht mehr, dieses neue Tal von Roncesvalles zu betreten, um dem gefallenen Roland die Waffen zu rauben, auf welche es die Eingeborenen doch jedenfalls abgesehen gehabt hatten.

So entstellt das Gesicht auch war, erklärte der gebildete Leonard es doch für das eines weißen Kaukasiers, nur von der Sonne gebräunt. Außerdem zeigte es einen starken, blonden Schnurrbart und einen ebensolchen kurzen Vollbart, das Haupthaar war halblang, bis auf die Schultern fallend, blond, gelockt. — —

Ich will jetzt nicht erwägen, wie ein mittelalterlicher Ritter ins Innere Australiens kommt, erst gestern gestorben. Die Erklärung gebe ich später. Zunächst etwas Anderes, nicht minder wunderbar, auf jeden Fall viel wichtiger. — —

Leonard hob zuerst den großen Helm auf. Wenn dieser Mensch überhaupt fähig wäre, sich zu wundern, so müsste er sehr erstaunt gewesen sein, wie ungemein leicht der gewaltige Helm war. Ganz aus klingendem Stahl oder Eisen und dennoch federleicht, als wäre er aus Pappe. Dann wand Leonard das Schwert aus der linken Hand. Es war so schwer, dass Leonard, trotz seiner schmächtigen Gestalt sehr muskelkräftig, es mit beiden Händen nur mit Mühe regieren konnte. Hierauf besah er sich den großen Dolch. Dieser war wiederum von der fabelhaften Leichtigkeit des Helmes, obgleich er doch aus ganz demselben Metall zu bestehen schien wie das Schwert. Dass dieses viel größer war als der Dolch, damit darf man nicht rechnen. War der Dolch aus Stahl oder Eisen, so müsste er seiner Größe nach wohl zehnmal schwerer gewesen sein, während das Schwert das normale Stahlgewicht zeigte. Von derselben Federleichtigkeit war auch das kleine Dolchmesser.

Was tat nun Leonard? Er füllte seinen Wasserschlauch, nahm die beiden Dolche mit, weil er sie für sich zu gebrauchen dachte, bestieg sein Rad und fuhr nach der Telegrafenlinie zurück. Es war mehr ein Zufall, dass es ihm bei der ersten hölzernen Telegrafenstange einfiel, einmal die Schärfe der Dolche zu probieren. Vielleicht brauchte er auch gerade einen Zahnstocher. Kurz, er stieg noch einmal ab, schnitzelte von der Pfoste einige Späne ab und fuhr weiter.

Was hätte ein anderer Mensch getan, gesagt, wenn er nach einem solchen Abenteuer auf die nächste Station gekommen wäre, zivilisiertes Land wieder erreicht hätte! Leonard sagte gar nichts. Charles Leonard ist eben ein Stockfisch. Er war zufrieden, dass er zwei schöne, leichte, scharfe Messer gefunden hatte. Das größere wollte er sogar unterwegs wegwerfen, weil es ihm lästig wurde. Nur weil er zufällig sein eigenes verlor, behielt er auch das zweite fremde.

Wie gesagt, ich weiß nicht, wie der Direktor von dem Stockfisch, aus dem auch nicht ein einziges Abenteuer herauszubringen war, das ganze Erlebnis erfahren hat. Was ich hier über die Untersuchungen des fremden Metalls angebe, habe ich alles erst später gehört, alles wurde mit der größten Heimlichkeit betrieben, und der Name des Chemikers und Physikers, welcher die Untersuchungen anstellte, ist mir bis heute unbekannt.

Leonard hatte ihm den großen Dolch zur Verfügung gestellt.

Es soll nur das Allgemeine und Wichtigste hervorgehoben werden. Das Metall, aus welchem auch der von einer Querstange begrenzte Griff bestand, glich blankpoliertem Stahl. Während aber das spezifische Gewicht von gutem Stahl im Durchschnitt sieben ist, betrug das dieses fremden Metalls wenig über eins, der Dolch sank im Wasser also nur ganz langsam unter, in starker Salzlösung schwamm er. In wunderbarem Gegensatze dazu stand seine Härte. Das Metall wurde nicht vom Diamanten geritzt, die Spitze des Dolches aber ritzte einen Diamanten mit Leichtigkeit. In die Drehbank gespannt, konnte das härteste Glas mit dem Dolch wie weiches Holz bearbeitet werden. Säuren und alkalischen Laugen gegenüber war er vollständig unempfindlich. Auch im Knallgasgebläse konnte er nicht zum Schmelzen gebracht werden, er ging daraus mit unverändertem Glanze hervor.

Das jedem Menschen nach der Leichtigkeit am meisten ins Auge Fallende war die Schärfe des Dolches.

Die Japaner sollen einen wunderbaren feinen Stahl herzustellen wissen, und um in Japan ein Schwert auf seine Güte zu prüfen, soll man eine Gurke in einen mäßig fließenden Bach werfen, das ruhig entgegengestellte Schwert muss sie glatt durchschneiden. Sultan Saladin, der Gegner von Richard Löwenherz, soll eine Klinge besessen haben, welche, ganz ruhig gehalten, einen auf sie herabschwebenden Gazeschleier in zwei Hälften teilte.

Ich habe an der Glaubwürdigkeit solcher Geschichten stets gezweifelt. An jenem Dolche aber, welchen ich in Händen hatte, habe ich noch ganz andere Beispiele von Schärfe gesehen. Man denkt sich für gewöhnlich nichts Schärferes, Schneidenderes als ein fein abgezogenes Rasiermesser aus bestem Stahl. Betrachtet man aber dies unter einem guten Mikroskop, so wird die Schneide noch immer einem Sägeblatt gleichen. Die Schneiden dieses Dolches dagegen bildeten auch unter dem Mikroskop gerade Linien. Die Spitze der feinsten Nähnadel zeigt unter dem Mikroskop die Form eines runden, abgestumpften Kegels. Die Spitze dieses Dolches konnte mit einem Bienenstachel wetteifern. Eine zolldicke Eisenstange wurde auf den Amboss gelegt, der Dolch darauf gesetzt, ein leichter Schlag mit einem kleinen Hammer, die Stange war durch, und auch unter dem Mikroskop zeigte die Schneide nicht die geringste Verletzung. Ein ganzes Kartenspiel wurde durchstochen, als böte nur ein Blatt Seidenpapier Widerstand.

Diese Beispiele, mehr Spielereien, mögen genügen. Es handelte sich noch darum, die Zug, Druck- und Bruchfestigkeit des unbekannten Metalls zu prüfen. Um von diesem nicht immer in unbestimmten Ausdrücken sprechen zu müssen, hatte man ihm wegen seiner Leichtigkeit den Namen Nihilit gegeben, vom lateinischen nihil = nichts.

Man begann mit der Prüfung der relativen Festigkeit, also wie viel Gewicht auf den an beiden Enden aufgelegten Dolch wirken musste, um ihn zu zerbrechen. Dies wurde jedoch nicht mit Gewichten, sondern mit einer dazu konstruierten Maschine ausgeführt. Das Brechungsmodul hatte den des besten Gusseisens schon zweimal überschritten, ehe der Dolch in der Mitte durchknackte — und da war ein Rätsel gelöst, aber nur, um hundert neue zu erzeugen.

Die Waffe bestand gar nicht aus massivem Metall. Nichts weiter als trockenes, sehr poröses Holz, darüber nur eine ganz dünne Schicht jenes Metalls. Ihre Dicke betrug an der Bruchstelle nur 0,35 Millimeter. Und diese Hülle allein hatte den ungeheueren Druck ausgehalten!

Es sei kurz gemacht!

An Zauberei glaubten wir nicht. Nihilit war ein uns noch unbekanntes Metall oder eine Legierung, eine chemische Verbindung von mehreren Metallen. Dieser Dolch war kein Naturspiel, sondern war von Menschenhänden gefertigt worden, welche die Substanz, die allen unseren physikalischen und chemischen Mitteln trotzte, zu bearbeiten verstanden. Sie konnten mit ihr Holz auf feurigem, nassem oder galvanoplastischem Wege überziehen, und wahrscheinlich auch alle anderen Substanzen, denn da das Schwert normal schwer gewesen war, so hatte sein Kern vermutlich einfach aus Eisen bestanden.

Ich will hier nicht ausmalen, welche Revolution das im Reiche der Industrie und Technik, für Krieg und Frieden, hervorrufen wird, wenn wir erst wissen, was Nihilit ist, wie oder wo es zu haben ist, und wie man es bearbeiten kann. Selbst die Erwähnung der Hauptpunkte würde schon ins Unendliche führen.

--*--

Zweites Kapitel

Originalseiten 14 — 21

Mister ›Schwuuarz‹ wurde auf das Büro des Herrn Direktors befohlen. Hier bekam ich viel Schmeichelhaftes zu hören — ich verbeugte mich immer — ich sei ein strebsamer junger Mann, stände durch Kenntnisse und praktische Tüchtigkeit weit über allen meinen Kollegen, an der Hand von Schul- und Hochschulzeugnissen musste ich meinen Bildungsgang als Ingenieur darlegen.

»Endlich bist du erkannt, die Tugend hat gesiegt«, sagte ich mir.

»Können Sie auch geografische Ortsbestimmungen machen?«

Gewiss doch!

»Mr. Cunning senior lässt Sie bitten, ihn heute Nachmittag um vier Uhr in seiner Privatwohnung zu besuchen.«

Was? Ich zum alten Cunning?! Dann war auch die freigewordene Stelle des SubDirektors für mich bestimmt! An die geografischen Ortsbestimmungen dachte ich im Augenblicke nicht.

Ich ging pünktlich hin. Wir unterhielten uns über dies und jenes, ich merkte schon lange, wie der alte Herr um einen heißen Brei herumging, bis er endlich zur Hauptsache kam. Ich schwor auf mein Ehrenwort, von dem, was ich jetzt zu hören und zu sehen bekäme, niemand ein Sterbenswörtchen zu verraten. Nun erfuhr ich alles das, was ich oben geschildert habe, bekam den zerbrochenen Dolch in die Hand, schnitt mir bei einer leisen Berührung der Schneide gleich einen Finger halb durch.

Die Firma Cunning & Kompanie rüstet eine Expedition aus, um das Innere Australiens auf Wasser, gute Weidegründe und ergiebigen Ackerboden zu untersuchen. Verstanden? Das Ausrüsten und Absenden solcher Expeditionen zum Aufschließen von neuen Niederlassungsplätzen für Kolonisten war damals modern, so ist es nichts weiter als die Pflicht des amerikanischen Milliardärs, wenn er Bibliotheken und Waisenhäuser stiftet, so wie jeder, der ein Haus machen will, seinen jour fixe haben muss.

Dass es sich um den gepanzerten Toten handelte, um das Nihilit, um die Stätte, wo der Dolch fabriziert worden war, das war nebenbei eine Privatsache — im Grunde genommen natürlich die Hauptsache.

Der Führer musste selbstverständlich Charles Leonard sein. Aber ich, ich war der Leiter vom Ganzen, ich war die Hauptperson! Wie ich zu dieser Ehre kam, davon später einige Worte.

»Nun vorwärts! Hier ist ein Scheckbuch. Sparen Sie nicht! Nur so schnell wie möglich! Ich bin für Sie jede Stunde, Tag und Nacht zu sprechen. Lösen Sie das Geheimnis, und Mr. Schwuuarz, Sie sind Direktor der NihilitFabrik Cunning & Söhne. Ich gebe es Ihnen noch schriftlich — Guten Abend!«

Mir schwindelte, Ich war außer mir ob des Vernommenen. Ich fieberte die ganze Nacht, hatte einen wüsten Traum, kämpfte mit Kreuzrittern, welche mich vierteilten, und ich musste doch morgen mit frischen Kräften an die neue Arbeit gehen. —

Es lässt sich denken, mit welchem Feuereifer ich mein neues Werk aufnahm. Den ganzen Tag rannte ich umher, und die halbe Nacht studierte ich die Tagebücher der Reisenden, welche das Innere Australiens durchforscht hatten.

Der alte Cunning ist ein reicher Mann, und er knauserte nicht. Ich konnte fordern, was ich wollte, es wurde sofort geliefert — nur über die Leute hatte ich nicht zu bestimmen, die wählte Mr. Cunning selbst aus, obgleich er mir auch darin freie Hand ließ, nur einen engen Kreis ziehend, es durften nur Leute vom Personal der Firma Cunning & Kompanie sein.

Das machte mich stutzig. Was? Nur Schlosser und Hausknechte als Begleitpersonal einer Expedition ins Innere Australiens? Mr. Cunning zuckte die Achseln, sah mich bedeutungsvoll an, und ich begriff.

Das Geheimnis musste gewahrt werden, und wurde es doch verraten, so hatte ein Angestellter der Firma Cunning & Kompanie es getan, das Gestohlene musste ihr zurückgegeben werden. Ich schlug vor, schnell einige Buschleute für ein paar Tage als Fensterputzer oder als sonst etwas anzustellen, aber der vorsichtige Geschäftsmann wollte auf nichts eingehen. Die Expedition ginge von der Firma Cunning & Kompanie aus — als Geschäftsreklame. Dann sei doch der Portier da, das wäre ein alter Squatter und Buschmann, den sollte ich nur nehmen.

Nun ging mir auch eine Ahnung auf, warum gerade ich, der jüngste vom Personal, bisher so gut wie unbeachtet, zum Leiter der Expedition auserlesen war. Die Ausbildung des englischen Ingenieurs ist nämlich äußerst einseitig. Dem Ingenieur auf Werkzeugmaschinen ist eine Schnelldruckpresse ein Geheimnis mit sieben Siegeln. Ich werde vom ganzen Personal der einzige gewesen sein, welcher mit dem Sextanten umzugehen wusste. Der Direktor las ein Zeugnis, wonach ich in Deutschland an Vermessungsarbeiten teilgenommen hatte. Er forschte vorsichtig weiter, bis ich ihm antwortete, dass ich auch geografische Ortsbestimmungen machen könnte. Da war ich der Mann, den sie brauchten.

Ich schickte mich. Die Tatsache blieb bestehen» dass ich der wissenschaftliche Leiter einer Forschungsexpedition war — und was gab es zu erforschen! — und was meinen Leuten abging, würde meine Energie und Umsicht ersetzen. Ich nahm also den alten Portier aus seiner Loge als einzigen Praktiker in Busch und Steppe, und Bill Snyder, der sich zur Ruhe hatte setzen wollen, geriet in Aufregung, er wurde wieder der alte Buschmann, und ich hatte wirklich einen glücklichen Griff getan. Ich bemerkte von vornherein, dass der Portier unter uns allen der einzige war, der zu solch einer Expedition taugte und etwas davon verstand.

Es war Anfang Mai, bei uns begann also der Winter, doch setzt die Regenzeit erst viel später ein, nach den Erfahrungen aller Reisenden die beste Zeit zum Aufbruch vom Süden nach Norden, und meine Expedition war fertig.

Sie bestand aus mir, aus Charles Leonard, aus Bill Snyder, aus vier Schlossern, von denen ich den Fahrradmonteur Ned Carpenter hervorhebe, aus einem Auflader und einem Packknecht der Firma Cunning & Kompanie.

Doch ist unsere Expedition durchaus nicht lächerlich aufzufassen. Ich hätte noch ein Dutzend, noch mehr Leute mitnehmen können, Mr. Cunning würde sie mir gewährt haben. Aber ich hatte nur die Tüchtigsten auserwählt, welche ich persönlich kannte, welche ich auf dem Sportplatz beobachtet hatte, auf deren Treue und Unerschrockenheit ich schwören konnte.

Freilich das Richtige zu solch einer Expedition war es noch lange nicht. Da kann für Australien nur der im Busch aufgewachsene Squatter in Betracht kommen, jeder Begleitmann muss ein solcher sein.

Als Handbewaffnung führten wir außer Revolvern auf sechzehn Schuss repetierende Winchesterbüchsen, eigenes Fabrikat; wir waren sämtlich aufs beste beritten; als vierbeinige Wächter begleiteten uns drei große Doggen, und schließlich kamen noch sechs hochbepackte Kamele hinzu, welche meine sechs Leute innerhalb zwei Tagen unter meiner Aufsicht auf- und abzuladen und vom Pferd aus zu führen gelernt hatten.

Also eine sehr ansehnliche Karawane! Wir brauchten uns vor keinem Überfall durch hundert Eingeborene zu fürchten, und wir konnten reichlich vier Monate auch ohne Jagdbeute aushalten.

Wenn ich jetzt, da ich dies schreibe, lächle, so geschieht dies nur, weil mich nun die Erfahrung gelehrt hat, was für einen Ballast von unnützen Sachen wir damals mitschleppten, während wir trotz aller Umsicht des alten Snyder noch vieles Brauchbare vergessen hatten.

Mr. Cunning hatte uns verschwenderisch proviantiert: konservierte Gemüse und Fleischspeisen, Hummer und Lachs, Kakao und Schokolade, den besten Tee, sogar eine Kiste Champagner musste ein Kamel schleppen, zur Feier des Tages bestimmt, an welchem wir die Nihilitquelle erreichen würden. Zu der Belastung von achthundert Pfund eines jeden Kamels — tausend Pfund ist die von der Regierung vorgeschriebene Grenze — kam zuletzt noch für alle Fälle ein zusammenklappbares, also auf dem Rücken tragbares ElektrikRad. Mr. Cunning hatte durch Leonards Leistung nicht nur von seinem Fabrikat, sondern überhaupt von dem Fahrrad eine sehr hohe Meinung bekommen, und ich auch. Der sehr gut beritten gewesene und seiner Expedition voraus, also sehr schnell reisende Stuart hat zu seiner denkwürdigen Durchquerung des Kontinents vier Monate gebraucht, was ihm bisher noch keiner nachgemacht hat — bis auf Charles Leonard, welcher ziemlich dieselbe Tour auf dem Rade in noch nicht einmal der halben Zeit fertig brachte. Und die Mitnahme der Maschine ist nicht umsonst gewesen. Wenn ich heute noch lebe, so verdanke ich das nur meinem Rade.

Ein Wort noch über Charles Leonard! Der kümmerte sich um nichts, sah nicht einmal den Vorbereitungen zu. Er rauchte in einem Café Zigaretten. Ich fragte ihn, ob er ungefähr bestimmen könnte, wo er abgebogen sei. Ja, zwei oder drei oder auch vier Tagereisen hinter der MacDonallStation, vierzig bis hundertzwanzig Meilen dahinter. Ja, er hatte doch in eine Telegrafenstange geschnitzelt, die müssten wir suchen, wir würden sie schon finden.

Ich wusste nicht, ob dieser Mensch so dumm war oder ob er sich nur so stellte.

Dann musste Leonard dabei sein, als Mr. Cunning einen seiner Pläne entwickelte. Wenn wir an den Ort gelangten, wo das Nihilit hergestellt ward oder auch nur mit einem der Menschen in Berührung kämen, von denen das Nihilit stammte, überhaupt wenn wir irgend etwas Sicheres über den Ursprung des Nihilits wüssten, sollte Leonard, welcher sich als schneller Dauerfahrer bewiesen und schon gezeigt hatte, dass er den Weg auch durch pfadlose Einöden fand, mit einem schriftlichen Bericht von mir per Rad zurückeilen, und in diesem schriftlichen Bericht sollte ich alles nennen, was wir brauchten, um zum Ziele zu kommen, sodass gleich eine zweite Expedition nachgesandt werden könne.

Die Antwort des höflichen Franzosen war:

»Fällt mir ja gar nicht ein! Ich gehe doch nur mit, um die großen Burschen auch lebendig näher kennen zu lernen, ich will einen fangen und mitbringen, ich schere mich den Teufel um Ihr Nihilit.«

Da stellte Mr. Cunning an mich die Forderung, ich solle der Betreffende sein, welcher sofort und schnellstens die Botschaft eines Erfolges brächte, ich sei doch auch solch ein Dauerfahrer. Das ging mir, dem verantwortlichen Führer der Expedition, der sie einzig und allein auch ohne Telegrafenleitung einem bestimmten Ziele zuführen konnte, ohne den die Leute wie die Schiffe auf dem Meere ohne Kompass und Sextant waren, denn doch über die Hutschnur! Aber ich war nicht unentbehrlich wie Charles Leonard, ich musste vorsichtig sein.

»Mr. Cunning«, erwiderte ich eindringlich, »seien Sie versichert, ich brenne vor Begierde, mit jenen Leuten in Berührung zu kommen und ihnen ihr Geheimnis abzulauschen, dass ich Ihnen so bald wie möglich die Lösung des Rätsels bringen kann. Aber dazu muss ich freie Hand haben, ich selbst muss bestimmen können, was zu tun und zu lassen ist.«

Der steife Geschäftsmann sah mir meinen ernsten Eifer an, und er war zufrieden.

Ich erhielt noch viele scharfe Instruktionen, und immer mehr empörte mich die krasse Engherzigkeit dieses Mannes, welcher gar keine Ahnung von dem Lande hatte, in dessen Inneres er mich schickte. Dass er selbst in diesem Lande geboren war, hatte gar nichts zu sagen. In England wird bekanntlich starke Schafzucht getrieben — der Ruin des Ackerbaues — und eine Rundfrage hat ergeben, dass von den Londoner Schulkindern 96 Prozent noch gar kein lebendiges Schaf gesehen haben.

Oder der Konkurrenzneid, die Furcht vor der Konkurrenz, machte den Mann halb wahnsinnig.

Nicht einmal an einen taubstummen Neger im Innern Australiens sollte ich eine Frage stellen, die einen metallischen Klang hätte; der Kerl könnte gleich ahnen, dass die Firma Cunning & Kompanie in Adelaide auf den alleinigen Besitz des Nihilitgeheimnisses spekuliere — das heißt, ich übertreibe — aber ungefähr war es doch so.

Der Klügste gibt nach. Ich sagte immer »ja« und dachte dabei, dass ich alles nach eigenem Ermessen tun würde, was mich am schnellsten zum Ziele führte.

--*--

Drittes Kapitel

Originalseiten 21 — 31

Am letzten Abend, den wir in Adelaide verbrachten, gab Mr. Cunning ein großes Fest. Es schadete nichts, wenn meine Leute einmal im Champagner schwelgten, wir hatten am nächsten Morgen erst noch sechzehn Stunden Eisenbahnfahrt zu machen.

Für mich aber brachte dieser Abend noch ein Erlebnis, welches mich erst sehr ernüchterte und dann auch ohne Champagner trunken machte.

Das Fest fand in dem Hotel statt, in welchem Monsieur Leonard logierte.

Die Arbeiter saßen an der Tafel, die Herrschaften nahmen ihre Plätze ein, Leonard fehlte noch. Ein Diener wurde hinaufgeschickt.

Monsieur Leonard sei im Lesezimmer und ließe sagen, dass er nicht käme.

Man kannte den merkwürdigen Kauz schon zur Genüge. Es ging auch ohne ihn.

Nach einer Stunde hielt es mich doch nicht, ich musste ihn aufsuchen, fand ihn noch im Lesezimmer hinter einer Zeitung. Er zündete sich gerade eine Zigarette an. Ehe ich ihn erreichte, war ein Diener auf ihn zugetreten.

»Mein Herr, das Rauchen ist hier nicht erlaubt«, sagte er höflich.

Langsam wandte ihm der patent gekleidete junge Franzose das Gesicht zu.

»Warum ist das Rauchen hier nicht erlaubt?«

»Weil — weil es die anderen Gäste belästigt.«

»Warum belästigt es die anderen Gäste?«

Nun sage man nicht mehr, dass wir Engländer phlegmatisch, arrogant und spleenig seien und die Franzofen lebhaft, höflich und leicht auffassend!

»Weil — weil das Rauchen hier nicht erlaubt ist.«

»Warum ist das Rauchen hier nicht... Mr. Schwarz, wünschen Sie mich? Bitte!«

Gott weiß, wie lange dieses geistvolle Zwiegespräch noch gedauert hätte, wenn ich nicht dazugekommen wäre.

Er stand auf, und rauchend schritt er trotz der höflichen Worte bei meinem Anblick stracks der Tür zu, als hielte er es für selbstverständlich, dass ich, wenn ich etwas von ihm wolle, ihm wie ein Pudel folge.

Es war dies wieder eine grenzenlose Rücksichtslosigkeit, eine Flegelei! Aber mit derselben Rücksichtslosigkeit, die an Flegelei grenzte — gegen sich selbst — hatte er in siebenundfünfzig Tagen Australien durchquert.

Und ich trottete denn auch wie ein Pudel neben ihm her.

»Mr. Leonard, weshalb entziehen Sie sich dem Abschiedsfeste?«, begann ich auf dem Korridor.

»Ich will mich nicht langweilen lassen — es ist nichts für mich, glauben Sie mir. Das beste ist im Leben der Schlaf, und ich will schlafen gehen.«

Er stieß eine nur angelehnte Zimmertür auf, das Schlafgemach war elektrisch erleuchtet, er ging hinein.

»Bitte, treten Sie ein! Leisten Sie mir noch etwas Gesellschaft. Glauben Sie, dass unsere Expedition von Erfolg begleitet sein wird, dass wir ein unbekanntes Volk finden werden, welches sich selbstständig entwickelt hat, nach unseren Begriffen sich noch in mittelalterlichen Zuständen befindet, nur dass es ein uns fremdes Metall kennt?«

Endlich wurde er einmal mitteilsam! Ich sprach meine Ansicht aus. Sie war dieselbe, wie Leonard angedeutet hatte. An einen einzelnen Mann, der sich eine Rüstung geschmiedet hatte, konnte man nicht glauben, man musste mit den Nachkommen einer europäischen Kolonistenfamilie rechnen, welche sich bis tief ins Innere Australiens verirrt hatte. Freilich alles so wunderbar, dass der gesunde Verstand es kaum fasste.

Leonard hatte sofort die Zigarette auf den Aschenbecher gelegt, dafür eine Meerschaumpfeife vom Tische genommen, stopfte sie aus einem Tabaksbeutel, brannte sie an und begann sich ohne Weiteres vor meinen Augen zu entkleiden, um ins Bett zu gehen.

Ich weiß nicht, während ich sprach, hatte ich immer das dunkle Bewusstsein, dass es mit diesem Franzosen und mit allem, was er tat und sagte, nicht seine Richtigkeit haben könnte, und gerade deshalb sprach ich immer weiter.

Der unverfrorene Franzose in Unterkleidern hatte schon den einen Fuß ins Bett gesetzt, als die Tür aufging und ein bärtiger Gentleman eintrat.

Ich kannte ihn, Colonel Atkin aus New York, der sich schon seit einiger Zeit in Adelaide aufhielt, ein brüsker, roher Patron, ein New Yorker Rowdy, dem es drüben wegen einiger Duelle zu heiß geworden war. Auch hier war er schon mehrmals mit der Polizei in Konflikt gekommen, hatte Kutscher und Kellner und andere geprügelt und ihnen Gegenstände an den Kopf geworfen, auch hier hatte er bereits ein Säbelduell zu provozieren gesucht, nach englischem Gesetz Mordversuch, von welcher Anklage ihn nur ein redegewandter Advokat freibekam, der aus Schwarz Weiß und aus einem Teufel einen Engel machen konnte.

Der Mann stand wie erstarrt an der Tür, dann blickte er sich langsam im Zimmer um, erstarrte wieder, stierte nach dem Franzosen, welcher jetzt, immer qualmend, den zweiten Fuß ins Bett zog.

»Was wünschen Sie, mein Herr?«

»Das — ist — doch — mein Zimmer!?«

»Das ist mein Zimmer!«

Noch einmal der wandernde Blick durch den Raum, auf die vielen Koffer, und Colonel Atkin fuhr wütend auf.

»Das ist mein Zimmer!!«, brüllte er. »Herr, Sie rauchen aus meiner Pfeife!«

Bedächtig nahm der im Bett sitzende Franzose die Pfeife aus dem Munde, bedächtig betrachtete er sie von allen Seiten, bedächtig blickte auch er sich im Zimmer um, bedächtig stand er wieder auf, legte die Pfeife weg und griff nach seinen Kleidungsstücken.

»Wahrhaftig, Sie haben recht! Das ist gar nicht mein Zimmer. Ich bitte um Verzeihung. Was dem Menschen doch nicht alles passieren kann!«

Ich glaube, ich habe damals einen Anfall von Katalepsie gehabt. Wie gelähmt saß ich auf meinem Stuhle, konnte weder ein Glied bewegen, noch sprechen, noch denken, aber ich war hellsehend geworden, ich blickte gegen die Wand und konnte doch ganz deutlich die beiden sehen, den jungen Franzosen mit dem unschuldigen Gesicht, wie er sich gemächlich ankleidete, den bärtigen Yankee mit vor Wut verzerrten Zügen, wie er zitternd mit geballten Händen an der Tür stand, wie ein zum Sprung fertiges Raubtier, aber doch keinen Schritt vorwärts tuend.

Leonard war angekleidet, er schritt der Tür zu, und im Vorbeigehen klopfte er auch noch dem Yankee freundlich auf die Schulter.

»Entschuldigen Sie, lieber Herr, irren ist menschlich«, sagte er dabei, und der amerikanische Rowdy zitterte nur vor Wut.

Halb betäubt war ich ihm gefolgt und sah mich in einem anderen Zimmer.

»Dieses Zimmer ist wirklich mein Zimmer«, wandte er sich an mich. »Verzeihen auch Sie mir den Scherz. Natürlich war es kein Irrtum von mir, so zerstreut bin ich nicht. Ich wollte diesen amerikanischen Eisenfresser nur einmal düpieren.«

Langsam kam ich zu mir, wenn ich auch noch nicht ganz wusste, ob ich wirklich wachte oder nur träumte. Das war denn doch mehr, als was in ein normales Gehirn geht.

»Mr. Atkin wird Sie fordern«, brachte ich nur hervor, weil dies mein nächster Gedanke war.

»Nein, das wird er nicht, ich habe ihn düpiert. Das lässt sich nicht nur mit narren oder veralbern übersetzen. Ich bin professioneller Raubtierbändiger. Ich habe in Bangkok einen Amokläufer düpiert. Wissen Sie, was das bedeutet, wenn die Glocken heulen, dass alles in die Häuser flüchten soll? Ein von der Tollwut befallener Malaie rennt durch die Straßen, Schaum vor dem Munde, mit dem Kris alles Lebendige niederstechend! In einer Minute liegen hundert Leichen auf der Straße, bis ihn eine Kugel niederwirft oder er sich den Kopf an einer Mauer zerschellt hat. Ich bin ihm ruhig entgegengetreten, und er fiel wie vom Schlage getroffen vor mir zu Boden, kroch dann winselnd vor meinen Füßen — ich hatte ihn düpiert. — Wissen Sie, Monsieur Schwarz, das Düpieren ist mein Lebensberuf. Ich studiere die Physiognomie und das Benehmen des Menschen, wenn ihm etwas passiert, was er sich nicht hat träumen lassen, was über seine Begriffe geht. Vorhin studierte ich den Yankee, jetzt studiere ich Sie.«

Da plötzlich erfasste mich etwas wie eine furchtbare Verzweiflung; ein Verdacht, den ich schon immer als unbegründet energisch zurückgedrängt hatte, brach endlich mit voller Macht hervor.

»Sie düpieren auch uns«, rief ich leidenschaftlich, »Sie düpieren auch Mr. Cunning, mich, Sie wollen die ganze Welt düpieren!! Es ist gar nichts wahr von alledem, was Sie uns erzählt haben!! Der gepanzerte Riese in ZentralAustralien ist ein von Ihnen erfundenes Märchen, Sie belustigen sich über unseren kindlichen Glauben!!«

Ruhig griff Leonard in die Brusttasche, zog ein Metalletui hervor und entnahm diesem den kleinen Nihilitdolch.

»Dies meine Antwort!«

Ich war dadurch noch nicht beruhigt, auch ich wusste eine Antwort.

»Ja, das ist ein Rätsel für uns — aber Sie sind in Indien gewesen, jetzt weiß ich es — die Inder haben Geheimnisse und Handfertigkeiten, welche wir mit all unserer Technik noch nicht nachmachen können — ihre Farben, ihre wunderbaren Gewebe — und Sie sind in den Besitz zweier indischer Dolche gekommen, deren Metall und Herstellung uns heute noch ein Rätsel ist, Sie hatten sie schon bei der Abreise bei sich — — — und nun spinnen Sie ein ganzes Märchen daraus, Sie düpieren uns!!«

Leonard steckte den Dolch wieder zu sich.

»Glauben Sie, was Sie belieben«, entgegnete er. »Nur versichere ich Ihnen, dass die Expedition auch ohne Sie morgen abgehen wird. Ich verstehe ebenfalls mit dem Sextanten umzugehen, überlasse nur diese dumme Rechnerei lieber einem anderen. — Nein, Mr. Schwarz«, fuhr er etwas schneller fort, als ich mich der Tür zuwenden wollte, »verlassen Sie mich nicht beleidigt, ich wollte Sie nicht kränken. Meine Erzählung ist faktisch kein Märchen, jedes Wort ist Tatsache. Glauben Sie mir nun?«

»Auf Ehre?«

»Bah, Ehre!«, erklang es verächtlich. »Überzeugung! Denken Sie, ich würde denselben Weg noch einmal machen, wenn es mich nicht selbst reizte, jene merkwürdigen Menschen kennen zu lernen, von denen ich nur einen toten sah? Passen Sie auf: Für das Nihilit habe ich kein Interesse, ich lebe von der Hand in den Mund, ich verbrauche zu meinem Unterhalt sehr viel. Was Mr. Cunning mir versprochen hat, wenn wir das Geheimnis mitbringen, ist für mich die Taube auf dem Dache, denn ich habe sicheren Verdienst — oder ich gehe direkt in den Tod. Warum also soll ich da noch mal die strapaziöse Tour unternehmen, wenn mich nicht ein lebendes Geheimnis reizt, dem auf die Spur zu kommen mir damals bei meinen unvollkommenen Mitteln unmöglich war? Verstehen Sie diese Logik?«

Nein, ganz und gar nicht! Das war für mich keine Logik, sondern die pure Faselei. Aber ich sagte nur, dass ich ihn nicht verstände.

»Weil Sie mich nicht kennen. Vielleicht werden Sie mich bei längerem Zusammensein noch kennen lernen, und dann werden Sie mich begreifen. — Wissen Sie, was der sogenannte Astralleib ist?«

Jetzt brach der Wahnsinn bei ihm völlig durch, und dabei begann er sich schon wieder zu entkleiden. Einem Irrsinnigen muss man immer nachgeben.

»Der Doppelgänger!«

»Ja, ungefähr. Das zweite Ich, die mit einer ätherischen Hülle umgebene Seele, welche aus dem Körper heraustritt und...«

»Sie haben einen Doppelgänger?«, fragte ich in möglichst bedauerndem Tone.

»Ich? Unsinn! Um dieses Phänomen, wenn es nicht von Natur eine krankhafte Veranlagung ist, künstlich hervorzurufen, muss man jahrelang nach seiner Nasenspitze schielen und immer vor sich hin sagen: om — om — om — om — om — om...«

Er saß bereits im Hemd, wie ein Türke mit gekreuzten Beinen, im Bett, schielte nach seiner Nasenspitze und sagte immer: om — om — om...

Und er spräche dieses Wort vielleicht noch heute aus, im Bett des Hotels zu Adelaide, wenn ich ihn damals nicht unterbrochen hätte. So sehr mich auch eine Lachlust anwandelte, beschlich mich doch ein bängliches Gefühl. Ich hatte schon von den entsetzlichen Übungen der indischen Fakire gehört, es gibt auch genug Europäer, besonders Engländer, welche sich einen Guru als Lehrer nehmen, um unter dessen Anleitung ihre vermeintlichen übersinnlichen Fähigkeiten auszubilden. Die meisten von ihnen begehen zuletzt die schrecklichsten Exzesse und sterben im Irrenhause.

»Sie haben das jahrelang getrieben?«, fragte ich leise.

Er hörte auf mit seinem ›om‹ und sah mich groß an.

»Ich? Ich glaube an den ganzen Schwindel nicht!«

Da konnte ich mir nicht mehr helfen, ich brach in ein schallendes Gelächter aus. —

Jetzt, da ich dies schreibe, lache ich nicht mehr über ihn. Jetzt, da sich mir der unglückliche und dennoch beneidenswerte junge Mann offenbart hat, verstehe ich ihn, es war keine törichte Faselei, was er mir damals sagte oder sagen wollte, ich war nur noch nicht reif genug, seinen seltsamen Charakter zu begreifen. —

»Sie haben gut lachen«, fuhr er fort, sich in die Decke wickelnd. »Ich möchte, ich könnte auch so lachen. Ach, hören wir auf, Sie verstehen mich ja doch nicht. — Warten Sie noch einen Augenblick, Monsieur Schwarz. Ich habe Sie düpiert, deshalb sind Sie nicht ganz logisch gestimmt. Sie haben nämlich vorhin einen bösen Fehler in der Logik begangen. Passen Sie auf, und antworten Sie mir ganz freimütig: Sie glauben also, dass ich mit dem gepanzerten Ritter in jener Schlucht den Leuten nur ein Märchen aufbinden will?«

»Ja.«

»Gesetzt aber den Fall, es wäre Tatsache, so glauben Sie, es handele sich um europäische Kolonisten, welche sich verirrt und nun, abgeschlossen von aller Welt, sich wieder von vorn und selbstständig entwickelt hätten?«

»Ja, das wäre meine Meinung.«

»So! Wissen Sie, wie ich den Kopfschmuck des Helms beschrieb?«

Ich wurde etwas verwirrt.

»Ein geflügeltes Ungeheuer mit Menschenkopf...«

»Was für ein Ungeheuer, was für ein Tier?«

»Ein — ein — Tiger!«

»Jawohl, ein bengalischer Tiger. Ihre Ansicht mit den verirrten Kolonisten ist dadurch gerichtet. Aber nun meine Glaubwürdigkeit! — Monsieur Schwarz, wenn ich jemand ein erfundenes Märchen aufbinden will, mit der Absicht, dass er es als Tatsache glaube — halten Sie mich für so beschränkt, dass ich für Australien nicht etwas Anderes als gerade einen bengalischen Tiger erfinden kann? Glauben Sie wirklich, dass ich solch ein erzdummer Lügner bin? — Gute Nacht, schlafen Sie wohl! Ooohaaa!«

Ich stand auf dem Korridor. Ich war verblüfft. Wahrhaft, das hatte gepackt! Der Mann da drinnen musste eher etwas zu viel als zu wenig im Kopfe haben, aber immerhin, er hatte eine wirklich überzeugende Logik. Erst hatte mich sein verrücktes Benehmen aus allen Himmeln gerissen, mich zur Verzweiflung gebracht, er hatte mich furchtbar ernüchtert — und jetzt hätte ich ihn in einem Freudentaumel der Begeisterung um den Hals fallen mögen.

Ja, ich glaube!! Und ich will nicht rasten noch ruhen, bis ich den Schleier von diesem Geheimnis gelüftet habe, welches das Innere von Australien birgt, und sei es auch die mich verschlingende Hölle. — —

Das Fest war im vollen Gange. Ich wurde einem jovialen Herrn vorgestellt, welcher eben in dem Hotel eingetroffen war und welcher Mr. Cunning kannte. Es wurde gerade über den Franzosen gesprochen, welcher in siebenundfünfzig Tagen Australien durchquert hatte.

»Ja, das ist Charles Leonard. Kennen Sie seine Lebensgeschichte? Vor ein paar Jahren war er in Paris die besprochenste Berühmtheit, aber in Paris vergisst man schnell. Der hat einen Weltrekord geschaffen, der nicht so leicht zu schlagen ist, nämlich wie man Geld totschlägt. Er ist in FranzösischIndien bei einem Onkel erzogen worden, beerbte ihn und hat in noch nicht zwei Jahren in Paris gegen acht Millionen Francs durchgebracht. Dann aß er auch noch eine reiche Tante auf — immer wüster und wüster. Jetzt schlägt er sich ehrlich durchs Leben. Er sucht sich seine Leute, die ihn dafür bezahlen, wenn er von der Brooklyner Brücke springt oder wenn er eine Stunde auf dem Kopfe steht oder wenn er den Niagarafall herunterrutscht. — Sie, Mr. Cunning, sehen Sie sich vor! Dieser Charles Leonard hat es faustdick hinter den Ohren.«

»Wieso? Warum? Was hat er getan?«

»Kennen Sie nicht die Geschichte, wie er mit seinem selbsterfundenen Rade von Calais nach Dover über den Kanal gefahren ist? Nein? Wahrhaftig, er hat es gemacht! Na, also, Leonard schreibt einem Pariser Fahrradfabrikanten, er habe ein Rad, mit dem er übers Wasser fahren könne, auch bei Seegang, wenn dieser nur nicht gar zu toll sei, zum Beweise wolle er morgen von Calais nach Dover fahren, er garantiere, in drei Stunden drüben zu sein. Für eine Viertelmillion verkaufe er die epochemachende Erfindung. Der Fabrikant sofort hin nach Calais! Mein Leonard kommt mit einem ganz gewöhnlichen Rade, da liegt ein Dampfer, der gerade abgehen will, er fährt das Landungsbrett hinauf, der Dampfer geht ab und Leonard radelt immer um den Mastbaum herum. Richtig, in drei Stunden ist er in Dover!«

Die Geschichte ging von Mund zu Mund, und des Lachens in dem Saale war kein Ende.

»Und was weiter?«

»Na, die Viertelmillion hat er für sein Wasserrad natürlich nicht bekommen. Aber eingebracht hat es ihm doch etwas. Der Fabrikant hatte sich unsterblich blamiert, und darauf nur war es von einem Konkurrenten abgesehen gewesen. Die Maschinen von jenem heißen heute noch die PatentWasserräder. Aber die ganze Idee scheint doch von Leonard ausgegangen zu sein, das sieht ihm so recht ähnlich.«

--*--

Viertes Kapitel

Originalseiten 31 — 45

Am 11. Mai. Gestern früh um zehn Uhr ging der Zug ab, den wir bis Farina benutzten. Er ist der nur einmal in der Woche die ganze Strecke von vierhundert englischen Meilen hin und her fahrende so genannte Kornzug, weil er bei seiner Rückfahrt die auf den Stationen inzwischen aufgestapelten Getreidevorräte mitbringt, obschon nicht weniger lebendes Schlachtvieh, gesalzenes und gepökeltes Fleisch und andere Lebensmittel, welche auf den Farmen zur Proviantierung der größeren Städte erzeugt werden. Bei der Hinfahrt wirft er auf den einzelnen Stationen nur schnell die Kisten und Beutel heraus, welche alles das enthalten, was die entlegenen Farmen aus dem Seehandelsplatz beziehen müssen, hauptsächlich Tee, Zucker, Tabak, Kleiderstoffe und Kurzwaren.

Wie noch andere Provinzen hat auch das Gouvernement von SüdAustralien vor einigen Jahren aus Ägypten mehr als hundert Kamele kommen lassen, welche hauptsächlich im Postdienst verwendet werden. Das Kamel hat für Australien fast dieselbe Bedeutung bekommen wie für Afrika und die asiatischen Steppen, es gedeiht hier vorzüglich, die salzhaltigen Gräser sind für das Kamel wie geschaffen, es pflanzt sich fort, und da es unter der strengen Aufsicht und unter dem Schutze des Gesetzes steht, wird es sich hier mit der Zeit noch zu einem ganz anderen, leistungsfähigeren Tiere veredeln, als es z. B. das ägyptische, misshandelte, überbürdete Kamel ist. Es gibt hier genug Farmen, deren Existenz, selbst wenn sie dicht an der Eisenbahn liegen, zu gewissen Zeiten nur vom Kamel abhängig ist. Wir haben so trockene Sommer, dass die Eisenbahnzüge im Innern des Landes nicht fahren können, weil für die Lokomotive kein Wasser vorhanden ist. Da müssen die Kamelkarawanen helfend eingreifen. Ein mit tausend Pfund belastetes Kamel legt in vier Tagen hundertdreißig bis hundertvierzig englische Meilen zurück, dabei marschiert es täglich zehn Stunden, ohne dass es einmal getränkt zu werden braucht. Dann allerdings bedarf es reichlichen Wassers und zweitägiger Ruhe.

Für den Transport dieser großen Tiere sind von der Regierung einige besondere Eisenbahnwagen mit sehr hohen Wänden gebaut worden, ich hatte ihrer zwei für meine sechs Kamele gemietet. Erst zwei Stunden vor Abgang des Kornzuges rückte ich mit der ganzen Karawane von dem Schuppen, wo die Tiere und das Gepäck inzwischen untergebracht gewesen waren, nach dem Güterbahnhofe ab, so sehr auch Mr. Cunning gedrängt hatte, zu eilen, weil er fürchtete, nur zwei Stunden könnten nicht reichen zum Weg und zum Verladen des lebenden und toten Materials. Ich wusste, was wir leisten konnten, und ich wiederum fürchtete das Warten.

Eine große Menschenmenge gab uns das Geleite; viele zur Arbeit gehende Leute versäumten eine Stunde. Es irritierte mich sehr, dass uns ein riesiges Banner vorausgetragen wurde, auf dem rote Buchstaben verkündeten: » Expedition der Waffen- und FahrradFabrik Cunning & Kompanie zur Erforschung neuer Weide- und Ackerbaugründe in ZentralAustralien, ausgerüstet mit Elektrikrädern. Kauft nur noch unsere Elektrikräder!« — Das wäre nicht nötig gewesen. Aber es ist nun einmal englisch, und es ist Geschäft.

»Was für Milchgesichter sind denn das? Auf welchen Jahrmarkt wollen denn die?«, hörte ich höhnisch einen verwitterten Kerl fragen.

Ein anderer sprach auf ihn ein, er deutete auf unseren Zug, ich hörte den Namen Charles Leonard, und der alte Squatter kratzte sich sichtlich verlegen hinter den Ohren. Dem jungen Franzosen, der in siebenundfünfzig Tagen Australien durchquert hatte, von dem die Firma durch Reklamen natürlich ein großes Aufsehen machte, der sich aber kaum in der Öffentlichkeit blicken ließ, wurden überhaupt häufige Ovationen gebracht.

Hinter dem Banner, an der Spitze reitend, blickte ich mich um. Wirklich, es war eine stattliche Karawane! Die bewaffneten Männer auf tanzenden Pferden sahen gar nicht wie Schlosser und Hausknechte aus, dazu die hochbepackten, weit ausgreifenden Kamele, von nur zwei Leuten wie wohldressierte Lämmer geleitet. Nur Leonard machte keinen guten Eindruck. Er hatte sein Gewehr einem Kamel um den Hals gehängt und die Zügel fahren lassen, um beide Hände in die Rocktaschen stecken zu können. Es war allerdings Anfang Winter, für unsere Begriffe ein sehr empfindlich kalter Morgen.

Ohne Zwischenfall erreichten wir den Güterbahnhof, wo unsere Wagen bereitstanden, und mit militärischer Berechnung jedes Handgriffs waren innerhalb einer halben Stunde die Kamele abgeladen, sämtliche Tiere in die Wagen gebracht und auch das Gepäck verstaut. Wir wurden nach dem Hauptbahnhof rangiert, noch ein Abschied von Mr. Cunning und seinen Begleitern, noch ein Hurra, und wir jagten dem wärmeren Norden zu.

Ich wollte für jede Eventualität die Stelle eines unnahbaren Kommandanten wahren, hatte deshalb ein besonderes Wagenabteil genommen, musste aber selbstverständlich Monsieur Leonard als Gesellschafter einladen. Ferner war nach bereits erfolgter Abmachung Ned Carpenter als Ordonnanz oder Leibdiener bei mir.

Über diesen noch ein Wort. Der dreißigjährige Carpenter ist Monteur in der Fahrradabteilung unserer Fabrik, hat eine sehr mangelhafte Schulbildung gehabt, kann kaum seinen Namen schreiben, buchstabiert beim Lesen mit dem Finger, strebt auch nach keiner weiteren geistigen Ausbildung, ist überhaupt beschränkt. Er glaubt nicht daran, dass sich die Erde um die Sonne dreht; er sieht mit seinen Augen doch gerade das Gegenteil, das haben sich die superklugen Gelehrten, welche er verachtet, nur einmal in den Kopf gesetzt. Aber — vielleicht gerade deshalb — ein Mann der Praxis vom Scheitel bis zur Sohle. Was der nicht im Kopfe hat, hat er in den Händen, in den Fingerspitzen, im Blick. Er versteht mit einem Stückchen Draht auch die verstockteste Mutter anzuziehen oder zu lösen; wenn er die Bohrlöcher anreißt, braucht er dazu weder Kreide noch Zirkel, alles nach Augenmaß, und es stimmt. Selbst wenn einmal drüben in der Waffenfabrik etwas Besonderes los ist, wenn etwa eine Maschine exzentrisch bohrt, wird der Fahrradmonteur gerufen, und Ned Carpenter hat den Fehler, den alle Ingenieure vergeblich durch Berechnung zu entdecken suchen, instinktartig sofort gefunden. Er hat sich eine kleine Dampfmaschine gebaut, welche auf der Handfläche stehen kann, hat sich die hölzernen Modelle, welche zum Guss einzelner Teile nötig sind, selbst gedrechselt, dabei ohne jede Zeichnung, ohne Vorbild, alles frei nach dem Kopfe, und das winzige Dingelchen funktioniert tadellos, obgleich es nach den Gesetzen der Mechanik gar nicht einmal arbeiten dürfte. Ned Carpenter ist eben ein Genie der Praxis, und er sollte nicht Carpenter, d. i. Zimmermann, sondern Ironer, Eisenmacher, heißen, denn alles, was nicht mit Eisen, Stahl oder sonstigem Maschinenmetall zusammenhängt, hat für ihn kein Interesse.

Ich hatte ihn näher kennen gelernt, weil er mir einige Werkzeuge und Apparate herstellte, welche ich für meine Erfinderexperimente brauchte. Ich schlug ihn für die Expedition vor, und wenn Bill Snyder bei dieser meine rechte Hand ist, so soll Ned Carpenter meine linke sein, Solch eine geschickte Hand ist auf der Reise nicht zu verachten, und wenn alles platzt und reißt, Ned weiß wie mit Hexenkünsten den unausbesserlichen Schaden wieder zu ›fixen‹. Jetzt glüht er für das Nihilit, dessen Härte er auf der Drehbank erprobt hat, und über seine Fabrikanten, die geheimnisvollen Wesen einer unbekannten Welt, ergeht er sich in den seltsamsten Ansichten. —

Es sei hier nicht weiter die Natur des Landes geschildert, durch welches wir reisten. In jedem Spezialwerk kann man darüber ausführlich nachlesen.

Wir sausten durch gesegnete Gefilde und durch öde Steppen, wir sahen malerische Gebirgslandschaften, sandige Wüsten und wieder paradiesisch gelegene Farmen und Städtchen. Der Schienenstrang führte durch Gummiwälder und durch den berüchtigten Skrub, das dornige Unterholz, bis die Nacht ihren verhüllenden Schleier auf die Gegend senkte. Für mich brachte die Nacht keinen Schlaf, ich hörte, wie unruhig die Pferde waren, wie die Kamele vor Angst manchmal schrecklich brüllten, und auf jeder Station sah ich nach meinen vierbeinigen Pflegebefohlenen.

Am anderen Morgen, früh um vier Uhr, erreichten wir noch bei völliger Dunkelheit Farina. Bis die Tiere untergebracht waren, wurde es Tag, sie brauchten nach der anstrengenden Fahrt einen ganzen Tag Ruhe, wir Menschen auch. Ich habe meinen Aufenthalt in Farina so gut wie verschlafen.

Schon vierhundert Meilen im Innern, mehr dem Norden zu! Das empfindet man gleich an der wärmeren Temperatur, wenigstens am Tage, obgleich Südwind — also aus einem kalten Gebiete kommend — weht.

Vor dreißig Jahren galt das Vordringen bis zu diesem Breitengrade noch für ein Wagnis, zu dem eine wohlausgerüstete Expedition nötig war, und manche solche ist nicht wieder zurückgekehrt, ihre Mitglieder erlagen dem Durst, den Strapazen und den Waffen der Eingeborenen. Heute fährt man bequem im gepolsterten Eisenbahnwagen hin. Damals galt diese Gegend wegen vollständigen Wassermangels für unbewohnbar, heute hat Farina seine eigene Bierbrauerei. Der Mensch findet eben überall, allüberall Wasser, wenn er nur danach zu suchen weiß. Vermehrt sich doch selbst in der Wüste Sahara fast täglich die Anzahl der artesischen Brunnen, und es ist keine phantastische Utopie, dass die Sahara noch in ein fruchtbares Gefilde verwandelt werden kann, wenn vielleicht auch das Ganze erst in Hunderten, in Tausenden von Jahren vollendet sein wird. Wenigstens liegen jetzt schon dort, wo vor fünf Jahren noch kein Regenwurm existieren konnte, große französische Garnisonen.

Von Farina aus geht die Eisenbahn noch weiter, bis nach St. Eyre am Eyresee. Aber wir können sie nicht benutzen. Es kommen mehrere Gebirgszüge mit vielen Tunnels, man hat bei ihrem Bau nicht an den Transport von Kamelen gedacht, es gibt noch keine zu diesem Zwecke auf besonders niedrigen Achsen konstruierte Waggons — jenseits des Tunnels würden die großen Tiere wahrscheinlich einen Kopf kürzer sein.

So wird die Expedition morgen ihren eigentlichen Marsch antreten. Was werde ich erleben, was finden? Meine fieberhafte Spannung verlässt mich nicht. —

Am 20. Mai. St. Eyre seit drei Tagen und dann schon vier Telegrafenstationen passiert! Die Drahtleitung ist das letzte Zeichen der Kultur, welches uns aber auch nie aus den Augen kommt.

Mir ist stets rätselhaft erschienen, dass die Telegrafenleitungen so selten von Eingeborenen zerstört werden, um sich etwa den glänzenden Metalldraht in Nase und Ohren zu hängen. In Amerika lässt sich dieser Respekt noch erklären. Die Indianerstämme haben ihre bestimmten Jagdgebiete; so groß diese auch sein mögen, man kann doch mit ihren Häuptlingen verkehren, und mir ist auch bekannt, wie dort die Sache gehandhabt wird. Man lässt einfach bei Gelegenheit einigen Vertretern der Rothäute ein paar tüchtige elektrische Schläge zukommen, dass sie davon erzählen können, oder wie in Dakota, wo man zwei meilenweit getrennt lebende Häuptlinge, die sich aber kannten, gleichzeitig auf zwei Endstationen einlud, in die Leitung wurde das Telefon eingeschaltet, die beiden roten Krieger mussten miteinander sprechen, schon das war Zauberei! Man sorgte dafür, dass sie per Draht ausmachten, zu einem gewissen Sonnenstand an einer bestimmten Stelle zusammenzutreffen. Sie bestiegen die Pferde, und als sie sich nun wirklich persönlich sahen, da war ›der sprechende Draht‹ in dieser Gegend für alle Zeit vor raublustigen Indianern gesichert.

Aber so etwas ist nicht in Australien möglich, wo die Eingeborenen aus Nahrungsmangel endlose Gebiete durchwandern, wo immer wieder Fremde auftauchen, die noch nie einen Weißen gesehen haben. Da muss man einfach mit dem angstvollen Respekt vor dem unbekannten Etwas rechnen.

Ungefähr alle vierzig Meilen, welche man bei sehr gutem Weg in einem Tage machen kann, befindet sich eine Telegrafenstation. Ihr Ort hängt natürlich von der Wasserfrage ab. Der Stationsvorsteher ist ein praktischer Techniker, welcher zu telegrafieren versteht, er hat zwei weiße Leute unter sich, welche die zerrissene Leitung zu flicken wissen, und dann noch einige ›zahme‹ Australneger. Außer den besonderen Fällen, wenn die Leitung auszubessern ist, besteht die Hauptaufgabe der Arbeiter darin, zu gewissen, günstigen Zeiten den durch Wald und Busch gehauenen Weg abzureiten, den sie mit Axt und Buschmesser vor dem vollständigen Überwuchern schützen müssen. Diesen Weg wird auch die projektierte PacificEisenbahn nehmen, mit welcher etwa im Jahre 1905 begonnen werden soll, und diese wird das Innere Australiens schneller erschließen.

Alle Stationsbeamten und schwarzen Arbeiter sind verheiratet, der Stationsvorsteher muss zugleich die Kinder unterrichten. Sie bauen hauptsächlich Mais, Bohnen und was sonst Klima und Boden erlauben, halten Rinder, Schafe und Geflügel, natürlich auch Pferde, werden jährlich einmal von einer Karawane besucht, bis sie nach zehnjährigem Dienste eine Beamtenstelle in einer kleinen Stadt erhalten. —

In solch einer weltverlassenen Ansiedlung halten wir einen Rasttag. Ich hätte immer Lust zu einem derartigen Hinterwäldlerleben gehabt, mit dem Bewusstsein, kein unnützer Abenteurer, sondern ein Beamter im Dienste der Regierung zu sein, Lehrer, Seelsorger, ein kleiner König — unterdessen hat sich meine Ansicht sehr geändert.

In diesen acht Tagen habe ich begreifen gelernt, wie es möglich ist, dass Charles Leonard sich nicht mehr entsinnen kann, ob er ein, zwei, drei oder vier Tage nach Verlassen der MacDonallStation gefahren ist, bis er links abbog.

Ich bin bereits ein richtiger Buschmann geworden. Wenn ich mich abends auf die nackte Erde lege, schlafe ich augenblicklich ein. Ich trinke mit Behagen aus der schmutzigsten Pfütze, aber — ich weiß nicht, was für ein Gefühl es ist — ich bin auf dem Marsche, beim Reiten, Fahren oder Gehen die meiste Zeit wie vor den Kopf geschlagen. Es ist die trostlose Einförmigkeit der Steppe, der Salzwüste — es ist gar kein schattenspendender Wald, durch den man tagelang zieht, sondern eine Säulenreihe von Gummibäumen, einer wie der andere aussehend — es ist die blendende Sonne, es muss in der Luft liegen, dass meine und aller meiner Begleiter Nerven und Sinne wie abgestorben sind.

Allerdings wird uns dies dadurch zum Vorteil, dass wir weniger für Strapazen, für Hitze und Durst empfänglich sind. Wir bummeln eben gedankenlos vor uns hin; aber für mich ist das Schlimme, ich muss jedes Mal lange mit meiner Trägheit kämpfen, ehe ich mich entschließen kann, nur nach dem Thermometer zu sehen, das Barometer zu befragen oder gar eine Sonnenaufnahme zur Bestimmung der geografischen Lage zu machen, mit Logarithmen zu rechnen. Ich bin mit einem Trupp Ureinwohner zusammengetroffen, welche noch nie mit Europäern in Berührung gekommen waren, und ich hatte gar kein Interesse für diese Leute. Ich habe Rudel von Kängurus und Emus gesehen. Wir rasteten. Ich bin ein leidenschaftlicher Jäger. Ich war nicht erschöpft, und doch blieb ich apathisch liegen.

Erst am kühlen Abend beginne ich aufzutauen, dann führe ich mein Tagebuch, und dann bewundere ich umso mehr jene Forscher, welche unterwegs unermüdet alles beobachten, Steine und Pflanzen sammeln. Dazu gehört eine Energie, von welcher sich die meisten Menschen gar nichts träumen lassen.

Nur wenn sich uns ein Hindernis entgegenstellt, welches wir besiegen müssen — wenn nicht heute, dann morgen — sonst werden wir eben liegen bleiben, dann erwacht auch meine Energie. Vorwärts, vorwärts zum Ziel, zur Lösung des Geheimnisses!! So klingt es trotz alledem fort und fort in mir.

Täglich haben wir mehrmals Flüsse und Gebirgsrücken zu passieren, bei denen die Kamele abgeladen werden müssen. Die Menschen müssen ihren Rücken belasten, immer wieder hin und her über die Felsen klettern. Glücklicherweise sind alle diese Gebirgskämme nur von sehr geringer Breite, und alle Flussränder sind mit Gummibäumen bestanden, welche schnell ein Floß liefern.

Meine Leute murren stets. Immer wollen sie die Passage bis zum anderen Morgen, bis zum kühlen Abend verschieben. Aber ich lasse sie nicht ruhen, ich lege selbst mit Hand an, nehme gleich anderthalb Zentner auf meine Schultern, die von der Natur nicht stiefmütterlich bedacht worden sind, und bei solchen Gelegenheiten ist auch Bill Snyder vortrefflich auf seinem Posten.

Der faulste und phlegmatischste Kerl aber von der ganzen Expedition ist Monsieur Charles Leonard. Wenn ich mit meiner Last sechsmal hin und her kraxle, steckt der junge, kräftige Mensch die Hände in die Hosentaschen, spaziert hinüber, legt sich ins Gras, sieht uns zu und raucht eine Zigarette dabei.

»Na, Monsieur, Sie können auch mal ein bisschen mit zugreifen«, sagte ich einmal etwas erbost.

»Wenn Sie's tun, brauche ich's ja nicht zu machen«, war seine unverschämte Antwort.

Ich lasse ihn in Ruhe. Einmal steht er zu der Expedition in einem unabhängigen Verhältnis, ich habe ihm gar nichts zu sagen, und dann ist etwas an ihm, was mich immer mehr — düpiert. Er ist ein unberechenbarer Charakter, ich studiere ihn immer noch, ich ärgere mich über ihn und bewundere ihn.

Einige Beispiele mögen diese Seltsamkeit erläutern.

Eben jetzt, da ich dies schreibe, sitzt Leonard auf einem Baumstumpf, raucht, brütet vor sich hin. Dicht hinter ihm geht das Gewehr eines unvorsichtigen Schwarzen los. Die Kugel zertrümmert einen irdenen Krug. Alles springt erschrocken auf und eilt herbei — nur Leonard nicht, der bleibt ruhig sitzen, blickt sich nicht einmal um, als hätte er den Schuss gar nicht gehört. Gibt es wirklich ein solches unnatürliches Phlegma? Ist es zur Gewohnheit gewordene Blasiertheit? —

Hinter dem 24. Breitengrade sahen wir in einem Flüsschen das erste Krokodil. Je weiter wir nördlich kamen, desto mehr nahmen sie an Größe und Zahl zu, bis jeder Fluss, Bach und Tümpel von ihnen wimmelte. Es sind keine Menschenfresser, sie nähren sich von Fischen, Ratten und kleinen Schildkröten, die sie wie die Haselnüsse aufknacken. Wenn man natürlich seine nackten Beine ins Wasser baumeln lässt, können sie auch einmal einen Fuß wegschnappen. Geht man sonst auf ein sich auf der Sandbank sonnendes oder im Schlamm vergrabenes Krokodil zu, so zieht es sich stets zurück, dabei den Rachen zur Drohung furchtbar weit aufreißend. Aber ich versichere, dass kein Mensch auf solch ein zwei bis drei Meter langes Reptil mit zähnestarrendem Rachen zugeht, es sei denn ein mit einer langen Lanze bewaffneter Krokodiljäger.

Leonard tat es stets, er machte einen Sport daraus, schnitzte sich beim Passieren eines seichten Flusses immer erst einige Hölzer zurecht, auf beiden Seiten zugespitzt, ging auf das erste Krokodil, welches ihm erreichbar war, direkt zu, steckte ihm die Faust mit dem Holze in den Rachen. Das Reptil schnappte zu, und Leonard musste blitzschnell zurückspringen, um nicht von einem Schwanzhiebe getroffen zu werden. Das Krokodil konnte sich nicht wieder befreien und musste mit weit aufgesperrtem Rachen verhungern.


Illustration

Das ist leichter erzählt als ausgeführt. Mir sträubte sich die ersten Male das Haar vor Entsetzen, bis ich mich an den Sport des kaltblütigen Franzosen gewöhnt hatte. Es war eine Waghalsigkeit sondergleichen. Wenn ihm das Experiment einmal nicht glückte, dann hatte er nur noch eine Hand oder seine beiden Beine waren zerschmettert. —

Als wir eines Nachmittags an einer Quelle unser Lager für die Nacht aufgeschlagen hatten, entfloh uns ein Pferd und ließ sich nicht zurücklocken. Einige Fangversuche, die jeder auf eigene Faust anstellte, missglückten. Bill Snyder, der ehemalige Buschmann, arrangierte eine gemeinsame Jagd mit List und Umgehung, und er fluchte mörderlich, wie ungeschickt wir uns dabei benähmen. Wir waren eben nicht im Busch aufgewachsen, wir bekamen das scheue Tier nicht, mussten es laufen lassen.

Nur Charles Leonard hatte sich, wie gewöhnlich, nicht an der Arbeit beteiligt, aber als wir zurückkamen, hatte er bereits ein Rad von einem ruhenden Kamel abgepackt, fuhr ohne Weiteres davon, uns nur noch zurufend, nicht auf ihn zu warten, er würde schon wieder zu uns stoßen. Wohin wollte er? Etwa das Pferd mit dem Rade haschen?

Wir hatten uns an seine Launen schon etwas gewöhnt. Er kam nicht des Nachts, er war des Morgens noch nicht da, ich konnte nicht helfen — weiter! — und wenn er noch lebte, konnte er auch die Telegrafenlinie und uns wiederfinden.

Am Mittag holte er uns ein, das schweißbedeckte Pferd reitend, auf dem Rücken die zusammengeklappte Maschine. Wie er das scheue Tier bekommen hat, bei dem mühsamen Fahren auf dem Rade, habe ich nie mit Sicherheit erfahren können. Er hatte eben nicht eher geruht, als bis er es am Zügel gehabt hatte, er machte gar kein Aufhebens davon.

War dies ein Zeichen von kolossaler Energie, von einem göttlichen Trotz gegen das feindliche Schicksal? Oder war es grenzenlose Eitelkeit, die von sich reden machen wollte?

Der nächste Fall verrät aber wirklich Kraft und Energie und edle Aufopferungsfreudigkeit, da will ich keinen Gedanken an eine andere Ursache aufkommen lassen.

Nur noch zwei Stunden bis zur nächsten Wasserstation, und es war die höchste Zeit, dass wir sie erreichten, denn Menschen und Tiere hatten seit zwanzig Stunden keinen Tropfen mehr genossen, und Harry Pord litt schon seit einigen Tagen an einer bösen Eingeweideentzündung. Er bat uns jammernd, ihn liegen zu lassen, ihm einen Gnadenstoß zu versetzen. Er musste auf dem fortwährend strauchelnden Pferde auch unsägliche Schmerzen ausstehen, und eine Tragbahre zwischen zwei Kamelen hätte bei deren schaukelndem Gang noch mehr Beschwerden verursacht. Er musste aber die zwei Stunden aushalten. Wir banden ihn im Sattel fest.

Wir selbst schwankten auf den Tieren, welche vor Erschöpfung jeden Augenblick zusammenzubrechen drohten, nur einer nicht. Wie schon im Anfange erwähnt, glaube ich gar nicht, dass Charles Leonard für die Qualen des Durstes empfänglich sein kann. Er hatte so wenig Wasser gehabt wie wir, auch er zeigte ein eingefallenes Gesicht, aber während er auf seinem Kamel, welches er seit einigen Tagen ritt, taktmäßig wie ein Pagode mit dem Oberkörper nickte, drehte er sich, sobald seine Zigarette verraucht war, mit demselben Gleichmut eine neue, wie damals, als wir Farina in bester Gesundheit verließen.

Als nun der todkranke Pord abermals herzzerreißend flehte, ihn doch liegen zu lassen oder lieber gleich zu töten, dieses Reiten könne er nicht mehr aushalten, da stieg Leonard, ohne ein Wort weiter zu verlieren, ab, band Pord los, ließ ihn sich auf den Rücken heben, die Beine unter seine Arme, und so hat er den schweren Mann zwei Stunden lang in der glühendsten Sonnenhitze Huckepack getragen, bis er ihn an der Quelle niederlegte, daneben selbst kraftlos zusammenbrechend.

Seit dieser Zeit kann Leonard tun und lassen, was ihm beliebt, wir nehmen ihm nichts mehr übel.

--*--

Fünftes Kapitel

Originalseiten 45 — 55

Am 16. Juni. Wir haben die MacDonallStation erreicht, nach dem Vornamen Stuarts benannt, welcher hier, gerade im Zentrum Australiens, im Mai 1860 als erster Europäer die englische Flagge aufpflanzte. Der Berg selbst, auf welcher die Station liegt, heißt nach ihm Mount Stuart.

Ich lasse in meinem Tagebuche alles weg, was nicht mit dem Hauptziele unserer Expedition zusammenhängt, habe keine Abenteuer erzählt, lamentiere oder renommiere nicht über die ausgestandenen Leiden.

Einige Angaben sprechen genügend. Harry Pord starb in meinen Armen, Max Zschocher ließen wir todkrank auf der RaleighStation zurück, Fred Bywater und Louis van Kuip liegen hier an Dysenterie nieder, ich habe wenig Hoffnung, Bill Snyder fiebert stark, zwei andere Leute sind sehr entkräftet, brauchen mindestens eine Woche Ruhe.

Ferner: Von den aus Adelaide mitgenommenen Pferden lebt kein einziges mehr; alle drei Hunde sind krepiert, ein Kamel hatte den Fuß gebrochen und musste getötet werden, ein zweites ist vom Strom fortgerissen worden, die anderen vier aber sind wohlauf.

Die abnorme Verlustziffer auf dem schon bekannten Wege mit bekannten Wasserstellen war erzeugt worden durch unsere Unerfahrenheit — wir waren eben keine Buschleute, das sagt alles — durch ein besonders trockenes Jahr und durch die Schnelligkeit, mit der wir gereist waren. Ja, ich hatte bedeutende Forderungen an die Kräfte meiner Leute und Tiere gestellt.

Dass nun gerade wir drei, welche wir von vornherein zusammen waren — ich, Charles Leonard und Ned Carpenter — uns noch des besten Wohlbefindens erfreuten, fähig, gleich die Reise fortzusetzen, das hat offenbar nicht eine physische, sondern eine psychologische Ursache. Wir drei — nur wir drei — hatten immer ein sehnsüchtiges Ziel vor Augen, nur das verlangende Wollen, welches ja nach Schopenhauer'scher Philosophie auch einzig und allein das Leben bedingt, hat uns aufrecht gehalten.

Dabei habe ich die Erfahrung gemacht — und ich hätte sie gemacht, auch wenn wir viel langsamer gereist wären — dass für Australien nur das Kamel in Betracht kommt, dass mit diesem ganz Australien aufgeschlossen werden kann. Das Pferd ist gar nichts wert, auch nicht der im Busch aufgewachsene Klepper. Es verträgt nicht die harten, salzhaltigen Gräser, am zweiten Tage ist es schon ganz entkräftet, dann nützt auch kein saftiges Gras mehr, höchstens Hafer könnte ihm wieder aufhelfen. Aber woher den nehmen, wenn nicht in ungeheuren Quantitäten mitschleppen? Und das schmutzige, salzige Wasser ruiniert es vollends. Vielleicht könnten sich eher Esel und Maultiere bewähren.

So kommt zur längeren Reise außer den menschlichen Beinen nur noch das Zweirad in Betracht, und dieses hat sich bewährt, wie auch schon Leonard bewiesen hatte. Wo waren denn die ungeheueren Wegschwierigkeiten? Heute fährt der Soldat auf dem Rade schon über Sturzäcker, und ich habe auf meinem Marsche keine Gegend gesehen, die einem Sturzacker glich. Im dornigen Skrub hört das Vergnügen natürlich auf, bei einer Überschwemmung, bei sumpfigem Boden, einen Gemspfad kann man auch nicht hinauffahren. Dass es sich im weichen Sande mühsam radelt, weiß jeder; der zarte Rasen des buschlosen Gummiwaldes bietet dem Rade gar kein Hindernis, und in der Heimat des Kängurus, der Steppe. nächst der Sand- und Salzwüste den größten Teil Australiens einnehmend, ist nur ein besonderes Fahren notwendig, an das man sich erst gewöhnen muss.

Die Hauptvegetation bildet Spinifex squarrosus, ein stachelähriges Gras, im Frühjahr herrlich blühend, welches aus Knollen in Büscheln wächst und um sich keine Nachbarschaft duldet, sodass man zwischen den einzelnen Pflanzen immer die nackte, harte, glatte Erde sieht. Nun hat man den Eiertanz per Rad aufzuführen, wirft sich immer links und rechts hin und her, und wer das einen ganzen Tag lang gemacht hat, der kann bald nicht mehr anders fahren, er tanzt mit verbundenen Augen zwischen den Eiern hindurch.

Wenn man nun neben einem weit ausgreifenden, auch trabenden Kamele fährt, diesem das eigene Gewicht, das bei einem Manne doch mindestens hundertzwanzig Pfund beträgt, in Form von Proviantsack und Wasserschlauch auflegt, es mit seinem eigenen Wasserbedarf belastet, so kann ein Reisender in zehn Tagen ganz bequem mindestens dreihundert englische Meilen zurücklegen, ohne auf Wasser und Nahrungsmittel angewiesen zu sein, und in dem heute bekannten Australien gibt es keine solche Strecke, auf welcher man nicht eine Quelle anträfe. Das soll aber einmal ein Pferdereiter oder Fußgänger probieren. Er legt ohne Quelle nicht ein Drittel dieser Strecke zurück, dann bleibt er allein oder samt seinem Pferde liegen. Und der Radfahrer hat beim Tode seines Kamels immer noch sein Rad, und beim Bruch des Rades immer noch sein Kamel. — — —

Ich telegrafierte sofort an Mr. Cunning, ihm den Zustand der Expedition kurz schildernd, aber doch Mac Donall erreicht, und die bereits nach zwei Stunden eintreffende Antwort ärgerte mich wieder gewaltig:

»Sofort weiter!«

Nein, das ist keine Hasenjagd. Auch die Leute, welche überhaupt noch marschfähig sind, brauchen eine Woche Pflege. Und wenn ich dennoch schon morgen mit Leonard und Carpenter einen Vorstoß mache, so tun wir es aus Wissbegierde und nicht im Interesse Mr. Cunnings. Außerdem waren wir erst am Abend auf der Station angekommen.

Diese Zentralstation, auf der nördlichen Seite des Mount Stuart liegend, ist eine größere Niederlassung von Europäern und noch mehr Schwarzen, zugleich der Sitz eines englischen, staatlichen Missionars.

Reverend Hope, ein alter Herr, der sein ganzes Leben zwischen Australnegern zugebracht hat, empfing uns mit jener Herzlichkeit, mit der wohl jeder im Innern Australiens einen zugereisten Kaukasier empfängt.

Die Kranken waren untergebracht worden, wir saßen nach dem Abendessen noch am Tisch, der Reverend und zwei Beamte mit Familienmitgliedern und wir drei Gesunden.

Es wurde natürlich von unserer Reise, unseren Abenteuern und dem Zweck der Expedition gesprochen. Monsieur Leonard, hier schon bekannt, hätte auf seiner vorigen Tour vom Gipfel eines Berges aus, zwei Tage von hier, in westlicher Ferne den Spiegel eines großen Sees gesehen, auch silberne Fäden schlängelten sich durch die Ebene, dort war Wasser, anbaufähiges Gebiet, dem galt unsere Forschungsreise.

Die Beamten und der ehrwürdige Missionar schüttelten die Köpfe. Da wäre Monsieur Leonard wohl von einer Luftspiegelung getäuscht worden. Sie waren doch nicht erst kurze Zeit hier, sie kamen auch aus der Ansiedlung heraus, auch auf hohe Berge — nein, hier herum wären von Wasserspiegel und silbernen Fäden keine Spur, am wenigsten im Westen. Alles, alles Sand und Salz!

Leonard blieb bei seiner Behauptung, und mir tat es leid, dass ich Mr. Cunning zuliebe seiner Lüge scheinbar Glauben schenken musste.

Nun befolgte ich meine Taktik, welche ich schon wiederholt bei Squatters und auf Stationen angewendet hatte, um auf harmlose Weise etwas herauszubekommen — bisher freilich ohne Erfolg. Hier aber hatte ich einen gebildeten Mann vor mir, der die Australneger wie seine eigenen Kinder kannte, fast sämtliche Dialekte sprach.

Was für religiöse Vorstellungen haben die Ureinwohner Australiens? Eigentlich gar keine. Wenn die Sonne scheint, ist's warm, wenn's regnet, wird es nass, und wenn der Bauch recht voll ist, hat man keinen Hunger mehr. Nun ja, sie fürchten sich vor Blitz und mehr noch vor Donner und fürchten sich auch in der Nacht, aber wovor, warum, das wissen sie selbst nicht — weil es dunkel ist — sie haben etwaigen bösen Geistern noch nicht einmal Namen gegeben. Die Eingeborenen in dieser Gegend, besonders in der westlichen, ständen auf der allertiefsten Stufe, sie können nicht einmal wie die südlichen bis zwei zählen, haben nur ku für eins, das reihen sie aneinander, also ist kuku zwei, und dabei müssen sie noch die Finger zu Hilfe nehmen. Mit diesen sei gar nichts anzufangen. Aus einem gefangenen Känguru sei durch Liebe und Hiebe mehr zu machen als aus solch einem westlichen Schwarzen. —

»Es sind doch in Australien«, fuhr ich vorsichtig fort, »die Knochen von vorsintflutlichen Tieren gefunden worden, von riesigen Vögeln und Beuteltieren, so das Nothotherium von der Größe eines Rhinozeros in der Höhle von WellingtonValley. Sollten nicht auch Eingeborene solche fossile Reste gefunden haben, und sollten sie daraus nicht eine Sage spinnen, vielleicht von Riesen, wie es ja bei uns meist geschehen ist?«

Mr. Hope sah mich groß und erstaunt an, und noch ehe er den Mund aufgetan, überlief es mich schon ganz heiß, und gleichzeitig fühlte ich den Fuß des Franzosen auf meinem, mich zur Vorsicht warnend.

»Wahrhaftig! Sie sind der erste, der mich auf einen Gedanken bringt, den ich schon selbst längst hätte allein fassen können. In der Tat! Gerade hier bei diesen westlichen Eingeborenen geht die Sage, dass dort, wo die Sonne versinkt, in einem unzugänglichen Gebirge ein Geschlecht von Riesen hause, und der Wunderglaube hat diese Sage natürlich noch weiter ausgestaltet, mit langen roten Haaren und rotem Bart, feurig wie die Sonne, und da sie diese am Abend auffangen, so strahlen sie selbst am ganzen Körper in unerträglichem Glanze, und in der Hand haben sie den tötenden Blitz. — Wahrhaftig, die Entstehung dieser Sage ist nur durch das Auffinden riesiger Knochen erklärlich...«

Mr. Hope maß ihr also keine weitere Bedeutung bei, und ich beherrschte mich, ich lenkte das Gespräch auf die fossilen Funde in Australien überhaupt, wofür der Reverend mehr Interesse zeigte, und hierüber unterhielten wir uns, bis ich mich mit Leonard auf unsere Kammer zurückzog.

»Was sagen Sie nun?«, flüsterte ich.

»Komische Frage! Mich wundert nur, dass Sie jetzt nicht sagen: Das Märchen, welches Sie uns aufbinden, haben Sie erst von den Eingeborenen gehört.«

»Leonard, seit jenem Abend im Hotel habe ich nicht mehr an der Wahrheit Ihrer Aussagen gezweifelt!«

»Na, lassen Sie gut sein. Sie h a b e n gezweifelt. Morgen fahren wir los.« —

Und wir fuhren los beim ersten Sonnenstrahl, ausgerüstet mit Waffen, Wasserschläuchen, Hartbrot und getrocknetem Fleisch, ich noch mit einigen Instrumenten, Ned Carpenter mit Reparaturwerkzeug.

Wir sagten, wir wollten zwei Tage die Telegrafenlinie entlang fahren und dann von jenem hohen Berge nach Westen spähen. In einer Woche spätestens seien wir zurück, und dann wären hoffentlich auch die übrigen Mitglieder der Expedition wieder auf den Beinen. Eine führende Begleitung lehnten wir mit energischem Danke ab. Konnte der Betreffende Rad fahren? Nein. Und auch ein Reiter konnte uns auf die Dauer nicht folgen. Leonard war ja der Führer. Ohne Sorge um uns! Wir hatten nun unsere Erfahrungen schon gemacht, teuer erkauft.

Wir sausten einen Abhang, glatt wie ein Tisch, hinab, wir balancierten zwischen Grasbüscheln hindurch, würgten durch Flugsand und radelten weiter über Berg und Tal.

»Hier ist es noch nicht«, sagte Leonard am Abend, als wir Dornengestrüpp zusammentrugen, um ein Lagerfeuer anzuzünden, »wir müssen in einer Ebene fahren, und links in der Ferne muss ein mit uns parallel laufender Höhenzug sein, und vorläufig ist noch gerade das Gegenteil der Fall.«

Sorglos legten wir uns schlafen, niemand brauchte zu wachen. Die Dingos, die wilden Hunde, die einzigen Raubtiere Australiens, sind von Menschen nicht zu fürchten, und die Eingeborenen fürchten sich in der Nacht selber.

Am anderen Morgen ging es weiter.

»Aufgepasst, jetzt könnte es bald kommen!«, sagte Leonard am späten Nachmittag.

Wir hatten ein Hügelland hinter uns. Vor uns breitete sich eine sandige Ebene aus, dagegen zog sich links in der Ferne eine Hügelkette seitlich hin.

Ned Carpenter musste dreißig Schritt vorausfahren und jeden einzelnen Telegrafenpfahl prüfen, ob daran Messerschnitte zu bemerken seien, ich kontrollierte nach, Leonard bildete den Schluss.

Die plötzlich hereinbrechende Dunkelheit beendete unsere Untersuchung.

»Dann morgen bestimmt! Vorbei sind wir noch nicht, und in dieser Gegend ist es gewesen«, versicherte Leonard.

Es wurde auch Zeit, dass wir bald nach jener Schlucht mit einem Teiche abschwenken konnten, und hoffentlich war dieser nicht ausgetrocknet, denn unser Wasservorrat reichte höchstens noch für einen Tag.

Am Lagerfeuer wurden der zusammengeschmolzene Proviant und das übrige Gepäck anders verteilt. Carpenter brauchte, da er mit den Werkzeugen jetzt am schwersten belastet war, nichts anderes mehr zu tragen. Ich nahm in meinen Schlauch sämtliches noch vorhandene Wasser ein, das wenige Brot und Fleisch dazu, Leonard beschwerte sich mit sechsunddreißig Revolver- und vierundzwanzig Winchesterpatronen. Dann reinigte und schmierte der Monteur noch die Räder, und wir legten uns schlafen. — —

»Hallo, da liegen wir ja gleich an Ort und Stelle!«

Dieser Ruf aus Leonards Munde weckte mich, die Sonne ging eben auf, ich folgte dem Blick des Franzosen, und sofort wusste ich, was er meinte. Im Westen strichen Vögel von allen Seiten einer Richtung zu, sie sammelten sich an einem Punkte in der Luft über den Hügeln, zogen Kreise und senkten sich herab.

»Das ist es, und auch Wasser ist noch vorhanden.«

»Und da ist auch der angeschnittene Pfosten!«, schrie Carpenter, nur zwei Pfähle weiter rennend.

Ich hatte jetzt keine Zeit, mich über den Zufall zu wundern, dass wir dicht neben dem Merkzeichen kampiert hatten. Mich beherrschte nur ein Gedanke.

»Ob er noch dort liegt?«

»Was weiß ich! Dafür kann ich nicht garantieren. Ich garantiere nur, dass wir dort den Ort haben, von dem wir weiterforschen müssen.«

Auf die Räder und durch die Sandwüste der Hügelkette zu! Eine furchtbar beschwerliche Tour!

Die Reifen vergruben sich bis an die Felgen in den lockeren Sand, es war überhaupt die größte Anstrengung, welche wir per Rad auf der ganzen Reise gehabt hatten. Aber wir kamen doch noch bedeutend schneller vorwärts als zu Fuß — die alte Geschichte — wir alle drei waren ›Durchtreter‹, und wir traten die Wüste durch.

Dann ging es besser. Schnell wuchsen jetzt die felsigen Hügel aus der Ebene, sie hatten eine ganz ansehnliche Höhe. Dieses jähe Hervortreten von Felsen und ganzen Bergen aus der völligen Ebene ist eine Spezialität von Australien, die es mit Südafrika gemeinsam hat.

Von hier aus war kein Eingang zu der Hügelgruppe zu erblicken, über der die Vögel Kreise beschrieben, und jäh stiegen die Felswände empor. Aber Leonard hatte sich den Weg zum Wasser schon einmal suchen müssen, und er kannte ihn noch. Er führte uns gegen hundertfünfzig Meter weiter rechts, bog in eine schmale Schlucht ein, die manchmal nicht für zwei nebeneinander Platz hatte, es war wie ein von Menschenhand gemeißelter Tunnel, auch der Boden so glatt, Leonard wandte sich wieder links, wir bogen um eine scharfe Ecke, ich hörte Vogelgekreisch, ich sah etwas am Boden gleißen...

»Da liegt der Kerl noch!«

Heiliger Gott! Ein kleiner Teich, viele Skelette, Totenköpfe und einzelne Knochen, Bumerangs, hölzerne Wurfspeere und Keulen zerstreut, und da der große in der Sonne schimmernde Gegenstand, die Gestalt eines Mannes — noch einige Radumdrehungen, ich sprang ab und stand daneben.

Ich war außer mir. Ich hatte es doch erwartet, es wenigstens zu sehen gehofft, ersehnt, und jetzt fragte ich mich, ob ich wirklich nicht träume.

Das erste war, nachdem ich mich wieder gefasst hatte, dass ich dem Franzosen die Hand reichte.

»Leonard, verzeihen Sie mir, dass ich jemals an der Glaubwürdigkeit Ihrer Worte gezweifelt habe!«

»Unsinn! Sie hatten schließlich ganz recht, nur Überzeugung macht wahr. Aber vorläufig haben wir erst den Eingang zum Labyrinth gefunden, und ich sehe noch keinen Faden, der uns bis zum geheimnisvollen Zentrum leitet.«

Für mich genügte jetzt dieser Anblick, und ich fühlte in meinem Innern eine Kraft schwellen, welche mir zuflüsterte, dass ich auch alle anderen Geheimnisse entdecken und die Rätsel lösen würde. —

Ich habe zu der Beschreibung, welche ich am Anfange nach Leonards Aussagen gegeben habe, gar nichts mehr hinzuzufügen.

Aus den schwarzen Leichen waren in den fünf Monaten, seit Leonard hier gewesen, Skelette geworden. Der entblößte Kopf des Riesen hatte sich in einen Totenschädel verwandelt, doch waren noch rotblonde Haare erkenntlich, wir sahen die Halswirbel aus dem Panzerhemd hervorragen, welches an dem mager gewordenen Körper Falten schlug.

Wir wollten ihn entkleiden. Wir lösten einige Ösen und Schnallen, weiter kamen wir nicht. Wir brachten es nicht über uns, selbst Leonard nicht, die schützende Hülle vollständig zu entfernen. Das dichte Panzerkostüm hatte den Körper doch sehr vor dem Verfall geschützt, er war bei dem Mangel an Luftzutritt noch immer in Verwesung begriffen — Ameisen, Würmer — genug, es ist zu hässlich, sein eigenes dereinstiges Los vor Augen zu haben.

Ich hob den Helm auf. Wahrhaftig, der Leib eines Tigers, das Original aus der Hand eines Künstlers hervorgegangen, der jede Muskel eines zum Sprunge ansetzenden Tieres studiert hatte, jede Kralle sorgsam gearbeitet, jede Feder der großen Flügel, und als Haupt des Raubtieres ein schöner Mädchenkopf mit sanften, unschuldigen Zügen.

Wer löste dieses Rätsel?

Ich!!!

--*--

Sechstes Kapitel

Originalseiten 55 — 66

Ja, aber was nun? Ich sah mich in der kleinen Schlucht um. Eine wirkliche Schlucht, sie hatte nur den einzigen Eingang, den wir benutzt hatten, sonst stiegen von allen Seiten schroffe Felswände empor, wenn diese auch an vielen Stellen Höhlen zeigten. Die eine, dicht am Boden, hätte als Robinsons Wohnung dienen können.

»Das ist eine Mausefalle«, sagte Leonard. »Wer einmal hier drin sitzt, der kommt nicht lebendig wieder heraus, wenn der andere nicht will.«

Vor allen Dingen die geografische Lage der Schlucht bestimmt! Die Sonne schien über den Felsenrand herein, die Oberfläche des kleinen Teiches war rein und glänzte, alles war zur Aufnahme günstig. Carpenter, welcher seiner Gewohnheit nach auf dem Sattel seines schräg stehenden Rades saß, bekam meinen Chronometer mit zwei Sekundenzeigern, von denen der eine angehalten werden konnte, Leonard nahm Notizbuch und Bleistift zur Hand, ich zog aus dem Etui den Sextanten, stellte ihn ungefähr ein, brachte ihn vor die Augen, visierte nach Sonne und Wasserspiegel...

»Wer schmeißt denn hier mit Steinen!«, rief Carpenter in diesen. Augenblick. Ich hörte etwas knattern, ich senkte das Instrument, plötzlich wurde es mir aus der Hand gerissen und zerschmetterte am Boden, ich bekam einen heftigen Schlag auf den Rücken, es plätscherte, es wurde mir plötzlich so leicht, ein gellendes Geheul, es zischte in der Luft, es prasselte um mich her, ich machte Sprünge... Wie wir mit einem Male alle drei in die große Höhle gekommen sind, weiß ich jetzt nicht mehr, solche Momente lassen sich nicht kontrollieren, und in demselben Augenblick, da es mir nur zum Bewusstsein kam, dass ich irgendeiner Todesgefahr glücklich entgangen war, sah ich Leonard mit dem Gewehr im Anschlag stehen, den Lauf nach oben gerichtet, blitzschnell hintereinander zwei Feuerströme mit nur einem Knall, von oben wirbelte etwas Schwarzes herab, und am Boden der Schlucht lag blutüberströmt ein nackter Eingeborener. »Nur einen heruntergeholt, aber der andere lebt auch nicht mehr — Halte mein Gewehr, Ned, dass ich's gleich wieder greifen kann — Jetzt los! — Kein Mann ohne Pferd!«

Mit zwei Sätzen war er draußen, hatte die zwei Räder gepackt, es knallte und prasselte wieder von Steinen, aber Leonard war sofort zurück, hatte dem Manne das Gewehr aus der Hand gerissen und es bereits an der Backe. Wieder krachten zwei Schüsse. Diesmal wirbelten gleich zwei schwarze Körper herab, mit furchtbarer Gewalt aufschlagend — und noch nicht genug, zum zweiten Male war der Franzose draußen, nur um die Feinde zu reizen, und ehe ihn Steine und Speere erreichten, war er wieder bei uns, das Gewehr im Anschlag. Nur ein Schuss. Ein vierter Schwarzer lag in der Schlucht.

»Nun ist's genug, jetzt gehen sie nicht mehr auf den Leim, wir müssen etwas anderes erfinden. Ist jemand verwundet? Nein — ja, Sie haben einen Speer im Rücken, Mr. Schwarz, aber es ist kein Blut geflossen, nur Wasser — der Schlauch ist durchbohrt worden. Etwas Blutverlust wäre wohl uns allen lieber gewesen, als dass wir nun bis heute Abend dursten müssen.«

Er zog mir den Speer aus dem ausgelaufenen Ledersack auf meinem Rücken. Ich war noch immer fassungslos, jetzt aber aus einem ganz anderen Grunde.

Ich hatte ein Phantom von Schnelligkeit, Tollkühnheit und Kaltblütigkeit gesehen, es war etwas Übermenschliches an dem sonst so trägen, phlegmatischen Franzosen, ich war — düpiert!

»Mein Gott, Leonard, sind Sie denn ein Mensch wie wir?!«, brachte ich nur hervor.

Er kam mir mit einem Male recht heiter vor und scherzte offenbar nur, als er erwiderte:

»Wie Sie? Nein. Sehen Sie, das kommt davon, wenn man immer nach der Nasenspitze schielt und dabei om — om — om sagt. Jetzt also etwas Neues, Originelles, dass sich Köpfe zeigen. Wir wollen uns schon die Zeit vertreiben, bis wir uns heute Nacht durchschlagen. Habe ich nicht prophezeit, dass dies eine Mausefalle ist? Aber das Wiederherauskommen, das macht gerade Spaß. Also, jetzt fabrizieren wir aus unseren Kleidungsstücken einen Strohmann. Ned, der immer daneben schießt, nimmt ihn an die Mündung seines Gewehrs und schiebt ihn hinaus, wir beide liegen im Anschlag, Sie nehmen dort die linke Seite, ich die...«

Ein neues gellendes Geheul unterbrach ihn, diesmal stürzten einige Schwarze von ganz allein herab, sich in der Luft immer überschlagend, das war auch nur ein Angstgeheul, dort oben wütete ein Kampf, ein Mächtigerer war über unsere Belagerer gekommen.

Doch wohlgemerkt, von dem Augenblick an, da wir uns in die Höhle geflüchtet hatten, bis zu dem Geheul, war höchstens eine Minute vergangen, so schnell hatte sich alles zugetragen, und die Worte waren während der Handlung gewechselt worden.

»Teufel, die verderben mir ja den ganzen Spaß!«, hörte ich Leonard entrüstet rufen.

Da rollte dicht vor unsere Füße ein schwarzer Kopf, glatt vom Rumpfe getrennt, da draußen lag noch einer, ein halber Oberleib kam dazu geflogen, ein Arm...

Wir sahen uns an. Uns ging eine Gewissheit auf, an die wir doch selbst kaum glauben mochten. Das Angstgeheul entfernte sich. Diesmal sprang ich zuerst hinaus, die beiden anderen folgten mir. Es wurde still, es war kein Traum, wir sahen die von den Winchesterkugeln getroffenen Neger am Boden liegen und die von einer fremden Waffe verstümmelten Leichen.

»Das war ein Nihilitschwert!«

Wir sagten es nicht, jeder dachte es nur.

Fünf Minuten verstrichen. Wir erwarteten etwas, was über die Begriffe des Menschen geht, und es kam.

»Fremdlinge!«

Wir blickten empor, woher die tiefe, schallende Stimme kam, und auf dem etwa zehn Meter hohen Felsrande stand das Rätsel lebendig, ein riesiger Mann, vom Kopf bis zum Fuß gepanzert, das Visier des Drachenhelmes herabgelassen, in der Hand das Hünenschwert.


Illustration

»Gebt ihr euch freiwillig gefangen?«, fuhr die tiefe, dröhnende Stimme hinter dem Visier fort.

Auf Englisch! Ich hatte ja mit den Nachkommen englischer Kolonisten gerechnet, auch Ned hatte eine sehr gute Idee gehabt, es könne sich um einen entflohenen Sträfling handeln, schuldig oder nicht, der ein geistvoller Ingenieur oder geschickter Techniker gewesen, ein fremdes Metall gefunden und es in der Einsamkeit benutzt habe, oder es könne sich um die Nachkommen eines solchen Mannes handeln — und jetzt war ich doch fast bestürzt, eine reine englische Sprache zu hören.

»O!«, ließ sich Leonard sofort vernehmen. »Ich hatte gerade die Absicht, ihn zu fangen.«

Ich raffte mich auf. Leonard gefiel sich immer in Überspanntheiten, Ned kam nicht in Betracht, so konnte ich nur das Wort führen.

»Ruhig«, gebot ich, »ich will antworten. — Wer bist du?«

»Das geht dich nichts an. Ich frage, und du hast zu antworten, denn ich bin der Stärkere. Gebt ihr euch freiwillig gefangen?«

»Und wenn wir es nicht tun?«

»So werde ich euch mit Gewalt gefangen nehmen.«

»Wohin bringst du uns? Dies muss ich wissen, ehe ich eine Antwort geben kann, ob ich nicht vielleicht einen Kampf mit dir vorziehe.«

»In ein Reich, aus welchem es keine Rückkehr gibt.«

»Das ist nur das Reich des Todes«

»Es gibt noch ein anderes.«

»Dem du angehörst?«

»Du sagst es.«

»Dorthin bringst du uns?«

»Du sagst es.«

»Was ist dort unser Los?«

»Das wird von euch abhängen.«

»Wird unser Leben geschont?«

»Wenn ihr das Leben wert seid.«

»Wer richtet über uns?«

»Die Gerechtigkeit — Genug! Legt euere Waffen nieder oder macht euch bereit, mit mir zu kämpfen.«

Sofort legte Leonard sein Gewehr auf den Boden und den Revolver daneben.

»Der Mann macht einen soliden Eindruck auf mich, ebenso das, was er spricht«, sagte er dabei leise. »Ich will in das Reich kommen, aus dem es keine Rückkehr gibt, um mich dennoch wieder herauszubeißen, und außerdem ist dies gleich die bequemste Gelegenheit, alles Weitere kennen zu lernen, da braucht man nicht erst noch lange zu suchen.«

Das sah dem französischen Abenteurer ganz ähnlich.

»Wenn ich eine Garantie hätte«, hatte er einmal bei Gelegenheit geäußert, »dass ich nach dem Tode noch mein IchBewusstsein besitze, so wäre ich schon längst nicht mehr in dieser langweiligen Welt.«

Und hatte er schließlich nicht recht? Man braucht kein Wahrheitsforscher, kein Faust zu sein, um sich dem Teufel zu verschreiben, wenn man etwas erfahren kann, dessen Erkenntnis sich dem irdischen Verstande entzieht, und auch in meiner Brust glüht eine namenlose Sehnsucht, welche sich nicht auf Reichtum und Familienliebe erstreckt, und wenn ich zum Kampfspielplatz eile und es böte mir jemand eine Million, vom Wettstreit abzustehen, ich würfe sie ihm verächtlich vor die Füße, ich ringe um den kleinen grünen Ehrenzweig — und unterliege gern einem Besseren.

Mich fesselte kein Mensch mehr an diese Welt, auch meinem Auftraggeber gegenüber wurde ich meiner Pflicht nicht untreu, im Gegenteil — auch ich streckte die Waffen. Ned folgte meinem Beispiele.

Die gleißende Gestalt des Riesen war verschwunden; einige Minuten verstrichen, welche Ned, der nie untätig sein und nichts ›Kaputtes‹ sehen kann, sofort dazu benutzte, um meinen durchstochenen Wasserschlauch zu flicken. Er backte Gummipflaster auf die Löcher, und was Ned flickt, das hält besser, denn als es neu war.

»Ned«, sagte Leonard, »da liegen auch Köpfe herum und Arme und Beine, das gehört sich nicht, Ordnung muss sein — immer zusammenflicken — Na, wo bleibt denn nun unser Kürassier?«

Die Antwort kam aus dem Schluchtzugange. Mit großen Schritten wandelte der gepanzerte Hüne einher, nicht allein, ihm folgten noch zwei ebensolche Gestalten.

Sie waren ganz genau so gerüstet und bewaffnet wie jener Tote, jetzt hatten sie das Visier hochgeschlagen, es waren durchweg schöne, edle Manneszüge, umrahmt von helleren und dunkleren Backenbärten, aber immer blond, mit stolzer, gerader Nase und feurigen Augen. Gewiss, es waren Kaukasier.

Sie blieben vor uns stehen, der erste deutete mit dem Schwerte auf den erschlagenen Kameraden.

»Was wisst ihr von diesem? Wie und warum kommt ihr hierher? Verschweigt mir nichts, sprecht immer die Wahrheit, es ist das beste für euch. Jede Lüge zieht den Tod nach sich.«

Ich erzählte die Wahrheit, verschwieg nichts, wenn ich mich auch so kurz wie möglich fasste. Eine Viertelstunde brauchte ich dazu, um fast alles das zu beichten, was über den Zweck der Nihilitexpedition und ihre Ursache zu sagen war.

Unbeweglich hatte er mir zugehört, die Augen immer auf mich gerichtet.

»Ich glaube, dass du die Wahrheit sprichst. Besitzt ihr in dem Lande, aus welchem du stammst, dieses Metall, welches du Nihilit nennst?«

»Nein, es ist uns völlig unbekannt. Eben um seine Quelle oder Herstellung kennen zu lernen, sind wir ausgeschickt worden.«

Der Sprecher wechselte mit seinen Begleitern Worte in einer mir unbekannten Sprache.

»Sanskrit, das reinste Sanskrit vom Himalaja«, flüsterte mir Leonard zu. »Meine Ahnung erfüllt sich, es sind hierher verschlagene Inder.«

Da wäre der Tiger als Helmschmuck erklärt gewesen! Aber schließlich ward das Rätsel nur umso größer.

Der Krieger bückte sich zu einem toten Eingeborenen nieder, dessen Stirn ein kleines Loch zeigte. Die Kugel aus Leonards Winchesterbüchse war ihm hinten aus dem Kopfe wieder herausgegangen.

»Womit habt ihr die Niobs getötet, dass sie wie vom Blitz getroffen niederstürzten?«

Also die Feuerwaffe unbekannt!

»Mit einer Kugel, mit diesem Gewehr.«

Hastig hob er die Waffe auf, auf welche ich die Fußspitze gesetzt hatte.

»Ah, das ist also ein Gewehr!«, rief er mit freudiger Überraschung, und ich war nicht weniger überrascht.

So musste er doch schon mit Europäern in Berührung gekommen sein, vom Gewehr haben erzählen hören.

»Daher hörten wir es knallen. Dann musst du auch — wie heißt das, was die Kugel unter Knallen herausschleudert?«

»Pulver. Wir aber haben fertige Patronen.«

Ich musste sie ihm zeigen, auch wie sechzehn Stück im Magazin des Gewehres untergebracht werden konnten. Ich schoss einen Vogel aus großer Höhe herab. Er verbarg sein Staunen nicht, zeigte aber auch nicht die geringste Furcht.

»Dringt die Kugel auch durch unseren Panzer?«

Der tote Kamerad wurde gegen den Felsen gelehnt. Ich feuerte aus einer Entfernung von zehn Metern auf den Brustpanzer, selbst begierig über den Erfolg, nur bangte mir vor der Untersuchung des verwesenden Körpers.

Wie sich dann später herausstellte, war die Spitzkugel sowohl durch den massiven Panzer und dessen Holzfutter wie auch durch den Schuppenpanzer auf der Brust gegangen, aber nicht mehr, obgleich kein Knochen getroffen worden war, durch die Panzerschuppen auf dem Rücken — also wiederum ein Beweis der ungeheuren Widerstandskraft des Metalls. Die durchgeschlagenen Teile hatten ja zusammen nicht einmal eine Stärke von einem Millimeter, dann war der Flug der Spitzkugel schon zu sehr geschwächt gewesen.

Aber die Inder — wie ich sie einstweilen nennen will — waren bereits ob des Loches in dem ersten Brustharnisch betroffen. Wieder besprachen sie sich.

»Was sagen sie?«, flüsterte ich.

»Ich verstehe sie nicht«, entgegnete Leonard laut, und ich fing dabei ein Augenblinzeln auf.

Er wollte nicht wissen lassen, dass er sie verstand, um sie belauschen zu können.

»Kannst du Patronen oder dieses Pulver machen?«, wandte sich der erste wieder an mich.

»Ja, wenn ich Holz und Schwefel habe«, ging ich gleich auf die von mir geahnte Absicht ein, »Kohle und Salpeter könnte ich mir wohl selbst bereiten.«

»Was ist das, Schwefel?«

Die Bewohner der MacDonallStation hatten Schwefelhölzer gehabt, ich hatte einige eingesteckt, zog eins hervor und riss es an — also ein Phosphorholz, kein sogenanntes schwedisches.

Der Inder zog die Luft durch die Nase.

»Wenn dies Schwefel ist, so haben wir davon genug.«

»Dann kann ich auch Pulver und Patronen fabrizieren.«

»Kannst du auch ein ganzes Gewehr machen?«

»Ja, dieser Mann ebenfalls, wenn er auch nur mein Diener ist. Gibt es Eisen in deinem Reich?«

»Eisen?«

»Das Metall, aus welchem das Gewehr fabriziert ist.«

»So viel du haben willst.«

»So gebt mir Eisen, Holz und Feuer, nichts weiter, ich fange mit den Werkzeugmaschinen an, mit der Herstellung von Hammer und Feile, und schon in einem Jahre will ich euch fertige Gewehre liefern, wie diese hier, und wenn ihr mir zur Hilfe jene Arbeiter gebt, welche diese Rüstungen gefertigt haben, also große technische Fertigkeiten besitzen müssen, so wird es umso schneller gehen.«

Der Krieger sah mich groß an.

»Woher weißt du, dass wir solche Gewehre haben wollen?«

»Jeder möchte das haben, was ihm Nutzen bringt.«

»Du hast recht. Und was ist das?«

Er meinte ein Fahrrad. Ich erklärte nicht lange, sondern setzte mich gleich darauf und fuhr dem Ausgange der Schlucht zu. Der Gedanke an eine Flucht durchzuckte mich, doch verwarf ich ihn ebenso schnell wieder, drehte um, die Ufer des Teiches boten eine gute Bahn, immer schneller und schneller jagte ich um ihn herum.

Die mittelalterlichen Ritter machten aus ihrem Entzücken gar kein Hehl.

»Kannst du auch ein solches Rad machen?«, wurde ich gefragt, nachdem ich abgestiegen war.

Ich bejahte ohne Zögern, wenn ich auch nicht wusste, woher ich die Pneumatiks nehmen sollte.

»Lasst die Waffen hier, begebt euch in die Höhle und wartet, und wer sie verlässt, der ist des Todes!«, hieß es plötzlich gebieterisch.

Wir gehorchten.

»Na, was sagst du nun dazu?«, begann Leonard mit dem Refrain eines ehemals bekannten Liedes, als wir allein waren.

Es hat gar keinen Zweck, alle unsere Erwägungen hier zu wiederholen, da wir doch nicht das Richtige trafen.

Sämtliche in Indien gebräuchliche Sprachen, Hindustani, Bengali, Nepali und wie sie alle heißen, sind überhaupt Sanskrit, nur Dialekte. Es ist dasselbe Verhältnis zwischen dem Italienischen und dem Lateinischen. Der in Indien erzogene Leonard sprach einen dieser Dialekte von Jugend auf, er hatte eine gelehrte Schule besucht, und so beherrschte er auch das alte, reine, heilige Sanskrit der Brahmanen in Wort und Schrift. Doch viel war es nicht gewesen, was er erlauscht hatte. Die Fremdlinge, welche solche Waffen besäßen, diese sogar selbst herzustellen wüssten, müssten sofort vor den ›Sannyasi‹ gebracht werden. Das war alles.

Sannyasi ist die vierte und höchste Stufe der Brahmanen, mit Gott vereint, also etwa wie in der parallelen Religion ein Buddha, ein Christus.

Es wurde uns Wasser gebracht. Ob wir mit Nahrung versehen seien? Aber auf eine Frage hin wurde uns wieder herrisch gesagt, dass wir jede Frage unterlassen sollten.

Wir verbrachten den ganzen Tag in der Höhle. Was die Inder trieben, wussten wir nicht. Nur einmal hatten wir das Vergnügen, heimlich beobachten zu können, wie einer, unser Mann, die ersten Versuche auf dem Fahrrad machen wollte, so komisch wie alle anderen.

Es wurde Nacht, wir erhielten nochmals Wasser, und dann waren wir wieder allein. Wir legten uns schlafen, ohne an eine Flucht zu denken.

--*--

Siebentes Kapitel

Originalseiten 66 — 81

Bei Sonnenaufgang wurden wir geweckt und zum Heraustreten aufgefordert. Zu den dreien hatte sich noch ein vierter gesellt, in Größe, Rüstung und Muskulatur ganz derselbe. Jetzt trug jeder auf dem Rücken noch einen langen, dünnen Zylinder, ebenfalls aus Nihilit oder doch mit diesem Metall überzogen, den ich erst für die Schwertscheide hielt, der sich aber als Wasserbehälter erwies, zum Teil auch als winzige Speisekammer. Das Schwert wurde entblößt auf dem Rücken befestigt. Desgleichen war jeder noch mit einem Teil der Rüstung des toten Kameraden belastet. Dessen Skelett war nicht mehr zu sehen, sie hatten überhaupt in der Schlucht tüchtig aufgeräumt.

Uns wurde bedeutet, die gefüllten Wasserschläuche umzuhängen, desgleichen unsere Waffen an uns zu nehmen, aber die Patronen erhielten wir nicht. Auch die Revolver hatten sie zu entladen gewusst. Da wir doch nicht mit ihnen gleichen Schritt halten konnten, durften wir das Fahrrad benutzen, aber eine Hand würde immer darauf liegen, auf jeden Fluchtversuch stände der Tod. Wir dürften uns unterhalten, aber kein einziges Wort mehr an sie richten — sonst der Tod.

Es ging fort. Neben jeden Radfahrer mit großen Schritten ein Riese, ständig die gepanzerte Hand auf der Lenkstange, hinter uns der vierte.

Ich will es kurz machen. So ging es sechs Tage fort, immer dem Westen zu, durch jenes Gebiet, in welchem der Kartograf nichts zu zeichnen hat — ›unerforscht!‹ — ebene Wüste und nichts als Wüste, in der auch nicht ein Grashälmchen gedieh.

Nun darf man sich unter einer Wüste nicht immer eine Streusandbüchse vorstellen. In diesen Sandwüsten entdeckt man stets noch, auch ohne Mikroskop, ein vegetabilisches und tierisches Leben, gewisse größere Wüstentiere und selbst die Kamele finden überall Nahrung in Flechten und dornigen Sträuchern. Schon viel trostloser, wüster sind steinige Gegenden, wie z. B. das libysche Gebirge. Aber das Schrecklichste von Wüste habe ich während jener sechs Tage im Westen Australiens gesehen.

Dort ist ein Stein, nur ein Sandkorn, so selten wie ein Diamant. Sie gleicht einem platten, aber von unzähligen Rissen durchzogenen Tisch. Der Boden scheint aus Basalt und Lava zu bestehen, ist also vulkanischen Ursprungs. Das Ganze war, meiner Idee nach, in der Urzeit ein glühendes Lavameer. das bei völlig ruhiger, glatter Oberfläche erstarrte, und durch die Zusammenziehung entstanden die Risse und Sprünge, oft sternförmig zusammenlaufend. Wohl liefert Basalt und noch mehr Lava durch Verwitterung eine fruchtbare Erde, es sind auch alle Bedingungen zu diesem Verwitterungsprozess gegeben, glühend heiße Tage und kalte Nächte, es fehlt nicht an Regen, und dennoch wird sich hier nach Zehntausenden von Jahren noch keine auch nur einen Millimeter dicke Schicht Erde gebildet haben.

Daran ist die Zerrissenheit des Bodens schuld. Spalten von Handbreite sind eine Seltenheit, zollbreite sind auch nicht allzu häufig, aber die Risse, nicht breiter als ein Messerrücken, bedecken den ganzen Boden, ihm das Aussehen eines Netzes gebend, man kann an keiner Stelle die Hand auflegen, ohne nicht mindestes drei solcher Risse zu verdecken. In diese Spalten und Risse fließt sofort alles Wasser der wolkenbruchartigen Regengüsse ab, jedes Atom von Staub und Erde mit hineinspülend — wohin, das weiß ich nicht. Dieses Terrain ist das denkbar günstigste für einen Radfahrer. Es ist eine Asphaltbahn. Man hat nur aufzupassen, dass man mit den Rädern nicht in eine breite Spalte kommt — zum Darüberfahren bieten sie kein Hindernis — während man die mittelbreiten, welche meist eine schnurgerade Richtung haben, stundenlang sogar als Hohlschiene benutzen kann.

Wir haben dieses günstige Terrain zum Radfahren benutzt, nicht gerade in sehr schnellem Tempo, aber doch etwa zwölf Kilometer in der Stunde, und wir fuhren — mussten mindestens zwölf Stunden täglich fahren, und dies sechs Tage lang, und immer lag die Hand eines sich neben uns haltenden Fußgängers auf jeder Lenkstange!

Es sind nicht nur Riesen durch Körpergröße und Kraft, es sind auch Riesen an Ausdauer, Energie und Bedürfnislosigkeit. Nein, es sind keine Menschen, es sind Heroen, Halbgötter! Kennst du die Sage vom Herkules, wie er der kerynitischen Hindin, einem mit ehernen Füßen ausgestatteten Reh, ein ganzes Jahr nachrennt, bis er sie lebendig gefangen hat? Ich mag es gar nicht für eine Fabel halten, denn ich glaube, unsere Begleiter sind einer ähnlichen Leistung fähig.

Vom ersten Morgensonnenstrahl bis zur Dunkelheit, nur eine Stunde Mittagspause machend, halten sie sich im weitest ausgreifenden Sturmschritt neben uns, in der glühendsten Sonnenhitze, gepanzert und geschient und auch noch belastet, und mag die Rüstung noch so leicht sein, es ist doch eine Last, und das Schwert allein wiegt mindestens dreißig Pfund, und wenn sie einmal stehen bleiben, um sich über die Richtung zu beraten, so geht ihre Brust so ruhig wie einem Spaziergänger, und ich merkte wohl, wie der eine bemüht ist, seine Schweißtropfen heimlich zu verbergen, er schämt sich ihrer vor seinen Kameraden.

So legen wir täglich nach meiner Berechnung siebzig bis achtzig englische Meilen zurück. Das ausdauerndste Kamel wäre schon am zweiten Tage krepiert. Wären wir alle drei nicht zufällig abgehärtete Fahrer, wir lebten ebenfalls nicht mehr. Ned fiel auch am vierten Tage ab, und ich bin überzeugt, dass er mehr geschoben wird, als dass er selbst fährt. Die Riesen müssen andere Menschen nur nach sich selbst taxieren, oder sie haben dadurch, dass ich so schnell um den Teich gejagt bin, eine gar zu hohe Meinung von der Schnelligkeit und Leichtigkeit des Radfahrens bekommen, dass sie solche Forderungen an uns stellen.

Wovon sie eigentlich leben, weiß ich nicht. Ja, sie nehmen einen Schluck Wasser aus ihrem Blechzylinder, essen bei jedem Aufenthalt eine Handvoll zusammengestampfter Bohnen und Linsen, welche gekocht und auf irgendeine Weise präserviert sind; aber was ist das für solch einen riesigen Körper! Und woher sie den erschöpften Wasser- und Proviantvorrat wieder ergänzen, ist auch ein Geheimnis.

Wasser gibt es hier nicht. Binnen fünf Minuten, nachdem es zu regnen aufgehört hat, ist die letzte Feuchtigkeit spurlos verschwunden. Wenn wir nun des Abends lagern, auf nackter Erde, so wird gewartet, bis die Nacht angebrochen ist, dann hängt sich einer die leeren Wasserbehälter um, er verschwindet in der Dunkelheit, oder er entfernt sich so weit, dass er auch im Mondlicht nicht mehr sichtbar ist, und er bringt nicht nur Wasser zurück, sondern auch jene getrockneten Hülsenfrüchte.

Es ist nicht anders erklärlich, als dass sie in der Wüste Magazine mit Wasservorrat und Lebensmitteln angelegt haben, welche uns verborgen gehalten werden, und ich bemerke deutlich, dass sie selbst große Schwierigkeiten haben, diese aufzufinden.

Denn es sind nicht etwa mit feinem Orientierungssinn begabte Naturkinder. Sie richten sich auch nicht nach Sonne und Sternen, sie orientieren sich allein nach den größeren Spalten im Boden, denen sie folgen, und wenn sich mehrere kreuzen, wird über einer Karte beraten.

Uns gegenüber treten sie stets gebieterisch auf, aber nie unfreundlich, nie fällt ein zorniges Wort. Wir dürfen sie nicht anreden, sie selbst sprechen wenig unter sich, und obgleich sie unterdessen auch meine Uhr und das Barometer gesehen haben, stellen sie keine Frage mehr. Wenn wir des Abends lagern, nehmen sie unsere Räder und Wasserschläuche zwischen sich, dann dürfen wir uns abseits setzen, und sie sagen auch nichts, wenn wir uns flüsternd unterhalten.

Der des Sanskrits kundige Leonard hat noch Folgendes erlauscht: Unser doppeltes Zusammentreffen mit Eingeborenen, die sie Niobs nennen, und mit den Riesen war kein zufälliges; die Schwarzen sind uns schon nachgeschlichen, als wir uns durch die Sandwüste arbeiteten; von dem gepanzerten Toten in der Schlucht wussten sie nichts. Leonard glaubte annehmen zu müssen, dass die Inder schon lange Zeit in jener Schlucht gelegen hätten, um zu beobachten, ob jemand käme, den Ermordeten auszuplündern, und Leonard ist sogar der Meinung, es müssten sich noch immer einige Inder zur Beobachtung der Schlucht dort aufhalten, denn es würden oft andere Namen mit diesbezüglicher Andeutung genannt: unsere vier führen den Namen Malek, Ghasnawid, Indomud und Kasim — alles indische Namen, die schon in der ältesten Literatur existieren. Malek ist der Führer, welcher uns zuerst ansprach. Er redet unter sichtlicher Unruhe häufig davon, dass er ›makasi‹ wäre, was die anderen bestreiten,

Was dieses überhaupt sehr häufig angewendete Wort ›makasi‹ bedeutet, weiß auch Leonard nicht zu erklären. So sind alle Niobs ›makasi‹, der Regen ist ›makas‹, dass Leonard rauchte fanden sie ›makas‹.

Am frühen Abende des fünften Reisetages vergoldete die untergehende Sonne einige Spitzen, welche über dem Horizont auftauchten, und ich merkte es gleich an der freudigen Bewegung unserer Begleiter, dass wir uns dem Ziele näherten.

Wir wanderten die halbe Nacht, auch ich war mehr tot als lebendig und musste geschoben werden.

»Jetzt weiß ich, wie sie ihr Land nennen«, erklärte Leonard, als wir endlich ruhten, »Wulodschistan! Das kann nicht anders als mit Menschenreich übersetzt werden, sie selbst sind die Wuloden, also Menschen. Auch die Eskimos nennen sich in ihrer Sprache einfach Menschen; sie gaben sich diesen Namen, als sie noch nicht wussten, dass außerhalb ihrer Eiswüsten auch noch menschliche Leben existieren. Hier wird es ebenso gewesen sein.«

Am nächsten Morgen bot sich mir, als es hell wurde, ein merkwürdiges Bild. Hast du einmal die Insel Helgoland aus der Ferne gesehen? Sie liegt auf der Wasseroberfläche wie ein viereckiger Kasten. So lag vor mir am westlichen Horizont auf der platten Ebene auch ein Kasten, aber ein Handschuhkasten, zehnmal so lang wie hoch, und darauf einige Spitzchen.

Ach, wie hatte ich mich getäuscht! Am Mittag wusste ich, dass es ein riesiges Gebirge war, ohne jeden Übergang plötzlich aus der Erde emporsteigend, und die Seite, die ich von hier aus sehen konnte, schätzte ich auf sechs englische Meilen, und am Abend lagerten wir an einer nackten, grauen, himmelhohen Felswand, die sich wie abgemeißelt aus dem Boden erhob, ohne Höhlen, etwa von einem ehemaligen Meere ausgewaschen, wohl aber mit Vorsprüngen und Nischen versehen.

Wir drei hatten uns sofort niedergelegt, die vier Wuloden blieben stehen und berieten sich.

»Sie wissen nicht, ob ihr Kommen mit den Fremdlingen bemerkt worden ist«, flüsterte Leonard mir zu.

Plötzlich kamen hinter einem Vorsprunge vier andere Menschen hervor, bedeutend kleiner als unsere Begleiter, normale Menschen, schwarzhaarig, ohne Bart, und mit unverkennbar indischen, dunklen Gesichtszügen, in grauweiße Gewänder gekleidet, die an altrömische Tracht erinnerten, etwa von Arbeitern, die muskulösen Arme nackt, der Rock nur bis an die Knie reichend, an den Füßen mit Stricken befestigte Sandalen.

Ohne vorherige Begrüßung, aber ehrfürchtig sprachen sie mit unseren Begleitern, zu weit von uns entfernt, als dass Leonard etwas verstehen konnte. Dann wurden sie mit unseren Rädern und Waffen und mit den Rüstungsteilen des toten Kriegers beladen. Jetzt musste ich dem Führer auch meine Uhr und das Barometer und alles andere einhändigen, was er inzwischen an mir beobachtet hatte, selbst die Schwefelhölzer, und die vier Arbeiter verschwanden wieder hinter einem Felsvorsprung, mit ihnen Malek und ein zweiter Riese.

»Jetzt haben sie, was sie wollen«, knurrte Ned. »Nun lassen sie uns hier draußen liegen und verschmachten, wenn wir heute Nacht nicht noch wie die Ratten ersaufen.«

Nach ersterem sah es nicht aus. Zwei Krieger waren ja als Wächter bei uns geblieben. Aber im Süden stieg eine drohende Wolke auf. Wir hatten schon eine furchtbare Regennacht schutzlos im Freien verbracht, uns gelüstete nicht nach einer zweiten.

Und wir sollten dennoch im Freien kampieren. Aber die vier Arbeiter kamen wieder. Sie trugen große Platten, wie Stahl aussehend und trotzdem federleicht. Sie wurden zu einem Häuschen zusammengesetzt, und vor uns standen dampfende Schüsseln aus Nihilit mit Mehlsuppe, Reis und Mais. Auch die leichten Löffel waren mit Nihilit überzogen, hier war alles Nihilit, selbst die Strohsohlen der Kuttenträger sah ich von diesem unverwüstlichen Metall blitzen, es konnte nicht selten sein in dem Märchenreiche, in welchem jetzt sicher erst beraten wurde, ob wir eingeführt werden sollten oder nicht.

Auch jetzt noch verboten uns die beiden Wächter jede Frage, und trotz meiner Aufregung fiel ich nach dem so frugalen Essen, das mich aber ein Göttermahl dünkte, in einen tiefen Schlaf, unbelastet von einem tropischen Regenguss.

Als wir am anderen Morgen erwachten, waren die vier Kuttenträger schon wieder da. Ohne weitere Bemerkung wurde uns eine sackähnliche Kapuze über den Kopf gestülpt und hinten am Halse fest zugebunden. Meine Hand wurde erfasst. Man führte mich fort. Ich kann nur mit Bestimmtheit sagen, dass sich der Eingang zum Inneren nicht hinter jenem Felsvorsprung befand, hinter welchem diese Leute immer auftauchten und verschwanden, ich marschierte wenigstens eine halbe Stunde immer geradeaus, hörte nichts weiter als Schritte, bis mir mehr ein unbestimmtes Gefühl als der Schall der Lederstiefel sagte, dass ich mich in einem Gewölbe befinden müsse. Die Kapuze war für Auge und Ohr undurchdringlich, obgleich es mir nicht an Luft fehlte, für welche wohl hinten Löcher angebracht waren.

Die führende Hand hielt mich, die Kapuze wurde abgezogen, ich sah mich mit meinen beiden Gefährten in einem großen Felsengewölbe einem alten, ehrwürdigen Manne mit schneeweißen Haaren und langem Barte gegenüber, ebenfalls kein Riese, eher sehr klein, in eine weiße, römische Toga gekleidet. Er musterte uns, und dann begann er ohne Weiteres im modernsten Englisch salbungsvoll:

»Der ewige Sannyasi, dessen Name gelobt sei, befiehlt, dass ihr in unser Reich eingeführt werdet. Der Weg zum Menschenreich geht durch das Tor der Hölle, welches kein Sterblicher passieren kann, wenn er nicht von der Hand eines heiligen Priesters hindurchgeleitet wird, und wenn er sich nicht zuvor in geweihtem Wasser gebadet hat. Geht hin und badet euch.«

Ich weiß nicht — — so feierlich diese Worte auch gesprochen waren, sie harmonierten nicht mit der feierlichen Priestergestalt, das moderne Englisch mochte daran schuld sein, sie wirkten nicht, und dennoch erschrak ich über die Unverfrorenheit des Franzosen, als dieser sofort im leichten Konversationstone sagte:

»Und wie steht es mit dem Wiederherauskommen, Mister?«

Schon dieses ›Mister‹ gehörte sich ganz und gar nicht.

»Aus diesem Reiche gibt es keine Rückkehr«, entgegnete der Priester ebenso salbungsvoll, wandte sich zum Gehen und verschwand hinter einer Säule.

Ein graugekleideter Mann in kurzem Weiberrock winkte, und ehe ich mich hier umgesehen hatte, befand ich mich in einer großen Halle, welche ich erst von Menschen, von weißgekleideten Priestern, gefüllt glaubte, bis ich meinen Irrtum gewahrte.

In der Mitte, in den Boden eingelassen, befand sich ein Marmorbassin, vielleicht vier Meter breit und zehn lang, gefüllt mit Wasser. An einem Ende lag jenes geflügelte Ungeheuer mit Mädchenkopf, das als Kleinod die Helme der Riesen zierte, wie der Helmbusch, hier aber in Riesengröße oder doch von der Größe eines ausgewachsenen Königstigers, und aus dem geöffneten Munde des Menschenkopfes sprang — sehr unschön — ein starker Wasserstrahl in das Bassin. Um dieses herum standen vierzehn solcher Priestergestalten, wie wir eine eben lebend gesehen, aus weißem Marmor, in Lebensgröße, segnend die Hände über das Wasser streckend, aber doch alle verschiedene Stellungen einnehmend, jeder mit anderem Gesicht, die Toga mit anderem Faltenwurf und, soweit ich dies begutachten kann, alle von vollendet künstlerischer Schönheit.

Auf sonstige Einzelheiten entsinne ich mich jetzt nicht mehr, auch nicht, woher das helle Licht kam. Es machte alles auf mich einen tiefen, feierlichen Eindruck. Ned sperrte Maul und Nase auf, und Leonard...

Der führende Kuttenträger war wieder verschwunden.

»Na, also baden«, sagte Monsieur Leonard, der sich bereits Jacke und Weste aufknöpfte. »Ich glaube, das tut uns auch sehr not. Wo sind denn hier die Kleiderhaken?«

Etwas Ähnliches war nicht zu erblicken.

»He, Bademeister!«, rief Leonard.

Als niemand kam, stülpte er einer der Statuen seinen Strohhut auf den Kopf, hing ihr die Jacke an die ausgestreckte Hand und legte ihr die Weste über den Arm.

»Leonard, seien Sie doch nicht so frivol!«, bat ich.

»Wenn keine Kleiderhaken da sind...«

»In einer katholischen Kirche werden Sie doch Ihre Kleider auch nicht über ein Heiligenbild hängen.«

»Sie Schlaukopf! Erstens ziehe ich mich in einer katholischen Kirche nicht aus, und zweitens ist das hier keine katholische Kirche, sondern ein Badezimmer.«

»Es ist geweihtes Wasser.«

»Das wollen wir erst prüfen.«

Ich selbst trug seine Kleider in eine entdeckte Nische mit Steinbank.

»Mr. Leonard hat zwei große Löcher im Strumpf«, erklärte Ned.

Ich hatte überhaupt gar keine Sohlen mehr unter den Strümpfen.

»Warm, sehr warm! Kaltes wäre nur lieber gewesen«, sagte Leonard, mit einem Fuße das Wasser prüfend, und dann war er drin. Es ging nur bis an die Brust.

»Pfui Deibel! Das Wasser ist aber von der Weihe salzig geworden, oder die Tigerdame dort hat einen Hering gegessen.«

Wir folgten ihm nach. Dass Leonard gut schwamm, wusste ich schon, aber nicht, dass er solch ein Kunstschwimmer war. Sich mit den Füßen abstoßend, schoss er wie ein Hecht durch das ganze lange Bassin, tauchte unter dem Wasser zurück, dann sogar hin und her, und machte andere Kunststückchen, wurde immer ausgelassener, kletterte dem Ungeheuer auf den Kopf und schlug Salti mo rtali herunter, spritzte erst uns voll und dann die ehrwürdigen Priesterstatuen, und solche Ausgelassenheit steckt an, besonders im Wasser, wir machten mit, balgten uns wie die tollen Schuljungen, und bald war der ganze Raum unter Wasser gesetzt.


Illustration

Ned stieg wieder einmal aus dem Bassin, griff dem wasserspeienden Menschenkopf wissbegierig in den Mund und untersuchte den ganzen Körper weiter. Plötzlich hörte das Wasser auf zu fließen.

»Ich hab's, ich hab's!«, rief Ned plötzlich triumphierend, einen kleinen Gegenstand zeigend. »Der Tiger hat hinten unter dem Schwanze einen Stöpsel drin, und wenn man den herauszieht, hört's vorn auf zu fließen, dafür kommt's hinten raus.«

»Steck den Stöpsel wieder hinein!«, sagte Leonard trocken. »Lass es lieber aus dem Munde der Dame kommen.«

Endlich musste der Spaß ein Ende nehmen. Handtücher gab es nicht. Leonard rief und pfiff, es kam niemand. Wir ließen das Wasser etwas ablaufen und kleideten uns an, und da erschien gleich wieder der Bademeister, uns winkend, ihm zu folgen, und er verzog keine Miene beim Anblick unserer Planscherei.

In einem anderen Raume wurden uns wieder die Kapuzen über den Kopf gezogen, eine Hand fasste die meine und führte mich fort, und nach einigen Minuten spürte ich eine zunehmende Wärme, die sich bis zur unerträglichen Hitze steigerte. Ich wurde zum Stehenbleiben genötigt.

»Dies ist das Tor der Hölle. Agni hat einen Feuerstrom davorgelegt.«

»Na da!«, hörte ich Leonards Stimme neben mir gedämpft sagen.

Bei jener Erklärung wurde mir die Kapuze vom Kopfe gerissen und...

Heiliger Gott, erbarme dich meiner!

Der Anblick, der sich mir bot, lässt sich kaum beschreiben, und ich war damals noch dazu meiner Sinne nicht mehr mächtig.

Ich stand im Dunkeln, von einer heißen Rauchwolke umgeben, doch durchsichtig, und ich sah vor mir oder unter mir — es lässt sich eben nicht beschreiben — einen rotglühenden Strom fließen, zischend, kochend und brodelnd, zusammengeballte Wolken hingen darüber, Blitze zuckten daraus hervor, und die Glut spritzte empor, und über dieses Feuer führte eine schmale, geländerlose Brücke aus glänzendem Nihilit, gar nicht sehr weit von der flüssigen Lava — wenn es solche war — entfernt. Wie breit der Strom war, kann ich gar nicht angeben, ich sah nicht das Ende der Brücke, sie verlor sich in dunklen und glühenden Wolken. Das ganze Bild verschob sich fortwährend durch die hin und her treibenden Wolken, die immer andere Gestalten annahmen. Ich glaubte Teufel und scheußliche Lindwürmer zu sehen, und mich beängstigte die jetzt schon furchtbare Hitze.

Ich sah Leonard an. Dem war der Spott auch vergangen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er in die Glut — Doch nein!

»Verflucht!«, hörte ich ihn murmeln. »Das ist famos, das möchte ich fotografieren!«

Es ist merkwürdig, wie solche Worte zur rechten oder unrechten Zeit manchmal wirken. Mir gaben sie die Besinnung wieder. Es war ein glühender Lavastrom. Ja, aber wie den passieren, auf der so niedrig hängenden Brücke, wenn man es schon vor Hitze kaum aushalten konnte?

Meine Hand wurde von einem Priester gehalten, welcher aber noch sehr jung war, ebenso jung war Leonards Führer, während der Neds ein alter Mann war.

Ein Donnerschlag krachte.

»Agni fordert sein Opfer!«, sagten gleichzeitig die drei Priester.

Aus einer Wolke tauchte neben uns ein Mann auf, ein junger Arbeiter im römischen Knierock; sein Gesicht glühte, er hob die Arme empor. Ich sah ihn rennen, ich sah ihn auf der Brücke, und er war noch nicht weit gekommen, als plötzlich lichterloh die Flammen über seinem Kopfe zusammenschlugen; ein grässlicher Schrei, und der brennende Körper stürzte von der Brücke, die Glut spritzte auf, und er war verschwunden.

Jetzt sträubte sich mir das Haar auf dem Kopfe vor Entsetzen. Leonard sagte nichts mehr. Ned lag betend auf den Knien.

Ein neuer Schlag rollte.

»Agni ist mit seinem Opfer zufrieden!«, sagten wieder die drei Führer in feierlichstem Tone. »Und du hast dich in Sanjas heiligem Wasser gebadet, des Priesters Hand wird dich sicher hinübergeleiten, Sanja ist mit uns. Komm!«

Ich zögerte, ich bebte, es war zu viel, was ich gesehen hatte.

Da hörte ich wieder Leonards Stimme hinter mir.

»Zum Teufel, vorwärts, marsch! Sanja ist doch mit uns! Soll ich vorangehen? Wir sind ja gebadet!«

Ich ging, betrat die schwankende Brücke, und immer kühler wurde es, und je weiter wir kamen, desto fester fasste des Führers Hand die meine, und desto kühler ward es um mich herum, und dicht unter mir brodelte doch das feurige Meer, ich hatte es hinter mir. Es wurde wieder heißer und heißer; eine Wolke umgab mich, in welcher mir wieder die Binde umgelegt wurde.

Wer löst dieses übersinnliche Rätsel?

Wir haben es mit unseren gesunden Sinnen gelöst.

--*--

Achtes Kapitel

Originalseiten 81 — 100

Damals aber waren meine Sinne nicht gesund, sondern krankhaft überreizt, kamen doch auch die vorausgegangenen gewaltigen Strapazen hinzu. Bei Leonard ist das etwas Anderes, der verhöhnt des Menschen Allerheiligstes, was ich nicht tue. Sonst kann man meiner Versicherung glauben, dass auch ich mich nicht vor Gespenstern und gehörnten Teufeln fürchte.

Als ich wieder sehen konnte, lag vor mir eine herrliche Landschaft, ein in üppiger Fruchtbarkeit prangendes Tal, eingeschlossen von hohen Felswänden, wogende Getreidefelder und grüne Wiesen, Bäume, deren Äste unter der Last von Früchten zu brechen drohten und doch schon wieder von neuen Blüten strotzten, dazwischen asphaltierte Wege und überall prächtige Marmorstatuen oder mit Nihilit überzogene Monumente und antike Galerien, Säulengänge und Tempel... Das ganze Bild war ein so fremdartiges, dass ich es nur nach und nach beschreiben kann, bis ich später eine ausführliche Schilderung geben werde.

Die drei Priester waren noch bei uns.

»Jetzt dürft ihr fragen, was ihr wollt, wir werden antworten, was wir dürfen.«

»Wir sind im Innern des Gebirges, welches sich tiefeinsam aus der Wüste erhebt?«, begann ich.

»Ja, in Wulodschistan, im Menschenreich.«

»So!«, fiel gleich Leonard ein. »Wie kommt es, dass der erste Mann auf der Brücke verbrannte und wir nicht?«

»Mysterie!«, lautete die Antwort. »Weißt du, was das bedeutet, Mysterie?«

»Nein, was ist das?«, fragte der gebildete Franzose ganz unschuldig.

»Mysterie ist — ist — ist...«

»Mysterie ist die Antwort auf eine Frage, welche man nicht beantworten will, nicht wahr?«

»Du sagst es.«

Wahrhaftig, jetzt hatte Leonard den jungen Priester, der ihn auf rätselhafte Weise durch das Feuer geleitet hatte, auch schon düpiert.

»Wo hast du denn dein Englisch gelernt?«

»Mysterie! Das ist in unserer Sprache ›mara‹ und bedeutet: es ist heilig, es darf nicht darüber gesprochen werden, nur der Eingeweihte kennt es.«

So hatte sich der Priester auch wieder herauszuhelfen gewusst, obwohl er im letzteren Falle nicht die Wahrheit sprach — oder es wurden den Männern, mit welchen wir verkehrten, später noch andere Instruktionen zuteil. Denn ich erfuhr alsbald, wie die Wuloden zur Kenntnis der englischen Sprache gekommen waren. Freilich stellte ich meine Fragen höflicher, weshalb ich auch präzisere Antworten bekam.

Ich glaubte in der Ferne die Kuppeln und Dom einer Stadt zu erblicken, und während wir auf schönem Wege zwischen Bäumen und Statuen dieser Richtung zuwandelten, begann ich mit meinen Fragen, welche sich aber nur auf meine Umgebung bezogen, alles vermeidend was mit meinem Geheimnis zusammenhängen konnte, und Aleddin, der junge Priester, welcher mein ständiger Führer werden sollte, gab mir auf alles bereitwilligst Antwort.

Was ich nun schildere, ist die Frucht meines zweijährigen Aufenthaltes in Wulodschistan, zusammengestellt nach meinem Tagebuche. Wenn sich der Leser manchmal entsetzen sollte über das hier herrschende Regierungssystem, wenn seine ästhetischen Gefühle verletzt werden, so erinnere er sich nur immer daran, dass Wulodschistan eine Oase ist, eine Insel in der Wüste, welche noch kein Schiffer durchkreuzt hat, dass die Wuloden auch Menschen sind, dass sie ihr Möglichstes getan haben, um die ihnen von der Natur gesteckten Grenzen zu durchbrechen — und der Leser wolle bedenken, dass auch in unseren humanen Kulturstaaten noch Gräuel genug verübt werden, mit Billigung des Gesetzes. Ich erinnere nur an den einen Fall, dass ein Mann wegen eines Verbrechens zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt wird. Nach einem Menschenalter stellt sich seine Unschuld heraus, und der Mann, gebrochen, ruiniert, um alles gebracht, ist auf das öffentliche Mitleid angewiesen. Nicht einmal die Bitte, ihn in dem liebgewordenen Zuchthaus zu behalten, gewährt man ihm.

Ich will gleich mit den Schrecken von Wulodschistan beginnen, vielleicht dass dann die weiteren Schilderungen den ersten schlechten Eindruck vergessen machen.

*

Wulodschistan ist ein rings von einer steilen, zusammenhängenden Gebirgswand begrenztes Tal.

Der Flächenraum beträgt, soweit er für den Menschen in Betracht kommt, 94 Quadratkilometer, das sind noch nicht zwei Quadratmeilen. Von diesen kommen 50 Quadratkilometer auf Felder, welche das tägliche Brot erzeugen, auf dem übrigen Platz verteilen sich die Wohnungen, öffentliche, industrielle und andere Gebäude, sowie Bäume.

Auf dieser Fläche wohnen 50 00 Menschen, die dichteste Bevölkerung der Erde auf einem Gebiete, welches auch noch die Nahrung liefern muss, um so mehr, als das nicht produzierende Land fast die Hälfte bildet.

Also, wohlgemerkt, nicht ungefähr 50 000 Menschen, sondern nicht mehr und nicht weniger als 50 000. Diese Zahl ist ein ehernes Gesetz.

Diese 50 000 Einwohner setzen sich nach strenger Kasteneinteilung folgendermaßen zusammen: Der Sannyasi als erster Priester und unumschränkter Herrscher, 7 Oberpriester oder Minister, 77 Priester oder Gelehrte und Lehrer, 777 Krieger, 7777 Arbeiter.

Das wären zusammen 8639 Personen. Da nun mit Ausnahme des Sannyasis und der 7 Oberpriester jeder Mann verheiratet sein muss, so sind es also 18 270 Menschen. Was dann noch an der Zahl von 50 000 fehlt, dürfen Kinder sein, bis zum siebzehnten Jahre gerechnet, in dem sie heiraten müssen, Jüngling wie Mädchen, also 31 730.

Mehr ernährt der Boden nicht. Es kommen doch auf jeden nur 1000 Quadratmeter, und es ist wunderbar, wie diese überhaupt einen erwachsenen Menschen ernähren können. Ich werde es später erklären. Allerdings sind ja auch viele kleine Kinder da, welche noch nicht viel brauchen, aber man hat auch oft mit Missernten zu rechnen, mit Wasserschaden und Dürre; deshalb müssen stets gefüllte Magazine vorhanden sein.

Dabei gibt es keine Einschränkung im Eheleben, sie ist sogar verboten, die Mutter der meisten Kinder wird hoch geschätzt.

Ein neugeborenes Kind wird sofort vom Priester untersucht, gemessen, gewogen, und entspricht es nicht den Bedingungen, welche für die Kaste gelten, der es entstammt, so ist es ›makasi‹ — unbrauchbar — nämlich für die menschliche Gesellschaft; es wird getötet.

Im siebenten Lebensjahre hat das Kind sein erstes Examen vor einem Priesterkollegium abzulegen. Es wird auf seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten geprüft. Von jeder Kaste wird etwas anderes verlangt, und diese Prüfung hat sich alljährlich jede Person über sieben Jahre zu unterziehen, Mann wie Weib, und wer sie nicht besteht, der ist makasi — ist des Todes.

Mit dem neunundvierzigsten Jahre gilt jeder Mensch für makasi, er wird getötet. Ausgenommen sind nur die Oberpriester, über deren Brauchbarkeit allein der Sannyasi urteilt. Er selber ist unsterblich, weil er die Güte und Gerechtigkeit selbst ist.

In Wulodschistan gibt es nur eine einzige Strafe für jedes Vergehen: den Tod. Der kleinste Ungehorsam gegen den Vorgesetzten, die geringfügigste Lüge gegen den Gleichgestellten, ein unfreundliches Wort gegen den Untergebenen, und es wird bewiesen — makasi! Er ist nicht wert, ein Mensch zu sein.

Zwei Arbeiter heben eine Last auf, um sie fortzutragen, sie können es nicht, sie haben ihre Kraft überschätzt — sie sind makass, oder aber der, der sie angestellt hat, diese Last zu tragen.

Ein Krieger strauchelt auf dem Übungsplatze und stürzt — makasi, fort mit ihm! Es ergibt sich, dass die Volkszählung nicht stimmt, so ist außer dem Beamten, der den Fehler begangen hat, auch der für das Ganze verantwortliche Priester des Todes.

Ein Künstler hat lange Zeit an einer Statue gearbeitet, er liefert sie ab, dass sie ausgestellt werde, sie besteht nicht vor dem Urteil der Kunstverständigen — der Mann hat umsonst seine Zeit vergeudet, er hat umsonst Brot gegessen — das Bildnis wird ihm in den Abgrund nachgeschmettert.

Schließlich ist auch der makasi, welcher infolge seines gesegneten Appetites mehr verbraucht, als 1000 Quadratmeter erzeugen, welcher ›seines Nächsten Acker aufisst‹. Und die Frau folgt dem Manne stets in den Tod, aber nicht der Mann der Frau, also wie bis noch vor Kurzem in Indien, wo trotz des Verbotes Witwenverbrennungen auch jetzt noch häufig genug vorkommen.

Da lichten sich die Reihen. Das Gesetz kann von den Oberpriestern mit Billigung des Sannyasis immer geändert werden, und so wird dafür gesorgt, dass auch keine Entvölkerung eintritt. Die eiserne Zahl 50 000 muss immer bestehen bleiben, aber die Säuglinge an der Mutterbrust zählen noch nicht mit, sodass stets ein Vorrat von Menschenleben vorhanden ist. Für uns ist das entsetzlich, für die Wuloden aber hat es durch ihre Religion alle Schrecken verloren. Ich habe unzählige Mütter gesehen, die freudig dem Henker ihr schwächliches Kind hingaben; freudig stürzte sich die Gattin vereint mit dem verurteilten Manne in die Tiefe. Der Arbeiter, der Gelehrte, der Priester, der Künstler, der Krieger — sie alle finden es ganz selbstverständlich, dass sie in den Tod gehen müssen, wenn sie irgendeinen Fehler begangen haben. Schon das siebenjährige Kind ist dazu erzogen. Lachend eilt es hinauf und stürzt sich unter dem Jubel der Menge rücklings in die Schlucht, und der fünfzigjährige Oberpriester, welcher merkt, wie sich sein Augenlicht trübt, bittet den Sannyasi, aus dem Leben scheiden zu dürfen. Er ist betrübt, wenn es ihm versagt wird. Die Ausnahme bestätigt nur die Regel.

Es ist die uralte Lehre von der Wiedergeburt, welche dem Tod den Stachel geraubt hat, noch besonders zurechtgeschnitten für dieses enge Tal.

Ich bemerke, dass der Glaube so, wie ich ihn jetzt schilderte, nur bis etwa vor dreißig Jahren ganz rein bestand. Im Großen und Ganzen ist er auch heute noch derselbe, nur musste vor dreißig Jahren der von Gott erleuchtete Sannyasi noch einige Offenbarungen einschieben, sonst hätten seine Weltanschauungen nicht mehr ganz gestimmt. Bis dahin nämlich hielten sich die Wuloden seit uralter Zeit für die einzigen Menschen auf der sonst völlig unbewohnbaren Erde. Als sie zum ersten Male mit den nackten, schwarzen, schmutzigen Eingeborenen in Berührung amen, brauchten die Priester nur Kinder der Hölle zu Hilfe zu nehmen, so war ihre Weltschöpfung wieder im Gleichgewicht. Als aber vor dreißig Jahren sich ein Engländer nach Wulodschistan verirrte und ihnen allerlei erzählte, da war es mit der unbewohnbaren Erde und dem einzig bewohnbaren Tale aus, da musste zu anderen Hilfsmitteln gegriffen werden, sollte nicht der ganze kunstvolle Religionsbau zusammenbrechen. — —

Ich will die Lehre ganz kurz fassen: Indra schuf die Erde als festes Fundament für das Menschenreich (Wulodschistan) und zu dessen Bevölkerung sieben Millionen — mit den weiteren nötigen sieben — Menschenleben, von denen er zunächst zwei verkörperte und in das Menschenreich einsetzte. Es war ein Paradies, sie starben nicht, so vermehrten sie sich sehr schnell, bis die Zahl von 50 000 voll war. Mehr ernährte das Tal nicht, da begann das Sterben. Nun sind aber noch immer weit über sieben Millionen Seelen vorhanden, welche auch geboren werden wollen, und sie kommen alle daran, und wenn diese alle sind, dann kommen wieder die schon einmal Gestorbenen daran, sie werden wieder geboren, aber nicht allein, sondern bei der Geburt vereinigt sich stets eine männliche Seele mit einer weiblichen, und zwar so, dass die guten Anlagen die bösen oder minderwertigen überwiegen, und bei der dritten Wiedergeburt vereinigen sich vier Seelen und bei der vierten acht, und so geht es fort, bis der Seelenvorrat erschöpft ist, die sieben Millionen Seelen sind zu 50 000 Menschen verschmolzen. Es wird niemand mehr geboren, es stirbt aber auch niemand mehr, sie prangen in ewiger Jugendkraft und Jugendschönheit; aus dem Menschenreiche haben sie unterdessen ein Paradies geschaffen, gegen welches jenes der ersten Menschen eine Wüste war. Dieser Zeitpunkt der Erlösung tritt nach der Berechnung der Priester mit Zugrundelegung der jetzigen Entwicklungsschnelligkeit in etwa 20 000 Jahren ein. Je tugendhafter, je geschickter, je kräftiger die Menschen bis zum Augenblicke ihres Todes sind, desto schneller geht es; aber es ist doch besser, der Mensch stirbt beim ersten Fehltritt, als dass er in einem langen Leben gute Werke anhäuft, es geht trotzdem nicht schneller, und es wird mehr Platz für andere Seelen,

Ich will hier nicht auf das Nähere eingehen. Natürlich ist alles von den Priestern bis in die kleinsten Einzelheiten ausgearbeitet worden. Es liegt auf der Hand, wie solch eine Lehre, gläubig aufgenommen, wirken muss. Wo bleibt der Schrecken des Todes? Die Seelen verkörpern sich nicht zufällig, sie kehren immer wieder zu ihrer Familie zurück, immer besser und schöner, immer verdoppelt, bis ein Leib und eine Seele hundert einstige Familienmitglieder einschließt, verschmolzen in unaussprechlicher Liebe, das IchBewusstsein aller in einem konzentriert, der früheren Erdenleben sich bewusst — dies habe ich geschaffen und jenes auch — verklärt von einer Seligkeit, von der wir uns heute noch keine Vorstellung machen können.

Ob die Priester selbst daran glauben, weiß ich nicht. Das sagen sie natürlich nicht. Die ersten Leiter glauben selbstverständlich nicht daran. Um das Volk gläubig zu erhalten, haben sie ihre Geheimnisse, ihre Mysterien, ihre Wunder, von denen ich eins bei unserer Einführung in das Tal erwähnte, und ich werde noch von anderen sprechen.

Auch will ich mich nicht in Erwägungen ergehen, wann und auf welche Weise Inder in das Innere Australiens gekommen sein können. Meine Kenntnisse über das alte Indien sind sehr beschränkt, und Leonard, der besser Bescheid weiß, hat ein kurzes Gedächtnis für Jahreszahlen. Seiner Ansicht nach müssen die Väter dieser Wuloden Indien verlassen haben, als sich die älteste indische Religion in den Brahmanismus zu verwandeln begann, weil sie von Indra und Agni, dem Feuergott, sprechen und doch auch schon den Namen Sannyasi haben, der in Indien ein Brahmane ist. Wiederum wissen sie von Brahma gar nichts. Ihre alten Bücher dagegen erzählen schon von einer Sintflut, die sich bis an das Gebirge von Wulodschistan erstreckt habe.

Kurz, ich will diese Erwägungen Sachverständigen überlassen.

Die Wuloden haben nur zwei Hauptgötter, einen guten und einen bösen, Indra und Agni, welche nach Herzenslust schaffen, ohne sich dann um das Geschaffene weiter zu kümmern. Die Wuloden verehren sie auch gar nicht. Um aber das einmal geschaffene Menschenreich mit der ganzen Einrichtung vor dem bösen Agni zu schützen, hat Indra ein weibliches Ungeheuer erzeugt und den Wuloden als Schutzgöttin gegeben.

Das ist Sanja, die geflügelte Tigerin mit dem Mädchenkopf, welche allein göttliche Verehrung genießt. Sie ist nicht allmächtig, aber wenn sie mit den dargebrachten Opfern und mit dem Verhalten ihrer Schutzbefohlenen zufrieden ist, so wirkt ihre Bitte allmächtig auf Indra und selbst auf Agni. Dieser hat sogar auf ihre Bitte hin durch Indras Vermittlung einen Feuerstrom vor den Eingang zum Menschenreich gelegt und fordert nur stets erst ein Menschenopfer, ehe die darüberführende Brücke benutzt werden darf. Ihr Bildnis ist in zahlreichen Statuen vertreten, in kleinerem Maßstabe dient es als Hausgötze, als Schmuck, die gewöhnlichsten Gegenstände sind damit verziert.

Nur viermal im Jahre zeigt sich Sanja dem versammelten Volke lebendig — ich spreche mit den Wuloden — in ihrer ganzen furchtbaren Gestalt und nimmt Opfer entgegen. Sonst lebt sie im Tempel verborgen.

Dieser steht mitten im Zentrum des Landes und ist eine kolossale Pyramide aus verschiedenfarbigen Steinen, von über zweihundert Metern Höhe und einer Seitenlänge der Basis von hundertzwanzig Metern, die Pyramide des Cheops also noch bei Weitem übertreffend, allein in ihrer bunten Farbenpracht einen überwältigenden Eindruck machend.

Sie enthält — ich will die Zahl einmal ausschreiben — sieben Millionen siebenhundertundsiebenundsiebzigtausendsiebenhundertundsiebenundsiebzig Zimmer, jedes etwa drei Meter lang, drei Meter breit und drei Meter hoch. Wie diese alle da hineingehen, das ist eine Mysterie. Man lächele nicht, sondern man bedenke, dass auch die christliche Religion Mysterien genug hat, welche nur der fromme Glaube erfasst.

Der Zweck dieser vielen Zimmer ist ganz klar. Hier halten sich die noch ungeborenen Menschenseelen auf, die gestorbenen kommen wieder hinein, werden von der Göttin unterrichtet, sortiert und einzeln oder vereint wieder ins Leben geschickt. Auch beobachtet sie von der Spitze der Pyramide aus das ihr unterstellte Reich.

In den unteren Etagen der Pyramide residiert der unsterbliche Sannyasi — (wenn er stirbt, wird er natürlich durch einen Eingeweihten schnell wieder ersetzt) — die verkörperte Tugend, Weisheit und Gerechtigkeit, der König und als erster Priester der Vermittler zwischen Sanja und dem Volke.

Rings um die Pyramide liegt ein großer Garten mit Blumen und Bäumen, das Ganze umschließen sieben Mauern, jede etwa sechs Meter hoch. In den innersten beiden Mauerringen liegen die Wohnungen der sieben unverheirateten Oberpriester, in den äußern vier die der siebenundsiebzig verheirateten Priester, außerhalb der Mauern befinden sich die kleineren Steinhäuser der 777 Krieger, aber jedes ein Kunstwerk des Baumeisters und Bildhauers. Dann schließen den Kreis eine Menge von öffentlichen Gebäuden. Die siebenundsiebzig Priester sind, wie gesagt, die Vertreter der Wissenschaft und Kunst und bekleiden nebenbei die höchsten Verwaltungsämter.

Was die Krieger in dem einzig bewohnbaren Lande auf der Erde, wo auch keine Revolution zu fürchten ist, zu tun haben, erscheint rätselhaft. Die Kaste ist eben mit den alten konservativen Indern herübergekommen.

Ihre Leibesgröße liegt in der Kaste, im eigenen Geschlecht, die Priester verstehen sich durch tausendjährige Erfahrung auch auf Menschenzüchtung.

An Gelegenheiten ihren Mut zu beweisen, fehlt es nicht, auch nicht an blutigen. Die allererste Prüfung, welche mit einem siebenjährigen Knaben vorgenommen wird, ist folgende, ganz unschuldige: Sein Kopf wird in einen Schraubstock gespannt, vor ihm befindet sich eine Säule, daran hängt an einer Kette ein Messer, die Entfernung wird so berechnet, dass die Spitze desselben ihm eben an den Augen vorübergeht, das Messer wird herumgewirbelt, und zuckt er nur etwas mit der Wimper, so ist er makasi. Im vierzehnten Jahre muss er so weit sein, dass ihm am ganzen Körper mit glühenden Eisen Tätowierungen eingetragen werden können, ohne dass er nur einmal die Lippen zusammenkneift. Und der wegen eines Vergehens verurteilte Krieger gibt vor dem Tode der versammelten Menge an seinem Körper erst noch ein grausames Exempel seiner Widerstandsfähigkeit gegen Schmerzen — und seine ihm in den Tod folgende Gattin tut dasselbe, denn die Mädchen und Frauen der Krieger werden zu eben demselben Ziele erzogen, und doch wieder ganz anders, sie werden durchaus dabei keine robusten Mannweiber.

Alles, was produziert, gehört zur Kaste der Arbeiter. Sie wohnen mit ihren Familien ringsum im Lande in aus den Felsen gehauenen Kammern, ganz komfortabel. Unterkasten in dieser gibt es nicht. Im zehnten Jahre muss sich das Kind, Junge oder Mädchen, entscheiden, was es werden will, Handwerker, Ackerbauer oder Straßenfeger, und bei dieser Profession bleibt es sein ganzes Leben.

Die Ausübung der Kunst, als Plastik den Wuloden in Fleisch und Blut übergegangen, ist frei.

Es darf überhaupt alles frei ausgeübt werden, ohne dass dadurch das Kastenwesen aufgehoben wird. Alles meißelt in Stein, wie in dem kostbaren Holz, welches dann, wenn das Erzeugnis die Prüfung von Kunstkennern bestanden hat, mit Nihilit überzogen wird. Aber jeder muss das, was er in seinem Schraubstock oder aus dem großen Block gemeißelt hat, sofort wieder vernichten, wenn er nicht beantragt, dass sein Kunstwerk öffentlich ausgestellt wird, und verwirft die Prüfungskommission es dann, so büßt der Künstler seinen Hochmut mit dem Tode; sein Erzeugnis wird ihm in die Tiefe nachgesandt.

Heiraten aus einer Kaste in die andere sind natürlich unmöglich, aber sonst ist eigentlich alles frei. Die Arbeitszeit ist kurz, und wenn der Straßenfeger mathematisch veranlagt ist und Interesse für Astronomie hat, so geben sich die Priester alle Mühe, ihn bis zur Erkenntnisstufe auszubilden. Aber wenn er seine Lehrer auch weit übertrifft, er bleibt doch der Straßenfeger, aus seiner Kaste kommt er nicht heraus. Schadet nichts, er wird noch einmal wiedergeboren, und was man in einem Leben mit vieler Mühe gelernt hat, das offenbart sich im nächsten Erdenleben, als natürliche Anlage, als Talent.

Ach, wenn doch diese uralte Lehre von einer Fortentwicklung durch Wiedergeburten, deren Richtigkeit die größten Denker aller Zeiten verteidigt haben und noch heute verteidigen, der feste Glaube der ganzen Menschheit würde! Wie anders sähe es auf der Erde aus! —

Quellen gibt es in Wulodschistan genug, aber nur heiße. Sie sind sämtlich durch hohen Gehalt an Salz oder an anderen Stoffen völlig ungenießbar. Man ist also auf Regenwasser angewiesen, welches sorgsamst aufgefangen wird. Deshalb auch nehmen die Gebäude so viel Platz weg, sind nur einstöckig und weitläufig. Ihr Dach muss als Regenfänger dienen. Die prachtvollen Säulengänge, die Galerien — alle sind Regenfänger. Der größte Sammler aber ist das Dach, das in einer Breite von vier Metern längs der Felswand um das Land geht, zugleich also ein Schutzdach für die Eingänge zu den Arbeiterwohnungen. Seine Länge beträgt etwa 45 000 Meter, bei vier Meter Breite. Im Jahre fallen mindestens neunzig Zentimeter Regen, wir wollen aber wegen Verlustes nur einen halben Meter annehmen, so enthält man jährlich 90 000 Kubikmeter Wasser, und diese genügen bei Sparsamkeit für eine Bevölkerung von 50 000 Menschen vollauf, zumal für Wäsche anderes Wasser benutzt werden kann und die Wuloden beim Kochen sehr wenig verbrauchen. Das Wasser wird sorgsam in unterirdisch angelegte Zisternen geleitet, unter jedem Gebäude ist eine solche. Sie wissen es durch geeignete Mittel vor dem Fauligwerden zu schützen. Sie begießen bei großer Trockenheit ihre Gemüsegärten und haben dennoch immer für mindestens ein Jahr Vorrat.

Wegen der Kostbarkeit des Wassers wird gemeinsam gekocht. An fünf Stellen entströmen dem Boden überhitzte Wasserdämpfe. Hier sind die ersten, die großen Garküchen, Tag und Nacht ununterbrochen in Betrieb. Hier werden die Hülsenfrüchte, Erbsen, Bohnen und Linsen, die Hauptnahrung der Wuloden, durch Dampf in großartigen Apparaten gargekocht, durch ein besonderes Verfahren für Jahre haltbar gemacht; auch das Mehl verstehen sie gleich in Brote zu backen, welche dann nur noch zerkleinert und im Wasser aufgewärmt werden, dasselbe gilt sogar von Gemüsen und Früchten, alle als Nahrungsmittel betrachtet.

Heiße Quellen sprudeln überall. Hier sind die Hausstandsküchen, an welche die trockenen, aber schon gekochten Speisen abgeliefert werden. Heißes Salzwasser umspült Nihilitbehälter mit Süßwasser, schnell sind die Nahrungsmittel aufgeweicht und warm, jede Familie verzehrt sie für sich in ihrer Wohnung.

Trotz der inneren vulkanischen Tätigkeit, von der noch Anderes als nur die heißen Quellen zeugen, hat man noch niemals auch nur einen Erdstoß verspürt. Es ist ein Sicherheitsventil vorhanden, der Nihilitberg, von dem ich später sprechen werde. — —

Also nur eintausend Quadratmeter pro Mann zur Ernährung! Ich bin kein Ökonom, kein Volkswirtschaftler, aber das weiß ich, dass so wenig Boden die Nahrung eines Menschen nicht hergibt, und dann ist auch noch an Kleiderstoffe und anderes zu denken, denn die Wuloden kennen von Tieren nur Vögel und Insekten; bis vor wenigen Jahren haben sie noch gar nicht gewusst, dass es überhaupt vierfüßige Tiere gibt.

Was ihnen an Kenntnis der Viehzucht abgeht, weil sie kein Vieh besitzen, das erstreckt sich bei ihnen auf die Kunst des Ackerbaues. Ich kenne jetzt die Namen all ihrer Gewächse, der Gramineen, Leguminosen, Kräuter und Baumfrüchte, aber ich kann sie nicht übersetzen. Wir kennen sie nicht, ich wenigstens hatte sie noch nie gesehen.

Ich halte das eine für Weizen, aber der mannshohe Halm ist von unten bis oben dicht mit Ähren bedeckt; aus diesem Halme wissen sie auch noch ein Gewebe herzustellen; wenn der Weizen abgemäht ist, muss schon wieder eine spät aufgehende Hülsenfrucht hervorkommen, und dann gedeiht unter der Erde noch immer eine Erdnuss.

Diese Beispiele mögen genügen. Ob sie die fremden Samen mitgebracht haben oder ob sie die Pflanzen so veredelt haben, weiß ich nicht. Ich glaube Letzteres, denn die Priester, welche die Äcker und die Gärten unter sich haben, experimentieren unausgesetzt, fast täglich sehe ich wieder ganz neue Versuchspflanzen emporschießen, oft von der seltsamsten Form, und ich glaube ganz gern, dass es ihnen noch gelingt, eine Pflanze zu züchten, welche gleichzeitig Mehl, essbares Mark, Schoten, Baumwolle, Öl und Kartoffeln liefert.

Das Feld wird mit dem Spaten umgegraben, allerdings die sorgsamste Umlegung der Scholle, bei uns wegen der Kostspieligkeit beim Feldbau gar nicht mehr möglich, und überhaupt stehen die Wuloden trotz ihrer sonstigen Geschicklichkeit noch auf einer sehr tiefen Stufe der Technik. Diese Handfertigkeit muss von Technik sehr wohl unterschieden werden. Sie verstehen wunderbar zu weben und zu schmieden, davon geben ihre Kleider und Waffen Zeugnis, aber ihre Webstühle sind die denkbar primitivsten, ihre Mühlen gleichen denen von wilden Völkern.

Hiermit schließe ich die allgemeine Beschreibung von Wulodschistan.

*

Die Regierung scheint infolge sorgsamer Wahl der Oberpriester stets in vernünftigen Händen gelegen zu haben. Das Festhalten an der Zahl 50 000, der Kindermord und das allzu strenge makasi ist niemals ein starres Religionsprinzip gewesen. Ich weiß, dass schon vor Jahrhunderten die verzweifeltsten Anstrengungen gemacht worden sind, auch außerhalb des Gebirges den nackten Boden zu kultivieren — ganz vergebens, in den Spalten lässt der feinste Regen jedes Erdbröckchen verschwinden.

Man hat fremde Vögel gefangen und getötet, in ihren Mägen fand man Samenkörner, die es hier nicht gab. Woher kamen die? Unter dem Schein, dass es sich um strapaziöse Übungen handele, sind Krieger weit, weit geschickt worden. Wenn sie zurückkamen, so konnten sie nur von trostlosen Wüsten berichten. So lernte man das Känguru, das Opossum und andere fremde Tiere kennen, auch die schwarzen Eingeborenen, die sich von jenen und von Eidechsen und Würmern ernähren, aber dies alles war nichts für die Wuloden, befreite sie nicht von ihren so engen Grenzen.

Da, vor etwa dreißig Jahren, prophezeite die Göttin Sanja durch den Mund des ersten Priesters, dass übers Jahr an dem Tage in Wulodschistan ein Fremdling erscheinen würde. Auch der böse Agni habe Menschen geschaffen, die so hässlich wie er selbst ausgefallen seien — die schwarzen Eingeborenen, die Niobs — und da habe auch Indra wieder an anderer Stelle die Erde fruchtbar gemacht und weiße Wesen erzeugt, sie hätten sich sehr vermehrt, und solch ein Fremdling also würde übers Jahr an dem und dem bestimmten Tage durch göttliche Kraft nach Wulodschistan versetzt werden, um Indras geliebtem Volke von jenem anderen Menschenreiche zu erzählen.

Und richtig, nach einem Jahre am bestimmten Termine tauchte plötzlich mitten in dem Tale ein fremder Mann auf, mit dem sich die allwissenden Priester auch gleich in seiner Sprache unterhalten konnten — in Englisch.

Was für ein PriesterHokuspokus hier vorlag, ist leicht zu durchschauen. Auf die Suche nach fruchtbaren Gegenden ausgesandte Krieger waren mit Eingeborenen zusammengetroffen, welche sie instinktiv glühend hassen, die Kinder des bösen Agni wurden niedergemacht — bis auf den einen Mann, den sie wegen seines fremdartigen Aussehens anstaunten.

Es war der Letzte der unglücklichen DavidsExpedition, welche Ende der sechziger Jahre von Northampton nach Osten aufbrach und verscholl. Dieser Mann, nur ein Diener, war halbtot von Eingeborenen gefunden worden und hatte drei Jahre unter den immer nach Osten marschierenden Schwarzen als Gefangener oder auch als Stammesgenosse gelebt.

Die Krieger, welche auch die Tempelwache und sogar Tempeldienst zu verrichten haben, sind von den Priestern auf absolute Verschwiegenheit dressiert. Sie brachten den gefundenen Fremdling, der kein Niob war, nicht im Triumph angeschleppt, sondern erst wurden die Priester benachrichtigt, und der Mann verschwand ganz heimlich hinter den Tempelmauern, wo er ein Jahr lang verborgen gehalten wurde.

So hatten die Göttin Sanja und der Sannyasi gut prophezeien gehabt, sie konnten noch viel mehr prophezeien, und als dann der Fremdling plötzlich in der Öffentlichkeit erschien, wie vom Himmel gefallen, bewiesen die Priester wieder einmal ihre Allwissenheit, indem sie gleich seine Sprache verstanden — die sie ganz einfach unterdessen von ihm gelernt hatten.

Also, es gab doch noch andere Menschen auf der Erde, furchtbar viele, mit mörderischen Waffen und wunderbaren Erfindungen, und wo diese Menschen andere fanden, da besiegten sie diese und legten sie in Sklavenketten, und diese gewalttätigen Menschen, welche als Volk die ganze bekannte Erde beherrschten, von allen anderen Nationen Tribut forderten und erhielten, hießen... Engländer!

Denn Sam Drake gehörte zu jenen Engländern, für welche die ganze Erde ›England‹ heißt oder noch heißen muss. Der junge Mensch wurde gut behandelt, er taute auf, und er scheint nicht schlecht renommiert zu haben, dazu war er ein nur wenig gebildeter Diener gewesen, stand aber in gewisser Hinsicht doch weit über den Wuloden, und so bekamen diese eine ganz falsche Ansicht über die Außenwelt.

Die Engländer schickten also unausgesetzt Expedittionen von allen Seiten aus, diese Wüsten zu erforschen. Jedes fremde Volk hatten sie bisher unterworfen, sich tributpflichtig gemacht.

»Wisst ihr«, hatte Sam Drake gefragt, »was ein Gewehr ist? Was? Eine Kugel sollte nicht durch solch einen Blechpanzer gehen? Gleich durch zehn! Wenn ich nur ein Gewehr hier hätte, ich wollte es euch schon zeigen. Und nun erst unsere Kanonen solltet ihr sehen!«

In dieser Zeit geschah es, dass Agni auf Bitten Sanjas den Feuerstrom aus seiner Hölle vor den Eingang zum Tale legte, auf dass die Wuloden vor einem Angriffe dieser Engländer geschützt seien.

Aber auch die irdischen Menschen, die Regierenden, blieben nicht untätig, um sich gegen einen Angriff von Feinden, von denen man bisher noch gar nichts gewusst hatte, zu sichern.

Man wolle bedenken, dass die alten Inder ein Heldenvolk gewesen sind, und diese hier waren Nachkommen von unverfälschter Reinheit. Die Priester herrschten, und mit Priesterschlauheit wurde vorgegangen. Mit einigen Veränderungen in den Religionsanschauungen durch göttliche Offenbarung fing man an. Dies zog jedoch auch Veränderungen im ganzen Leben, in den Übungen der Krieger und in allem Anderen nach sich. Ich will hier nicht zu ausführlich werden. Aber so recht charakteristisch für diese weitsichtige Priesterherrschaft im engen Tale ist es, dass das Erlernen der englischen Sprache für das ganze Volk sofort obligatorisch wurde.

Jetzt will ich es ganz kurz machen. Um nicht von den furchtbaren Räubern, den Engländern, überrascht zu werden, wurden Wachtposten vorgeschoben, weiter und immer weiter. Die Wuloden gingen in den Wüsten massenhaft zugrunde. Der Sturz in die Schlucht, wenn jemand makasi war, wurde in Vorpostendienst verwandelt. Damit die Kundschafter auch wieder lebendig zurückkehren konnten, um Bericht abzustatten, wurden in der Steinwüste unter den unfasslichsten Schwierigkeiten Zisternen und Proviantkammern angelegt, ganz versteckt, auch Karten wurden gezeichnet, zur Orientierung dienten die Bodenspalten.

So war die eine VorpostenExpedition bis nach jener Hügelkette gekommen. Hier blieb sie liegen, so lautete der Befehl, die einzelnen Krieger wurden zu gewissen Zeiten abgelöst. So weit das Auge nach Osten und Süden reichte, sah es nichts weiter als Sand und Steine. Was für einen Zweck hatte da das weitere Vordringen? Und doch! Wären sie nur zwei Stunden weiter vorgerückt, so wären sie auf die Telegrafenlinie gestoßen. Es hatte nicht sein sollen.

Was für eine Bewandtnis es mit dem erschlagenen Krieger hatte, habe ich nicht erfahren können, das ist ja auch gar nicht von Bedeutung.

Die Vorposten zwischen jenen Hügeln hatten also beobachtet, wie wir drei Menschen auf wunderbaren Rädern gefahren kamen, wie uns Eingeborene nachschlichen. Wir wurden in der Schlucht von oben mit Steinen und Speeren beworfen, die Krieger stürmten herbei. Es scheint mir, dass den schnellfüßigen Athleten wiederum auch nicht ein einziger der ›Niobs‹ entgangen ist, dann wurden wir als Gefangene nach Wulodschistan transportiert, und mit uns wurde dem Volke gegenüber nicht solche Heimlichkeit wie mit Sam Drake getrieben.

Über diesen noch ein Wort. Man behandelte ihn sehr gut, um an ihm immer einen willigen Erzähler zu haben; er heiratete eine Tochter der Priesterkaste, hatte vier Kinder, welche durch grobe Vergehen sämtlich ›makasi‹ wurden. Es soll bei ihrer Vernichtung zu sehr stürmischen Szenen gekommen sein, besonders als die letzte und jüngste Tochter gleichzeitig mit der Mutter abgeführt wurde; der tobende Vater, unterdessen ein alter Mann geworden, verschwand gleichfalls — man brauchte ihn nicht mehr. Der Schluss dieser Tragödie muss sich vor etwa acht Jahren zugetragen haben.

Wie gesagt, dies alles, was ich hier schildere, habe ich während meines zweijährigen Aufenthaltes in Wulodschistan gesammelt.

--*--

Neuntes Kapitel

Originalseiten 100 — 133

Frage, was du willst, und ich werde dir antworten, was ich kann, und wenn ich sage: ›mara‹ — so wisse, dass mir das Sprechen darüber verboten ist, weil es eine heilige Angelegenheit betrifft.«

So hatte mein junger Führer Aleddin, durch einen Nihilitschmuck an beiden Oberarmen als Oberpriester ausgezeichnet, nochmals zu mir gesagt.

Es war für mich eine lehrreiche Stunde, während welcher wir auf schönem Wege langsam der riesigen Pyramide zuwanderten, die sich aus dem antiken Städtchen erhob.

Ich vermied anzügliche Fragen, die eine Mysterie betreffen konnten, und Aleddin antwortete aufs Ausführlichste. Nein, diese Pyramide sei nicht nur ein Denkmal, sondern ein Tempel, darin wohne die Schutzgöttin der ,Menschen‹, die Sanja — jawohl, ganz richtig, das geflügelte Tier mit dem Frauenkopf — und der Hohepriester wohne mit darin, dass er immer mit der Göttin verkehren könne.

Aber auch Aleddin stellte Fragen, doch in beschränkterem Maße als ich.

Fragte ich, was für eine korntragende Pflanze dies, was für ein merkwürdiges Werkzeug jenes sei, so erklärte er mir alles, und dann fügte er stets hinzu:

»Habt ihr das nicht? Ist das bei euch anders? Wie ist das bei den Engländern?«

Ich merkte bald, dass ich als Führer einen sehr klugen, vorsichtigen, über jedes Wort nachdenkenden jungen Mann bekommen hatte, und ferner gewahrte ich, wie die drei Führer immer einen großen Abstand zwischen uns drei Fremdlingen einhielten.

Während dieses Weges verriet sich Leonard auch als Franzosen.

»Bonjour!«, rief er einem sich vor den Oberpriestern tief verbeugenden Feldarbeiter zu.

»Was sagt dein Freund?«, fragte mich Aleddin sofort.

»Er wünschte dem Manne einen guten Tag.

»Aber das war kein Englisch.«

»Nein, Französisch. Charles Leonard ist Franzose.«

»Er ist also nicht aus deinem Reiche?«

»Nein, aus Frankreich.«

»Ist das ein großes Reich?«

»Eins der größten. England, Deutschland und Frankreich werden immer zusammen genannt, wenn man von den europäischen Mächten spricht.«

»England, Deutschland und Frankreich«, wiederholte Aleddin sinnend, »europäisch — Europa — ja, ich weiß — und Russland hast du wohl vergessen, nicht wahr? Und dann sind noch Italien, Spanien und Österreich Mächte, nicht wahr?«

Mein Staunen ob solcher Kenntnisse war natürlich nicht gering. Damals wusste ich ja noch nichts von einem Sam Drake.

Der Anblick einiger hundert gepanzerter Riesen, welche auf einem großen Platze exerzierten, fesselte mich. Es waren keine sportlichen Übungen, es war ein richtiges militärisches Exerzieren. Der teils mit Sand, teils mit großen Steinen bedeckte Platz enthielt auch Gräben und Wälle wie zu Festungsübungen. Die Krieger bildeten eine lange Doppelreihe. Unter Kommando eines Führers stürmte die erste Reihe geordnet schnell vor, die Schwerter gegen einen eingebildeten Feind schwingend, auf diesen einhauend. Plötzlich wichen Teile dieser Reihe zurück, dafür brachen die Sektionen der zweiten Reihe hindurch, hatten aber die Schwerter in der linken Hand, diese ebenso geschickt wie die rechte gebrauchend. Jetzt wichen die Flügel zurück, jetzt das Zentrum, jetzt stürmte es wieder vor, die Schwerter flogen aus einer Hand in die andere, und das wogte hin und her wie eine riesige, sich windende Silberschlange, oder besser wie ein aufgeregtes Meer ohne Schaumbildung im Sonnenglanze, dass die Augen es kaum ertragen konnten.

»Habt ihr denn Feinde, dass sich die Krieger so üben müssen?«

»Nein, es ist nur ein Waffenspiel, an welchem die Göttin Sanja Wohlgefallen hat und das ihr nächstens vorgeführt werden wird«, war die Antwort, der ich jetzt wohl glauben musste. »Wie viele Krieger habt ihr denn in England?«

»Vielleicht 300 000.«

»Nur 300 000? Mehr nicht?«, fragte mein junger Führer verwundert.

»Das heißt: im Frieden. Im Kriege könnte England wohl drei Millionen Krieger aufbringen.«

Diese stattliche Zahl schien ihm aber durchaus nicht zu imponieren. Ich wusste ja eben noch nichts von Sam Drake.

»Und wie viele Krieger, die ihr wohl Soldaten nennt, kann Deutschland stellen?«

»Deutschland hat im Frieden wohl immer 500 000 Krieger ständig unter Waffen, im Kriege soll es etwa fünf Millionen waffengeübte Männer ins Feld führen können.«

»Und Frankreich?«

»Von dem mögen fast die gleichen Zahlen gelten.«

»Und Russland?«

»Das soll eine noch größere Landmacht besitzen.«

»So wäre England am schwächsten?«

»Zu Lande — vielleicht — aber wir sind die größte Seemacht.«

»Seemacht — ja, ich weiß«, erklang es wiederum sehr nachdenklich.

Die vielen prachtvollen Gebäude, zwischen denen wir hindurchschritten, Versammlungsorte, Bibliotheken mit Handschriften, Bäder usw., alle in tempelartigem Stile gehalten, beschäftigten meine Phantasie, dazu immer vor mir die wahrhaft in allen Farben des Regenbogens schillernde Riesenpyramide. Ich sah die Wohnungen der Krieger, spielende Kinder, ein heiteres Familienleben. Schwere Nihilittüren öffneten und schlossen sich hinter uns, von unsichtbarer Hand bewegt. Ich befand mich immer zwischen zwei Ringmauern, die etwa acht Meter voneinander abstanden, dazwischen größere und kleinere Häuser, die Wohnungen der Priester und ihre wissenschaftlichen Anstalten. Ich wurde zum Betreten solch eines kleineren Hauses genötigt, und ich befand mich in einem Raum, in dem das zunächst Bemerkenswerteste für mich ein Tisch mit dampfenden Schüsseln war — natürlich für uns bestimmt, denn der hungrige Magen denkt stets so egoistisch.

»Setze dich und speise, du wirst hungrig sein. Ich komme bald wieder. Auch deine Gefährten sind gut versorgt.«

Jetzt erst bemerkte ich, dass ich von diesen getrennt worden war.

Holz gab es hier nicht viel. Tisch, Stühle, Bänke — alles von Stein, selbst die Schränke, die Wände voller Winkel und Nischen. Man wurde sehr an das ausgegrabene Pompeji erinnert, nur dass hier die Mosaiken fehlten. Dafür aber war sogar jedes Tischbein mit künstlerischen Skulpturen bedeckt, von größeren und kleineren Statuen, auf Simsen und überall stehend, wimmelte es.

Glas war den Wuloden unbekannt. Scheiben vor den Fenstern hatten sie in dieser Zone auch nicht nötig. Das einzige Fenster in diesem Raume ging keilförmig durch eine ungeheuer dicke Wand, wie man es etwa in Festungen sieht, außen ganz eng, sodass man nicht einmal den Kopf durchstecken konnte, und durch die große Verbreiterung nach innen, welche schließlich mit den Seitenwänden verlief, dennoch das ganze Zimmer hell erleuchtend.

Ich setzte mich also auf einen der unverrückbaren Steinsessel und langte zu. Es war ein für wulodische Begriffe opulentes Mahl — außer Mehlsuppe und verschiedenen Hülsenfrüchten noch gekochtes Gemüse und rohes Kraut, und dann vor allen Dingen die herrlichsten Früchte und Nüsse. Fleisch gab es hier nicht.

Bald kam mein junger Oberpriester wieder. Wenn man seines Todes im neunundvierzigsten Lebensjahre gewiss ist, so muss man mit der Zeit geizen. Er setzte sich zu mir, ich solle mich durchaus nicht stören lassen, aber ich möchte ihm während des Essens doch alles von der Nihilitexpedition erzählen.

So sprach er. Was für eine mächtige Akustik dieses Zimmer hatte! Kein Echo, aber auch das leiseste Wort, selbst ein geflüstertes, erklang laut und rein. Es war wirklich ganz auffallend.

Ich erzählte die ganze Geschichte noch einmal. Am meisten interessierte sich Aleddin, der manchmal gar kluge Zwischenfragen stellte, für unseren von Adelaide bis nach der MacDonall-Station zurückgelegten Weg, für die Stadt Adelaide selbst, und als ich zufällig den Namen Sydney aussprach, auch für diese Stadt, von der er aber schon gehört haben musste. Weiter erforschte er meine persönliche Ansicht über die Strecke von jener letzten Station bis hierher. Hin und wieder hatte ich ja Schwierigkeit, mich ihm verständlich zu machen. So wusste er nicht, was ein Kamel sei. Aber bei seiner schnellen Auffassungsgabe war ihm das bald erklärt.

»Also du meinst, dass Wulodschistan für die anderen Menschen unerreichbar ist?«

»Nicht durch ein Kamel, und wäre es das schnellste Hedjin der Wüste, noch weniger auf einem Pferde, darüber habe ich dir schon meine Ansicht gesagt. Und an den Bau einer Eisenbahn, wovon du vorhin sprachst, ist gar nicht zu denken. Dass wir das Land, in welchem das Nihilit erzeugt wird, erreicht haben, ist nur ein Zufall. Ohne das Zusammentreffen mit den Kriegern, die uns mitnahmen, hätten wir hunderttausend Menschen suchen lassen können, alle hunderttausend wären in der schrecklichen Steinwüste verendet.«

»Und auf dem Zweirad, wie du die fahrende Maschine nennst?«

»Ich will es dir sagen, Aleddin: Ich bin ein Sportsman, ich meine: ein eifriger Liebhaber des Radfahrens, und ein solcher schneidet zu Ehren seines Sportes gern auf — aber die Versicherung gebe ich dir; ich will, wenn ich die Richtung ganz genau wüsste, auf diesem prachtvollen Terrain von hier bis nach der MacDonall-Station in drei Tagen fliegen, den Wasservorrat und den geringen Proviant für diese Zeit mitnehmend, meinetwegen auch noch Gewehr und Patronen, und ich will am vierten Tage wieder frisch auf den Beinen sein.«

Ich bemerke hierzu, dass ich schon stark mit einer Absicht umging.

»Kann das jeder Engländer, jeder Franzose und jeder Deutsche?«

Es war ein weltabgeschlossener Wulode, der eine so naive Frage stellte und sich so naiv ausdrückte. Aber ein naives Naturkind war das sonst durchaus nicht!

»Nicht jeder Mensch kann Rad fahren«, belehrte ich ihn, »das muss erst gelernt werden, auch die Ausdauer, die Energie muss man sich durch Übung aneignen, um solche Leistungen zu vollbringen. Ich glaube, solche Krieger, wie ich sie kennen gelernt habe, könnten noch etwas ganz anderes leisten, trotz ihrer Körperschwere, sie sind ja auch ausdauernde Schnellläufer.«

»Und du könntest solche Räder hier fertigen?«, kam da Aleddin meiner Absicht schon entgegen.

Ohne Zögern bejahte ich, obgleich mir sofort der Pneumatikreifen wie ein Popanz vor den Augen erschien.

Na, dann wickelte man eben etwas anderes um die Felgen, der Mensch muss sich nur zu helfen wissen.

»Was ist das?«, fuhr Aleddin fort, mir ohne Vermittlung ein Büchschen hinhaltend, das er schon immer in der Hand gehabt hatte.

Ich sah ein gelbes Pulver, prüfte es mit den Fingern.

Aha, die Pulverfabrikation!

»Das ist Schwefel.«

»Mehrere heiße Quellen setzen es ab. Folge mir!«

Mehr wurde darüber nicht gesprochen. Es war überhaupt merkwürdig, wie genau Malek, der uns als Führer durch die Wüste geleitet, jedes meiner Worte aufgefangen und behalten und den Priestern rapportiert hatte. Ich hatte gesagt, ich brauche nur Schwefel und Holz, um Pulver fabrizieren zu können, die Holzkohle und den Salpeter könne ich mir selbst herstellen, das hier war Schwefel — und nun war es gut. Unser jetziger Gang hatte einen ganz anderen Zweck als weiter über die Pulverfabrikation zu sprechen.

Ich war meinem Führer durch ein Tor in einen anderen Ringhof gefolgt. Die Häuser lehnten stets nur an der einen Mauer, die andere Seite war in einer Breite von drei Metern freigehalten, der Steinboden wie asphaltiert, von beiden Seiten nach der Mitte zu abgeschrägt, hier eine Rinne bildend, alles, um jeden Tropfen des kostbaren Regenwassers aufzufangen, dieses hier vielleicht zum Bewässern der Gärten und Bäume.

Einige Priester und Oberpriester erwarteten uns, Ich sah unsere Räder und Schusswaffen an der Wand lehnen und musste eine öffentliche Vorstellung geben. Zunächst Schießproben auf Nihilitpanzer und hemden. Auf die verschiedensten Entfernungen hin, so weit der runde Ring das gestattete, ging die Kugel durch zwei, drei und auch vier Nihilitplatten, blieb aber einmal auch schon in der zweiten stecken.

Ich sah, wie besorgt die Priester miteinander sprachen. Die dünnen Patronen gingen von Hand zu Hand. Der Revolver mit großer Kugel hatte eine viel schwächere Wirkung, die zweite Schicht durchdrang sie niemals.

Gleich darauf aber sollte ich ein wenn nicht besorgtes, so doch sehr erstauntes Gesicht machen.

Eine runde Scheibe wurde gebracht, wie ein großer Teller aussehend, nach innen eingedrückt, und an die Wand gelehnt, sie sollte mir als Zielobjekt dienen.

Ich feuerte in einer Entfernung von zehn, von zwanzig, dann wieder nur von fünf Metern darauf — keine Spur eines Eindruckes, und hätte ich nicht einmal das Abprallen der Spitzkugel deutlich bemerkt, ich würde geglaubt haben, ich hätte keine in der Patrone gehabt. Und dabei konnte die Spitzkugel nicht einmal in dem Hohlraum abgleiten!

Was für ein wunderbares Metall war das, welches der Spitzkugel aus einem Winchestergewehr, aus solcher Nähe abgefeuert, trotzte, dass die Kugel nicht einmal den geringsten Eindruck hervorbrachte?!

Nun, es war eben Nihilit. Aber die Scheibe, die sehr schwer war, bestand nicht aus Holz mit nur einem Nihilitüberzug, dessen Dicke noch nicht einmal einen Millimeter betrug, sondern der Kern war Eisen, oder vielleicht war es auch reines Nihilit.

Jetzt schienen die Priester sehr zufrieden zu sein, und das war ihnen nicht zu verdenken. Die konnten sich Panzer machen, gegen welche unsere besten Gewehre ganz machtlos waren.

Dann musste ich ein Rad besteigen, sollte so schnell wie möglich im Kreise herumfahren.

Der Ringhof war zur Rennbahn wie geschaffen, ich jagte zweimal im Kreise herum, bis mir ein Zeichen gegeben wurde, wieder abzusteigen.

Zu den Priestern hatte sich ein hochgewachsener Jüngling gesellt, nackt bis auf den Schurz, eine herrliche Achillesgestalt. Er sollte mit dem Radfahrer um die Wette laufen.

Wir legten gleichzeitig los. Ich kann nur sagen, dass Achilles den Hektor wohl eher bekommen hätte, als er ihn um die Mauern Trojas jagte, wenn er dieses Jünglings Beine und Lunge gehabt hätte. Er raste wie ein Rennpferd, ich sah es, als wir anfingen. Einige Sekunden später sah ich ihn freilich nicht mehr — bis ich ihn beim dritten Passieren der Anfangsstelle überrundete.


Illustration

Die Priester hatten Mühe, ihr Staunen zu unterdrücken.

»Es ist gut«, sagte jetzt mein junger Oberpriester zu mir. »Du wirst bald vor den Sannyasi kommen. Er wird entscheiden, ob du zum Leben brauchbar bist oder ob du sterben sollst. Folge mir!«

Nanu! So etwas schmettert nieder! Erst rede ich eine Stunde, produziere mich als Kunstschule, tue als Rennfahrer mein Bestes, um mir das Vertrauen der Wuloden zu erwerben, weil ich große Absichten mit ihnen habe, sie mit allem Möglichen beglücken will — und jetzt weiß ich noch nicht einmal, ob ich überhaupt weiterleben darf!

Unvermutet traf ich in einem Steinzimmer mit meinen beiden Gefährten wieder zusammen, wir waren allein, die Nihilittür war geschlossen worden.

»Sprechen wir Französisch«, begann Leonard sofort in dieser Sprache, in welcher ich notdürftig Rede und Antwort stehen kann, »das verstehen sie wenigstens noch nicht, und das hier ist auch so ein Horchkabinett, wir werden von allen Seiten belauscht...«

Er stampfte mit dem Fuße auf.

»Hohl, hohl, hier ist alles hohl... ich habe die ganze Geschichte von unserer Expedition noch einmal erzählen müssen.«

»Ich auch.«

»Bin gefragt worden, wie viele Soldaten England, Deutschland, Frankreich und so weiter ins Feld stellen können.«

»Ich auch. Was haben Sie gesagt?«

»Fünf Millionen.«

»Ich zufällig auch.«

»Ob Wulodschistan erreichbar sei.«

»Bin auch ich gefragt worden.«

»Durch Radfahrer.«

»Habe auch ich gesagt.«

»Mir wurde Schwefel gezeigt.«

»Mir auch.«

Und so ging es noch eine gute Weile zwischen Leonard und mir weiter. Es stellte sich schließlich heraus, dass wir alle einzeln, also auch Ned für sich, ganz genau demselben Verhör unterworfen worden waren, und wir hatten alle so ziemlich das Gleiche berichtet — bis vielleicht auf Ned, der nicht einmal weiß, dass Frankreich in Europa liegt.

»Diese verdammten Priester sind die reinen Pharisäer«, schimpfte Leonard. »Wenn der eine mitten im Satz abbricht, fährt der andere gerade an dieser Stelle fort. Ich will mich hängen lassen, wenn nicht einer dieser Kerls gleichzeitig drei Hörrohre am Ohre hatte, um unsere Angaben und Antworten zu kontrollieren. Ein Glück nur, dass ich ausnahmsweise immer die Wahrheit nach bestem Gewissen ausgesagt habe. Ich hätte es nicht getan, wenn ich nicht einen bestimmten Zweck dabei verfolgte.«

»Ich auch. Aber mir wurde noch gesagt, dass der Sannyasi erst entscheiden würde, ob wir am Leben bleiben dürfen oder ob wir des Lebens unwürdig sind.«

»Wurde mir ebenfalls gesagt. Ist nur eine Zeremonie. Die Kerls brauchen uns. Sie wollen Pulver und Gewehre und Räder haben, das ist doch ganz klar. Deshalb nur immer dreist, wir dürfen uns nicht ducken lassen. Was für einen besonderen Zweck haben Sie im Auge, Monsieur Schwarz?«

»Ihnen eben diese Gewehre und Fahrräder zu liefern. Eine Robinsoninsel war immer mein Ideal, nur hätte ich mich ganz anders entwickelt, mehr technisch, als Ingenieur, und hier habe ich gleich meine Handlanger. Mit der Herstellung eines Hammers fange ich an, mit dem schmiede ich mir einen Meißel, mit dem haue ich mir die erste Feile, mit dieser runde ich mir das erste Rad...«

»... mit dem Sie gerädert werden, wenn man von Ihnen hat, was man von Ihnen verlangen konnte.«

»O nein, so schnell werde ich nicht fertig. Ich werde überhaupt niemals fertig. Ich werde ganz Wulodschistan umkrempeln. Ich werde aus diesem Tal ein Maschinenreich machen. Man muss mich nur gewähren lassen. Ich bin nämlich ein Genie im Erfinden. Vorausgesetzt, dass mir meine Erfindungen nicht schon vorher wegerfunden werden, und das habe ich hier nicht zu befürchten. Ich werde ganz Wulodschistan mit Glasfenstern und Spiegelscheiben ausstatten. Das wäre allerdings nicht gerade eine neue Erfindung. Aber ich werde zuletzt auch eine Maschine erfinden, wo man auf der einen Seite einen billigen Regenwurm hineinsteckt, und von der anderen Seite fliegt einem eine gebratene Taube direkt in den Mund, schon gekaut...«

»... und verdaut. Na, nun hören Sie bald auf mit Ihren Phantasien. Und wissen Sie, was ich vorhabe?«

»Offenbaren Sie es mir.«

Leonard begann in mein Ohr zu flüstern.

»Und ich suche mir meine Leute — ich zettele eine Verschwörung an — ich stürze diese faule Priesterwirtschaft — ich werfe mich zum Tyrannen von Wulodschistan auf — ich bin der Mann dazu — — und dann stecke ich Sie als ersten Regenwurm in Ihre Maschine.«

Man sieht, wir beiden Gefangenen, denen vielleicht in den nächsten Minuten der Tod bevorstand, waren bei recht guter Laune. Daran war Leonard schuld, man konnte seinem trockenen Humor nicht widerstehen, er wirkte ansteckend.

Das hatte ich nun schon herausbekommen, dass dieser junge Franzose, der sein ungeheueres Vermögen wie ein Wahnsinniger vergeudet hatte, wirklich blasiert war, im gewöhnlichen Umgange ein langweiliger Mensch, der stundenlang vor sich hinbrüten konnte, aber sobald ihm ein Hindernis in den Weg trat, eine Gefahr, die es zu besiegen galt, dann lebten seine abgestumpften Nerven wieder auf, dann wurde er ausgelassen. Die Gefahr war ihm ein unentbehrlicher Nervenreiz, um am Leben noch Freude empfinden zu können, und er suchte die Gefahr in jeder Gestalt auf, wie der Schlaflose das Morphium braucht, wenn er einmal daran gewöhnt ist.

»Also, Ned«, fuhr Leonard zu diesem auf Englisch fort, und jetzt dämpfte er nicht einmal seine Stimme, denn bei dieser wunderbaren Akustik hatte das doch keinen Zweck, »wir sind entschlossen, uns hier emporzuarbeiten — immer höher — bis wir dort oben auf der Spitze der Pyramide sitzen — dass du uns nichts verdirbst! Immer liebenswürdig und frech, damit kommt man allüberall in der Welt am weitesten, also auch in Wulodschistan — und wenn du als Scharfrichter angestellt wirst, so säbelst du einfach jedem den Kopf ab, ohne ihn vorher oder hinterher zu fragen, was er verbrochen hat und ob es ihm angenehm ist. Verstanden?«

Aleddin trat wieder ein.

»Der Tempel der Gerechtigkeit wird erst geweiht. Ihr braucht keine weiteren Instruktionen, wie ihr euch in Gegenwart des Stellvertreters der Gottheit zu verhalten habt. Wenn der Sannyasi erscheint...«

»Erscheint?«, fiel Leonard sofort ein, während mir dieses kleine Wort gar nicht aufgefallen war.

»Der Sannyasi kann in einem Moment sein, wo er will, er kann gleichzeitig überall sichtbar sein, denn er hat bereits die höchste Stufe der menschlichen Vollkommenheit erreicht.«

»Ah so! Dann wundert mich nur, warum er sich nicht einmal nach Adelaide, nach Deutschland, England und Frankreich versetzt und nicht selbst Erkundigungen über alles das, was er gern wissen... na, Mr. Schwarz, was puffen Sie mich denn in den Rücken, was habe ich Ihnen denn getan?«

Der junge Oberpriester war die Selbstbeherrschung in Person. Auch nicht diese Verspottung seiner Religion, vielleicht seines Heiligsten, konnte ihn rühren, aber gerade diese unnatürliche Ruhe machte mich besorgt um meinen Freund. Mit diesem Leonard war freilich auch gar nichts anzufangen, der redete, wie ihm der Schnabel gewachsen war... wenn es ihm beliebte!

»Sanja ist nur die Schutzgöttin für Wulodschistan«, erklärte Aleddin also mit unerschütterlichem Gleichmut. »Daher erstreckt sich die Allmacht ihres Hohenpriesters auch nur auf dieses Land.«

»Ah, ich bitte um Verzeihung!«

»Wenn der Sannyasi also erscheint und sich alle Anderen zu Boden werfen, bleibt ihr einfach stehen, denn ihr seid noch nicht gerichtet...«

»Eigentlich müsste es aber gerade umgekehrt sein«, ließ sich dieser vorlaute Franzose nicht zur Ruhe bringen. »Gerade die der Schuld Verdächtigen sollten sich um Gnade wimmernd in den Staub werfen, die Gerechten sollten stehen bleiben. Das ist logischer, so würde ich das hier einführen.«

»Nein, der noch nicht als brauchbar Befundene ist nicht wert, den Stellvertreter Gottes zu verehren. Wenn ihr kasi seid, dem Leben geschenkt, so geht ihr wie alle dann an ihm vorüber und küsst ihm die Hand.«

»Schön, wird gemacht! Wenn wir aber nun nicht kasi sind?«

»Dann seid ihr makasi und werdet noch in derselben Stunde als unnütze Esser getötet.«

»Das wäre nun weniger schön. Doch ich habe keine Angst, ich bin ein sehr nützlicher Mensch, ich habe in noch nicht ganz einem Jahre vom Geiz zusammengescharrte zehn Millionen Francs unter die Leute gebracht. —

Wo und wie werden wir denn hier wohnen und leben? Wir werden doch nicht etwa als zusammengeschmiedete Galeerensträflinge arbeiten müssen? In diesem Falle schneiden wir uns alle nämlich lieber gleich selber den Hals durch, das ist bei uns Europäern so Mode.«

Es war doch ein schlauer Fuchs, dieser Leonard — Renard hätte er heißen sollen — und wahrhaftig, der junge Oberpriester, der natürlich schon von einem noch Höheren seine Instruktion bekommen hatte, reagierte denn auch sofort darauf, ja, ich glaubte sogar, in seinen Zügen augenblicklich einen kleinen Schreck zu erkennen.

»Seid ohne Sorge, ihr werdet für kasi erklärt«, beeilte er sich zu sagen. »Der Richtspruch ist nur eine Zeremonie. Dann kann jeder seine Wohnung wählen, wo er will, nur nicht innerhalb der heiligen Tempelmauern. Ihr seid keine Gefangenen, könnt frei umhergehen. Durch jede Tür, welche ihr öffnen könnt, dürft ihr eintreten, ihr werdet als Gäste behandelt, wenn ihr nur das tut, was wir von euch verlangen.«

Des Franzosen scharfsinnige Frechheit hatte wahrhaftig dieses Muster von einem Priester besiegt! Dieser hatte ja selbst zugeben müssen, dass, wie Leonard kurz vorher schon zu uns gesagt hatte, die ganze Sache nur eine Zeremonie sei!

»So dürfen wir auch einen gemeinschaftlichen Hausstand führen?«, fragte ich schnell. »Ich habe eine in den Felsen gehauene Wohnung gesehen, welche leer zu stehen scheint.«

»Warum nicht? Hier ist alles erlaubt, wodurch nicht ein anderer geschädigt wird. Es gibt auch leere Kriegerhäuser, ihr braucht nicht unter den Sklaven zu wohnen. Wollt ihr solche zur Bedienung haben, so werdet ihr sie bekommen. Wollt ihr allein sein — ihr könnt es. Ihr werdet doch bald eine Frau nehmen... «

»Was?!«

»Jeder Mann in Wulodschistan muss verheiratet sein, das ist ein heiliges Gesetz, dem nur die Oberpriester nicht unterliegen, welche nicht heiraten dürfen. — Wartet. bis ich wiederkomme.«

Er entfernte sich schnell. Hatte er nicht ein recht trauriges oder sogar schmerzliches Gesicht gemacht, als er das letzte sagte?

Doch ich achtete nicht weiter darauf, ich hatte genug mit unserem eigenen Schicksal zu tun, und ehe ich auf den Punkt des allgemeinen Heiratens zurückkam, der mich wie noch ein anderer sehr peinlich berührt hatte, ergriff schon wieder Leonard auf Französisch das Wort.

»Durch jede Tür, die wir öffnen können, dürfen wir gehen«, sagte er gedehnt. »Haben Sie's gehört? Das wollen wir uns zur Notiz nehmen. Ned, das gilt besonders für dich, du kannst doch jedes dreifache Sicherheitsschloss öffnen. Ich habe die Geldschränke immer von außen angebohrt.«

Diese leichtsinnigen Worte brachten mich wieder auf einen anderen Gedanken.

»Monsieur Leonard, um Gottes willen, lassen Sie doch Ihren Spott!«, warnte ich bittend. »Sie sehen ja, man will uns in jeder Weise entgegenkommen. Wir werden uns das Vertrauen dieser Wuloden erwerben, wir können unsere Augen offen halten — aber wenn Sie ständig bemüht sind, alles zu verhöhnen, was jenen vielleicht das Heiligste ist — dann allerdings werden wir wohl schnellstens beseitigt, sobald sie von uns alles haben, was wir ihnen bieten können. Und überdies — ganz offen gesagt — Ihretwegen habe ich ganz besondere Sorge. Bei mir und Ned spekulieren die Wuloden auf die zauberhaften Gewehre und Fahrräder, aber was Sie viel Nützliches lehren können, das weiß ich wirklich nicht, und wenn man Ihnen erst auf den Zahn gefühlt hat, dürfte man Sie bald makasi finden. Fort mit ihm! Glauben Sie doch um Gottes willen nicht, dass Sie hier mit Ihrer Geldverschwendung imponieren können. Das war ein krasser Witz. Ich bitte um Verzeihung wegen meiner Offenheit, aber ich meine es nur gut mit Ihnen, ganz abgesehen davon, dass Ihr Verderben auch das meine und Neds sein könnte.«

Der leichtsinnige, mit seinem Leben immer spielende Franzose drehte sich in aller Gemütsruhe eine Zigarette.

»Ich bin Ihnen für Ihre Offenheit sehr dankbar«, entgegnete er, »bitte Sie aber, um mich gar keine Sorge zu tragen. Zunächst möchte ich die Frage stellen: Wie denken Sie über den Handkuss, den wir dem Stellvertreter der raubtierähnlichen Gottheit zollen müssen?«

Ja, das war der wunde Punkt, bei dem mich dieser weitsichtige Franzose richtig gleich gefasst hatte.

Ich habe über Religion und Glauben meine eigenen Ansichten, und ich meine, sie sind gesund.

Wenn jemand seine Religion aus Überzeugung wechselt, so ist das gerechtfertigt, dann muss er es sogar tun. Wenn jemand zu einem anderen Glauben übertritt, um ein hohes Ziel zu erreichen, ein ideales, nicht nur zu seinem pekuniären Vorteil — ein Winckelmann, ein Emin Pascha — dagegen sage ich auch nichts, das mag jeder mit sich selbst abmachen. Aber wenn jemand aus Furcht vor dem Tode den alten Glauben seiner Väter verleugnet und den ersten besten Götzen anbetet — das ist eine erbärmliche Feigheit! Ich, ich bin bereit, für meine Religion, in der ich erzogen worden bin, als Märtyrer zu sterben — selbst wenn ich gar nicht daran glaubte, wenn ich auch der größte Freigeist wäre. In solchen Sachen wird der Nacken nicht gebeugt! Die Religion, in der ich erzogen worden bin, ist mir deshalb heilig, weil sie meinen Vätern heilig war, weil diese für ihren damaligen Glauben gekämpft und gelitten haben. So ist diese Religion ebenfalls ein Erbteil, für das ich bis zum letzten Blutstropfen kämpfen will! Und dasselbe gilt mir auch in Bezug auf die Ehe. Das Weib kann aus Liebe zum Manne den Glauben wechseln, sich allen Bedingungen unterwerfen, dazu ist das Weib berechtigt, das steht auch ganz deutlich an vielen Stellen der Bibel — aber nie der Mann!

So ungefähr hatte ich gesprochen.

»Sehen Sie«, nahm da Leonard wieder das Wort, »gerade Sie sind es, der uns den Knüppel zwischen die Beine werfen wird. Denn das lassen Sie sich gesagt sein: Wenn Sie dem Sannyasi den Handkuss verweigern, in Gegenwart des gläubigen Volkes, dann wird Sie ganz sicher ein tödlicher Blitzstrahl treffen, buchstäblich gemeint, auf solche Gaukeleien werden sich diese Priester wohl verstehen, das habe ich nun schon heraus — und Ihr Verderben wird dann ganz sicher auch das unsrige sein. Denn ehe die sich die Grundfesten ihrer tausendjährigen Religion erschüttern lassen, verzichten sie lieber auf die Knallbüchsen und auf die Räder und auf den ganzen Mumpitz. Monsieur Schwarz, machen Sie keine Dummheiten! Was wollen Sie überhaupt? Alexander der Große hat auch den Göttern aller von ihm besiegten Völker geopfert, ohne sie anzunehmen, ohne es nötig zu haben. Das war eben ein Gentleman. Sie sollen den Sannyasi nicht anbeten — das würde wahrscheinlich auch ich nicht tun, da habe auch ich meinen Stolz, sogar meine Religion — aber Verehrung müssen Sie der Gottheit des Landes, in dem Sie sich aufhalten, überhaupt als anständiger Mensch zollen, sonst geschieht Ihnen ganz recht, wenn Sie gelyncht werden. Sie sind Protestant? Wenn Sie in einem katholischen Lande sind, der Priester mit der Monstranz geht vorüber, alles Volk schlägt Kreuze und zieht den Hut, dann ist es nur Ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit, ebenfalls vor der Monstranz den Hut zu ziehen, sonst... sind Sie ein Flegel, und es geschähe Ihnen ganz recht, wenn Sie verprügelt würden. — Da sehen Sie, wie Sie mich ganz und gar verkennen. Nein, Monsieur Schwarz, ich gehe meinen Weg weiter. Ich werde immer offen zeigen, dass ich an den ganzen Humbug nicht glaube, ohne jedoch mit roher Hand den Schleier herabzureißen, ich lasse mich eben von den Gaukeleien eines Taschenspielers unterhalten, dem man wohl auf die Finger sieht, aber doch nicht gleich in den Ärmel greift — und ich glaube, dass ich da weiter komme als Sie. — Im Übrigen, Monsieur Schwarz, ich bin vielleicht nicht so unbrauchbar, wie Sie meinen, ich habe bereits erkannt, worauf man bei mir spekuliert, mein Führer hat an mich noch ganz besondere Fragen gestellt. Und außerdem, Monsieur Schwarz, werde ich mit Ihnen jedenfalls keinen gemeinschaftlichen Hausstand führen, ich eigne mich nicht fürs Häusliche, ich werde mich überhaupt sehr reservieren — — als Ihr treuer Freund, auf den Sie sich in Not und Tod verlassen können.«

Es lag, als er dies zuletzt sagte, eine Herzlichkeit in seiner Stimme, wie ich sie bei diesem Manne noch nie vernommen hatte, wie ich sie ihm gar nicht zugetraut hätte. Er hielt mir dabei seine Hand hin, und ich schüttelte sie kräftig.

Doch es war jetzt keine Zeit zu Freundschaftsbeteuerungen, wir mussten die Gelegenheit, einmal unter uns zu sein, ausnutzen.

»Und wie denken Sie über die Heiratsfrage, die hier eine heilige Pflicht sein soll?«, fragte ich.

Leonard machte sofort ein ganz eigentümliches Gesicht, zog die Augenbrauen hoch, sah sich um und hob warnend die Finger.

»Mir ist etwas Seltsames aufgefallen«, flüsterte er in leisestem Tone. »Als ich zufällig sagte, dass wir uns nicht zwingen lassen, dass wir uns lieber den Hals durchschnitten, das sei bei uns so Sitte...«

»Da machte der Priester ein so besorgtes Gesicht, es drückte offenbare Angst aus«, stimmte ich verständnisvoll bei.

»Haben Sie es auch bemerkt? Ja, da lenkte der junge Mann sofort ein, da getraute er sich nicht mehr, uns mit dem Richterspruch des Sannyasi bange zu machen, da sagte er mit einem Male, es sei doch ganz selbstverständlich, dass wir für nützliche Menschen erklärt werden würden und deshalb am Leben bleiben dürften. Hört meine Meinung; diese Wuloden, wie sie sich nennen, müssen schon einmal mit Europäern in Berührung gekommen sein, aber die Bekanntschaft war eine sehr mangelhafte, viel gelernt können sie von jenen nicht haben. Sie wissen etwas von Schießpulver, können es aber nicht fabrizieren, obgleich sie alle Substanzen dazu besitzen. Das lässt tief blicken. Sie kennen auch die Sitten von uns Europäern noch nicht. Bleiben wir also dabei: Wenn uns etwas nicht passt, begehen wir Selbstmord, machen Harakiri, nur dass wir uns nicht den Bauch auf, sondern den Hals durchschneiden, das ist bei uns heiliger Brauch, zwingen lassen wir uns nicht. Verstanden, Ned?«

Ned schien zwar ganz und gar nicht mit der Halsdurchschneiderei einverstanden zu sein, aber er würde die Anweisung befolgen, das wusste ich. Es handelte sich doch nur um eine Drohung, und mir hatte Leonard aus der Seele gesprochen, ich selbst hätte denselben Vorschlag gemacht.

Ehe wir uns weiter unterhalten konnten, kam Aleddin wieder, um uns zu holen. Wir passierten Straßen und lange, stockfinstere Gänge, in denen wir an der Hand geleitet wurden, bis wir uns in dem Raum befanden, in dem wir den Sannyasi sehen sollten. Eine Zeremonie hatte vorher nicht mehr stattgefunden, auch die Augen waren uns nicht wieder verbunden worden, und ich konnte mich später doch nicht im Geringsten orientieren, wo ich mich befunden hatte.

Ich hatte nur das Gefühl, dass ich in einer geräumigen Halle stand. In mehreren Vasen oder Urnen, auf Postamenten, brannten weiße Feuer, vielleicht Naphta — die Flammen waren sehr groß, strahlten aber doch so wenig Licht aus, dass in einem Umkreis von nur einem Meter sich alles schon wieder in völliger Finsternis verlor. So konnte ich weder Wände noch Decke sehen, nur einige steinerne Tigergestalten mit Menschenköpfen in Lebensgröße, wie man solche Statuen der Schutzgöttin hier ja überall erblickte, und dann in der Mitte der zusammenfallenden Lichtstrahlen einige Oberpriester, durch den Nihilitschmuck am Oberarm erkenntlich, andere Priester, ein Dutzend Krieger, darunter auch unsere vier Begleiter durch die Steinwüste und einige wenige Arbeiter. Im Ganzen zählte ich sechsundzwanzig Mann, wozu wir drei und unser Führer kamen.

Das flackernde Licht machte die Marmortiger lebendig, es gab den Menschengesichtern ein leichenähnliches Aussehen — und mich überschlich jene Stimmung, die ich immer als Kind gehabt hatte, wenn ich in einem halbdunklen Zaubertheater saß und das Erscheinen der Geister auf der Bühne erwartete, hier nur mit dem Bewusstsein, mich in dem Heiligtum des Hohenpriesters einer altindischen Religionssekte zu befinden.

»Auch hier ist alles hohl«, murmelte Leonard neben mir, mit der Fußspitze auf den Boden tippend.

Ein Donnerschlag ließ mich zusammenschrecken, und plötzlich... ja, es lässt sich schwer schildern, was ich sah, weil ich im Augenblick vor einem Wunder stand, und die nüchterne Erklärung im Voraus würde allen Reiz nehmen.

Rotglühende Säulen mit prachtvollen Skulpturen, rotglühende Deckenbalken, rotglühende Tigerleiber mit schönen Frauenköpfen, und dies alles, so weit das Auge reichte, seitwärts und nach oben, die Unendlichkeit des Raumes, erfüllt mit jenen rotglühenden Bildhauerarbeiten, zu Millionen und Abermillionen!

»Die haben's in der Illusionstechnik schon weit gebracht«, flüsterte Leonard.

Ja freilich, lange währte mein staunender Schreck nicht. Ich hatte dergleichen schon wiederholt gesehen, auf Jahrmärkten und an anderen Vergnügungsorten. Man betritt eine kleine Bude und sieht alles in zahllosen Wiederholungen. Durch elektrische Lampen können die prachtvollsten Lichteffekte hervorgebracht werden. Das bunte Lichterspiel fehlte hier zwar, aber infolge der großartigen Erhabenheit der Bildhauerarbeiten wirkte es nur desto mehr. Hier hatten nicht nur Techniker, sondern Künstler gearbeitet, hier standen der Menge und Schönheit nach noch ganz andere Hilfsmittel zur Verfügung als so einem kleinen Schaubudenbesitzer.

Und als ich mir der Illusion bewusst ward, wurde mein Staunen höchstens noch größer. Ich war wieder einmal mit meiner Erfindung zu spät gekommen. Das heißt, mit Fensterscheiben und Wandspiegeln konnte ich die Wuloden nicht mehr beglücken. Das Glas war ihnen schon bekannt, man verwendete es bereits als Spiegel. Aber es war offenbar ein Geheimnis der Priesterkaste, dem Volke wurde es vorenthalten, und da kann man sich denken, was durch so etwas zu erzielen ist. Die Uneingeweihten mussten einfach an Zauberei glauben, sie sahen sich, mitten in dem engbegrenzten Tale, in einem kleinen Gebäude, das sie betraten, plötzlich in die Unendlichkeit des Raumes versetzt. Das war das geistige Reich der Gottheit, die ihnen nahe war. Mochten alle diese Männer auch schon einmal oder sogar mehrmals hier gewesen sein und dieselbe Erscheinung gesehen haben, so unterlagen sie doch noch immer der wunderbaren Wirkung. In starrem Staunen hoben sie die Arme, sehr viele, besonders die Arbeiter, warfen sich auf die Knie und murmelten Gebete, und auch die Priester schienen wie die Krieger von einer gewaltigen Scheu befallen zu sein.

Da aber blickte ich zufällig nach meinem Aleddin und einem anderen Oberpriester. Die beiden beobachteten uns heimlich — — also wenigstens die Oberpriester wussten, wie dieser Hokuspokus gemacht wurde, und zeigten auch sie Scheu oder gar Schreck, so war das eben erkünstelt.

Die Illusion verschwand, ich glaube — an alles kann ich mich nicht mehr erinnern, meine Sinne waren doch gar sehr befangen und sollten in fortwährender Erregung gehalten werden — ich glaube also, die Lampen waren verlöscht. jedenfalls war es für mich nach jener roten Helle stockfinster, als mich ein greller Blitzstrahl blendete, und unter dem nachfolgenden Donnerschlag schwebte plötzlich vor uns frei in der Luft ein großes, weißes Bild, einen alten, bärtigen Mann darstellend, auf einem thronartigen Stuhle sitzend, der aber nicht auf dem Boden stand. Es war überhaupt nur ein Bild, eine sehr weiß ausgeführte Kreidezeichnung, die frei in der Luft schwebte, mit dem unteren Rande etwa einen halben Meter über dem Boden. Dass kein unsichtbares Untergestell vorhanden war, konnte man deutlich erkennen; ebenso wenig aber war etwas von Stricken zu sehen, an denen das Bild gehangen hätte.

Doch ich muss erst noch etwas Anderes erwähnen.

Fast gleichzeitig, als das lebensgroße Bild in der Luft erschien, ziemlich dicht vor uns, mich tatsächlich mit einem großen Schreck erfüllend, nicht allein durch das Rätsel des Freischwebens, durchzog plötzlich ein seltsamer Duft den Raum. Er kam mir so bekannt vor, aber — er passte nicht hierher — es roch so nach — nach... ahnungsvoll wandte ich den Kopf, und richtig — — mein Monsieur Leonard zündete sich gerade an einer der geisterhaften Naphtaflammen eine Zigarette an, in Gegenwart der Gottheit!

Ich habe dies unbedingt zur Charakterisierung dieses Franzosen erwähnen müssen. Ich war wirklich ganz verblüfft, noch immer unter dem Eindruck der ersten Vision, Ned zitterte an allen Gliedern — da erscheint unter Blitz und Donnerschlag die Gottheit, jedenfalls auf eine ganz unbegreifliche Weise, alles wirft sich zu Boden... und dieser Monsieur Leonard zündet sich gemütlich eine Zigarette an!

Doch ich wandte meine Aufmerksamkeit von dem sorglosen Franzosen schnell wieder dem frei in der Luft schwebenden Steinbilde zu. War ich zuerst erschrocken, dann erstaunt gewesen, so schwanden diese Empfindungen sofort, als ich nach einer Erklärung des Phänomens suchte.

Das steinerne Bild ward einfach gegen eine dunkle Wand projiziert, und wenn ich jetzt noch staunte, so war es nur darüber, dass die Wuloden oder doch deren Priester auch schon eine Laterna magica kannten und besaßen, was doch einen hohen Grad von Technik und physikalischen Kenntnissen voraussetzte, wovon allerdings auch bereits die Reflexspiegel und ihre Anordnung gezeugt hatten.

Aber wiederum sollte ich meine Ansicht ändern. Je länger ich nämlich hinschaute, desto plastischer traten bei dem vermeintlichen Bilde, also einer Zeichnung, die Formen des Körpers und des umhüllenden Gewandes und des Stuhles hervor, die Falten des weißen Gewandes warfen ja sogar Schatten, was ich nicht nur für Malerei halten konnte, und so war ich zuletzt nicht mehr im Zweifel, eine wirkliche Figur, eine Bildhauerarbeit vor mir zu haben.


Illustration

Trotzdem irritierte mich das plötzliche Erscheinen und das scheinbar freie Schweben in der Luft jetzt nicht mehr. Nun hatte ich auch hierfür schnell eine Erklärung gefunden.

Wenn man sich in einen schwarzen Samtanzug hüllt, eine solche Maske auch vor dem Gesicht, man stellt sich vor eine Wand, welche ebenfalls mit schwarzem Samt tapeziert ist, so wird bei richtiger Beleuchtung oder vielmehr bei richtiger Lichtanordnung selbst ein nur wenige Meter entfernter Zuschauer absolut nichts sehen, und reißt man nun die Maske vom Gesicht, so erscheint frei in der Luft plötzlich ein sprechender Menschenkopf, wozu auch noch die unbekleideten Hände kommen können, und was man sonst will. Das ist das Geheimnis vieler Illusionen, es kommt zum Gelingen hauptsächlich auf die richtige Beleuchtung an, und darin mochten es ja die solche Gaukeleien studierenden Priester weit gebracht haben, wie hier das Beispiel lehrte.

Aber nicht etwa, dass es ein lebendiger Mensch sein konnte, der auch sein Gesicht so weiß angepinselt hätte. So völlig regungslos kann kein Mensch lange Zeit bleiben, so tot blickt kein menschliches Auge.

Es war ein Steinbild, eine Statue aus schneeweißem Marmor.

Die Arbeiter hatten sich vor dem toten Vertreter der Gottheit platt zu Boden geworfen, die Ritter lagen auf beiden Knien, die Priester beugten nur das eine Knie. Die, über welche gerichtet werden sollten, standen so wie wir — und Leonard rauchte in aller Gemütsruhe seine Zigarette weiter.

Jetzt stellte sich neben das Steinbild ein alter Oberpriester. Er nannte einen Namen. Ein Mann im kurzen Rock trat vor, ein Arbeiter. Er sprach, der Oberpriester sprach, ich verstand nichts von dem Indischen, und dann... öffnete die Steinfigur den Mund und sagte mit tiefer, hohler Stimme: »Kasi!«

Dass die Erscheinung plötzlich sprach, das war mir das Überraschendste von allem. Mir fuhr wirklich ein Schreck durch die Glieder. Denn ich war schon zu sehr überzeugt gewesen, es mit einem Steinbild zu tun zu haben, und das Rätsel ist gar nicht so einfach zu lösen, wie man vielleicht glauben mag.

Musste ich durchaus eine Erklärung haben, so glaubte ich, dass ein Mechanismus den steinernen Mund bewegte, dass jemand bauchredete oder die Worte durch ein Schallrohr gesprochen wurden.

Doch genug von diesen Erwägungen. Für mich war und blieb es vorläufig eine Steinfigur, und ich schildere die sich abspielenden Vorgänge weiter.

Kasi — würdig, nämlich des Lebens. Man sah dem Manne an, wie angenehm es ihm war, das zu hören. Er setzte wie zu einem kleinen Freudensprung an, trat aber nur zurück, wobei ich sein freudestrahlendes Gesicht sah, und legte sich, da er nun als des Lebens würdig den Stellvertreter der Gottheit anbeten durfte, wie die anderen Arbeiter platt auf den Boden.

Es gab aber noch einige andere Arbeiter, welche stehen geblieben waren oder sich doch gleich wieder aufgerichtet hatten, und ein zweiter wurde vorgerufen, um den .Richterspruch zu vernehmen.

Wieder ein kurzes Wechselgespräch zwischen ihm und dem neben dem Steinbild stehenden Oberpriester. Aber ich irrte mich, wenn ich glaubte, es handele sich hier um eine Anklage und eine Verteidigung. Ich hörte, soweit ich mich erinnern konnte, wieder von beiden Seiten dieselben Worte sprechen. Es waren nur zeremonielle Redensarten, die gewechselt wurden. Der Sannyasi brauchte gar keine Anklage zu hören, auch keine Verteidigung, er war ja allwissend, das Urteil war bei ihm schon von vornherein bestimmt. Bei den zu richtenden Kriegern fiel dann diese gesprochene Zeremonie auch fort, die brauchten nicht erst wie die gemeinen Arbeiter durch besondere Sprüche geweiht zu werden, dass sie sich so dem Stellvertreter der Gottheit nahen durften, ohne gleich von einem tötenden Blitzstrahl getroffen zu werden.

Also erst die üblichen Wechselreden zwischen dem Angeklagten und dem Oberpriester, der die Rolle des Staatsanwaltes spielte, und nach einer Pause öffnete sich wieder der steinerne Mund.

»Makasi!«

Ei, des Lebens nicht für würdig befunden zu werden, das machte auf den Arbeiter doch einen gewaltigen Eindruck! Er wollte gleich zusammenbrechen. In Wulodschistan sind eben doch nicht alle so gegen die Schrecken des Todes abgestumpft. Das gilt nur für die Krieger und für die Priester. Die Arbeiter sind da mehr Menschen aus Fleisch und Blut. Nur muss man sich wundern, dass sie sich nichts dabei denken, wenn sie ebenso bei dem größten Vergehen, bei einem Morde, den sie im Zorn begingen, wie beim kleinsten Fehler gleich zum Tode verurteilt werden. Wie ich später erfuhr, hatte dieser hier z. B. nichts weiter verbrochen, als beim Fegen der Straße ein klein wenig Staub aufgewirbelt.

Da war es immer noch verzeihlich, wenn der zum Tode Verurteilte vor Schreck gleich zusammenbrechen wollte. Ehe er jedoch dazu kam, hatte ihn schon ein Priester am Arm gefasst und führte ihn ab, und jetzt folgte der Delinquent mit ziemlicher Ruhe. Auch dieser Arbeiter hatte also dennoch eine ganz außergewöhnliche Selbstbeherrschung. Er hatte eben nur nicht geglaubt, wegen des geringen Vergehens gleich zum Tode verurteilt zu werden, daher der erste Schreck; da es aber nun einmal nicht mehr zu ändern war, war er auch gleich wieder ganz gefasst.

Noch vier andere Arbeiter wurden vorgenommen. Teils kasi, teils makasi. In letzterem Falle wohl manchmal großer Schreck, aber niemals auch nur ein Jammern. Die Verurteilten wurden immer gleich abgeführt, die anderen durften sich zu ihren Kollegen gesellen. Weswegen sich diese hier befanden, da sie gar nicht vernommen wurden, wusste ich nicht. Es waren wohl Tempeldiener, zu Hilfeleistungen bereit.

Ein anderer Name, und ein Krieger trat vor, ein graubärtiger Mann, dabei aber nicht älter als neunundvierzig Jahre, den ich schon längst bewundert hatte, eine germanische Reckengestalt aus dem Nibelungenliede, so ein alter Hildebrand, vollgepanzert und den Tigerhelm auf dem Kopfe, und es konnte hier nicht nur mit stumpfen Waffen geübt werden, denn solche furchtbare Narben an Armen und im Gesicht konnten doch nicht von den Waffen der Niobs herrühren.

Diesmal also kein Wechselgespräch vorher. Hoch aufgerichtet stand der gepanzerte Recke da, stumm und furchtlos das göttliche Steinbild ansehend, und dieses starrte mit seinen kalten Augen über den Kopf des Kriegers hinweg ins Leere.

Da endlich öffnete sich wieder der steinerne Mund, der Allwissende sprach sein schon vorher gefälltes, niemals fehlendes Urteil aus.

»Makasi!«, kam es dumpf und hohl aus dem Steinmund hervor.

Es ging mir durch und durch. Auf den alten Recken aber machte es nicht den geringsten Eindruck. Er legte die rechte Hand auf das Herz, verbeugte sich, wandte sich und verschwand in Begleitung eines Priesters im finsteren Hintergrund — dem Tode entgegen.

»Ghasnawid!«

Das war einer der vier Krieger, die uns durch die Wüste geleitet, und er trat vor.

Wieder dieselbe schweigende Prüfung, bei der nicht einmal die Augen zu Hilfe genommen wurden.

»Kasi!«

Der des Lebens für würdig Befundene verneigte sich dankend und trat zurück. Sonst aber hatte diese Freisprechung gar keinen Eindruck auf ihn gemacht. Er hatte ja auch gewusst, dass sie erfolgen würde. Weshalb sollte er denn verurteilt werden?

Unsere anderen beiden Führer wurden nacheinander vorgerufen, jeder einzelne erhielt von dem steinernen Munde sein ›kasi‹, seine Freisprechung, dass er noch ferner am Leben bleiben dürfe — bis zu seinem neunundvierzigsten Jahre, da er ganz von selbst aus diesem scheiden musste.

»Malek!«

Es war der letzte von unseren vier Kriegern, und zwar der Führer jener Expedition. Dabei war er der jüngste. Aber das Alter hat hier in Wulodschistan ja gar nichts zu sagen, hier entscheidet allein die Tüchtigkeit, und wirklich, er war auch der Tüchtigste, das hatte ich während der sechs Tage ebenfalls bemerken können, und auch sonst hatte der fast noch knabenhafte Krieger, der kaum das achtzehnte Jahr überschritten haben konnte, meine vollste Sympathie erworben.

Wieder die schweigende Prüfung, nur im Geiste vorgenommen.

»Makasi!«

Ich glaubte nicht recht gehört zu haben. Als aber der junge Krieger, nachdem er sich ehrfürchtig mit der Hand auf dem Herzen verneigt hatte, nicht wie die anderen nur zurücktrat, sondern einem ihm winkenden Priester in das finstere Reich der Nacht folgte, da merkte ich, dass ich doch recht gehört hatte.

Mein junger Freund, als den ich ihn schon betrachtet, war wegen irgendeines Vergehens zum Tode verurteilt worden! Und es war mir nicht anders, als hätte ich mein eigenes Todesurteil gehört.

Und noch etwas Anderes kam hinzu, was mich so furchtbar berührte. Wohl hatte sich Malek ruhig verbeugt, ganz ruhig wandte er sich und folgte gelassen dem ihn zum Richtplatz führenden Richter, dabei aber hatte ich noch einmal sein Gesicht gesehen, und dieses Gesicht, sonst so gebräunt und strotzend von der Farbe der Gesundheit, war plötzlich grau wie das einer Leiche geworden, und aus den großen, blauen Augen hatte mich, gerade mich, ein Blick unsäglichen Schmerzes getroffen, als mache er mich für seinen Tod verantwortlich, wo er doch noch so sehr, ach, so sehr an diesem schönen Leben hing, trotz alledem und alledem!

Aber ich sollte nicht Zeit haben, meiner Bestürzung weiter nachzuhängen.

»Artur Schwarz!«

Ich selbst trat vor. In diesem Augenblick wär es mir ganz gleichgültig gewesen, wenn der steinerne Mund auch über mich das ,Unwürdig des Lebens‹ gesprochen hätte.

»Kasi!«

Ich trat zurück — es war für mich selbstverständlich gewesen.

Etwas verzagt schlug mir aber doch das Herz, als jetzt Ned Carpenter aufgerufen wurde. Er hatte sich bisher so gar nicht bemerkbar gemacht, er war dem Ansehen nach auch so ein...

»Kasi!«

Auch Ned war des Lebens für würdig erachtet worden. Freilich, hinterher dachte ich, dass es ja gar nicht anders sein konnte.

»Charles Leonard!«

Wie sie so gut unsere Namen behalten hatten und aussprechen konnten!

Der Franzose trat phlegmatisch vor und... ich bekam keinen kleinen Schreck! So durfte sich Leonard denn doch nicht benehmen, wenigstens hier nicht!

Er hatte nämlich ein Blättchen Seidenpapier zwischen den Lippen und in den Händen sein silbernes Tabaksetui, war gerade dabei gewesen, sich eine neue Zigarette zu drehen, und damit fuhr er auch ruhig fort, während das steinerne Bild über seinen Tod oder über sein Leben entschied.

Mir blieb der Atem stehen. Es dauerte diesmal auch so lange.

»Kasi!«

»Merci, Monsieur«, sagte der Franzose mit einem leichten Kopfnicken, drehte sich um und... brannte die unterdessen fertig gewordene Zigarette an einer der Naphtaflammen an.

Die Frechheit hatte immer noch einmal gesiegt.

Da ein neuer Donnerschlag, und — wieder etwas so ganz Überraschendes — die Steinfigur konnte auch den Arm bewegen, sie hielt die Hand mit den schneeweißen Fingern etwas vor sich hin.

Das war das Zeichen, dass die Zeremonie beendet sei, das Handküssen sollte beginnen.

Die Priester machten den Anfang. Im Vorbeigehen neigten sie sich etwas vor und küssten die steinerne Hand, ohne diese sonst zu berühren.

»Du machst es ebenso«, flüsterte Aleddin mir zu, und wohl auch meine beiden Gefährten wurden daraufhin instruiert.

Vor mir kam zufällig Ned, ich sah, wie er seine bärtigen Lippen auf die weiße Hand drückte, und jetzt wurde ich erst recht in dem Glauben bestärkt, dass es doch nur Stein sein könne. Denn einmal waren die weißen Finger wirklich wie gemeißelt, und dann hätte die frei hingehaltene Hand doch wenigstens ein klein wenig unter dem Kusse, der manchmal wie bei meinem Ned recht kräftig ausfiel, nachgeben müssen. Aber nichts von alledem. Es war eben Stein, nur der Arm selbst war durch einen Mechanismus beweglich.

So dachte ich, bis meine eigenen Lippen diese Hand berührten.

Und das war dennoch eine lebendige Hand! Denn Stein fühlt sich ganz anders an, gerade mit den Lippen. Das war eine lebenswarme Hand, die sich auch durchaus nicht so hart wie Stein anfühlte,

Während ich noch darüber staunte, wie sich ein Mensch so lange wie von unerschütterlichem Stein stellen könne, hörte ich, wie sich hinter mir Leonard räusperte. Jetzt kam der Handkuss, und gleich ahnend, dass das bei diesem Ausbund von Unverschämtheit nicht so harmlos ablaufen könne, schielte ich zurück.

Und richtig, Leonard ließ es auch nicht bei einem einfachen Handkuss bewenden.

»Küss die Hand, Euer Gnaden — good bye, Mister, good bye...«

Er hatte die weiße Hand gepackt und schüttelte sie kräftig. Ich bemerkte sogar, wie herzhaft er dabei mit seiner schlanken und doch so kräftigen Hand drückte — und der ganze Hohepriester wackelte nicht nur auf seinem Throne, sondern verzog auch unter Leonards Faust schmerzhaft das Gesicht, die toten Augen bekamen Leben, die Pupillen drehten sich herab und musterten grimmig diesen unverschämten Fremdling, der freilich sein Spiel nicht weiter ausdehnte, sondern sich schleunigst uns anschloss.

--*--

Zehntes Kapitel

Originalseiten 133 — 158

Ich war wieder im Freien. Aleddin hatte mich geführt, auch Ned war bei mir, nicht aber Leonard. »Es wird bald Abend. Nun suche dir zunächst für dich und deinen Gefährten eine Wohnung aus, welche du frei wählen sollst«, sagte Aleddin.

Wir standen, wie ich jetzt schon beurteilen konnte, innerhalb eines der Ringhöfe, welche die Wohnungen der Unterpriester enthielt.

»Wo ist mein anderer Begleiter?«, war meine erste Frage.

»Charles Leonard? Er hat sich mit Absicht von dir trennen lassen.«

Dann brauchte auch ich mich nicht mehr um ihn zu kümmern, und etwas Ähnliches hatten wir ja schon ausgemacht gehabt.

Ehe ich mich aber um mein Nachtquartier kümmern konnte, hatte ich noch andere Fragen zu stellen, die sich mir jetzt wieder mit aller Macht aufdrängten.

»Malek, der uns als erster Krieger durch die Steinwüste führte, ist makasi erklärt worden?«

»Du sagst es.«

»Weshalb?«

»Weil er nicht des Lebens für würdig gehalten wird. Weil er eines Vergehens für schuldig befunden worden ist.«

»Du weichst mir aus, Aleddin! Und gerade das muss ich wissen — wenigstens, ob wir Fremden daran schuld sind, dass er den Tod erleiden soll.«

»Du sagst es«, gab der junge Oberpriester zu.

»Mit uns hängt dieses sein Vergehen zusammen?«

»Ja.«

»Inwiefern? Erkläre mir das näher, ich bitte dich herzlich darum.«

Ich durfte so sprechen, denn zwischen uns beiden war schon eine Freundschaft entstanden, obgleich wir deshalb noch kein Wort gesprochen, der mit ebenfalls spartanischer Strenge erzogene Priester davon auch nicht das leiseste Zeichen gegeben hatte, nicht einen einzigen Blick. Das nennt man eben Sympathie, für welche der Mensch wohl niemals eine Erklärung finden wird, wenn er nicht den mystischen, übersinnlichen Weg betreten will.

»Hat er«, fuhr ich fort, als jener noch immer zögerte, »vielleicht den Posten in dem Tale nicht verlassen dürfen?«

»Doch! Gerade an jenem Tage hätte er überhaupt zurückkehren sollen.«

»Mit allen anderen Wachen?«

»Nein.«

»Er hätte einige oder den einen zurücklassen sollen?«

»Ja, wenigstens einen.«

»Und weshalb tat er es nicht?«

»Weil er... die vier Krieger hielten eine Beratung ab, und sie erachteten es für besser, wenn sie alle vier zurückkehrten, weil sie fürchteten, deine anderen Genossen könnten nachfolgen oder überhaupt andere Engländer, und sie hatten euere Waffen nun schon kennen gelernt. Der zurückgelassene Posten hätte euren Genossen tot oder gar lebendig in die Hände fallen können, und das wollte Malek vermeiden, lieber wollte er den ganzen Posten aufgeben. Aber der Sannyasi denkt anders. Malek hat einen Fehler begangen, er hätte unter allen Umständen wenigstens einen der Krieger auf dem vorgeschobenen Posten zurücklassen müssen. Er als der verantwortliche Führer allein ist makasi.«

»Aber, Aleddin, gestehe es offen — das hat Malek doch beim besten Willen nicht wissen können. Hätte er einen Posten zurückgelassen, so konnte der Sannyasi vielleicht gerade anderer Ansicht sein, Malek hätte alle Posten mitnehmen sollen, und dann wäre er ebenfalls zum Tode verurteilt worden.«

»Du hast recht«, musste Aleddin zugeben. »Mit seiner eigenen Urteilskraft hat er das gar nicht entscheiden können.«

Ja, ich entsann mich noch recht gut, wie die vier Krieger sich so oft beraten hatten, wobei immer das Wort makasi vorgekommen war. Da waren sie sich schon des Schicksals, das jetzt nur den einen betroffen hatte, bewusst gewesen. So oder so — sie hatten nur raten können, was sie tun sollten, und vielleicht rieten sie in jedem Falle falsch.

»Und das nennt ihr Gerechtigkeit?«, fragte ich bitter.

»Der Sannyasi urteilt stets gerecht, er ist allwissend, und Maleks Tod ist sowieso beschlossen gewesen.«

Wir promenierten noch immer in dem Ringhof zwischen den Priesterwohnungen umher, und hier offenbarte mir Aleddin alles das, was mit dem ›makasi‹ zusammenhängt, wie ich es schon früher geschildert habe.

Ich war entsetzt über das, was ich da zu hören bekam, und was Aleddin dann weiter über die schnelle Wiedergeburt hinzufügte, konnte mein Entsetzen nicht mildern.

»Und ich dulde nicht, dass dieser prächtige Mann unseretwegen sterben soll!!«, rief ich außer mir.

Wie mitleidig blickte mich Aleddin an.

»Wie willst du denn das verhindern?«

»Wenn er sterben muss, so werde ich mich weigern, euch Pulver und Gewehre und Fahrräder zu liefern«, sagte ich mit Entschlossenheit und war auch wirklich bereit, diesen Vorsatz durchzuführen.

Aleddin machte wieder ein so besorgtes Gesicht, er musste den Ernst aus den Worten herausgehört haben.

»Du bist ein edler Mann, Fremdling, aber du verkennst die Verhältnisse doch ganz.«

»Inwiefern soll ich sie verkennen?«

»Glaubst du denn, Malek würde dein Anerbieten annehmen? Nimmermehr, kein anderer Krieger, nicht einmal ein Sklave würde es tun. Er wäre während der ganzen Zeit seines ihm noch geschenkten Lebens ein maßlos verachteter Mensch. Nein, Malek wird mit stolzer Freude in den Tod gehen, du selbst wirst es sehen.«

Vor meinen geistigen Augen tauchte die prächtige Gestalt des Jünglings auf, wie er sich nach dem Richterspruch umwandte. Ich sah das erbleichende Gesicht, die auf mich gehefteten, todestraurigen Augen, und... ich dachte anders und wusste, richtiger zu urteilen.

»Ist Malek verheiratet?«, fragte ich plötzlich, wie von einem Instinkt dazu getrieben.

In diesem Augenblicke ging wieder eine Wasserträgerin an uns vorüber, wie ich deren zu dieser Zeit schon viele gesehen hatte, in die Häuser Wasser bringend, den hohen Krug, mit blitzendem Nihilit überzogen, nach arabischer Sitte auf dem Kopfe balancierend.

Es waren durchweg prachtvolle Leiber, die ich hier zu sehen bekam. Auch bei ihnen war der Kastenunterschied deutlich ausgeprägt.

Draußen die Frauen und Töchter der Arbeiter oder Sklaven sämtlich schwarzhaarig, brünett, von gedrungenem Körperbau, dabei aber doch einer großen Anmut in jeder Bewegung nicht entbehrend, und dann vor allen Dingen mit durchweg reizenden Gesichtszügen.

Die der Priester blondhaarig, schon bedeutend größer, schlank und sanft.

Nun aber die Weiber und Töchter der Krieger! Lauter Walkürengestalten, das menschliche Maß nach unseren Begriffen fast stets übersteigend, vollbusig, mit Armen, die mit Zentnerlasten spielen zu können schienen und dennoch wie unter dem Meißel eines gottbegnadeten Bildhauers hervorgegangen, und nun die edelsten Gesichter von klassischster Schönheit!

Eine solche Walküre schritt jetzt an uns vorüber, und zwar, obgleich die Gestalt hünenhaft zu nennen war, dennoch mit stolzem, freiem, elastischem Schritt — ein herrliches Weib, und es war nicht allein das rotgoldene Haar, das frei bis auf die Hüften fiel, welches mich förmlich blendete.

Die Lippen etwas zusammengepresst, blickte sie mich im Vorbeigehen etwas länger an, als die anderen getan, die stets eine stolze Gleichgültigkeit gegen die Fremden zur Schau getragen hatten, und wieder war es ein so eigentümlicher Blick, halb schmerzlich, halb trotzig.

»Sieh, das war sie, Raviena!«

»Die Gattin Maleks?«, fragte ich ahnungsvoll.

»Nein, seine — seine — Braut, würdet ihr sagen.«

Ich unterdrückte alles, was auf mich einstürmte.

»Ihr dürft eure Frauen frei wählen?«, forschte ich zunächst weiter, ich hatte ja noch Zeit genug.

»Vollkommen frei.«

»Und wenn nun zwei Männer dieselbe Wahl treffen?«

»So entscheiden bei den Arbeitern die Priester, bei einer Brautstreitigkeit der Priester der Sannyasi, die Krieger aber kämpfen unter sich um die Erwählte.«

»Auf Leben und Tod?«

»Auf Leben und Tod!«

Das ließ ich mir gefallen. Zwar etwas barbarisch, aber ritterlich. Ich habe für so etwas immer geschwärmt.

»Und Malek hatte sich diese Braut errungen?«

»Im Zweikampf, meinst du? Es war nicht nötig. Solche Zweikämpfe kommen überhaupt selten vor. Wir sind dazu erzogen, dass einer für den anderen lebt, wir sind alle Freunde, und die erste Tugend der Freundschaft ist Entsagung. Raviena mag noch viele andere Bewerber gehabt haben, aber sobald man erkannte, dass Malek der von ihr Bevorzugte war, traten alle anderen freiwillig zurück.«

»Sie hätten es nicht nötig gehabt?«

»Nein. Sie hätten Malek noch immer zum Zweikampf herausfordern können, und unter den Rivalen waren noch ganz andere Fechter, ein so tüchtiger Krieger Malek auch sein mag.«

»Dann ist das doppelt edel von jenen. In dieser Hinsicht lasse ich mir euer Wulodschistan gefallen. Wann wird Malek in den Tod gehen? Doch nicht heute schon?«

»Erst in vierzehn Tagen, wenn das Fest der Sanja gefeiert wird, wobei sie sich zeigt. Das Makasi der Krieger ist ein gemeinschaftliches,«

»Und was wird aus seiner Braut? Sie heiratet, wenn hier nun einmal geheiratet werden muss, einen anderen?«

»O nein, sie geht selbstverständlich mit ihm in den Tod.«

»Selbstverständlich?«, konnte ich nur wiederholen.

»Ja, was soll sie sonst tun? Auch die Liebe ist für uns heilig. Sie hat Malek erwählt, und da er stirbt, muss auch sie sterben — an demselben Tage, da sie mit ihm Hochzeit gefeiert hätte.«

Ich beherrschte mich, wollte von meinem Plan, zu dessen Ausführung ich bereits fest entschlossen war, nichts ausplaudern.

»Was treibt Malek bis dahin?«

»Er geht nach wie vor seinem Kriegerberufe nach.«

»Und Raviena?«

»Bleibt bis zu ihrem Todestage im Hause des Vaters.«

»Da müssen die beiden also noch so lange die Todesqualen schon vorher durchkosten?«

»Todesqualen? O, du meinst wohl, die fürchten sich vor dem Tode? Sie werden die vierzehn Tage so verbringen, wie sie sich immer gezeigt haben; waren sie fröhliche Naturen, so werden sie heiter bleiben, und sind sie ernste Menschen — wenn sie in den selbstgewählten Tod gehen, werden sie dennoch lachenden Mundes sterben, du wirst sie ja singen und jauchzen hören.«

»Ja, mit dem Munde. Aber wie mag es schon jetzt in ihrem Innern aussehen?«

»Fremdling, du verkennst uns. Es ist uns die höchste Lust, zu Ehren der Göttin Sanja zu sterben, und wir kommen ja sofort zu allen anderen, die uns schon vorausgegangen sind, über die Sanja in eigener Person regiert.«

»Dort in jene Pyramide?«

»Ja, wo wir von Sanja selbst Belehrung empfangen, bis wir als bessere, vollkommenere Menschen wiedergeboren werden.«

Aber mein junger Oberpriester sprach gar nicht so wie ein Mann, für den das Sterben Lust und Freude bedeutet, ich hörte immer noch einen besonderen Klang heraus.

»Bist du verheiratet?«

»Als Oberpriester darf ich es nicht sein.«

»Du bist aber doch vom einfachen Priester erst Oberpriester geworden?«

»Gewiss.«

»Bist du da schon verheiratet gewesen?«

»Nein.«

»Aber auch du hattest ein Mädchen, welches du heiraten wolltest?«

Ich sah, wie er einen Augenblick erblasste und die Lippen zusammenpresste.

»Ja«, erklang es dann leise, und hier half eben keine Willenskraft, es gibt Augenblicke, wo auch der abgestorbenste Mensch immer wieder lebendig wird, solange er noch den Odem Gottes und Blut in sich hat.

»Und sie ist... getötet worden?!«

»O nein.«

»Ich denke, wenn ein Priester zum Oberpriester gewählt wird, muss seine Frau sterben?«

»Ja, die Frau, aber nicht die Braut. Diese kommt als Priesterin in das Heiligtum der Sanja. Wir haben auch einige Priesterinnen, welche die Göttin persönlich bedienen. Es müssen Jungfrauen aus der ersten Kaste sein.«

»Du kannst nicht mehr mit ihr verkehren?«

»O nein, nicht einmal sehen darf ich sie. Die Priesterinnen sind abgeschlossen von aller Welt.«

Desto schlimmer für diesen Mann. Es ist schließlich immer noch besser, die Geliebte tot zu wissen, als hinter Klostermauern, und zwar doch sicher unfreiwillig — so wenigstens denke ich, und dass auch der junge Oberpriester so dachte, das verriet mir seine gedrückte Stimme, seine ganze Haltung, so sehr er das auch zu verbergen suchte.

»Du glaubst, ich gräme mich«, wollte er sich da auch noch verteidigen. »O, ich habe doch die höchste Ehre genossen, und dasselbe gilt für meine einstige Braut, die mich in so jungen Jahren schon zum Oberpriester erwählt sah. Sie ist glücklich — gleich mir!«

Diese Verteidigung hatte nun gerade noch gefehlt. Ich tat wohl das beste, wenn ich gar nichts darauf erwiderte.

»Willst du mit deinem Gefährten hier in diesem Hause übernachten? Der Besitzer war, als ich noch Priester war, mein Freund, er ist es schließlich immer noch. Es wird dunkel, morgen kannst du dir ja eine eigene Wohnung suchen.«

Er führte uns ein, dann verabschiedete er sich, um in sein ödes Heim zurückzukehren, und ich verbrachte mit Ned auf komfortabler Lagerstatt eine traumlose Nacht. — — — —

Am anderen Morgen holte mich Aleddin wieder ab, es fand abermals eine Beratung der Priester und Oberpriester statt, und dann gingen wir, eine Werkstatt zu suchen oder einen geeigneten Platz dafür, denn es wurde mir gleich gesagt, dass jedes Haus in kürzester Zeit nach meinen Wünschen ausgeführt werden könnte, wie mir überhaupt alles, alles zur Verfügung stände.

»Was deine Arbeit anbetrifft, kannst du dich als unumschränkten Herrn von ganz Wulodschistan betrachten, und brauchst du das Blut von zehntausend Menschen, so werden noch heute zehntausend Wuloden sterben.«

Das war wieder einmal so echt ›wulodschistanisch‹.

»Wo ist Leonard?«

»Er zeigt einigen Kriegern und ihren Kindern, wie man sich selbst im tiefsten Wasser aufhalten kann, ohne unterzusinken, sodass man am Leben bleibt und sogar schnell vorwärts kommt. Dein Freund nennt diese Kunst — nennt sie...«

»Schwimmen.«

»Jawohl, schwimmen. Ist das wahr, dass jeder von euch schwimmen kann?«

Aha, also Leonard hatte schon seine Beschäftigung gefunden, und vorläufig war er wirklich unentbehrlich. Wir waren beim Baden beobachtet worden, Leonards Kunstfertigkeit hatte das höchste Staunen hervorgerufen, denn bei Abwesenheit aller tiefen Gewässer konnte kein einziger Wulode schwimmen, sie konnten es ja nicht einmal an vierfüßigen Tieren beobachten, und so war ihnen die Schwimmkunst wie eine Art von Zauberei vorgekommen.

Natürlich verdarb ich meinem Freunde die Rechnung nicht, ich bestätigte, dass bei uns ›anderen Menschen‹ in der Tat jeder schwimmen könne, erwähnte aber auch gleichzeitig, dass Leonard darin ein unübertrefflicher Meister sei.

Wegen meiner zukünftigen Werkstatt hatte ich schon einen besonderen Plan.

»Habt ihr hier nicht einen stark fließenden Bach?«

Nicht in der Stadt selbst, aber draußen gäbe es genug, heiße und kalte.

Ich besichtigte einige der Werkstellen, in denen die Wuloden alles fertigen, wessen sie bedürfen, Webereien Schmieden usw., auch Mühlen. Alles wurde mit der Hand betrieben, und ich fand durch Fragen heraus, dass den Wuloden noch kein Gedanke gekommen war, die Wasserkraft durch ein Rad auszunutzen. In dieser Hinsicht standen sie weit hinter den alten Ägyptern zurück.

Wir verließen die Stadt, und immer von Neuem musste ich über diese Felder staunen, wo auch nicht ein Fußbreit unbenutzt blieb, über diese zementierten Wege, und dennoch verlor das Ganze dadurch nichts an landschaftlicher Schönheit.

Ungefähr eine Viertelstunde entfernt von der Stadt, die fast 50 000 Einwohner hatte — die an dieser Zahl fehlenden waren eben außerhalb des Tales auf Posten oder sonst wo beschäftigt — gelangten wir an einen Wasserfall, der sich auf der östlichen Seite des Tales in fast meterbreitem, sehr starkem Sturz gegen zehn Meter hoch von einem Felsen herab ergoss.

Hier war die Umgegend in ziemlichem Umkreise öde, unfruchtbar, weil das Wasser stark salzhaltig war. Natürlich! Sonst hätten sie ja gar keine Regenfänger nötig gehabt, dieser nie versagende Bach hätte das ganze Tal mit dem nötigen Wasser versorgt — der salzhaltige Wasserstaub, der umhersprühte, ließ in der Nähe keinen Pflanzenwuchs aufkommen.

Dann war dieser Wasserfall für meine Zwecke erst recht wie geschaffen. Meine Werkstätte nahm keinen fruchtbaren Boden weg, obgleich mir da ebenfalls alles zur Verfügung gestanden hätte.

»Hier will ich mir meine Fabrik und auch meine Wohnung bauen.«

»Wie viele Arbeiter brauchst du?«, wurde kurz gefragt.

»So viele wie möglich — so viele, wie Hand anlegen können.«

»Genügen tausend?«

»O ja, die werden wohl genügen«, lächelte ich.

»Du brauchst zuerst Steinbrecher und solche, welche die Steine zu Quadern behauen?«

Allerdings.«

Ein Wort von Aleddin. Ein mitgekommener Arbeiter flog wie ein Hirsch nach der Stadt zurück, und noch waren keine zehn Minuten vergangen, als ich auch schon abgezählte tausend Menschen anmarschiert kommen sah, mit Hacken und Brecheisen und allem versehen.

»Wo sollen die Steine gebrochen werden?«, war da schon die nächste Frage.

Ich bezeichnete an der Felswand die Stelle, wo ich durch Aushöhlung zugleich Magazine anzulegen gedachte, und ich hatte die Flächen kaum markiert, als herkulische Arme dort auch schon die Brecheisen eintrieben.

Hier ging alles Hand in Hand und Schlag auf Schlag, und ich sah plötzlich ein Ideal verwirklicht, von dem ich früher kaum zu träumen gewagt hatte, war ein moderner Robinson, der seine geistige Leistungsfähigkeit nicht durch die Arbeit der eigenen Hände zu zersplittern braucht.

»Ich möchte eine Frage stellen.«

»Frage!«

»Und wenn das, was ich von dir wissen möchte, mara, heilig wäre?«

»Frage!«

»Könnt ihr die Felswand nicht anders zerkleinern als nur durch Spitzhacke und Meißel, die durch menschliche Kraft geführt werden?«

»Wie brecht ihr die Steine?«

»Wir sprengen sie durch Pulver.«

»Wir haben doch kein Pulver.«

»Es gäbe aber doch eine ähnliche Masse.«

»Davon wissen wir nichts, das sollst du uns eben erst lehren.«

»Als wir gestern dem Sannyasi vorgestellt wurden, ertönte doch hin und wieder ein Donnerschlag.«

»Der Sannyasi hat Blitz und Donner in seiner Hand.«

»Auch wir können solche Donnerschläge erzeugen.«

»Auf welche Weise?«

»Durch Pulver, das in engem Raume zur Explosion gebracht wird.«

»Fremdling, was willst du eigentlich damit sagen? Sprich doch offen!«

»Auf welche Weise erzeugt ihr denn diese Blitze und Donnerschläge?«

Erst sah sich der junge Oberpriester vorsichtig um, und obgleich niemand in der Nähe war, wollte er noch immer nicht mit der Sprache heraus, redete noch immer von Blitz und Donner, den der Sannyasi nach Belieben auch vom heitersten Himmel herabholen könne.

»Der Blitz ist doch ganz einfach irgendeine Flamme, in die jemand bläst.«

»Du sagst es«, musste der Oberpriester jetzt zugeben, »aber du wirst das für dich behalten.«

»Selbstverständlich. Und wie erzeugt ihr den Donner?«

»Da du so klug bist — weißt du das nicht von selbst?«

»Indem man auf einen hohlen Gegenstand schlägt, auf eine Trommel, auf...«

»Du sagst es. Verschaffe uns Pulver!«

Dann musste dies auch meine erste Aufgabe sein, um diese Steinbruchsarbeit zu fördern, denn ein Pfund Pulver, richtig angebracht, schafft doch etwas mehr als tausend menschliche Ameisen.

Ich hatte gesagt, dass ich mir den Salpeter selbst herstellen könne. Na, natürlich mit Hilfe der Natur. Wenn ich dort, wo kein Salpeter ist, Salpeter aus nichts machen könnte, wenn ich das Rezept dazu wüsste, dann hätte ich nicht nötig gehabt, als letzter Hilfszeichner nach Sydney zu gehen, dann wäre ich schon längst hundertfacher Millionär gewesen.

Der Bauer sagt ganz richtig: auf meinem Misthaufen wächst Salpeter. Das, was wir Salpeter nennen, ist salpetersaures Kali. Er wird am meisten in Chile gefunden, sonst bildet er sich überall dort, wo organische Substanzen verwesen, am meisten auf dem Misthaufen, wo er sich als weißer Überzug zeigt.

Es war eine kühne Idee, wenn ich eine Pulverfabrik gründen und den dazu nötigen Salpeter nur vom Misthaufen beziehen wollte. Denn gar so haufenweise ›wächst‹ er denn doch nicht. Aber das lässt sich schließlich alles einrichten, dem kann man künstlich nachhelfen.

Damals, als ich das sagte, hatte ich mit Kuhdünger und dergleichen gerechnet. Nun gab es hier gar keine vierbeinigen Tiere. Hatte nichts zu bedeuten, dann gab es zweibeinige Menschen — ich wollte mir schon meinen Salpeter verschaffen.

Ein Zufall ließ mich etwas erblicken, was allen diesbezüglichen Kopfschmerzen, die ich dennoch hatte, ein Ende machte.

Als ich mit Aleddin und den übrigen Unter- und Oberpriestern weiterging, um erst einmal den schwefelführenden Bach und auch die Eisengruben zu besichtigen, erblickte ich einen Sklaven, der über das umgegrabene Feld aus einem Sack ein weißes Pulver streute.

»Was ist das?«

»Arrat, mit dem das Feld fruchtbar gemacht wird.«

Ja, was ist aber Arrat? Ich musste selbst prüfen. Man kann einem weißen, kristallinischen Pulver nicht gleich ansehen, ob es Salpeter oder etwas anderes ist, wenn es auch salzig wie solcher schmeckt. Doch da gab es noch eine andere Prüfung.

Aleddin hatte seine Büchsen mit Schwefel noch bei sich, ein Stückchen Holzkohle war schnell aufgetrieben, ich zerkleinerte sie möglichst. Das ganz trockene weiße Mehl wurde mit den beiden anderen Substanzen im normalen Verhältnis des Schießpulvers gemischt — ein Teil Schwefel, ein Teil Salpeter, drei Teile Kohle — mit meinem Feuerzeug zündete ich das schwarze Häufchen an... und zum grenzenlosen Staunen der Zuschauer brannte es knatternd bis zum letzten Körnchen ab.

Es war Kalisalpeter!

»O, von solchem Arrat gibt es hier ein mächtiges Lager«, hieß es.

Dann konnte ich auch, als ich noch den Schwefelbach besichtigt hatte, mächtig viel Pulver machen.

Zum Schießpulver, das im Moment explodiert, gehören nun freilich noch andere Vorbereitungen. Aber ich war akademischer Ingenieur, und wenn ich auch noch nicht in der Schießpulverfabrikation beschäftigt gewesen war, so hatte ich doch die ganze Theorie im Kopfe.

Also ans Werk! Auf Einzelheiten lasse ich mich nicht ein. Ein Kohlenmeiler gebaut und mit Haselnussholz beschickt, Salpeter und Schwefel vorschriftsmäßig gereinigt, eine einsam auf dem Felde stehende Kornmühle verwandelte sich in die Pulvermühle, und... die Vortrefflichkeit meines ersten Erzeugnisses, ungefähr eines Zentners, erwies sich am dritten Tage dadurch, dass die ganze Pulvermühle in die Luft flog, glücklicherweise zu einer Zeit, als niemand darin und in der Nähe war.

Was die Explosion veranlasst hatte, wurde nie aufgeklärt. Jedenfalls lag eine Entzündung durch Feuer vor, denn die Priester, die ich ständig auf dem Halse gehabt, hatten schon immer eine Probe der Pulverkraft im Großen haben wollen — ich glaube, sie hatten die Explosion mit Absicht veranlasst, sie benahmen sich hinterher so ruhig und zufrieden. Jedenfalls waren sie jetzt gewarnt, und zwei Tage später war alles im alten Gange.

Auch meine Wasserkraftanlage schritt mit wahrhafter Zauberschnelle vorwärts. Diese kleinen, gedrungenen Kerls der Sklavenkaste arbeiteten wirklich wie die Ameisen, dabei konnten sie an Intelligenz nicht übertroffen werden. Eine Zeichnung in den Sand genügte ihnen, und schon war das Turbinenrad so weit fertig, dass die einzelnen Teile nur noch zusammengesetzt zu werden brauchten.

»Sollten wir nicht lieber schon vorher die einzelnen Teile mit Nihilit überziehen lassen?«, fragte Aleddin, der nicht von meiner Seite wich.

Er kam mir zuvor. Das Nihilit, hier Olla genannt, war ja das Hauptziel der ganzen Expedition gewesen. In den letzten Tagen rastloser Tätigkeit war es bei mir aber doch etwas in den Hintergrund getreten, ich fühlte mich ganz als technischen Robinson. Nur das hatte ich so nebenbei erfahren, dass die metallische Substanz in einem noch tätigen Vulkan gewonnen würde, der im äußersten Randgebirge des Nordens lag.

»Darf ich denn diese Nihilitquelle besichtigen?«, fragte ich, wobei ich noch bemerke, dass sich Aleddin mir gegenüber ebenfalls des Wortes ›Nihilit‹ bediente.

»Ja, warum denn nicht? Es ist kein Geheimnis dabei, und wir hoffen sogar, dass du seine Gewinnung leichter gestalten kannst.«

Gut! Eines Morgens marschierten wir ab. Unterwegs begegnete uns ein Zug Lastträger — die Wuloden kennen nicht einmal einen Wagen oder auch nur eine Karre oder wollen nichts davon wissen, sie hatten bisher so etwas nicht nötig — bepackt mit allen Gerätschaften, welche einen Nihilitüberzug erhalten hatten, außerdem aber auch ein massiver Block dabei, an dem vier starke Männer schwer zu schleppen hatten, und dennoch war er im Verhältnis sehr klein, sodass Nihilit ein noch bei Weitem größeres spezifisches Gewicht als Gold haben muss.

Aleddin hatte ganz recht, wenn er mich bat, jetzt alles Fragen zu unterlassen, da ich ja alles gleich mit eigenen Augen schauen würde. Dagegen war er ständig beim Fragen, nämlich ob uns ›anderen Menschen‹ dieses Nihilit nur wirklich so gänzlich fremd sei, ob wir nicht wenigstens etwas Ähnliches hätten, was ich alles mit bestem Gewissen verneinen konnte.

In dreiviertel Stunde war der Weg zurückgelegt. Vor uns erhob sich ein steiles Gebirge. Bis an seinen Rand gingen die Felder, auch hier mit der gleichen Sorgfalt angebaut. Aber dazwischen nirgends eine menschliche Behausung. Auch die, welche hier an der äußersten Grenze das Feld bestellen, von den Obstbäumen die Insekten ablesen, die Vögel von den Körnern scheuchen, haben in der Stadt zu schlafen, und bei der Kleinheit des Tales hat dieser tägliche Weg ja doch nichts weiter zu sagen. Ausnahmen sollte ich noch kennen lernen.

Sehr breite, in den Felsen gehauene Stufen führten zur Höhe hinauf, und man erkannte in den ausgetretenen Spuren, wie viele Menschenfüße, meist nackte, hier schon gewandert sein mussten, und seit wie lange, wahrscheinlich seit vielen Jahrtausenden, und das in eisenhartem Basalt. Wenn die Spuren eine gewisse Tiefe erlangt haben, müssen sie mit Zement ausgegossen werden, von dem die Wuloden eine vortreffliche Art herzustellen wissen, und zwar ohne Brennen des Steines, auf ganz eigenartige Weise.

Dort, wo die Treppe eine scharfe Biegung machte, stand ein Krieger, trotz der schon herrschenden Sonnenhitze voll gepanzert, den Tigerhelm unter dem Kinn befestigt, und so gewahrte ich in einer Nische noch eine ganze Wache, welche neben dieser Treppe immer zwei Posten aufzustellen hatte.

»Wozu diese Posten?«, fragte ich.

»Über das ganze das Tal begrenzende Gebirge sind solche Wachen verteilt.«

Das hatte ich auch noch nicht gewusst.

»Führen denn Pässe über das Gebirge?«

»Das wohl nicht, aber das Innental wie die weite Umgegend wird nie aus den Augen gelassen, und die Krieger müssen doch in Übung bleiben.«

Diese Wuloden mussten ja eine Heidenfurcht vor einem Überfall durch ›Anglisis‹ haben.

Die Wache salutierte mit gesenktem Schwert vor dem Oberpriester, vor mir und vor unserem Gefolge, welches aus drei anderen Priestern und einigen schnellfüßigen, als Boten dienenden Sklaven bestand.

Ich muss nämlich auch die drei anderen Priester zu unserem oder sogar meinem Gefolge zählen, weil Aleddin, wenn er es mir nicht direkt sagte, so doch oft genug merken ließ, dass ich weit über diesen gewöhnlichen Priestern stände, ich sei gleichberechtigt mit den Oberpriestern, was mich mit Genugtuung erfüllte, und ich hütete diese Ehre wohl. Ich hatte schon bemerkt, dass hier jeder trotz der schärfsten Kasteneinteilung als der gilt, wozu er sich selbst macht. Hätte ich mich mit den Arbeitern kameradschaftlich abgegeben, so wäre ich auch sehr schnell von einem Oberpriester als Untergebener behandelt worden. Ned Carpenter z. B., den man zuerst fast ebenso behandelte, hatte sich schon allen Respekt vergeben, nur deshalb, weil er manchmal mit Arbeitern plauderte. Dabei aber war von einer Unfreundlichkeit gar keine Rede, vielleicht im Gegenteil. Aber aus dem ursprünglichen Respekt wurde Leutseligkeit, was man recht wohl herausfühlen kann.

Immer höher ging die Treppe hinauf, immer im Zickzack, auch wiederholt durch Tunnels, alles mühsam aus dem Felsen herausgehauen. An einer einzigen Stelle, vor Regengüssen geschützt, sah ich ein Bäumchen stehen, kokosnussähnliche Fürchte tragend, aber doch wieder etwas vollkommen anderes als eine Kokosnusspalme, ein eigenes Produkt dieses entlegenen Tales, dieser Welt für sich.

Weil sich hier in diesem Winkel etwas Humus bilden konnte, der nicht vom Regen weggeschwemmt wurde, nur an dieser einzigen Stelle, deshalb war der Nahrung bringende Baum hierher gepflanzt worden, wurde sorgsam gehegt und verschnitten und gestützt — wieder ein Zeichen, welch riesenhafte Anstrengungen die Wuloden machen, um aus ihrem Tale mehr Nahrung zu gewinnen, um also die statthafte Zahl von 50 000 lebendigen Menschen überschreiten zu können. Aber es ist eben alles vergebens, es ist schon jeder Winkel ausgenutzt.

Und dann hatten wir den Bergkamm, der ein breites Plateau bildet, erreicht. Eine wunderbare Aussicht von hier oben! Hinter mir das ganze Tal in seiner unbeschreiblichen Lieblichkeit, in der Mitte die farbenprächtige Pyramide, und vor mir die unübersehbare Steinwüste, welche hier ganz dieselbe Beschaffenheit zu haben schien wie auf jener Seite, von der wir unseren Einzug gehalten hatten.

Doch was interessierte mich jetzt diese Aussicht! Noch um eine Kuppe herum, und ich hatte ein anderes grandioses Bild. Wiederum blickte ich in den Feuerpfuhl einer Hölle hinab.

Es war ein Kesselkrater von wenigstens hundert Metern Durchmesser, gefüllt mit einer feurigflüssigen Masse, die im beständigen Aufruhr war, kochende Lava, wogend und riesige Blasen bildend, die dann zerplatzten.

Schildern kann ich das überwältigende Schauspiel sonst nicht. Ich bemerke nur, dass die Hitze erträglich war, wenigstens für uns hier oben, die wir auf einer breiten Kuppe standen und den glühenden See noch gute zwanzig Meter unter uns hatten. Eine gar so außerordentliche Hitze konnte die dunkelrot glühende Lava auch nicht ausstrahlen, sonst wären wir bei dieser Entfernung doch noch versengt worden.

Anders die Leute, welche zwischen den Kuppen in den Vertiefungen standen und an langen Stangen und Hebebäumen Gegenstände der verschiedensten Art möglichst dicht über die kochende Feuermasse zu bringen suchten. Nackt bis auf den Schurz, glichen sie alle gekochten Krebsen, der Schweiß stob ihnen in Strömen vom Körper, alle zehn Minuten wurden sie von ihrer Arbeit abgelöst, um eine Stunde Ruhe zu haben.

Jetzt machte Aleddin den Erklärer.

So weit die Geschichte von Wulodschistan zurückreicht, mehr als tausend Jahre, ist dieser Lavakessel ebenso gewesen wie heute. Die Masse war nie weißglühend, eine dunkler werdende Färbung hat man nie konstatieren können. Auch ein wirklicher Ausbruch des Vulkans hat niemals stattgefunden.

Schöpft man etwas von der glühenden Masse heraus, wie auch ich dann tat, so erstarrt sie zu einem schwarzen Basalt, aus dem die ganze Umgebung besteht, und zeigt keine Spur von Nihilit.

Der wirksame Bestandteil ist ein Gas, welches in den Blasen zutage tritt. Aber dieses Gas, also gasförmiges Nihilit, ist außerordentlich schwer. Die Lunge wird nur durch die Hitze belästigt, sonst durch keinen fremden Bestandteil der Atmosphäre. Das Gas kommt gar nicht aus dem Trichter heraus, sondern bleibt immer dicht über dem wallenden Feuermeer schweben, wird von diesem wahrscheinlich auch wieder eingesaugt und in Blasen abermals herausbefördert.

Wäre es anders, so müsste ja die ganze Umgebung mit dem metallischen Überzug versehen sein, während ich nur am Rande des Trichters ganz dicht über der glühenden Masse solch einen metallisch glänzenden Spiegel sah, der durch das Kochen jeden Augenblick wieder abgewaschen wurde und an einer ruhigeren Stelle wieder neu entstand.

Die Aufgabe der Arbeiter ist nun, die Gegenstände aus Holz, Eisen, Stein oder einem sonstigen Stoff, die mit Nihilit überzogen werden sollen, möglichst dicht über die glühende Masse zu bringen, ohne diese zu berühren, und dann vor allen Dingen sich vor den aussteigenden Blasen in Acht zu nehmen.

Diese enthalten zwar das gasförmige Nihilit, aber die Blase selbst würde den Gegenstand mit Lava beschmutzen, die dann schwer wieder zu entfernen ist oder in den metallischen Überzug doch fehlerhafte Stellen bringen würde.

Im Übrigen ist die Arbeit höchst einfach. Die feurige Masse wallt nur sehr mäßig, vor allen Dingen spritzt sie nicht im Geringsten, auch nicht, wenn eine Blase platzt. Dann entsteht eine Öffnung, durch die das Gas entweicht, sie sinkt in sich selbst zurück.

So sind die kleinsten Messer oder Nippsachen wie die schwersten Steinfiguren, die einen Nihilitüberzug erhalten sollen, an Stangen oder Hebebäumen befestigt. Je schwerer der Gegenstand ist, desto länger muss der andere Hebelarm sein. So werden sie möglichst in die Nähe des feurigflüssigen Niveaus gebracht, und die Arbeiter haben nur auf die langsam aufsteigenden Blasen zu achten, um die Gegenstände vor ihnen rechtzeitig in die Höhe zu heben und dann wieder herabzulassen. Bei leichten Sachen macht man das einfach mit Stangen, die in den Händen gehalten werden, bei ganz leichten Dingerchen hat man nur Angeln.

Die Zeit, in welcher die Galvanisierung erfolgt, ist ganz verschieden, je nach der Dicke des Überzuges, und man kann dies auch nicht vorherbestimmen, weil die Sachen eben immer so fortgezogen werden müssen.

Solch ein Nihilitüberzug, dessen Stärke wie bei jenem Dolch nur ein drittel Millimeter beträgt, wird in drei bis fünf Stunden hergestellt.

»Diesen Block dort lässt man schon seit mehr als zweihundert Jahren wachsen«, sagte Aleddin.

Ja, ich sah, dass man doch Ausnahmen von der Regel machte. Hier und da wurde nämlich dennoch ein Gegenstand immer mit Absicht direkt in eine möglichst große Blase getaucht, oder schon vorher, wenn sie noch im Entstehen begriffen war, wobei es darauf ankam, ihn möglichst schnell in sie zu versenken, ohne sie dabei zu zerstören, so wie Kinder probieren, eine Seifenblase um ihren Finger herum anschwellen zu lassen.

Auf diese Weise wurde hier metallisches Nihilit in Klumpen erzeugt, wobei es nicht darauf ankam, wenn sich etwas Lava daruntermischte, wenn dies auch möglichst vermieden wurde.

Der Klumpen, der schon mehr als zweihundert Jahre dieser Behandlung ausgesetzt war, hatte die Größe eines Kindeskopfes — es dauerte also höllisch lange. Dafür aber wurden sehr viele solcher Klumpen erzeugt.

»Wozu gebraucht man dieses kompakte Nihilit?«

»Nun, um die Schneiden und Spitzen der Waffen zu verdicken, dass sie geschliffen werden können.«

Richtig! Ich hatte hierüber bereits meine Gedanken gehabt, auch in Adelaide hatten wir schon darüber gesprochen.

Einen Dolch aus Holz herzustellen und ihn dann auf diese Weise mit Nihilit zu überziehen, das ist ja ganz schön und gut, aber wie die wunderbare Schärfe der Schneide erreichen, wie die Spitze fertigen, die mit einem Bienenstachel wetteifert? Konnte man das auch etwa bei Stahl schon vorher erreichen, allerdings immer noch auf eine uns unbekannte Weise, so doch niemals bei Holz.

Dass Schneide und Spitze des Dolches ein klein wenig mehr Nihilit besaßen, welches erst hinterher angesetzt zu sein schien, hatten wir schon bei jener Untersuchung bemerkt. Wie aber ward dieses Metall bearbeitet, welches auch des härtesten Schleifsteins spottete?

»Du wirst dann sehen, wie wir das machen«, entgegnete Aleddin auf meine diesbezügliche Frage. Ich interessierte mich zunächst für die Arbeiter. Was diese armen Kerls hier ausstehen mussten!

»Es ist wohl eine Strafe, hier arbeiten zu müssen?«

»Eine Strafe? Das ist eine Ehre!«

»Sie werden höher bezahlt als andere?«

Es war mir nur entschlüpft, so etwas wie Bezahlung gab es hier ja gar nicht.

»Bezahlt?«

»Was für eine besondere Ehre genießen sie denn?«, fragte ich.

»Wenn einer dieser Arbeiter makasi befunden wird, darf er sich in den feurigen Kessel stürzen.«

Es war doch immer dasselbe! Eine nette Ehre — ich danke dafür! Doch mag für die Wuloden ja so etwas auch den Tod fürs Vaterland bedeuten, und über Ehrbegriffe ist überhaupt nicht zu streiten.

Nachdem ich schon verschiedene Vorschläge gemacht hatte, wie man das ganze Verfahren tatsächlich hier viel vorteilhafter gestalten konnte, traten wir den Rückweg an, aber einen anderen Abstieg wählend.

Da muss ich noch einer besonderen Frage gedenken, die Aleddin auf diesem Wege an mich stellte.

»Was ist das, Zigeuner?«

Ich war solche aus dem Stegreif hervorgebrachte Fragen schon gewöhnt.

Nun, das war bald erklärt, soweit man überhaupt weiß, woher die Zigeuner stammen.

»Die Zigeuner haben keinen festen Wohnsitz?«

»Niemals. Rastlos ziehen sie in aller Welt umher«, entgegnete ich.

»Sie haben kein Haus, müssen jede Nacht an einem anderen Orte schlafen?«

Ja, das ist ein echter Zigeuner.

»Und dein Freund Leonard ist solch ein Zigeuner?«

Hopsa! Ich ahnte schon etwas! Leonard hatte sich wohl hier einmal einen Zigeuner genannt, und ich hatte soeben erzählt, dass die Zigeuner Mausediebe allerersten Ranges sind.

»O nein«, lachte ich, »das ist ein echter Franzose — ja, er hat wohl auch so ein bisschen Zigeunerblut in den Adern, ist ein rastloser Gesell, der sich auch überall zu Hause fühlt — aber er entwendet keine Stecknadel — er ist gut und treu wie Gold — wie Nihilit.«

Aleddin fing gleich etwas anderes an, in einer so geschickten Weise, dass ich damals tatsächlich gleich dieses Gespräch vergaß.

Wir kamen in eine wilde Schlucht, in der sich eine kleine Ansiedlung befand, mit Werkstätten, auch mit Wohnhäusern. Also gab es außerhalb der Stadt doch noch andere Plätze, wo Wuloden ständig wohnten. Ein größeres Haus erkannte ich durch die Verzierungen gleich als Tempel. Hier wurde das Nihilit bearbeitet.

Das Haupterfordernis dazu war eine heiße, dem Gestein entspringende Quelle, die durch die einzelnen Werkstätten geleitet wurde.

Ihr Wasser hatte eine ganz besondere Eigenschaft. Das hineingelegte Nihilit wurde nach kurzer Zeit weich wie Wachs. So wurde es unter Wasser geknetet, wodurch man die Basaltbeimischungen herausbringen konnte, es wurde in lange Fäden ausgezogen, welche, an die Schneiden der Waffen geklebt, sich mit dem schon vorhandenen Nihilitüberzug fest vereinigten und alsbald an der Luft wieder zu unverwüstlichem, diamanthartem Nihilit erstarrten.

Eine Erklärung für diese Wirkung des Wassers konnte mir Aleddin nicht geben, warnte mich nur, davon zu kosten. Die Hände der Arbeiter griff es sonst nicht an. Es gäbe noch mehr solcher Quellen, welche das Nihilit aufweichten, die aber, welche direkt aus dem OllaPa, aus dem Lavakessel, herauskäme, sei die wirksamste.

Ich selbst fand eine Erklärung, wenigstens konnte ich eine Hypothese aufstellen, die viel für sich hat.

Durch eine mir unbekannte Substanz oder ein Gas besitzt dieses Wasser die Eigenschaft, das Nihilit aufzulösen. Aleddin bestätigte auch, dass es nicht gar zu lange in dem Wasser liegen bleiben dürfe, da es sonst immer weniger würde. Der völligen Auflösung geht also erst eine Aufweichung zuvor. Und jetzt entsann ich mich auch, dass dort oben an dem glühenden Krater eine ziemlich feuchte Atmosphäre geherrscht hatte, welche dazu beitrug, die ausstrahlende Hitze weniger empfindlich zu machen.

So ist es also eigentlich Wasser, welches das Nihilit gelöst enthält. Diese Quelle, welche aus dem Berge entspringt, ergießt sich irgendwo in den Krater, wird sofort verdampft, das Nihilit gasförmig abgeschieden, es kann sich aber nicht mit dem flüssigen Basalt vermischen, sondern muss als Blasen nach oben steigen.

»Und wo werden nun die Schneiden und Spitzen so haarscharf geschliffen?«

»Dort.«

Aleddin deutete nach dem Gebäude, welches ich wegen der vielen Tigerfiguren und anderen Abzeichen für einen Tempel hielt.

»Und auf welche Weise geschieht das? Da bin ich doch gespannt.«

»Du möchtest es besichtigen?«

»Gewiss doch. Oder darf ich es nicht?«

»Nein.«

»Weshalb denn nicht?«

»Mara! Ein heiliges Geheimnis! Siehst du nicht, dass das dort ein Tempel ist? Diese Schärfe gibt den Waffen die Göttin selbst.«

Und dabei blieb es. Dies ist das einzige Geheimnis in Wulodschistan, welches ich nicht erforschen konnte, und Leonard, der sonst alles fertig brachte, hat sich leider nicht darum gekümmert.

--*--

Elftes Kapitel

Originalseiten 158 — 179

Es war am elften oder zwölften Tage meines Hierseins, als mich ein Geschäftsweg wieder einmal nach der Stadt führte — ohne Begleitung Aleddins, der sich jetzt nicht mehr wie mein Schatten an meiner Seite hielt.

Leonard hatte ich seitdem noch nicht wieder zu sehen bekommen, und mein Kopf war so voller Ideen, dass ich auch kaum einmal an ihn gedacht hatte.

Der Weg führte mich an jenem Exerzierplatze vorüber. Eine große Menschenmasse, fast nur Krieger, aber auch Priester, die etwas umringten, fesselte meine Aufmerksamkeit.

Ehrfürchtig machte man mir Platz. Krieger übten sich im Ringen, und es war interessant genug, dass ich etwas von meiner kostbaren Zeit opferte.

Zwei Krieger, nackt bis auf den Gürtel, traten sich gegenüber, suchten einander zu packen und zu Boden zu werfen. Es war eine besondere Art von Ringkampf, nicht nur, dass sie sich umfasst hielten und sich so niederzudrücken oder sonst zum Sturz zu bringen suchten, sondern sie stellten sich dabei auch Beine, oft ging der Kampf nur um Ergreifen und Herumdrehen eines Armes, dabei ein halbes Boxen, und zwar mit fürchterlichen Schlägen — jedenfalls ganz anders, als wir als Jungen den Ringkampf geübt hatten.

Das Herrlichste aber waren für mich diese nackten Gestalten, riesenhaft und dabei dennoch katzengeschmeidige Athleten, strotzend von Muskeln und Sehnen und trotzdem wieder das Ideal eines harmonischen, klassischschönen Körperbaues.

So balgten und pochten sich die beiden herum. Doch sind diese Ausdrücke für das Kampfspiel unpassend, es war wirklich ein grandioses Schauspiel.

»Nicht so, nicht so!«, ließ sich da eine mir wohlbekannte Stimme vernehmen, und in den Ring trat Monsieur Leonard.

Aber bald hätte ich ihn nicht wiedererkannt. Denn auch er war splitterfasernackt bis auf ein Tüchelchen um die Lenden, und ich hatte den Franzosen noch nicht entkleidet gesehen, und ich hätte nimmermehr geglaubt, dass dieses eigentlich so schmächtig aussehende Kerlchen mit den feinen Händchen eine so fabelhaft entwickelte Muskulatur besaß. Es war wieder etwas ganz Anderes als die Muskulatur der hochgewachsenen, riesenhaften Krieger, eben das Riesenhafte fehlte — aber wenn ich als Künstler ein Modell zum vollendetsten Athleten gebraucht hätte, bei dem sich die höchste menschliche Kraft mit der höchsten Geschmeidigkeit paaren muss, so hätte ich diesem kleinen Franzosen unbedingt den Vorzug gegeben.

»Nicht so, nicht so! Der Arm muss vorn am Gelenk gefasst und ganz gemütlich nach hinten gezogen werden. Komm her, Saluk, versuch mich zu packen und gib Acht, dass ich dabei dein rechtes Handgelenk nicht fassen kann.«

Der Aufgerufene trat vor, ein ungeheuerer Kerl und dabei geschmeidig wie eine Katze.

Wenn ich vorhin meinen Freund als das vollendete Ideal einer Athletengestalt hinstellte, so war er doch nicht mit diesen Kriegern zu vergleichen, nun vollends gar nicht mit diesem riesigen Herkules hier. Leonard erschien gegen ihn wie ein Zwerg, musste in seiner Hand wie ein Kind sein.

Wie es eigentlich kam, kann ich nicht schildern, ich weiß es selbst nicht. Der Riese setzte sich mit in den Hüften gestemmten Ellbogen in Positur, aber weil der Zwerg ihn nicht fassen wollte oder ihn nur durch Scheingriffe narrte, ging er selbst zum Angriff über, stürzte sich plötzlich auf seinen wahrhaft winzigen Gegner — aber noch ehe er ihn richtig gefasst hatte, zog Leonard ihm den Arm auf den Rücken, drehte ihn wie einen Kreisel herum — oder wie er es sonst machte, ich weiß es eben nicht — kurz, mit einem Male lag der ungeheure Kämpe seiner ganzen Länge nach mit dem Rücken im Sande.

»Habt ihr's gesehen? Einfach den Arm mit einer sanften Drehung auf den Rücken ziehen.«

Neue Gegner traten hervor, und einer nach dem anderen küsste den Boden, im Nu, sobald Leonard wollte. Er sagte es im Voraus an — ›jetzt!‹ — und bums, da lag der Riese! Auf dem Rücken oder auch auf dem Bauche oder auf der Seite, ganz wie Leonard wollte. Und er hatte doch immer nur eine kleine Bewegung dazu nötig, während er ganz ruhig dastand.

Mir kam es wie Zauberei vor, und auch die umstehenden Krieger verhehlten ihr grenzenloses Staunen nicht, obgleich sie schon zahllose ähnliche Beispiele gesehen hatten, und ebenso zeigten sie auch bei den Niederlagen ihrer Freunde oder ihrer eigenen die größte Freude, indem sie hofften, nun diese wunderbare Kunst von dem kleinen Fremdling lernen zu können.

Der letzte war ein mehr dicker als sehniger Riese, mit Armen so stark wie ein Mannesschenkel, Leonard griff diesmal etwas fester zu...

»O, jetzt habe ich dir den Arm ausgekugelt, das habe ich wirklich nicht gewollt«, rief er bedauernd, als er das ungeschlachte Ungeheuer zu Boden gefällt hatte.


Illustration

Dem war auch so, aber ich hätte kaum etwas davon bemerkt, denn der Krieger, der auf seinem Arm lag, verzog keine Miene, auch dann nicht, als Leonard zeigte, dass er einen ausgekugelten Arm auch wieder einrenken konnte, wobei es in des Hünen ungeheuerem Arme knackte, als ob eine Riemenscheibe zerspränge.

Leonard hatte mich gesehen, nickte mir freundlich zu. Ehe er sich mir beigesellte, zeigte er noch, wie man sich auch zweier Gegner gleichzeitig erwehren, sie zum Sturze bringen könne; zwei Riesen mussten ihn packen, vorn und hinten — diesmal nahm Leonard auch seine Füße zu Hilfe, ein ganz eigentümliches, blitzschnelles Schlenkern der Beine, eine kleine Drehung — und beide Angreifer machten höchst erstaunte Gesichter, nämlich deshalb, weil sie sich plötzlich am Boden liegend fanden.

»Nun übt euch, und wenn ich wiederkomme, werden es doch hoffentlich drei von euch mit mir aufnehmen können.«

Leonard befestigte Sandalen an seinen Füßen, warf sich eine Toga um, wie auch ich bereits die bequeme einheimische Kleidung trug, und gesellte sich mir bei, schon seine silberne Tabaksdose und Zigarettenpapier in der Hand.

»Hören Sie«, sagte er vergnügt, als wir den Kreis verließen, »hier wächst auch Tabak! Aber die Wuloden fressen ihn als Gemüse. Und ein ganz dünnes Papier verstehen sie auch zu fertigen. Nun bin ich gerettet, ich hatte schon Angst. Mein Tabak und Papier gehen ganz bedenklich zur Neige, und wenn ich mir kein Zigarettchen drehen kann...«

»Mensch, wo haben Sie denn das gelernt?!«, unterbrach ich ihn staunend.

»Das Zigarettendrehen? Das ist doch ganz einfach, da nimmt man...«

»Diese Kunst des Ringens meine ich!«

»Ach so! Von den Japanern. Die haben im Ringen nämlich etwas los. Es ist nicht eigentlich ein Ringen, sondern mehr eine Selbstverteidigung, wobei es nicht auf regelrechte Griffe ankommt. Jiu Jitsu nennen sie diese Kunst. Und ich habe darin den besten Lehrmeister gehabt, der für die halbe Unterrichtsstunde zwanzig Dollar verlangte und bekam — das heißt, mir gab er den Unterricht umsonst. Der japanische Virtuose in dieser edlen Kunst glaubte nämlich in mir ein gottbegnadetes Genie entdeckt zu haben. War ich vielleicht auch, ließ mich auch kostenlos ausbilden, nur schlug ich ihm dann ein Schnippchen, das er nicht parieren konnte — ich ließ mich nicht von ihm als Schauobjekt ausbeuten, wie er es beabsichtigt hatte. Nächstens werde ich den Wuloden auch zeigen, wie man durch einen Schlag mit der flachen Hand den stärksten Knochen brechen kann, Arm oder Schenkel, gleich den ganzen Kopf spalten. Aber auch im gewöhnlichen Ringen stelle ich meinen Mann.«

So hatte Leonard geplaudert, während er gemächlich eine Zigarette drehte und anzündete.

»Leonard, Sie sind wirklich nicht nur ein seltsamer, sondern auch ein gottbegnadeter Mensch!«, bewunderte ich noch immer.

»Ich denke, ich bin ein Tunichtgut, der makasi zu erklären ist?«

»Ich bitte um Verzeihung! Ich habe meine Meinung über Sie geändert, und das umso mehr, als Sie mir sonst bei Gelegenheit einmal mit Ihrer flachen Hand den Schädel spalten könnten. Also Sie sind jetzt Ringmeister und Schwimmlehrer geworden, wie ich gehört habe.«

»Ja, und auch das Fechten bringe ich ihnen bei. Diese Kerls haben ja noch gar keine Ahnung, was man mit einem Schwerte alles anfangen kann.«

»Und wenn Sie da bei diesen Kriegern auch solches Staunen hervorrufen, dann glaube ich wohl, dass Sie hier schon unentbehrlich sind — vielleicht unentbehrlicher als ich.«

»Nun, man spricht hier recht gut von Ihnen. Ich habe einmal eine Unterredung belauscht.«

»Haben Sie?«

»Die Kerls sprachen Sanskrit. Dass Sie nicht etwa einmal verraten, dass ich das verstehe.«

»Gott bewahre!«

»Was ich über Sie gehört habe, will ich Ihnen lieber nicht sagen, denn Sie könnten sich gar zu geschmeichelt fühlen.«

»Wo wohnen Sie eigentlich?«

»Wohnen? Hat's bei mir überhaupt nie gegeben. Ich wohne überall und nirgends. Wenn ich müde bin, lege ich mich dahin, wo ich gerade stehe, wenn der Platz nur nicht gar zu hart ist. Ich bin so vorsichtig, immer gerade auf dem weichsten Platze der Umgegend zu stehen. Ich habe den Wuloden, die sich erst darüber wunderten, klar gemacht, dass dies so meine Lebensweise ist, eine in Europa gar nicht so außergewöhnliche, viele andere Menschen machten das ebenso. Ich habe mir dadurch die größte persönliche Freiheit gesichert, zumal während der Nacht.«

»Sie haben wohl gesagt, dass Sie ein Zigeuner seien?«

»Woher wissen Sie...?«

Ich erzählte ihm von jener Frage und auch, wie ich geantwortet hatte, damit Leonard nicht etwa in den Verdacht der Dieberei käme.

Der Franzose warf den Stummel seiner schon verpafften Zigarette weg und drehte sich eine neue. Mein Bericht machte keinen Eindruck auf ihn.

»Und wie verbringen Sie denn nun Ihre Nächte?«, fragte ich weiter.

»Schlafend.«

»Weil Sie vorhin von Wahrung Ihrer persönlichen Freiheit sprachen, besonders während der Nacht.«

Leonard warf einen schnellen Blick um sich. Wir befanden uns schon im Freien, das Feld war hier mit einer kurzen Fruchtart bestanden, niemand war in der Nähe.

»Vorsicht!«, warnte er leise. »Wir könnten belauscht werden.«

»Hier? Von wem denn?«

Leonard wippte wie schon einmal mit der Fußspitze auf den Zementboden des Weges,

»Hohl! Hier ist alles hohl.«

»Unterirdische Gänge?«

»Nicht nur Gänge, sondern Räume. eine ganze unterirdische Stadt.«

»Aber doch nicht bis hierher, schon so weit von der Stadt entfernt!«

»Und ich sage Ihnen, das ganze Tal ist unterminiert, wir befinden uns sozusagen in der ersten Etage. Sprechen wir Französisch. Das versteht kein einziger Wulode, davon habe ich mich schon überzeugt.«

»Und woher wissen Sie, dass hier alles ausgehöhlt ist?«

»Diese unterirdischen Gänge zu erforschen, das ist eben der Beruf, dem ich mich während der Nacht hingebe, und wie wenig ich Schlaf brauche, wissen Sie doch.«

»Sie schleichen des Nachts da unten herum? Auf verbotenen Wegen?«

»Ja.«

»Leonard, seien Sie vorsichtig!«, warnte ich.

»Bah! Und Sie wohnen dort neben Ihrem Mühlenwerk?«

»Ja, ich habe mir eine Wohnung aus dem Felsen heraushauen lassen, bin ganz komfortabel eingerichtet.«

»Und auch schon verheiratet?«

»Nein, so fix geht das denn doch nicht bei mir!«, lachte ich.

»Hat man Ihnen auch keine Frau oder Braut angeboten?«

»Nein.«

»Gar nicht mehr zu Ihnen davon gesprochen?«

»Mit keinem Worte.«

»So? Hm!«

»Hat man Ihnen eine Frau ausdrängen wollen?«

»Ja, und da ich ganz energischen Widerstand entgegensetzte oder vielmehr der Kupplergesellschaft einfach ins Gesicht lachte, so wird man daher auch Sie mit solchen Anträgen verschont haben.«

»Dann sage ich Ihnen meinen besten Dank!«

»Ja, wollen Sie denn nicht heiraten? Wenigstens hier für Wulodschistan?«

»Monsieur Leonard, jetzt verstehe ich Sie nicht. Erst sagen Sie, Sie wollen...«

»Na, ich suche mir meine Zukünftige natürlich selbst, lasse sie mir doch nicht aufschwatzen oder auch nur zur Auswahl dutzendweise vorlegen.«

»Da haben Sie wohl gar schon eine bestimmte Absicht?«

»Allerdings.«

»Was Sie nicht sagen! Und auf wen ist denn die Wahl des neuen Löwen von Wulodschistan gefallen, wenn ich fragen darf?«

Wieder warf Leonard einen schnellen Blick um sich, und dann dämpfte er seine Stimme noch mehr.

»Eine Dabodscha muss es sein.«

»Dabodscha? Ich habe mir das Wulodschistanische schon recht hübsch angeeignet, aber dieses Wort habe ich noch nicht gehört.«

»Wissen Sie nicht, dass es hier auch Priesterinnen gibt?«

Mir stieg eine Ahnung auf — zugleich auch eine Besorgnis.

»Ja, die Göttin Sanja hat zu ihrer persönlichen Bedienung einige Priesterinnen, das habe ich schon gehört.«

»Sieben Stück, hier spielt die Zahl Sieben doch überhaupt eine große Rolle, und es müssen Jungfrauen sein, überhaupt die bevorzugtesten Exemplare ihres Geschlechts.«

»Und mit so einer haben Sie angebändelt?«, fragte ich überrascht.

»Noch nicht. Ich habe den unterirdischen Eingang zu der Pyramide, wo diese Jungfern hausen, noch nicht finden können. Aber eine Dabodscha muss es sein, oder ich verzichte ganz.«

»Ja, kann man denn eine solche heiraten?«

»I Gott bewahre, das ist doch das Allerheiligste in Fleisch und Blut, was es hier nur geben kann, dagegen waren selbst die römischen Vestalinnen gar nichts. Wenn aber Monsieur Leonard nun einmal heiraten will, dann muss es wenigstens...«

»Um Gottes willen, seien Sie vorsichtig...«

»Schon wieder einmal? Ich werde hier die Sitte einführen, dass diese heiligen Priesterinnen dennoch geehelicht werden dürfen — das heißt, nur von einem, nur von mir.«

»Leonard, treiben Sie nicht...«

»Na, denken Sie denn etwa, ich nehme die erste beste? Die überlasse ich Ihnen. Eine Dabodscha oder keine! Kennen Sie denn nicht die alte Geschichte von der verbotenen Frucht, die am besten schmeckt? Und dann auch noch dem, dem man sie gestohlen hat, klar machen, dass man sie ihm mit gutem Rechte gestohlen hat, ihn auch noch verspotten, das ist die höhere Kunst, dann kommt erst der richtige Geschmack.«

Was sollte man mit solch einem Menschen anfangen? Hier war jedes Wort verschwendet.

»Morgen werden die makasi gesprochenen Sklaven getötet«, begann ich wieder.

»Sie werden nicht getötet, sondern sie gehen freiwillig und heldenmütig in den Tod.«

»Meinetwegen. Und übermorgen beginnt das große Fest der Göttin, da werden sich die makasi gesprochenen Krieger opfern.«

»Ja, und ehe sie ihre Marterqualen beginnen, werde ich an einigen zeigen, wie man mit einem Schlage der flachen Hand jeden Knochen brechen kann.«

»Was?!«

»Ich habe Ihnen doch schon davon erzählt. Ich wollte diese meine Kunst an Sklaven probieren, aber die Krieger ließen das nicht zu, das sei eine zu große Ehre für die Sklavenseelen, die Krieger drängten sich massenhaft herbei, sich dazu anbietend, dass ich an ihnen demonstrieren solle, wie man mit einem Schlage der flachen Hand einen Knochen bricht und den Schädel spaltet. Doch ein herrliches Völkchen, diese Wuloden — zumal die Krieger! Aber da machte ich nicht mit, eben weil es mich dauert, solch einen prächtigen Kerl zum Krüppel zu schlagen. So sind wir übereingekommen, dass ich meine Kunst an den Kriegern zeige, die übermorgen sowieso makasi sind. Das heißt, erst übermorgen werde ich meine Vorstellung geben.«

»Sie wollen den zum Tode Verurteilten vorher noch die Knochen entzweischlagen?«

»Jawohl.«

»Leonard, Sie sind ein herzloses Scheusal!«

»Na, was denn? Die gehen doch sowieso in den Tod, und zwar unter den schauderhaftesten Martern, mit deren Erfindung sie jetzt schon ihre Phantasie abquälen, und ob sie da nun vorher einige Knochen gebrochen bekommen, das macht doch nichts aus, Sanja lässt sie wieder tadellos geboren werden.«

»Diese Ihre Worte beweisen mir nur noch mehr, dass Sie kein Herz haben, vielmehr ein wirklich grausamer Charakter sind.«

»Sie reden, wie Sie's verstehen. Dass ich diese Krieger als Versuchsobjekte wähle, das ist doch die allergrößte Ehre für sie. Sie streiten sich, losen ja darum.«

Leonard mochte recht haben — ich verstand es eben nicht.

Und zugleich, als ich diesen Mann einen herzlosen, grausamen Charakter nannte, musste ich daran denken, wie er unseren erkrankten Gefährten stundenlang durch die Sonnenhitze getragen hatte, während auch ich ihn damals ruhig hätte liegen lassen.

»Auch unser braver Malek ist von dem Hohenpriester makasi gesprochen worden.«

»Malek?«

»Der Führer der vier Krieger, die uns hierhergebracht haben.«

»Ach so, der — ja, jetzt entsinne ich mich. Richtig, auch der hat um die Ehre gebeten, dass ich ihm zuvor ein und den anderen Knochen breche. Weshalb wurde der eigentlich nicht des Lebens für würdig befunden?«

Dieses Franzosen Gleichgültigkeit war wirklich grenzenlos. Ich erklärte es ihm, wie es mir selbst berichtet worden war.

»Ist das nicht eine fürchterliche Ungerechtigkeit?«, setzte ich hinzu.

»Hm. Vielleicht für uns, aber nicht für die. Ländlich, sittlich.«

»Wissen Sie, was ich beabsichtige?«

»Nun?«

»Ich werde nicht dulden, dass dieser brave Mensch schon so früh in den Tod gehen muss, aus dem es vielleicht doch keine Rückkehr gibt. Ich werde unter Drohungen verlangen, dass er dem Leben erhalten bleibt.«

»Unter was für Drohungen?«

»Sonst weigere ich mich, meine Arbeiten fortzusetzen.«

»Haben Sie ihm selbst diese Ihre Absicht schon mitgeteilt?«, fragte Leonard spöttisch.

»Nein, und ich glaube schon, dass er mich entrüstet abweisen würde. Es wäre für ihn ein schmachvoller Vorschlag. Aber ich habe meinen Plan. Erst in dem Augenblick, wenn er in den Tod geht, werde ich vortreten und meine Forderung anbringen.«

Leonard blieb stehen und machte ein komischängstliches Gesicht.

»Hören Sie, Monsieur Schwarz«, suchte er mir nachzuäffen, »um Gottes willen, seien Sie vorsichtig...«

»Geben Sie Ihren ganz unangebrachten Spott auf, ich weiß, was meine Pflicht ist.«

Der Franzose wurde wieder ernst, sehr ernst.

»Sie mögen das als Ihre moralische Pflicht betrachten, und ich ehre diese Ihre Ansicht. Aber ich versichere Ihnen, dass Sie diesem Krieger durchaus keinen Dienst erweisen, vielmehr werden Sie nur Schmach über Schmach auf sein Haupt häufen. Ja, ich zweifle nicht, dass es Ihnen gelingen wird, sein Leben zu erhalten. Aber er wird Ihnen deshalb fluchen, zumal hier ein Selbstmord ohne Erlaubnis der Priester ein ganz undenkbarer Frevel ist...«

Und so versuchte Leonard, während wir durch die Felder wanderten, noch weiter, mir meinen Entschluss auszureden. Allein ich ließ mich nicht irre machen. Im Grunde genommen hatte er ja recht, ich musste das immer mehr zugeben, allein... ich weiß selbst nicht, was für eine innere Stimme das war, die mir aufs Energischste gebot, dieses Mannes Leben zu retten.

Ich sah immer noch im Geiste, mit welch bleichem Gesicht er sich damals umgewendet hatte, diesen todestraurigen Blick auf mich — und ich sah das schöne Mädchen, wie es mit demselben Blick so halb schmerzlich, halb vorwurfsvoll, an mir vorbeigeschritten war.

Wissen Sie, dass er schon verlobt ist?«

»Warum soll er nicht?«

»Seine Braut geht mit ihm in den Tod.«

»Das ist hier so üblich, und sie ist maßlos stolz darauf, mit dem Geliebten sterben zu dürfen.«

»Das bezweifle ich. Es sind Menschen aus Fleisch und Blut.«

»Reden Sie doch nicht! Oder versuchen Sie einen Kariben durch moralische und ethische Gründe zu überzeugen, dass es unrecht sei, den im Kampfe ehrlich erschlagenen Feind aufzufressen. Das gelingt vielleicht durch Erziehung im Laufe einiger Jahre, aber doch niemals so durch eine kurze Unterredung.«

Ich ließ mich nicht irremachen, ich musste meiner inneren Stimme, von der ich mir selbst keine Rechenschaft abgeben konnte, gehorchen.

»Nun gut«, stimmte endlich auch Leonard bei. »Ich ehre Ihren guten Willen, ich bin bereit, Sie zu unterstützen, aber meine Warnung vorhin war im Grunde genommen doch nicht so spöttisch gemeint, wie ich sie vielleicht hervorgebracht habe. Die Selbstaufopferung der Sklaven und noch mehr die der Priester und Krieger ist mit dem heiligsten religiösen Feste verbunden, das hier stattfindet. Es ist selbst eine heilige Zeremonie. Diese dürfen Sie auf keinen Fall unterbrechen. Das würde zu einem Skandal führen, Sie könnten vom Volke gelyncht werden, auch wenn die Priester Sie schützen wollten. Haben Sie schon mit Ihrem Oberpriester Aleddin darüber gesprochen?«

Nein, das hatte ich noch nicht getan, und jetzt musste ich meinem Freunde recht geben, wenigstens in dieser einen Beziehung.

Wir trennten uns. Leonard wollte sich nach der Stadt zurückbegeben, aber als ich noch einmal zurückblickte, sah ich, wie er an der das Tal einschließenden Felswand emporkletterte, obgleich uns von den Priestern, als wir die allgemeinen Verhaltungsmaßregeln erhalten hatten, gesagt worden war, dass dies nicht erlaubt sei. Für die Wuloden selbst war das Ersteigen dieser Felswand ohne Erlaubnis der Priester, etwa um Bildhauerarbeiten auszuführen, ein so großes Verbrechen, dass niemand an so etwas nur dachte. Denn es gibt doch Taten, an deren Ausführung jemand, solange er bei gesunden Sinnen ist, auch nicht im Traume denkt, sagen wir etwa, um nur ein einziges Beispiel anzuführen: Menschenfresserei. Nun, dieser Franzose ging eben seine eigenen Wege, so mochte er auch die Verantwortung tragen.

Ich selbst wollte mich nach dem Platze meiner Tätigkeit zurückbegeben, wo ich bestimmt Aleddin zu finden hoffte, und jetzt wollte ich doch einmal mit ihm wegen Maleks sprechen.

Ich hatte erst die Hälfte des Weges zurückgelegt, als mir ein junges Weib entgegenkam, in dem ich Raviena erkannte, die Braut Maleks.

Wo sich Malek befand, wusste ich gar nicht, nur, dass er bis zur Vollstreckung des Urteils seinem Dienste als Krieger wie gewöhnlich nachging, ich hatte ihn nicht wieder gesehen, ebenso wenig wie Raviena, deren Namen ich zufällig erfahren hatte.

Beim Näherkommen erkannte ich, welch einen Eindruck diese Begegnung auf sie machte, wie sich ihr schönes Gesicht veränderte, wie sie die Lippen etwas zusammenpresste und so sich darauf vorbereitete, ganz gleichgültig an mir vorüberzugehen.

»Raviena!«

Mit der Höflichkeit, wenn nicht Respekt, den man mir überall entgegenbrachte, blieb sie stehen. Ihre Lippen schlossen sich noch fester zusammen, ich glaubte einen fast feindseligen Blick zu erkennen — und aus alledem konnte ich nur schließen, dass sie doch nicht so ganz von der Ehre des gemeinsamen Todes überzeugt war, wie die Landessitte es vorschrieb, und ich war die Ursache des Makasis, wenn auch ganz indirekt.

»Was willst du von mir, Fremdling?«, erklang es mit erkünstelter Höflichkeit, der schon die Worte widersprachen.

»Wo ist Malek?«

»Im Gebirge auf Wache.«

»Wo da?«

Sie nannte einen Ortsnamen und beschrieb den Platz näher. Es war die am weitesten entfernte Station von hier.

»Er ist immer dort gewesen?«

»Immer.«

»Du hast ihn noch nicht wieder gesehen?«

»Ich gehe täglich zu ihm und bringe ihm das Essen.«

Dass hier ein solch familiäres Leben herrschte, wusste ich. Die Frauen oder Kinder oder Bräute versorgten die zu ihnen gehörenden Krieger oder Arbeiter, wenn diese anderweit beschäftigt waren, täglich mit allem, was sie brauchten.

»Er wird übermorgen sterben.«

Jäh fuhr sie empor, drohend rückten ihre Brauen zusammen, die großen, blauen Augen sprühten Blitze.

»Fremdling, was sagst du das mir?«

Ja, ich war nicht umsonst so rücksichtslos gewesen. Ich hatte sie nur prüfen wollen, und ich hatte mich nicht geirrt. Wäre ihr das so gleichgültig gewesen oder eine Freude, so hätte sie sich ganz anders verhalten müssen.

»Eigentlich sind doch wir Fremden daran schuld, dass er für makasi erklärt worden ist«, reizte ich sie noch mehr.

»Fremdling, was sagst du das mir?!«, wiederholte sie in derselben Weise, ihre hohe Gestalt immer höher aufrichtend.

»Und du wirst mit ihm sterben?«, fuhr ich unerbittlich fort.

Da besann sie sich, dass sie sich anders zeigen müsse. Sie bezwang sich, ein trotziges Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Du wirst sehen, wie wir beide zu Ehren der Sanja sterben werden.«

»Aber würdet ihr beide nicht lieber leben bleiben?«

»Was sagst du da?«

»Wenn ich nun die Priester bitte, dass ihr beide leben bleibt?«

»Ich verstehe dich nicht.«

Ich sah ihr an, dass sie mich auch wirklich nicht verstand.

»Ich werde die Priester oder wer sonst hierüber zu bestimmen hat, veranlassen, dass ihr beide nicht sterben, sondern euch heiraten sollt.«

Ach, dieses ungläubige und dann so glückliche Lächeln!

»Fremdling, wenn du das...«

Da veränderte sich abermals das Gesicht, es wurde noch stolzer.

»Ich weiß nicht, was du da sprichst, ich verstehe dich nicht, und du verstehst uns nicht«, sagte sie und ging schnell davon.

Jetzt aber war ich meiner Sache sicher, wenigstens in Bezug auf Raviena.

Es gibt eben doch noch etwas Besseres als solch einen Glauben an die Wiedergeburt — — es ist einfach das Leben selbst.

An meiner Werkstätte traf ich Aleddin, trug ihm fofort mein Begehren vor. Auch zu ihm sprach ich ganz Unverständliches.

»Wieso sollst du schuld sein an seinem Makasi?«

Wenn es mir nicht gelang, ihm dies begreiflich zu machen, so war dies doch das eine, wo er mit mir fühlen konnte.

Aber dass ein Krieger es vorziehen könnte, das Leben geschenkt zu bekommen, nachdem er einmal makasi erklärt worden war, das verstand er niemals.

»Aber ich verlange es!«

»Du verlangst etwas für uns Unerhörtes.«

»So sei einmal eine Ausnahme gemacht.«

»Malek wird dir keinen Dank wissen, er wird maßlos unglücklich sein, wird dir fluchen.«

»Und Raviena, seine Braut?«

»Von der gilt ganz dasselbe.«

»Gleichgültig, die beiden sollen am Leben bleiben und einander als Mann und Frau gehören.«

»Du häufst Schmach über Schmach auf ihre Häupter, man wird sie maßlos verachten.«

»So gebe man den Befehl, dass sie nach wie vor geachtet werden.«

»Es ist vollkommen unmöglich. Sie können am Leben bleiben, aber dass sie noch geachtet werden, das können wir nicht befehlen. Oder es wäre nur ein äußerer Schein, dem die beiden ja doch niemals glauben würden.«

Dass dem so sein würde, das verstand auch ich.

»Gut, so sei ihre Strafe die, dass sie lebenslänglich verachtet werden.«

»Und warum willst du die beiden mit solch einer fürchterlichen Schande bestrafen?«, fragte Aleddin förmlich traurig.

Fast wäre ich irre geworden. Da aber sah ich wieder die Augen der beiden auf mich geheftet, und ich blieb fest, gehorchte der inneren Stimme, die noch immer nicht schweigen wollte.

»Und ich will es! Ich kann es nicht ertragen, dass ein Mensch meinetwegen den Tod erleidet, und hätte ich ihn auch noch gegen meinen Willen verschuldet — wir Engländer haben darüber unsere eigenen Ansichten. Malek und seine Braut dürfen nicht sterben!!«

Da gab Aleddin den Widerstand auf. Er ging, um sofort mit den anderen Oberpriestern oder gar mit dem Sannyasi darüber zu sprechen, ob mein Verlangen zu erfüllen sei.

Ob er es erreichen würde, das war ja freilich noch sehr zweifelhaft. Ich selbst mochte nicht recht daran glauben. Aleddin hatte meinem Wunsche, der etwas hier ganz Unerhörtes verlangte, gar zu wenig Widerstand entgegengesetzt. Mit einem Streik hatte ich noch gar nicht zu drohen brauchen.

Schon nach einer halben Stunde kehrte er zurück, und in Anbetracht des Weges hatte er kaum fünf Minuten sprechen können.

»Dein Wunsch soll erfüllt werden, Malek bleibt am Leben.«

Freudigeres hätte ich nicht hören können.

»Und Raviena?«

»Für die gilt selbstverständlich das gleiche, die ist ja gar nicht makasi erklärt worden.«

»Und was wird nun aus den beiden?«

Aleddin schilderte es mir. Malek kam auf eine einsame Station im Gebirge, die er nie wieder verlassen würde. Seine einzige Gesellschaft war Raviena. Für kasi konnte der einmal Verurteilte nicht mehr erklärt werden, das hätte das ganze Volk tödlich beleidigt, noch mehr, als wenn etwa bei uns ein Adliger wegen eines ehrenrührigen Vergehens in den bürgerlichen Stand versetzt würde.

»Die beiden werden ein schmachvolles Leben führen, und dass sie niemand mehr ins Gesicht zu sehen brauchen, kann für sie kein Trost sein.«

Ich hätte zufrieden sein können, und doch wurde ich wieder etwas irre, ob mich diese seltsame innere Stimme nicht doch vielleicht getäuscht habe. Kann denn wirklich Liebe allein für ein schmachvolles Leben entschädigen? Und wie wollte ich, der ich mich erst zwei Wochen hier befand, über die Ehransichten dieser weltabgeschlossenen Wuloden urteilen?

Ich sollte bald noch mehr zweifeln, ob ich da auch recht gehandelt hätte.

Noch an demselben Abend begegnete ich ihm, dem ich das Leben gerettet hatte.

Mit finsterem Gesicht blieb Malek vor mir stehen.

»Fremdling, was habe ich dir getan, dass du mich mit Schmach bedeckst.

Ich wusste keine zusammenhängende Antwort, stammelte nur irgend etwas, und Malek ging davon, ohne mich weiter zu hören. Sein erst drohendes Gesicht hatte sich zuletzt in ein zum Tode betrübtes verwandelt. Ihm nachblickend sah ich, wie sich andere, ihm begegnende Krieger verächtlich von ihm abwandten.

Das konnte nicht dazu beitragen, mich in dem Glauben zu bestärken, dass ich eine gute Tat vollbracht hätte.

Bis spät in die Nacht verfolgte mich dieser Zweifel, bis ich davon auf eine sehr eigentümliche Weise erlöst werden sollte.

Meine Wohnung, die Ned mit mir teilte, war also neben der Werkstatt in den Felsen eingehauen, aus mehreren Räumen bestehend, die nötigen Möbel in Stein stehen gelassen, wie es hier allgemein üblich ist.

Türen findet man bei diesen Wohnungen selten. Vor wem sollte man denn hier etwas verschließen? Und auch ich hatte noch keine.

Schlummerlos lag ich noch lange Stunden auf dem mit vielen Decken belegten Steinbett, immer darüber nachgrübelnd, was ich da gerichtet hatte, bis ich in jenen Zustand kam, da man weiß, dass man gleich einschlafen wird, es aber noch immer nicht kann — ein Zustand der Übermüdung, wobei man auch oft schon Träume hat.

Da fühlte ich plötzlich, wie meine herabhängende Hand ergriffen wurde, weiche Frauenhaare fielen darüber, zwei heiße Lippen pressten sich zum langen Kusse darauf — »Habe Dank, edler Fremdling!«, flüsterte eine Stimme, die ich sofort wiedererkannte — — und jetzt konnte ich beruhigt einschlafen, jetzt wusste ich, dass ich dennoch ein gutes Werk getan hatte. Von der einen Seite wenigstens fand es Anerkennung, und sie würde auch den anderen Teil trösten und dadurch glücklich machen.

Was ich mir aber dadurch selbst genützt hatte, das sollte ich erst später erfahren.

--*--

Zwölftes Kapitel

Originalseiten 179 — 197

Das Fest der Göttin Sanja war angebrochen. Die ganze Bevölkerung des Tales zog festlich gekleidet unter Gesang — Musikinstrumente kennen die Wuloden nicht — nach der Berghöhe, wo sich die innerhalb des letzten Vierteljahres makasi erklärten Arbeiter und ihre Frauen und die Kinder, welche schon dieses öffentlichen Todes für würdig befunden werden, in die Schlucht stürzen.

Denn sonst werden nur die des Lebens für unwürdig gehaltenen Kinder augenblicklich getötet, die Erwachsenen werden für das vierteljährige Fest der Sanja aufgespart, mit Ausnahme eben derjenigen Kinder, die schon eine Probe ihres Mutes ablegen wollen.

Aleddin hatte mich bereits einmal aufgefordert, dem Schauspiel beizuwohnen, wenn die Kinder in die Schlucht geschleudert wurden oder auch von selbst hineinsprangen. Entrüstet hatte ich diese Einladung abgelehnt. Heute schloss ich mich dem Zuge der Zuschauer an.

Es war ein Volksfest. Dort oben war alles dazu vorgerichtet, ungeheure Mengen von Speisen waren hinaufbefördert worden, es wurde geschmaust. Die Arbeiterkaste hatte ihre eigentümlichen gymnastischen Spiele, aber weit entfernt von denen der Krieger, mehr so eine Art Topfschlagen und dergleichen, und dazwischen beförderte sich immer einmal eine Abteilung der Makasis durch einen Salto mortale vom Leben zum Tode.

Ja, durch einen Salto mortale. Das ist ganz wörtlich zu nehmen.

Am Rande der kesselartigen Schlucht, deren Grund nicht zu erblicken, waren mehrere elastische Sprungbretter angebracht. Und die zum Selbstmord Verurteilten machten richtige Springkunststückchen. Mit einem Anlauf setzten sie an, schnellten hoch und gingen mit einem Kopfsprung oder mit einem einfachen oder gar doppelten Salto mortale ab in die Tiefe, und je eleganter sie den Todessprung ausführten, desto lauter wurden sie beklatscht und bejubelt, sodass sie es noch hören mussten, ehe sie in die Tiefe sausten, um unten zu zerschmettern. Fanden sie denn wirklich ihren Tod? Selbstverständlich! Und wenn auch in der grundlosen Tiefe etwas wie ein Sprungtuch angebracht gewesen wäre, das hätte den Todessturz nicht aufhalten können.

Aber wirklich, immer mehr schwand das Bewusstsein, dass hier Menschen in den Tod gingen. Das konnte doch nur ein Spiel sein. Ebenso benahmen sich auch die Weiber. Mit ihren besten Kleidern angetan, mit Blumen und Nihilitspangen geschmückt, schritten sie singend und mit rhythmischen Bewegungen der Arme und des ganzen Körpers auf das Brett, um sich dann mit einem möglichst graziösen Abgang in den Abgrund zu stürzen. Besonders beliebt war auch der Absturz rückwärts, ohne dass dadurch an Grazie etwas verloren ging. Ich sah ganz deutlich, wie die Frauen und Mädchen noch im Hinabstürzen bemüht waren, ihre heitere Würde und Eleganz zu wahren — so merkwürdig das auch klingen mag, es war wirklich so, und Ähnliches sieht man ja auch bei Delinquenten beim Besteigen des Schafotts und länger noch — und auch sie mussten noch den langanhaltenden Jubel der Bewunderung hören — bis unten die schönen Leiber zerschellten.

Ich kann mich nur wundern, dass durch solches Beispiel und solchen Beifall keine allgemeine Selbstmordmanie entsteht, dass man sich nicht massenhaft herbeidrängt, um sich in die Schlucht zu stürzen.

Eine Verhinderung ist nur dadurch möglich, dass nach der Lehre der Priester ein derartiger Selbstmord für die spätere Wiedergeburt nicht nur gar keinen Zweck, sondern auch noch große Nachteile hat, und dass der Selbstmörder außerdem im Jenseits, d. h., in der heiligen Pyramide, von der Göttin Sanja mit furchtbar harten Strafen belegt wird. Schließlich würde so ein freiwilliger Selbstmord auch noch missbilligt, verhöhnt werden.

Solch ein Auspfeifen sollte ich erleben, aber nicht für unerlaubten Selbstmord, sondern ganz für das Gegenteil.

Auch einige Kinder hatten so mit möglichster Bravour den Todessprung ausgeführt, dann kamen wieder einige Männer daran, dann wieder eine Frau.

Singend und tanzend betrat das Weib das Sprungbrett. Aber es kam mir gleich so vor, als ob die Fröhlichkeit nicht so recht von Herzen ginge. Und immer unsicherer wurde die singende Stimme, immer zögernder der Schritt. Und dann kam das Entsetzliche. In einem Moment war alles vorbei, die Reaktion trat ein: Beim ersten Blick in die Tiefe schlug die junge Frau die Hände vors Gesicht. Mit einem gellenden Schrei rannte sie zurück — da wurde sie gepackt, und unter dem Johlen und entrüsteten Pfuirufen der Menge ward sie wieder vorgeschleppt...


Illustration

Mehr sah ich nicht. Ich hatte mich schon gewendet, verließ furchtbar erschüttert den Platz, begab mich nach meiner Werkstätte. Aber das missfällige Johlen der Menge gellte mir noch lange nach, und das konnte nicht beitragen, den freudigen Stolz des willigen Selbstmörders zu dämpfen.

*

Am anderen Tage fanden die Todesspiele der Krieger statt.

Hierzu war auch ein Amphitheater vorhanden, ganz nach römischer Art gebaut, auf dessen steinernen Bänken die ganze Bevölkerung Platz hatte, sodass nur die Hälfte der kleinsten Kinder und von den Erwachsenen nicht einmal alle Weiber auszuschließen waren. Aber es waren nur religiöse Feste, die hier abgehalten wurden, und so war auch ein großer Tempel vorhanden, in welchem sich bei dieser Gelegenheit die Göttin Sanja dem Volke öffentlich zeigte, die ihr zu Ehren stattfindenden Kampfspiele und Marterszenen mit eigenen Augen beobachtend — auf welche Weise, werde ich später schildern.

Nachdem auf einer Plattform der Sannyasi erschienen war und seinen Segen erteilt hatte, sich jetzt im Sonnenschein ohne Hokuspokus als ein richtiger Mensch aus Fleisch und Blut offenbarend, nachdem die sichtbar werdende Göttin angebetet worden war, begann das Fest.

Zunächst Massen- und Einzelkämpfe auf Leben und Tod der makasi erklärten Krieger, und man bekam ebenso herrliches wie blutiges Waffenspiel genug zu sehen. Auf eine Einzelbeschreibung verzichte ich. Solche blutige Szenen liegen mir nicht. Die Toten und Sterbenden wurden in den Tempel getragen, während jene, die sich nur irgendwie noch auf den Beinen halten konnten, wie die Unverwundeten ihre Todesverachtung durch Qualen aller Art zeigten, nicht minder ihre ebenfalls dem Tode geweihten Frauen und Kinder. Der Tod in den Flammen wurde bevorzugt, die Phantasie hatte ganz raffinierte Martern ersonnen. Sich langsam die Hand und den Arm abschwelen zu lassen, war eine Kleinigkeit. Mag das genügen.

An den noch Unversehrten sollte auch Leonard seine Kunst zeigen, wie er Arme und Köpfe mit einem Schlage der flachen Hand zerbrechen könne. Als aber diese Nummer des Programms darankommen sollte, war mein Monsieur plötzlich verschwunden. Ich selbst hatte ihn soeben noch gesehen, und jetzt hatte er sich mit einem Male unsichtbar gemacht.

Man schickte Boten aus, ihn zu suchen, man war sehr ungehalten über ihn — aber auf den Verdacht, er hätte als Großprahler, der seine Versprechungen nicht halten konnte, das Weite gesucht, kam wohl niemand. Dazu stand Leonard, der gewiss niemals renommierte, schon in zu hoher Gunst. Dieser Franzose, der sich weder vor dem Teufel noch vor dem Hohenpriester der Wuloden fürchtete, war eben gewöhnt, immer seine eigenen Wege zu gehen und immer gerade das Gegenteil von dem zu tun, was man von ihm erwartete,

Und ich selbst hoffte, dass er sich deshalb unsichtbar gemacht habe, um den an sich schon genug blutigen Szenen durch seine Schlagfertigkeit nicht noch ein anderes barbarisches Schauspiel hinzuzufügen. Denn wie sehr man sich in dem Charakter dieses Mannes täuschen konnte, sah ich immer mehr ein.

Nun komme ich zur Hauptsache.

Der Sannyasi hatte das Volk gesegnet. Er betete, dass die Göttin Sanja erscheinen möge — da einige krachende Donnerschläge. Oben an dem Tempel, etwa in der Höhe der dritten Etage, öffnete sich in der Wand eine Klappe, ein Brett schob sich heraus, und auf diesem lag lang ausgestreckt, in der Art einer Sphinx, ein Tiger mit einem Frauenkopf, lebensgroß und in natürlichen Farben, d. h., der Königstiger buntgestreift, und der zu der Gestalt des großen Raubtieres etwas zu klein geratene Menschenkopf, weiß und von langen, blonden Haaren umwallt, und zwar war das Zwittergeschöpf lebendig, denn es hob manchmal eine Pranke, peitschte mit dem Schweife den Boden, und der Frauenkopf wandte sich hin und her.

Das ganze Volk hatte sich vor der Göttin zu Boden geworfen, auch die Priester.

Meine Enttäuschung war grenzenlos. Da war damals das Erscheinen des Sannyasis, der nur ein menschlicher Diener dieser allmächtigen Göttin, doch in viel effektvollerer Weise vor sich gegangen.

»Das war nischt«, ließ sich da der zigarettenrauchende Leonard an meiner Seite vernehmen — er hatte sich unbemerkt wieder eingefunden — »Mehr Pomp, mehr Pomp! Monsieur Schwarz, das Nächste muss sein, dass Sie dieses harmlose Völkchen mit Trompeten und Posaunen beschenken, das ist ihnen jetzt noch nötiger als die Flinte.«

Leonard hatte recht. Die Donnerschläge hatten nicht genügt.

Und sollten denn die Wuloden, auch wenn sie noch keinen lebendigen Tiger, überhaupt noch kein vierfüßiges Tier gesehen hatten, nicht wissen oder doch ahnen, dass das dort oben ganz einfach ein Frauenzimmer war, das in einer Tigerhaut steckte, die man hinten noch etwas ausgestopft hatte?

Die Lage der Tigersphinx war ja eine recht natürliche, d. h., einem Tiger entsprechend, und den hinteren Teil konnte man auch nicht richtig sehen, man sah nur ab und zu den Schwanz wedeln, zudem war ja auch die Höhe eine ganz bedeutende.

Ich hatte mein Taschenfernrohr bei mir, das schon immer die Bewunderung der Wuloden erregt hatte, hatte den Priestern versprochen, auch solche Fernrohre zu liefern, eine Uhr und dergleichen Instrumente, die ich bei mir gehabt und die sie mir gelassen hatten, nachdem ich ihnen ihre Nutzanwendung erklärt hatte.

Nachdem die einleitende Zeremonie vorüber war, die Kampfspiele schon begonnen hatten, richtete ich das sehr scharfe Fernrohr ungeniert nach der Tigersphinx.

»Die Dame dort oben hat aber einen ganz anderen Typus als sonst die Frauen hier«, sagte Leonard, dessen Falkenblick ich schon oft genug bewundert hatte.

Ja, so war es. Solch ein weißes Gesicht, solch einen schlanken Hals, an dem jedes Äderchen sichtbar war, gab es hier nicht.

»Das ist ein echt englisches, will sagen, ein echt angelsächsisches Gesicht«, fügte Leonard noch hinzu.

Ich konnte ihm nur beistimmen. Man kann die angelsächsische Rasse sofort erkennen. Besonders die weiblichen Vertreter. Aber richtig zu charakterisieren vermag ich sie nicht. Man sieht sie in England noch oft genug, besonders in aristokratischen Kreisen und am meisten im Norden, aber auch in dem internationalen London. Dabei ist nicht immer nötig, dass die Rasse ganz rein erhalten geblieben ist. Der angelsächsische Typus kommt bei einem Individuum plötzlich wieder unvermischt zum Durchbruch.

Sie sind wunderbar, diese weiblichen Köpfe der rein angelsächsischen Rasse. Zunächst immer goldenes Haar, das nicht, wie ein beliebter Romanausdruck lautet, in der Sonne ›Funken sprüht‹, sondern das wie Metall schimmert, eben wie Gold gleißt, und dazu gehörig eine Haut so weiß wie frischgefallener Schnee, die aber nie sommersprossig, von keiner Sonne gebräunt werden kann. Außerdem durch die Weiße durchaus nicht kränklich aussehend, es ist keine Bleichheit, ganz im Gegenteil, diese Gesichter tragen ohne jede Röte dennoch den Stempel einer kraftvollen Gesundheit. Und der immer sehr kleine Kopf auf einem ziemlich langen Halse, der aber die edelsten Linien zeigt — Edith Schwanenhals — und an diesem schneeigen Halse tritt das kleinste Äderchen blau hervor. Die Nase adlerartig, manchmal sogar hakenförmig, aber edel und klein...

Der Leser dürfte vielleicht finden, dass durch solch eine Beschreibung nur ein Zerrbild entsteht. Man sollte das dem Maler überlassen. In Wirklichkeit sind es die herrlichsten Frauenköpfe, wie man sie in dieser Eigenart sonst nirgends in der Welt findet.

»Nun weiß ich, woher die Wuloden ihre Kenntnisse über Europa haben«, ließ sich Leonard wieder vernehmen. »Das ist ja eine unverfälschte angelsächsische Engländerin, wie nur je eine unter König Manfred am Druidenstein geopfert hat.«

Ich machte keine Einwendungen.

Mein Fernrohr zog die Tigersphinx bis auf fünf Meter zu mir heran, so dass ich an dem herrlichen Halse jedes Äderchen erkennen konnte, und auch, wie das Tigerfell an diesem schneeigen Halse nicht ganz schloss.

Ich hörte nichts mehr, sah nur eines noch.

Ach, und wie ward mir!

Welche Erinnerungen rief dieses Antlitz in mir wach!

Ich hatte nur einmal in meinem bisherigen Leben Gedichte gemacht, weil ich nur einmal geliebt hatte. Geliebt mit der Kraft der ersten Liebe!

Es war in einem elenden Public house, einer Restauration im verrufenen Whitechapel, in die ich einmal hineingeraten war. Sie war die Tochter oder sollte es sein. Vater und Mutter waren schwarzhaarige Halunken. Und sie wussten, was sie an dem fünfzehnjährigen Mädchen hatten. Ich habe kein Wort mit ihr gewechselt, habe es nie gewagt. Ein halbes Jahr suchte ich sie täglich auf, um sie im Stillen anzubeten. Dann... wurde sie verkauft. An irgendeinen Baron. Da wurde aus mir ein Mann — nachdem sich der schwärmerische Jüngling verblutet hatte.

Ach, ich habe schon gar viel durchgemacht! Mir braucht niemand was von Liebesweh zu erzählen.

Und nun sah ich meine Göttin, die sie noch immer war und wohl immer bleiben wird, dort oben wieder — als Göttin eines unbekannten Volkes im Herzen Australiens!

Das heißt nicht etwa, dass sie es war! Das konnte ich durch mein Fernrohr erkennen. Ich hatte die Göttin in Whitechapel doch nicht umsonst ein halbes Jahr lang Tag für Tag angestarrt. Nein, das war eine andere. Nur derselbe Typus, und daher die Erinnerungen.

Die Kampfspiele nahmen ihren Fortgang, es wurden Marterszenen daraus. Ich sah nichts davon. Ich sah nur eins.

Ach, dieses Antlitz, diese Augen!

Ich habe schon öfters von todestraurigen Zügen und todestraurigen Augen gesprochen. Ich hätte es nicht tun sollen, hätte es bis jetzt aufsparen müssen. Das hier, das waren wahrhaft todestraurige Augen, die auf die blutigen Schauspiele herabblickten, aufgeführt zu Ehren dieses Mädchens, das man in eine Tigerhaut gesteckt und aus dem man eine Göttin gemacht hatte, die solche Gräuelszenen lieben sollte.

Ach, diese schmerzlichen Züge, diese Augen, die so herabblickten! Was ist dagegen die Mater dolorosa, die zum Kreuzesstamm des Sohnes emporblickt! Und ich fühlte mit ihr alles, alles.

»Hörst du denn gar nicht? Willst du mir nicht einmal das lange Rohr geben?«

Aleddin mochte es schon mehrmals gesagt haben.

Ich schrak aus meinen Träumen empor, gab ihm das Fernglas.

»Was für ein Mädchen ist das?«, entfuhr es mir, während er das Glas noch nicht vor das Ange brachte.

»Ein Mädchen? Das ist die Göttin Sanja.«

Ich war nicht recht bei Besinnung, dass ich das Folgende sprach.

»Eine Göttin? Ja, eine Göttin. Woher aber habt ihr das Tigerfell, in das ihr sie gesteckt habt?«

Auch die Augen dieses sonst so ruhigen Oberpriesters konnten einmal Blitze schleudern.

»Wie, Fremdling, du wagst, unser Allerheiligstes zu verspotten?!«, zischte er mich mit leiser Stimme an. »Hüte dich! Dein langes Auge hat dich getäuscht! Es ist die Göttin Sanja, die nur als fabelhaftes Ungeheuer erscheinen kann, mit einem Frauenkopf — hüte dich!«

Er entfernte sich. Und ich war doch jetzt ob meiner Worte etwas erschrocken.

Donnerschläge, welche, wenn sie mechanisch hervorgebracht wurden, einen kolossalen Apparat erforderten, und die Plattform, auf dem die Tigersphinx lag, wurde zurückgezogen — in den Kampfspielen war eine Pause eingetreten.

So verging einige Zeit.

Neue Donnerschläge, die Göttin erschien wieder. um den Selbstmartern der Krieger beizuwohnen.

Ich sah nicht hin. Meine Augen hingen nur an der Tigersphinx, an dem Mädchenkopf. Mein Fernrohr vermisste ich nicht dabei. Mit bloßen Augen konnte ich die Züge nicht unterscheiden, so gut mein Gesicht auch sonst ist — jeder Zug hatte sich mir eingegraben, und ich träumte.

Der letzte der makasi erklärten Krieger beging Selbstmord. Und er übertraf an Raffiniertheit alle seine Vorgänger, er lieferte ein Beispiel von langsamer Selbstmarterung unter Flammenpein, so furchtbar, dass ich lieber gar nichts davon auch nur andeuten will.

Es war geschehen, die Seele des stolzen Kriegers, der unter den entsetzlichsten Schmerzen lächelnd gestorben war, flatterte hinüber nach der Pyramide zur einstigen Wiedergeburt, das Volk hatte angesetzt zum enthusiastischen Jubel, aber noch schwieg es, noch herrschte Todesstille, alles blickte empor zu der Göttin, ob die nicht ein Zeichen gäbe, dass sie zufrieden sei mit ihren Auserwählten. Auch ich blickte empor.

Und da — da steht plötzlich die Tigersphinx auf — steht auf, wie ein Tiger aufsteht — schüttelt den Frauenkopf, dass die langen Haare fliegen — und dann stößt sie ein donnerndes Tigergebrüll aus — und dann wendet sie sich, wie sich ein Tiger wendet — schreitet, wie ein Tiger schreitet — und verschwindet mit dem mächtigen Satze eines Königstigers in der Öffnung der Wand!

Tosender Jubel brach in dem Amphitheater los. Die Göttin hatte über das Gesehene ihr Wohlgefallen ausgedrückt, nun würde sie auch reiche Ernten und anderen Segen geben.

Aber ich, ich!! Wie soll ich schildern, wie mir zumute war! Mir hatte plötzlich eine kalte Todesfaust in den Nacken gegriffen, mir versagten vor Schreck die Knie!

Also doch wirklich eine scheußliche Missgeburt! Ein Tiger mit einem schönen Mädchenkopf!

Oder glaubt man, wenn ein Geschöpf sich bewegt, läuft, springt, ich könnte nicht unterscheiden, ob das ein wirklicher Tiger oder nur ein in einer Tigerhaut steckender Mensch ist? Ich glaube, das kann wohl jedes Kind unterscheiden, sogar ein Blödsinniger. Wenn Tierimitationen gemacht werden, etwa im Zirkus, so wählen sich gelenkige Clowns am liebsten die Maske eines Affen, durch Übung können sie ja nun auch Großes in dieser Nachahmung leisten — aber zu unterscheiden ist es doch immer und sofort.

Nein, das hier war dem Körper nach ein echter Tiger gewesen!!

Oder glaubt man, ich könnte auf fünf Meter Entfernung ein echtes Menschenantlitz nicht von einer Maske unterscheiden?

Nein, auf diesem echten Tigerleib war ein echter Menschenkopf mit einem Mädchenantlitz gewesen!!

»Das ist ja wieder ein netter Hokuspokus, den man uns hier vormacht«, sagte da Leonard, wieder neben mir auftauchend.

Da war es vorbei.

Denn nun noch eins: Denkt man etwa, ich glaube, dass es Tigerleiber mit Menschenköpfen gibt?

Nein, so dumm bin ich nicht.

Aber es gibt Momente, da man alles glauben kann. Wer in der Nacht, im finsteren Keller, plötzlich eine weiße Gestalt auftauchen sieht, und er glaubt nicht im ersten Moment, er sehe ein Gespenst, einen Geist — d. h., er behauptet hinterher, er habe sofort gewusst, dass es nur ein weißgekleideter Mensch war — der braucht deswegen noch kein Lügner, kein Prahlhans zu sein — aber von der Funktion des menschlichen Gehirns und der Seele hat er jedenfalls gar keine Ahnung.

Was man im nächsten Moment denkt und sich erklärt, das ist wieder etwas ganz anderes!

Und so musste ich schildern, was ich im ersten Moment dachte, sonst hätte ich in meinem Tagebuch lieber ganz trockene Berichte bringen sollen.

Es steckt zu viel prometheischer Stolz im Menschen, aber weil er kein echter, göttergleicher Prometheus ist, so verwandelt sich dieser trotzige Stolz, der für alles sofort eine Erklärung haben muss, nur zu oft in prahlerische Dummheit. Ich fühlte noch den Schreck in allen Gliedern, doch der Wahn selbst war vorbei.

»Ja, das war ein echter Tiger, und vorhin war es ein echter Mädchenkopf.«

»Ich habe es gar nicht mehr richtig sehen können. Was sagte Ihnen das Fernrohr?«

Das hatte mir Aleddin entführt, und das nicht umsonst. O, diese Priester!

»Eine Schwefelbande!«, sagte Leonard, als ich ihm davon berichtete.

»Und dazwischen musste sich die Göttin einmal zurückziehen, damit das ausgestopfte Tigerfell mit dem echten Menschenkopf durch einen echten Tiger mit einer menschlichen Maske ausgetauscht werden konnte.«

»Na, das ist doch selbstverständlich, hier öffentlich konnte das doch nicht gemacht werden.«

»O, halten die uns für dumm, dass sie uns so etwas weismachen wollen! Ganz besonders auf mich hatten es die Priester abgesehen, deshalb nahm mir Aleddin rechtzeitig das Fernrohr weg.«

»Die schließen ganz einfach von sich auf andere, und unser Ned ist übrigens schon ein echter Bürger dieses glücklichen Tales geworden.«

Ned Carpenter hatte nämlich noch immer die Maulsperre und schwor noch lange hoch und heilig, dass dies wirklich ein Tiger mit einem richtigen Menschenkopf gewesen sei.

»Also die Priester halten hier im Herzen Australiens auch noch bengalische Tiger!«, nahm Leonard wieder das Wort.

»Wenigstens einen«, musste ich korrigieren.

»Nur einen? Eine ganze Masse, eine ganze Tigerzucht!«

»Woraus wollen Sie denn das schließen?«

»Woraus ich das schließe? Monsieur Schwarz, wollen Sie in meiner Gegenwart gefälligst etwas mehr Scharfsinn entwickeln. Dieser Tiger ist doch nicht erst von heute, zu diesem Feste ist dem Volke doch schon immer ein Tiger vorgeführt worden, der auch einmal springen und brüllen muss, und dieses Tigervieh ist doch nicht etwa unsterblich...«

Selbstverständlich hatte Leonard recht, ich hatte im Augenblick nur nicht daran gedacht. Mindestens musste eine Tigerfamilie vorhanden sein.

»Jetzt weiß ich auch«, fuhr Leonard fort, »wo ich den oder einen Eingang zu der Pyramide finde, nach dem ich bisher vergeblich gesucht habe.«

»Nun?«

»Durch die Schlucht, in welche sich die Sklaven hinabstürzen.«

»Weshalb glauben Sie, dass die mit der Pyramide in Verbindung steht?«

»Das ist für mich ganz selbstverständlich. Vegetarier wird ein Tiger wohl nie werden, auch nicht im Laufe der Jahrhunderte. Er braucht Fleisch. Das gibt es hier genug. Täglich frisches. Denn es vergeht kein Tag, an dem nicht ein makasi erklärter Arbeiter oder ein weibliches oder kindliches Mitglied der Sklavenkaste den Todessturz in die Schlucht ausführen muss. Ohne Zuschauer. Nur die Krieger und Priester sterben an dem vierteljährlichen Feste der Göttin gemeinschaftlich, und ebenso die aus der Sklavenkaste, die würdig befunden werden, dem versammelten Publikum ein heroisches Beispiel zu geben. Wer sonst im Verdacht steht, nicht mit solch einem eleganten Salto mortale aus diesem Leben abzugehen, der wird einfach sofort nach dem MakasiUrteil hinabgeschmettert, und es vergeht kein Tag, an dem nicht solch eine Hinrichtung stattfindet, das weiß ich bestimmt. Gewöhnlich finden mehrere ihren Tod.

Geburt und Tod müssen sich doch die Waagschale halten, und dieses Tal ist auch an Menschen äußerst fruchtbar. Also kann es den Tigern niemals an frischem Fleische fehlen, sie sind ganz sicher in der Pyramide untergebracht, demnach muss diese mit der Schlucht in Verbindung stehen.«

Ich hatte ein gelindes Schaudern zu überwinden.

»Ist vielleicht die Lehre verbreitet, dass sich die tigerähnliche Göttin von Menschenfleisch nährt?«

»Nein. Darüber habe ich mich eben vorhin vorsichtig erkundigt. Sie leimt die zerschmetterten Leiber auch nicht wieder zusammen. Nur die Seelen kommen in die Pyramide. Die Schlucht ist nichts weiter als ein Massengrab, die Leichen verwesen darin. Auch die toten Krieger und Priester sind nur einstweilen in den Tempel getragen worden, auch sie werden dann einfach in die Schlucht hinabgeworfen. Die steht unten mit der Pyramide in Verbindung, daran ist für mich kein Zweifel.«

»Und Sie wollen hinabsteigen?«

»So bald wie möglich. Kommen Sie mit?«

Noch ehe ich eine Antwort geben konnte, natürlich eine ablehnende, erschien unter Donnerschlägen wieder die Göttin Sanja.

Denn die Kampfspiele der Krieger waren noch immer nicht zu Ende, nur dass diese jetzt keinen tödlichen Ausgang nahmen, wenigstens nicht mit Absicht; Exerzitien, an denen alle Krieger gleichzeitig teilnahmen, einen großartigen Anblick gewährend, dann athletische Spiele, welche den altolympischen sicher nicht nachstanden. Faustkämpfe, Springen und Laufen, und wenn einer dabei den Hals brach oder vor Erschöpfung tot zusammenstürzte, so machte dieser Tod unter den Augen der Göttin ihm wohl alle Ehre, aber er war von ihm nicht gefordert worden. Dann wurden von den Frauen, Mädchen und Kindern auch grandiose Tänze und andere Übungen ausgeführt, die Arbeiter, die etwas Besonderes geleistet hatten, wurden durch Verleihen von Nihilitschmuck öffentlich geehrt, und so würde das bis zum Abend gehen.

Aleddin kam wieder, gab mir mein Fernrohr zurück.

»Ich wurde vorhin von dir getrennt, du hast es doch nicht vermisst?«

Dieser Fuchs! Als ich es nach der Tigersphinx richtete, sah ich wieder den lebendigen Mädchenkopf, und jetzt würde der Tigerleib nicht mehr so springen können, auch war die ganze Gestalt, eben deswegen, jetzt wieder so vorgeschoben worden, gleich in liegender Stellung.

»Wo bist du denn gewesen?«, wandte sich Aleddin an Leonard. »Wir haben dich vergebens gesucht, und du wolltest doch zeigen, wie du mit der flachen Hand jeden Knochen brechen kannst.«

Leonard erwiderte einfach, dass er gerade heute keine Lust habe, einen Menschen zum Krüppel zu schlagen, und ob der Betreffende sowieso sterben müsse, das sei ihm ganz egal — er habe heute eben zu gute Laune.

Aber, fuhr der Franzose fort, mit dem in dieser Beziehung ja absolut nichts anzufangen war, er habe sich eine lange Eisenstange besorgt, an dieser wolle er seine Kunst beweisen, und es solle ihm nur jemand seine Experimente nachzumachen versuchen.

Leonard hatte wirklich, als er sich wieder zu mir gesellte, eine lange Eisenstange bei sich gehabt, etwa zollstark.

Zwischen den Gesamtexerzitien oder Wettspielen traten immer einzelne Athleten auf, Kraftübungen zeigend, und so ließ sich jetzt auch Leonard melden.

Ich schildere es ganz kurz. Er nahm die Eisenstange in die rechte Hand und schlug mit ihr so lange wuchtig auf den entblößten linken Unterarm, bis er sie in einen rechten Winkel gebogen hatte. Dieses Kunststück hatte ich schon früher auf Jahrmärkten gesehen und hatte mich überzeugen müssen, dass es nicht, wie der Verdacht nahe lag, eine Zink- oder Zinnstange war, wirklich Eisen, welches die Gaukler so auf ihrem Arm oder Bein krumm schlagen. Es handelt sich hier nur um einen Kniff. Ja, was aber ist das, ein Kniff? Es gehört doch eine ganz besondere Geschicklichkeit und Kraft dazu, um so etwas fertig zu bringen, und das grenzenlose Staunen der Zuschauer war begreiflich.

Und dann führte Leonard noch etwas aus, was ich noch von keinem solchen Kraftmeier auf dem Jahrmarkt oder sonst wo gesehen hatte.

Er legte die Eisenstange hohl auf zwei Blöcke und schlug sie mit der Hand, durch einen einzigen Schlag, in einen rechten Winkel; dann forderte er eine elastische Stahlstange und schlug sie auf dieselbe Weise glatt durch. Es war nichts Anderes, als ob seine Handkante die Schärfe eines Meißels habe, sein ganzer Arm wie ein Schmiedehammer wirken müsse. Und so gab er nach andere Beweise seiner kolossalen Schlagkraft. Kopfgroße Lavasteine mit einem Faustschlag zu zerschmettern war ihm eine Kleinigkeit. Am staunenswertesten waren aber doch die Erfolge, die er durch Schlagen mit der flachen Hand hervorbrachte. Wirklich, dieser Mann brauchte kein zweischneidiges Schwert, ein solches war ihm einfach seine Hand, obgleich an dieser gar nichts Auffälliges zu bemerken war, nicht etwa, dass er sie, wie es die amerikanischen Preisboxer tun, mit einem Gerbstoff gehärtet hätte.

Wenn aber Leonard diese Experimente nur deshalb an leblosen Gegenständen ausführte, um menschliche Knochen zu schonen, so hatte er sich geirrt. Die Krieger versuchten es ihm nachzutun, und einer nach dem anderen zerbrach sich mit der Eisenstange den Armknochen und zerschmetterte sich, ohne eine Miene zu verziehen, die Hand, bis die Oberpriester alle weiteren derartigen Versuche verboten.

Ich selbst achtete auf diese Kraftübung nur wenig, so wenig wie auf die anderen Spiele — ich ließ mir keine Gelegenheit entgehen, durch das Fernrohr das schöne, bleiche Mädchenantlitz der Tigersphinx dort zu betrachten, und auch sonst verwandte ich kaum ein Auge von ihr.

Ja, irrte ich mich denn? Auch die Göttin hatte kein Interesse für die Spiele, die ihr zu Ehren zu ihren Füßen stattfanden, unverwandt waren die todestraurigen Augen auf mich gerichtet. Ich ging nach links, ich ging nach rechts, und ich hatte einen gar weiten Spielraum — diese todestraurigen Augen folgten mir mit dem ganzen Kopfe ständig nach!

Was wollte sie von mir? Nun, war das nicht ganz deutlich in ihren Augen zu lesen? Ich brauchte gar nicht mehr das Fernrohr zu Hilfe zu nehmen, tat es auch nicht, um keinen Verdacht zu erregen.

Ach, wie hilfesuchend waren diese blauen Augen auf mich gerichtet!

Und schon hörte ich in meinem geistigen Ohr auch ganz deutlich Worte.

»Fremdling, wer du auch bist, rette mich, erlöse mich von diesem Schicksal, hier als Göttin dienen zu müssen, der blutige Opfer dargebracht werden — ich bin eine christliche Engländerin — rette mich, befreie mich!«

Hörte ich diese Worte denn wirklich nur mit meinem geistigen Ohr? Nicht in Wirklichkeit? Die Sonne begann mit fürchterlicher Glut in das Amphitheater herabzubrennen — mein Hirn begann zu kochen, ich wurde ganz irre. Diese Augen bezauberten mich immer mehr.

Aber ach, wie sollte ich sie denn befreien, wie mich nur einmal mit ihr in Verbindung setzen?

Schon spähte ich nach einem Platze, von dem aus ich ihr unbemerkt ein heimliches Zeichen geben könne — da verschwand sie unter Donnerschlägen, um nicht wieder zum Vorschein zu kommen. Denn die Hauptfestlichkeit war beendet, jetzt begann die Schmauserei. Wohl stand die Sonne noch am Himmel — für mich aber war sie untergegangen.

--*--

Dreizehntes Kapitel

Originalseiten 197 — 211

Schon trieb das Wasserrad die Maschine, welche den ersten Flintenlauf durchbohrte, in ihm sogar gezogene Windungen herstellte, sie trieb noch viele andere Werkzeugmaschinen, unter den Händen von Wuloden hervorgegangen, die sich nach meiner Anleitung mit Leichtigkeit aus Grobschmieden in Kunst- und Maschinenschlosser verwandelt hatten. Schon wurden Patronenhülsen gefertigt. In einer neu hinzugezogenen Werkstätte diente schon das erste Zweirad als Muster für die nachfolgenden, die jetzt fabrikmäßig dutzendweise hervorgehen sollten.

Nichts fehlte mehr. Was ich in einem Vierteljahre alles angelegt und hergestellt hatte, um schon solche Erfolge haben zu können, vermag wohl nur der Fachmann zu begreifen. Ich hatte eine eigene Feilenhauerei, ich ließ Schraubenklubben(1) und Gewindebohrer schneiden. Aber ehe man das kann, muss man wieder entsprechende Werkzeuge und Werkzeugmaschinen haben. Sie waren bereits vorhanden, alles von mir hergestellt oder doch nach meinen Zeichnungen.

(1) Richtig muss es Schrauben›kluppen‹ heißen; das waren Schneideisen zur Herstellung von Schraubengewinden (also Außengewinden).

Sogar Luftschlauch und Laufmantel wären ein überwundener Standpunkt gewesen. Ein hochstämmiger Fruchtbaum, der hier am meisten vertreten war, ließ massenhaft ein Harz fließen, welches mit Kautschuk die größte Ähnlichkeit hatte. Bald war es mir gelungen, ich hätte elastische Schläuche nach Belieben herstellen können. Aber der Oberpriester, der am meisten Fachmann geworden, hielt es für besser, die Räder mit einem vollen Mantel zu umgeben, er sprach meine eigene Ansicht aus und so hatte ich es auch viel einfacher.

Noch ein halbes Jahr, und ich konnte nach entsprechender Vergrößerung der Fabrikanlagen die ganze männliche Bevölkerung des Tales mit Schusswaffen und mit Rädern versehen.

Zauberhaft schnell verging mir die Zeit bei solch rastloser Arbeit, und sie machte mich glücklich. Dabei aber kam aus meiner Erinnerung nicht die Göttin, meine Göttin — bei Tag und bei Nacht sah ich die todestraurigen Augen unverwandt auf mich gerichtet — und das machte mich unglücklich.

Leonard bekam ich noch einmal zu sehen. Er gab nach wie vor Unterricht im Schwimmen, Ringen, Boxen, Fechten und anderen athletischen Übungen. Traf ich einmal mit ihm zusammen, so wich er mir mit offenbarer Absichtlichkeit stets aus. Ich konnte mir sein Verhalten nicht erklären.

So saß ich eines Abends in meinem Steinzimmer und entwarf beim Scheine einer Naphtalampe eine mechanische Webstuhlanlage, deren Ausführung noch der Uhrenfabrikation vorausgehen sollte, und vorher sollte auch noch eine Gasfabrik darankommen. Denn ich hatte im Gebirge ein unerschöpfliches Lager der besten Steinkohle entdeckt, und das Naphta, welches in einer Quelle nur spärlich floss, war das einzige Beleuchtungsmaterial und gab nur ein ganz erbärmliches Licht. Bei Sonnenuntergang musste hier jede größere Arbeit aufhören, und da wir uns schon ziemlich unter dem Äquator befanden, ging die Sonne ohne Unterschied der Jahreszeit regelmäßig um sechs Uhr unter und um sechs wieder auf, sodass, wenn man wollte, zwölf Stunden dem Schlafe gewidmet werden konnten.

Da hörte ich einen leichten Schritt kommen, und als ich aufblickte, gewahrte ich Leonard, der zur Tür hereintrat.

Sein Verhalten war ein so merkwürdiges, dass ich die erste Anrede vergaß, ihn zunächst beobachtete.

Ehe er durch die Tür kam, machte er draußen einen scharfen Winkel, das heißt, machte scharf rechtsum, so ging er durch die Tür und mit gleichmäßigen, schnellen Schritten durch das ziemlich langgestreckte Gemach, bis er an der jenseitigen Wand stehen blieb, an der ich einen Holzschrank angebracht hatte, der meine Zeichnungen und Instrumente barg.

Ohne ein Wort zu sagen, öffnete er auch noch diesen Schrank, griff hinein, in eine ziemliche Tiefe.

»Hm, könnte stimmen«, meinte er, als er jetzt zu mir zurückkam.

»Was haben Sie denn ausgemessen?«

»Merken Sie, dass ich etwas ausmesse?«

»O ja, das war ziemlich deutlich.«

Leonard zog einen Stuhl herbei, den ich mir erst hatte zimmern müssen, weil ich für meine Zeichnereien doch bewegliche Stühle, die hier sonst ganz unbekannt sind, den feststehenden steinernen Sitzen vorzog, ließ sich darauf nieder.

»Ich hoffe, wir können hier ungestört sprechen.«

»O ja, so ziemlich.«

»Was soll das heißen, so ziemlich?«

»Sie sehen doch, hier gibt es keine einzige Tür, und wem es beliebt, der hat Zutritt...«

»Das ist es eben! Weshalb haben Sie hier keine Türen angebracht?«

»Weil das hier so gar nicht Mode ist.«

»Es gibt Türen genug, verschließbare und unverschließbare.«

»Aber doch immer nur vor Räumen und Häusern, welche ab und zu verschlossen werden. Bei wirklichen Wohnhäusern werden Sie hier wohl keine einzige Tür sehen.«

»Können Sie sich hier Türen zulegen?«

»Warum nicht?«

»Ohne Argwohn zu erregen?«

»O, ich würde bald einen Grund dazu finden. Aber ich bin überhaupt ganz Herr meines Willens, niemand kümmert sich darum, was ich tue und lasse.«

»Mit wem teilen Sie diese Wohnung?«

»Nur mit Ned, und auch der wird mich bald verlassen, da er sein Auge auf eine Jungfrau geworfen hat. Die beiden werden wohl demnächst einen gemeinsamen Hausstand gründen.«

»Haben Sie keine Diener?«

»Das wohl — am Tage sind sie Schlosser — aber die wohnen hier nebenan.«

»Zeigen Sie mir doch einmal Ihre ganze Wohnung!«

Ich tat es, mit der trübe brennenden Lampe leuchtend. Die Wohnung, die ich besonders für mich und Ned in den Felsen hatte hineinhauen lassen, bestand aus fünf Räumen, Ned hatte sein besonderes Schlafzimmer, in dem einen Raum arbeiteten des Tages über verschiedene Zeichner — Priester, die ich in der Benutzung des Zirkels und der Reißschiene ausgebildet hatte.

Die Wohnung hatte einen besonderen Eingang.

»Wissen Sie was«, sagte Leonard, als wir in mein Privatkontor zurückgekehrt waren, »ich habe dieses unstete Zigeunerleben satt. Jede Nacht anderswo schlafen — es gefällt mir nicht mehr.«

»Dann suchen Sie sich doch eine feste Wohnung.«

»Deshalb komme ich zu Ihnen. Gerade hier gefällt es mir.«

Ich hatte es ja schon erwartet, wenn ich auch den Grund hierzu noch nicht wusste. Und doch, eine kleine Ahnung hatte ich schon, Leonard hatte nicht umsonst vorhin so mit Schritten gemessen.

»Was haben Sie vor?«, fragte ich leise.

»Erst schaffen Sie sich solide, verschließbare Türen an, dann werde ich mich Ihnen offenbaren«, gab er ebenso leise zurück. »Und doch, eine Frage möchte ich schon heute stellen. Sind Sie, als Sie hier durchbrachen, auf einen Stollen oder auf eine Höhle gekommen?«

»Nein.«

»Dort hinten, wo der Schrank sich befindet, ist kein verdächtiger Riß?«

»Haben absolut nichts davon bemerkt.«

»Hat es beim Bearbeiten der Felswand nicht hohl geklungen?«

»Auch nicht.«

»Und doch kann dort gar keine so starke Wand mehr sein«, flüsterte Leonard.

»Dort hinten ist ein Gang?«

»Ein verschütteter Stollen, der nicht mehr benutzt wird.«

»Eine Felswand braucht gar nicht so stark zu sein, dann kann man durch Klopfen nicht mehr erkennen, ob dahinter ein hohler Raum ist. Felsen ist eben Felsen.«

»Ja, ja, das habe auch ich mir schon gesagt.«

»Oder aber, Sie haben sich in der Messung geirrt.«

»Das ist ausgeschlossen. Hier am Ende dieses Raumes muss der Stollen unbedingt vorüberführen, ganz dicht.«

»Das wollen Sie nur mit Schritten ausgemessen haben?«

»Nur mit Schritten, und das genügt mir. Deshalb habe ich Ihre Wohnung ja auch schon zweimal besichtigt.«

Das stimmte. Leonard hatte mich schon zweimal besuchen wollen, mich aber nie zu Hause angetroffen. Dass er da gemessen habe, war mir allerdings nicht berichtet worden, und so auffällig würde das dieser Fuchs wohl auch nicht gemacht haben.

»Schaffen Sie sich erst Türen an, mindestens eine vor dem Haupteingange, bringen Sie unauffällig Brecheisen herein, dann können wir gleich mit der Untersuchung jener Schrankwand dort beginnen, und Sie werden sehen, dass ich mich nicht geirrt habe.«

»Gut, morgen schon soll die Tür angebracht sein.«

»Morgen schon?«

»Bestimmt bis morgen Abend, und es wird durchaus nicht auffallen, verlassen Sie sich darauf.«

Besitzt dort der Schrank ein Schloss?«

»Noch nicht, aber er wird auch bis morgen Abend eins haben.«

»Dann ist die Sache all right. Wünsche wohl zu schlafen.«

Leonard wollte sich erheben, ich hielt ihn zurück.

»Wenn Sie wollen, dass ich in dieser Nacht gut schlafe, vielleicht weil ich für die nächste besonders gestärkt sein muss, so teilen Sie mir doch schon etwas Näheres mit.«

Leonard schien meine Neugier befriedigen zu wollen.

»Können wir hier auch wirklich ungestört und unbelauscht sprechen?«

Darüber konnte ich ihn beruhigen. Wohl war ein Fenster vorhanden, aber das kam hierbei nicht in Betracht, und bis nach der Tür war es noch weit, die konnten wir immer im Auge behalten. Es war gar nicht nötig, Ned als Wachtposten aufzustellen.

»Nun gut, ich bin schon zweimal in die Pyramide gelangt, aber unter den größten Schwierigkeiten...«

»Was? Sie waren schon in diesem Allerheiligsten?«, musste ich erstaunt unterbrechen.

»Wie ich Ihnen sage. Es bleibt mir aber nichts Anderes übrig, als stets den Weg durch die MakasiSchlucht zu nehmen, und das ist äußerst zeitraubend. Bei dem Hinab- und Hinaufklettern geht schon immer der größte Teil der Nacht verloren, auch kann, weil ich ein Seil herabhängen lassen muss, mein heimlicher Schleichweg doch einmal entdeckt werden. Und einen anderen Zugang zu der Pyramide habe ich noch nicht gefunden, so viel ich auch schon bei Nacht in den unterirdischen Gängen herumgekrochen bin, wobei es mir aber an Licht fehlt. Nun habe ich hier diesen unbrauchbar gewordenen Stollen entdeckt, habe mich überzeugt, dass er dicht hier vorüberführen muss.«

»Und durch diesen Stollen können Sie in die Pyramide eindringen?«

»Jawohl, er führt steil, aber gangbar, auch mit Stufen versehen, in die MakasiSchlucht hinab.«

»Und von dort geht es in die Pyramide?«

»Ganz direkt. Es sind wohl einige Türen vorhanden, die aber gar nicht zu verschließen gehen.«

»Und wohin führt der Stollen nach der anderen Seite?«

»Da endet er blind — oder er ist verschüttet — noch gut zehn Minuten von hier südlich.«

»Und was haben Sie in der Pyramide entdeckt?«

»Meine Braut!«

»Was sagen Sie da?«

»Meine Braut habe ich in der Pyramide gefunden, meine Zukünftige — wie ich Ihnen schon sagte; eine Dabodscha muss es sein.«

»Sie scherzen!«

»Als ich das erste Mal da eindrang und die erste Begegnung mit ihr hatte, war mir durchaus nicht scherzhaft zumute.«

»Erzählen Sie doch ausführlich!«

»Nun, es ist etwa vier Wochen her, als ich meine Vorbereitungen beendet hatte, um in die Schlucht hinabklettern zu können. Denn das ist nicht etwa so einfach. Die ist weit über hundert Meter tief, und ich musste mir erst einen so langen Strick beschaffen, noch dazu ganz unauffällig — denn ich bin nicht etwa so leichtsinnig, wie Sie vielleicht denken. O, was für Umstände habe ich gehabt!

Also vor vier Wochen war alles fertig. In einer mondlosen Nacht kletterte ich hinab, mit einer Naphtalaterne versehen. Glücklich erreichte ich den Grund. Na, da unten sieht es ja nett aus...«

»Wieso nett?«

»Jawohl, fragen Sie auch noch!«

»Leichen? Gebeine?«

»Na, was denn sonst! Und dieser Gestank! Selbst für meine Nerven etwas zu viel. Allein die Hauptsache war, dass ich da eine Nihilittür sah. Erst etwas gelauscht, dann unverzagt geöffnet. Sie geht also gar nicht zu verschließen. Finster, alles finster. Und immer noch ein grässlicher Gestank.

Ich vorwärts. Aber ohne Licht, das wagte ich nicht anzubrennen. Ich tastete, zählte die Schritte, merkte mir die Richtung. Dazu brauche ich keinen Kompass, und ich irre mich um keinen Grad.

Immer weiter! Andere Gänge zweigten nicht ab. Noch eine Tür, dann kam eine Treppe. Ich hinauf. Der Gestank ließ nach. Auch die Treppe ohne Abzweigungen.

Jetzt, dachte ich mir, könntest du bald in der Pyramide sein. Da wieder eine Tür. Geöffnet! Sapperlot, da war schon etwas von Meublement. Und durch eine große Lampe erleuchtet. Es war ja erst gegen zehn Uhr.

Und da, als ich noch den ersten Eindruck aufnehme, öffnet sich eine andere Tür, und ehe ich mich zurückziehen kann, steht schon ein Frauenzimmer vor mir.«

Leonard machte eine Pause und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Es war tatsächlich außerordentlich heiß, und ich glaube überhaupt nicht, dass dieser Franzose so etwas wie Angstschweiß kennt — — aber man versetze sich nur richtig in seine damalige Lage. und man wird glauben können, wie es ihm trotz alledem zumute gewesen sein mochte.

»Zum Glück schrie sie nicht. Geschadet hätte es schließlich auch nicht viel, sie war allein, alle Anderen weit entfernt. Und, will ich vorausschicken, sie kannte mich schon. Das heißt von weitem. Auch die Dabodschas hatten damals die Vorstellungen heimlich beobachtet, die Pyramide hat Gucklöcher genug.

Sie tat und sprach, was sie in jedem Buche hätte tun und sprechen müssen. Vorschriftsmäßig machte sie ein höchst erschrockenes Gesicht, vorschriftsmäßig streckte sie beide Hände aus, und vorschriftsmäßig deklamierte sie im entsprechenden Tone: ›Bei allen Göttern, Fremdling, was tust du hier? Wie kommst du hierher? — Entfleuch, oder es ist dein unvermeidlicher Tod‹ — usw.

Und was tat ich? Ich tat und sprach, was jeder Schriftsteller seinen Helden bei solch einer Gelegenheit hätte tun und sprechen lassen — also ich warf mich vorschriftsmäßig mit einem gewaltigen Plumps auf die Knie und fing vorschriftsmäßig im entsprechenden Tonfall zu deklamieren an: »Schönste aller Frauen, Holdeste aller holden Jungfrauen, dein Anblick hat es mir angetan, mein Herz schlägt wie ein Lämmerschwanz, ich liebe dich, ich kann und mag und will nicht mehr ohne dich leben‹ — usw. usw, — kurz, ich machte ihr eine regelrechte Liebeserklärung.«


Illustration

Wieder trocknete sich Leonard den Schweiß von der Stirn. Und ich, sollte ich ihm glauben, was er mir da erzählte?

Ja, aber warum nicht? Hatte er wohl nicht ganz richtig gehandelt? Nur seine drastische Erzählungsweise war daran schuld, dass etwas Unglauben aufsteigen konnte.

»Sehen Sie«, fuhr er fort, sich eine Zigarette drehend, »geradeso wie jetzt schwitzte ich auch damals. Hol's der Geier, soll man da auch nicht schwitzen, wenn man gezwungen wird, mit einer Geschwindigkeit von Null Komma fünf aus dem Stegreif eine Liebeserklärung herzudeklamieren, die man sich im Konzept noch nicht ausgearbeitet hat! Glauben Sie, dass das auch alles wahr ist?«

»Ich glaube«, entgegnete ich fast mit Feierlichkeit.

»Na, ich hatte doch schon etwas wie meinen Tod vor Augen. Aber dem Mutigen gehört die Welt. Und Sie wissen ja — lieben und Trompeten blasen... Also es glückte. Schon in der nächsten Minute stand ich vor ihr und knutschte sie reglementmäßig ab, küsste, dass es nur so knallte. ›Ich bin eine Dabodscha‹, winselte sie. Mir doch ganz egal! ›Ich bin eine jungfräuliche Priesterin!‹, stöhnte sie. Eben deshalb!

Kurz und gut, ich war der Soldat hinter der Haustür, der die bierholende Küchenfee schnell einmal abknutscht. Dabodscha oder Küchenmagd, 's ist in der Weltgeschichte doch ganz genau dasselbe, sobald der Herr der Schöpfung als Liebesgott auftritt, und das war schon zu Zeiten des alten Kambyses Nummer Eins genau so wie heute noch, und der nubische Krieger mit Beinschienen und Badehosen hinter der Pyramide hat genau dasselbe große Wort feurig ausgesprochen, wie in Berlin der stramme Musketier hinter dem alten Schloss. Mädel, ick liebe dir!

Also dasselbe große Wort, welches die Zauberformel der ganzen Schöpfung ist, sprach auch ich aus, nur nicht auf ägyptisch, auch nicht auf deutsch, sondern auf wulodschistanisch.

Und die ewige Zauberformel übte ihre allmächtige Wirkung aus. Sie knickte in meinen Armen zusammen und piepste. Ob sie hübsch war, kann ich nicht sagen, konnte sie mir nicht ordentlich begucken, ich schwitzte gar zu sehr. Und das zweite Mal knutschte ich sie im Finstern ab.

Wir wurden schnell einig. Ich horchte sie rasch ein bisschen aus. Sie hieß, sie hieß...«

Leonard kratzte sich am Kopfe.

»Herrgott, wie heißt meine Braut denn nur gleich! Ich habe ein so schlechtes Namengedächtnis...«

»Doch nicht Raviena?«

»Nee, das ist oder war die Braut von Aleddin, die bei seiner Ernennung zum Oberpriester ebenfalls in die Pyramide spazieren musste. Sehen Sie, das weiß ich auch schon, das hat mir die Aridna selber erzählt. Jawohl, Aridna heißt sie, man braucht nur an den Ariadnebindfaden zu denken. Sie hatte gerade dort unten Dienst, musste die Lampen auspusten, auch noch einmal nach den Tigern sehen, ob die gut versorgt waren...«

»Also es sind viele Tiger vorhanden?«

»Drei Herren und vier Damen und sieben Kinderchen, reizende Geschöpfchen, fressen einem schon das Menschenfleisch aus der Hand, ohne in den Finger zu beißen. Beim zweiten Male habe ich sie zu sehen bekommen.

Also heute hatte Aridna nicht viel Zeit, musste dem Herrn das Bier hinaufbringen... die Lampe auspusten und sich dann beim Sannyasi wieder zur Stelle melden, wollte ich sagen.

Ich forderte eine Liebesprobe. Morgen um dieselbe Zeit wieder hinter der Haustür zum Rendezvous. Nee, das könnte sie beim besten Willen nicht, und wenn ich deshalb auch treulos würde. Es sind sieben Dabodschas vorhanden, und der Dienst ginge reihum. Also heute über acht Tage, da hätte sie wieder Dienst und wäre für mich frei, und da würde sie sich besser einrichten.

Ich also noch ein bisschen ewige Liebe geschworen, in aller Geschwindigkeit noch etwas von Entführung und unserer zukünftigen Ehe gesprochen, und ich rückte wieder ab.

Acht oder vielmehr sieben Tage später stellte ich mich pünktlich wieder ein. Jetzt hatte sie mehr Zeit, ich erfuhr Genaueres über das Innere der Pyramide. Wollen Sie es wissen?«

»Und ob ich mich dafür interessiere!«

»Mit den sieben Millionen Seelen, die sich darin aufhalten sollen, ist es nun freilich nichts...«

»Treiben Sie doch keinen Unsinn, erzählen Sie vernünftig!«

»Lassen Sie mich aussprechen, es gehört dennoch mit dazu. Ich wollte damit sagen, dass die Dabodschas selbst an den ganzen Humbug nicht glauben. Das ist ja auch natürlich genug. Deshalb dürfen sie niemals wieder heraus.

Dasselbe gilt von etwa fünfzig Sklaven, welche für tot gelten. Sie sind einmal makasi gewesen, aber nicht in die Schlucht geschleudert worden, sondern man hat sie heimlich in die Pyramide geschafft, wo sie die Tiger füttern, die Reinigungsarbeiten verrichten müssen usw. Das Volk darf nichts davon wissen, dass sich Arbeiter im Allerheiligsten aufhalten, sie kommen nie wieder ans Tageslicht.

Außer von den sieben Priestern ist die Pyramide sonst nur noch ständig von dem Sannyasi bewohnt, der sich von hier aus durch unterirdische Gänge überallhin begeben kann. Und dann von dem jeweiligen Oberpriester, der den Dienst hat. Die anderen Priester wissen von dem Innern der Pyramide ebenso viel oder ebenso wenig wie das übrige Volk.

Das war alles, was mir die Dabodscha in der zweiten Nacht mitteilte, wenigstens betreffs der Pyramide.«

Leonard brannte sich seine Zigarette an.

»Sonst sind Sie noch nicht weiter in der Pyramide herumgekommen?«

»Nein, geht nicht.«

»Warum nicht?«

»Ja, warum nicht! Stellen Sie sich die Sache nur richtig vor. Vorläufig bin ich nur bis in den Hausflur gelangt.«

»Aber Sie wollen noch weiter?«

»Sicher.«

»Haben Sie nicht ein drittes Rendezvous ausgemacht?«

»Das wohl, aber das konnte erst nach vierzehn Tagen stattfinden — von damals an gerechnet.«

»Weshalb dann erst?«

»Weil dann erst wieder Mondwechsel eintritt — Neumond — und die Schlucht dort oben wird gerade so schön beschienen — es streichen ja doch überall Patrouillen umher — ich muss mich höllisch vorsehen.«

»Was haben Sie unterdessen gemacht?«

»Weiter nach einem anderen Gang gesucht und auskalkuliert, dass man von hier aus leichter in die Schlucht gelangen kann, und das ist schon gar viel wert.«

»Hat die Pyramide denn gar keinen anderen Eingang?«

»Natürlich hat sie noch andere Zugänge, aber ich kann keinen einzigen finden, weiß der Teufel, da ist ein Geheimnis dabei!«

»Weiß denn die Dabodscha nicht darum?«

»Nein, die ist in der Pyramide wie lebendig begraben.«

»Auch keine andere?«

»Nein.«

»Wissen schon die anderen, dass Sie in die Pyramide eingedrungen sind?«

»I Gott bewahre!«

»Was wäre so Unbegreifliches dabei?«

»Na, da käme doch sofort die Eifersucht hinzu, und bei der Liebe hört jede Freundschaft auf, wohl gerade bei solchen Nonnen.«

»Hat Ihnen Ihre — Ihre Braut auch etwas von der Göttin Sanja erzählt?«

»Für die Dabodschas ist das natürlich kein missgeborenes Ungeheuer, sondern ein Weib, das in einer Tigerhaut steckt.«

»Das glaube ich schon, dass die das wissen. Hat sie Ihnen sonst nichts von ihr erzählt?«

»Jawohl, und nun weiß ich auch, woher diese Wuloden schon über europäische Verhältnisse unterrichtet sind, auch das habe ich noch aus ihr herausgebracht.«

Ich erfuhr, was ich schon früher berichtet habe — die ganze Geschichte von dem englischen Diener.

»Warum ist gerade seine Tochter zu dieser Rolle ausersehen worden?«

»Die damalige unsterbliche Göttin hatte eben das Zeitliche gesegnet, oder sie wurde zu alt, zu schrumpflich, auch Persine — so hieß die Tochter des Engländers, gezeugt mit einer vornehmen Wulodin, war von jeher zur Priesterin bestimmt gewesen, und irgendeine musste es doch sein — na, da hat man eben die dazu genommen, welche vorher noch kein Mensch gesehen hatte.«

»Und wo ist der Vater geblieben?«

»Der ist in der Pyramide gestorben, als Wahnsinniger!«

»Also, nun wollen Sie den dritten Besuch hier durch mein Arbeitszimmer wiederholen?«

»Jawohl, übermorgen! Übermorgen ist erst wieder Besuchszeit, da hat Aridna wieder Dienst im Keller. Morgen treffen wir die Vorbereitungen.«

»Ich werde Ihnen behilflich sein — mag es kommen, wie es will.«

»Mich auch begleiten?«

»Sie auch begleiten, ich habe wirklich die größte Lust dazu.«

»Angenommen!«, sagte Leonard freudig, in meine Hand einschlagend. »Aber es kann gefährlich werden.«

»Das sagt mir schon mein eigener Verstand.«

»Ich werde die Pyramide doch noch etwas genauer untersuchen.«

»Das ist eben auch meine Absicht. Ich möchte bis zu der Göttin vordringen. Sie will ich näher kennen lernen.«

»Also, dann auf Wiedersehen morgen Abend! Machen Sie alles fertig dazu.«

Leonard entfernte sich.

--*--

Vierzehntes Kapitel

Originalseiten 212 — 227

Am anderen Morgen, als die Arbeiter kamen, ließ ich sofort eine starke Tür fertigen, zu der ich bereits das Maß genommen hatte — aus Holz, mit Eisenbändern beschlagen, das Ganze dann, wie es hier nun einmal allgemein üblich ist, mit Nihilit überzogen, wozu bei der ebenen Beschaffenheit nur wenige Stunden nötig waren, und am Nachmittag schon konnte die mit einem starken Schlosse versehene Tür in die einzementierten Angeln gehangen werden. Auch meine Zeichner hatte ich bereits in ein Nebengewölbe einquartiert.

Als Aleddin kam, hätte ich gar nicht nötig gehabt, ihm hierfür eine Erklärung zu geben. Ich konnte tun und lassen, was ich wollte, keine meiner Handlungen fiel auf, wäre sie für die anderen auch noch so unverständlich gewesen. Das hing damit zusammen, dass der Erfinder, als den ich mich hier betrachten konnte, doch überhaupt seine eigenen Wege geht, für spätere Zwecke Vorbereitungen trifft, welche für andere unverständlich sind, und so hatten sich alle schon längst daran gewöhnt, mich Arbeiten verrichten und Vorkehrungen treffen zu sehen, deren Zweck sie zunächst niemals begreifen konnten.

Dennoch sprach ich zu Aleddin davon. Es war wohl etwas von einem bösen Gewissen, was mich dazu trieb. Aber ich hatte in der Nacht auch wirklich einen glücklichen Gedanken gehabt.

Zunächst jedoch muss ich erwähnen, dass ich in der letzten Zeit eine große Sorge gehabt hatte. Jetzt, da das von mir hergestellte Pulver als wirkliche Schießmunition benutzt werden sollte, zeigte sich, dass es diesem Zwecke nicht recht entsprach. Für unsere mitgebrachten Gewehre und für Messingpatronen war es ganz geeignet, aber in den hier gefertigten Gewehren, für die ich eiserne Patronenhülsen gefertigt hatte, entzündete es sich viel zu langsam. Und ich konnte nicht finden, woran das lag, so viel ich auch schon experimentiert hatte.

Jetzt wollte ich dem einmal ernstlich auf den Grund gehen. Ich hätte, sagte ich zu Aleddin, schon mit Leonard darüber gesprochen. Leonard sei zwar kein spezieller Feuertechniker, dafür aber ein Pfiffikus und Praktikus, er habe auch schon immer seine Patronen selbst hergestellt. Die Hauptsache sei doch stets die praktische Erfahrung. Er sei bereit, gleich bei mir zu wohnen, mich nicht eher zu verlassen, als bis dieses Problem gelöst sei, und der sonderbare Kauz habe eine verschließbare Wohnung gefordert.

Wenn nicht alles trog, so schöpfte Aleddin nicht den geringsten Argwohn. Warum sollte er auch? Und mich verband mit dem jungen Oberpriester eine immer innigere Freundschaft, allerdings ohne dass noch jemals deswegen ein Wort gefallen wäre, eben gegenseitige Sympathie.

Am Nachmittage, bei einem Wege in die Stadt, sah ich Leonard, wie er wieder einige Athleten vertobackte. Ich teilte ihm alles mit, er selbst hatte zu anderen noch nichts Gegenteiliges gesagt, und so war die Sache in Ordnung.

Noch vor Abbruch des Abends stellte er sich ein.

Ehe ich die Arbeiter entließ, welche sämtlich, mit Ausnahme einiger mir zur Verfügung stehenden Diener, bei ihrer Familie in der Stadt schliefen, ließ ich eine größere Quantität Pulver in meine Wohnung schaffen, um den Schein zu wahren.

Einige Brecheisen und anderes Werkzeug hatte ich schon in der Nacht hereingeschmuggelt.

Dann waren wir drei — nämlich auch Ned Carpenter — hinter verschlossener Tür allein. Meine Diener bewohnten ein abseits gelegenes Gewölbe, und wir hätten ziemlich laut pochen können, ohne dass sie es hörten.

Ehe wir an die Arbeit gingen, fand ein Kriegsrat statt.

Gesetzt nun den Fall, aus irgendeinem Grunde verlangte mich jemand dringend zu sprechen, forderte Einlass, was dann?

Es wäre sehr einfach gewesen, wenn ich zurückgeblieben, Leonard allein durch den Schrank in den Orkus hinabgestiegen wäre. Er hätte sich dann eben anderswo hin entfernt; aber ich war durchaus entschlossen, die Partie mitzumachen, das bleiche Mädchenantlitz der Tigersphinx lockte mich mit unwiderstehlicher Gewalt, und ich bin wahrhaftig noch nie vor einem gefährlichen Abenteuer zurückgeschreckt.

Nun, dann musste uns eben der wachehaltende Ned schleunigst zurückholen, gegebenenfalls einen Schuss abfeuern, der sich dann mit unseren Pulverexperimenten erklären ließ.

Es gab aber noch einen anderen Plan, den ich selbst ausgeheckt hatte. Deswegen hatte ich bereits jenen Schrank eigenhändig mit einem besonderen Schlosse versehen.

Ned blieb also als Wache zurück. Wir stiegen in den Schrank und schlossen ihn von innen. Nur der Eingeweihte, also Ned, verstand ihn auch von außen zu öffnen. Verlangte nun jemand Einlass, ließ sich nicht abweisen, so sagte Ned eben, dass wir beide die Wohnung verlassen hätten, etwa, um von einem weit entfernten Bache Schwefel zu holen. Vorher aber stellte Ned etwas an dem äußeren Schrankschloss, sodass wir bei unserer geräuschlosen Rückkehr sofort wussten, dass die Luft nicht rein sei, und dann mussten wir, wenn wir keinen anderen Ausgang fanden, einfach warten, bis wir ungesehen durch den Schrank zurückkehren konnten.

Leonard hieß meinen Plan gut, und wir gingen an die Arbeit. Denn eigentlich stritten wir uns doch noch um des Kaisers Bart, es war, wenigstens für mich, noch sehr die Frage, ob jener Schrank auch wirklich einen hohlen Hintergrund habe, so sicher Leonard auch seiner Sache zu sein glaubte.

Also, wir räumten den Schrank aus und setzten die Brecheisen an. Der nahe Wassersturz übertönte jedes andere Geräusch. Wirklich, nur ein kräftiger Stoß war nötig, und das Eisen brach durch!

Es war ganz merkwürdig gewesen, wie nahe die Steinbrecher jenem Gang gekommen waren, sodass sie nur eine Wand von fünf Zentimeter Stärke hatten stehen lassen, ohne davon etwas zu ahnen.

Dazu war freilich auch die Geschicklichkeit nötig, mit welcher diese Wuloden den Stein zu bearbeiten verstehen. Sie hatten eine glatte Wand haben wollen, und eine solche war unter Anwendung des schwersten Werkzeugs entstanden, da durfte kein Eckchen zu tief herausgeschlagen werden.

Jetzt war es uns ein leichtes, die Öffnung zu erweitern. Das herausgearbeitete Material wurde einfach in den Gang hineingeworfen. Schon nach einer Viertelstunde war sie groß genug, um einen erwachsenen Menschen bequem durchschlüpfen zu lassen.

Einige Stricke und Naphtalampen waren vorhanden. Dem zurückbleibenden Ned wurde noch einmal Instruktion erteilt, und wir schlossen hinter uns die Türen des Schrankes, der geräumig genug war, uns alle beide aufzunehmen.

Die Lampen beleuchteten einen Gang, zwei Meter breit und ebenso hoch, der sicher von Menschenhand in den Felsen eingehauen war, was man ihm aber nicht mehr ansehen konnte. Die Meißelhiebe waren schon längst unkenntlich geworden.

»Alle die anderen Gänge«, sagte Leonard, »die benutzt werden, sind in bester Ordnung gehalten, werden sogar gefegt. Ich bin fest überzeugt, dass dem jetzigen Geschlechte der Wuloden gar nichts mehr von diesem noch über der Erdoberfläche durch das Grenzgebirge führenden Tunnel bekannt ist.«

Leonard wandte sich nach links, ich folgte ihm mit klopfendem Herzen.

Zunächst änderte sich der Gang nicht. Dann begann er sich zu senken, immer steiler, und als ein Gehen kaum noch möglich war, kamen sofort Stufen.

Ich zählte sie nicht. Es waren sehr viele. Immer tiefer ging es hinab, dann wieder manchmal gerade oder schräge Flächen, und dann immer wieder abwärts führende Stufen.

So mochten wir schon bald eine halbe Stunde gewandert sein.

»Riechen Sie nichts?«, flüsterte Leonard.

Denn hier musste jeder Mensch unwillkürlich flüstern.

Ja, ich nahm einen eigentümlichen Geruch wahr.

»Na, warten Sie nur, das ist noch gar nichts, Ihnen soll schon bald die Luft vergehen.«

»Wir kommen an die MakasiSchlucht?«

»Selbstverständlich!«

Immer penetranter ward der Geruch, bis das kein Geruch mehr zu nennen war. Atemversetzend!

Dann schien der Gang vor uns aufzuhören, Schutt und Geröll verschlossen ihn, aber Leonard legte sich auf Hände und Knie und wusste ein Loch zu finden. Ich ihm nach, manchmal auch auf dem Bauche rutschend, dabei kaum noch zu atmen wagend.

Und dann hatte ich ihn vor mir, den fürchterlichsten Anblick meines Lebens. Wir befanden uns auf dem Grunde der MakasiSchlucht.

Beschreiben mag ich es nicht, kann es nicht. Ich habe ein drei Tage altes Schlachtfeld gesehen, beschienen von der Sonnenglut. Es war nichts gegen das, was dieser umfangreiche Kessel bot. Die erste Sichel des Mondes war schon hoch genug gekommen, um alles deutlich zu beleuchten.

»Dort auf der anderen Seite ist der geräumige Gang, der nach der Pyramide führt«, sagte Leonard. mit der Hand deutend.

»Wir wollen heute schon eindringen?«, brachte ich mühsam hervor.

»Nein, erst morgen hat Aridna Dienst, heute ist eine andere daran.«

»Was führen Sie mich da schon heute hierher?«

»Um Sie erst einmal an das zu gewöhnen, was Ihrer hier wartet, damit Sie morgen nicht etwa kopfscheu werden.«

Ja, solch eine Vorbereitung war auch wirklich sehr nötig.

Ich zwang mich, noch einige Minuten den Anblick und den Geruch zu ertragen, dann krochen wir zurück, eilten schneller den Tunnel zurück, als wir gekommen waren.

Bei unserer Wohnung angelangt, betraten wir zunächst einmal den Schrank. Das Warnungssignal war nicht gegeben, wir konnten die Tür öffnen.

Niemand hatte Einlass begehrt. Wer sollte auch? Es wäre seit nun bald vier Monaten das erste Mal gewesen, dass jemand mich bei Nacht zu sprechen begehrt hätte.

So konnten wir auch gleich einmal die Gelegenheit benutzen, um ganz ins Freie zu treten, und wir taten es. Die frische Nachtluft dünkte mir köstlich.

Dann kehrten wir zurück, verschlossen meine Wohnung wieder.

»Wohin nun?«

»Den Gang nach der anderen Richtung hin verfolgen.«

»Taten Sie das noch nicht? Sagten Sie nicht, er endete schon nach zehn Minuten blind oder sei dort verschüttet?«

»Ja, aber noch vorher zweigt ein Gang nach links ab, also noch tiefer ins Gebirge dringend, und den habe ich noch nicht untersucht.«

»Weshalb nicht?«

»Weil ich damals keine Zeit hatte, der Morgen brach bald an, und ich hatte doch bisher keinen anderen Zugang zu dieser unterirdischen Region als von oben durch die MakasiSchlucht.«

So traten wir hinter zugemachter Schranktür unsere zweite Forschungsreise ins Reich der ewigen Nacht an.

Es waren noch keine zehn Minuten vergangen, als mich Leonard auf ein Loch aufmerksam machte, welches sich linker Hand dicht über dem Boden befand. Ich selbst hätte es übersehen.

»Zehn Meter bin ich doch schon hineingekrochen, und da erweitert sich der Tunnel sehr bedeutend. Wie er dann wird, weiß ich freilich nicht.«

Leonard legte sich, vor sich die Lampe, für die wir Naphtavorrat mitgenommen hatten, platt auf den Bauch und rutschte in das Loch — ich rutschte nach.

Es war eine fatale Rutschpartie. Man brauchte ja nicht gerade ganz platt auf dem Bauche zu liegen, aber hat man nicht so viel Höhe, um sich auf Händen und Knien aufzurichten, so bleibt man lieber gleich auf dem Bauche liegen und zieht und schiebt sich, sonst kommt man überhaupt gar nicht vorwärts.

Doch bald erweiterte sich der Gang, immer mehr konnten wir uns aufrichten, bis wir auf den Füßen standen und dieser Tunnel ganz dem vorigen glich.

Wie war der angelegt, dass er sich hier so verengte? Nun, man hatte ihn eben von der anderen Seite aus anzulegen begonnen, dann hatte einer der menschlichen Felsenmaulwürfe so weitergearbeitet, wie ich es oft gesehen hatte, platt auf dem Leibe liegend, den losen Schutt hinter sich tretend — und als jener andere Gang endlich erreicht worden war, hatte man die ganze Arbeit aus irgendeinem Grunde aufgegeben.

Die Schritte zählend und den Kompass beachtend, wanderten wir weiter. Und es sollte eine gar lange Wanderung werden, die uns direkt in das das ganze Tal umschließende Gebirge hineinführte.

»Wenn es gut geht, dann kommen wir auf der anderen Seite des Gebirges wieder heraus, und dann hätten wir gleich einen Weg, auf dem wir jederzeit die Freiheit gewinnen können«, sagte Leonard, einmal stehen bleibend, um seine Lampe nachzufüllen.

Es war das allererste Mal, dass einer von uns das Wort ›Freiheit‹ gebraucht hatte, in Bezug darauf, dass wir uns doch hier als Gefangene betrachten mussten. Ich selbst hatte eigentlich noch gar nicht daran gedacht, auch Ned darüber zu mir noch kein Wort verloren.

»Ja, Leonard«, nahm ich diese Gelegenheit also einmal wahr, »wie lange gedenken wir denn eigentlich hier zu bleiben?«

»Bis Sie den Wuloden alles geliefert haben, um ihr Tal verlassen und über die andere Menschheit herfallen zu können.«

Starr sah ich den Sprecher an. Dieser geistvolle Franzose hatte seine Worte wieder einmal mit fürchterlicher Kürze zusammenzudrängen gewusst.

»Sie — machen — mir — Vorwürfe?«, fragte ich leise.

»I Gott bewahre!«, nahm er gleich wieder seinen leichtfertigen Ton an. »Ich meine damit: Jeder bleibt so lange hier, wie es ihm gefällt, und dann muss er sich einen Fluchtweg suchen. Und Ihnen gefällt es doch hier, dass Sie dieses kontinentale Inselvolk mit Waffen und Rädern beschenken können. Na, warum sollen Sie denn auch nicht? Oder denken Sie, Sie könnten das Räderwerk der Weltgeschichte nur einen Augenblick aufhalten oder schneller laufen lassen? Immer tun Sie, was Ihnen Freude macht, das ist sogar Ihre erste Pflicht.«

Leonard sprach aus meinem eigenen Herzen, ich hatte selbst oft genug darüber nachgedacht, brauche jetzt aber nicht mehr darüber zu sprechen.

Nein, er hatte mich wirklich nicht kränken können.

Da blitzten mich seine Augen, die für gewöhnlich einen so müden Ausdruck hatten, wiederum an.

»Aber wissen Sie, was ich vorhabe?«

»Nun?«

»Ich werde mir den Weg zur Freiheit in ganz besonderer Weise verschaffen.«

»Auf welche Weise?«

»Wie weit ist denn Ihre Maschine, in die Sie auf der einen Seite einen Regenwurm hineinstecken wollten, der auf der anderen Seite als Bratwurst herauskommen soll?«

Ich glaubte, Leonard rede plötzlich irre.

O, mir sollte bald noch furchtbar klar werden, welchen korrekten Gedankengang dieser Mann jetzt hatte und was der beabsichtigte, was der schon alles vorbereitet hatte!

Wir wurden von unserem Gespräch durch einen besonderen Umstand abgelenkt, der dazu geeignet gewesen wäre, uns einen gelinden Schrecken einzuflößen.

Plötzlich zuckte durch den finsteren Tunnel, in dem unsere Naphtalampen nur einen spärlichen Lichtkreis um sich erzeugten, ein blutigroter Blitz, noch einer, ein dritter — und dann blieb der Blitz als roter Streifen vor uns in einiger Entfernung stehen.

»Hallo, was ist denn das?!«, flüsterte Leonard.

Die Ursache war bald aufgeklart. Ob uns die Entdeckung beruhigen konnte, war eine andere Frage.

Das rote Licht drang aus einer Spalte zur rechten Hand aus der Felswand. Zu erblicken war durch sie hindurch sonst nichts. Ohne Zweifel aber waren dort noch Menschen tätig — bei nächtlicher Weile in diesem Tale eine ganz ungewöhnliche Erscheinung, und wir waren, wie schon gesagt, ziemlich tief in das Gebirge vorgedrungen, mindestens einen Kilometer.

»Vorwärts!«, flüsterte Leonard. »Hier stehen zu bleiben nützt nichts, wir müssen sehen, wo dieser Tunnel ausmündet.«

Dahin sollten wir auch sehr bald kommen. Keine hundert Schritte noch, mit der nötigen Vorsicht getan, so sahen wir, dass zwar der Tunnel nicht irgendwo mündete, wohl aber blind endete.

Doch auch an dieser glatten Felswand entdeckten wir gleich etwas Besonderes. Zunächst an der Seite mächtige Türangeln, mit unverwüstlichem Nihilit überzogen, und dann in einer Vertiefung eine Vorrichtung, die ich sofort als ein Schloss erkannte, dessen Konstruktion hier sehr üblich war und vollkommen von unserer Art Schlösser abwich. Näher beschreiben kann man so etwas nicht.

»Das ist ein Vexierschloss!«, sagte Leonard sofort.

Er hatte recht, aber nur ein Vexierschloss von draußen, auf der anderen Seite, nicht von hier innen. Hier sah man im Gegenteil deutlich die ganze Konstruktion und auch, wie die gewaltige Steintür von draußen in ihren Angeln zu bewegen war.

Es war, um ein erläuterndes Beispiel zu wählen, ungefähr ebenso wie bei einem sogenannten Buchstabenschloss. Man muss ein bestimmtes Wort wissen, um das Schloss öffnen zu können. Die Buchstaben des Alphabetes lassen aber viele Tausende von Kombinationen zu. Doch könnte man auf die andere Seite der Geldschranktür blicken, dann wüsste man das Wort sofort, denn dort ist es schon zusammengesetzt.

Das war hier zwar kein Buchstabenschloss, aber doch so etwas Ähnliches. Die Hauptsache war ein Pendel, das von außen in Bewegung gesetzt werden musste.

Dann konnte uns vor allen Dingen noch eine andere Beobachtung beruhigen.

Alle Stahl- oder Eisenteile der Vorrichtung waren mit Nihilit überzogen, das niemals oxidieren, nicht rosten kann. Alles war so blank, als wäre es soeben geölt und frisch vernickelt aus der Werkstatt hervorgegangen.

Staub konnte es hier nicht geben. Aber auch im luftstillsten Raume schwirren wohl immer Partikelchen herum. Kurz, man konnte dennoch erkennen, dass Schloss und Tür seit langer, langer Zeit nicht mehr in Bewegung gesetzt worden waren, abgesehen davon, dass gerade an der Pendelvorrichtung eine Nachtspinne ihr Netz gesponnen hatte, um darin kleine Insekten zu fangen, welche kein Tageslicht brauchen.

Von dem Spinnennetze hätten wir nur auf einen Tag des Nichtgebrauches schließen können, nach jenen unbestimmten Partikelchen aber, die sich angehäuft hatten, durften wir wohl gleich mit Jahrhunderten rechnen.

Wir lauschten. Zu hören war nichts. Und doch, wie ein dumpfes Dröhnen, so regelmäßig, dass man es bald gar nicht mehr vernahm. Erst wenn man das Ohr gegen die Wand legte, wurde man darauf wieder aufmerksam.

»Das klingt bald wie ein Wasserfall.«

»Etwas Anderes ist es auch nicht.«

»Sollen wir versuchen, ob wir die Tür öffnen können?«

»Auf alle Fälle.«

»Aber es sind Menschen in der Nähe, wir haben ihr Licht gesehen.«

»Gleichgültig, es muss riskiert werden!«

Und schon hatte Leonard die Pendelvorrichtung des Schlosses in Bewegung gesetzt, er zog an dem Griffe — langsam und geräuschlos ging die steinerne Tür nach innen auf.

Den ersten Schreck bekamen wir oder bekam doch ich dadurch, dass der Raum, in den wir blickten, ziemlich hell erleuchtet war.

Es war ein mächtiges Gewölbe, die Decke nicht mehr erkennbar, an den Wänden hing hier und da eine große Naphtalampe, durch die Mitte floss mit raschem, strudelndem Lauf ein ziemlich breiter Strom — draußen würde man Fluss sagen, hier war das Wort ›Strom‹ besser angebracht — und eine ganze Masse Menschen, wulodische Arbeiter, waren damit beschäftigt, unter Aufsicht von Priestern über diesen Strom eine Hängebrücke aus glänzenden Nihilitstäben zu ziehen, wobei sie sich einiger Flöße bedienten, die an Seilen hin und her gezogen wurden.

»Wissen Sie, wo wir uns befinden?«, fragte Leonard, den Mund an meinem Ohre.

Ich bemerke, dass wir uns zunächst für ziemlich sicher halten durften. Natürlich hatten wir rechtzeitig unsere Lampen gelöscht, so standen wir in vollkommener Finsternis. Jene Arbeiter waren noch gute hundert Meter von uns entfernt. Bis zu uns reichte auch die Reihe der Lampen nicht. Das Geräusch des strudelnden Wassers übertönte unsere Stimmen.

Weiter bemerke ich, dass es mein Erstes gewesen war, noch ehe ich genauer hinsah, mich davon zu überzeugen, dass auf der anderen Seite der Tür das nötige Loch vorhanden war, und ich probierte auch sofort, ob der Mechanismus von hier aus funktionierte. Er tat es, und ich konnte die Tür sich überlassen, falls sie sich von selbst schloss, was auch geschah, sobald ich sie freigab.

»Wissen Sie, wo wir uns hier befinden?«

»Das ist — das ist — doch nicht etwa die Brücke, die wir damals passierten?«

»Nichts anderes. Das ist der Feuerstrom, den Agni auf Sanjas Bitten zum Schutze der Wuloden vor dieses Tal gelegt hat.«

»Das ist aber doch einfaches Wasser!«

»Na, dachten Sie etwa, wir wären damals wirklich über einen glühenden Lavastrom geschritten, der auf Befehl der Priester plötzlich eine angenehme Kühle aushauchte?«

»Ja, aber... es war doch zuerst so glühend heiß, die roten Dampfwolken...«

Wenn ich es mir in meiner ersten Bestürzung nicht selbst erklären konnte, so sollte ich alles gleich zu sehen bekommen.

Die Brücke war herübergezogen und befestigt worden, mehrere Personen gingen hin und her, sprangen, stampften und schaukelten, um ihre Festigkeit zu prüfen.

Inzwischen wurde am Ufer ein großer Apparat aufgebaut, der fast wie eine Laterna magica aussah, und etwas anderes war es auch nicht.

Bald erstrahlte die Brücke in rotem Lichte, es wurde hin und her gelenkt, bis der Strahl das darunter fließende Wasser traf, und der kochende Feuerstrom war fertig. Dann verbreiteten sich auch Rauchwolken, die aus einer Grotte hervorkamen, sie wurden gleichfalls blutigrot erleuchtet, und ich hatte das ganze Bild vor Augen, das mich einst so entsetzt hatte.

»Nun stellen Sie sich vor, dass man erst durch ein russisches Schwitzbad gehen muss«, sagte Leonard, »nach Passieren der Brücke an der Hand des Priesters in ein solches wieder hineinkommt, und der ganze Hokuspokus ist erklärt.«

Ja, diese Erklärung hatte ich nun schon selbst gefunden. O, diese Priester! Müssen es aber gerade wulodische sein?

Nur will ich noch darauf aufmerksam machen, dass dieser Hokuspokus mit dem Höllentor und Feuerstrom nicht etwa nur unsertwegen arrangiert worden war. Auch Arbeiter kamen doch manchmal hinaus, auch sie mussten stets den Feuerstrom passieren, dasselbe galt für die Krieger, soweit sie nicht zu diesem ›heiligen‹ Dienst herangezogen worden waren.

»Verlassen Sie sich darauf«, sagte Leonard, als wir hierüber sprachen, »diese Arbeiter und Krieger, die hier beschäftigt werden, dürfen niemals wieder mit den anderen zusammenkommen, die sind so gut wie tot, lebendig begraben, und dasselbe gilt sogar vielleicht für die einfachen Priester, die man in solche Mysterien einweihen musste, weil man ihre Hilfe dabei braucht. Nur die Oberpriester dürfen ungestraft alles schauen — na ja, die arrangieren doch erst alles.«

Ich stieß einen Ruf der Überraschung aus.

»Da sehen Sie — dort den Krieger!«

»Was? Ist das nicht Malek, dem Sie das Leben gerettet haben?«

Er war es. Jetzt aber trug er keine Rüstung, auch keinen Schuppenpanzer mehr, ohne den man sonst nie einen Krieger sah, es sei denn bei athletischen Übungen, nicht einmal Waffen — — jetzt war er eine Art von Werkmeister, Aufseher, Sklaventreiber, der nach Anleitung der Priester die Arbeiter anstellte.

Also auch er hier! Deshalb hatte ich nie erfahren können, wo er sich mit seiner Raviena befand!

Wenn ich nach ihm fragte, so hieß es, er sei auf einsamem Posten im Gebirge, und als ich ihn einmal besuchen wollte, da hatte mir Aleddin gesagt: mara! Ich durfte seinen Aufenthalt nicht erfahren.

Dann war aber ganz gewiss auch seine Raviena hier, ebenfalls lebendig begraben. Na, unglücklich sah Malek keinesfalls aus. Solch ein ,Lebendigbegrabensein‹ zu zweien lässt man sich schon eher gefallen.

Für uns gab es jetzt nichts anderes als Rückkehr. Wir hatten es getroffen, dass gerade die Brücke repariert wurde. So mussten wir ein andermal hierher kommen, um weitere Nachforschungen anzustellen. Menschen würden zwar immer hier sein, aber bei Nacht wohl schlafen, da ja sonst nichts zu fürchten war. Wachtposten würden uns allerdings unüberwindliche Schwierigkeiten in den Weg legen — wenn nicht Leonard wieder einen Ausweg wusste.

Weshalb die Brücke gerade bei Nacht repariert wurde, war mir nicht recht verständlich. Die hatten doch bei Tage Zeit genug, und finster war es immer, um die Lichteffekte zu prüfen.

»Einfach, weil schon morgen in aller Frühe uneingeweihte Krieger oder Sklaven Agnis Feuerstrom überschreiten sollen, da muss alles schon in Ordnung sein«, meinte Leonard.

Wir hatten Grund, uns zu beeilen. Von der anderen Richtung her näherten sich einige Laternen, und das Ufer zwischen Felswand und Fluss war nur schmal, wir hätten nicht ausweichen können.

Die Tür ging unter meiner Hand gehorsam zurück, eine halbe Stunde später traten wir wieder in meinen Instrumentenschrank, dessen Schloss kein warnendes Zeichen hatte, wir durften die Tür öffnen und befanden uns in meinem Arbeitszimmer.

Den als Wächter zurückgelassenen Ned fanden wir... schnarchend.

Es hatte nichts zu sagen. Hätte man Einlass begehrt, würde er schon durch das Donnern gegen die Tür geweckt worden sein.

Leonard blieb jetzt natürlich bei mir.

»Ob wir dereinst die jetzt gefundene Brücke zu unserem Fluchtweg benutzen können?«, fragte ich, als ich mich zur Ruhe niederstreckte.

»Das können Sie halten, wie Sie wollen, ich werde meinen eigenen Weg gehen.«

»Welchen?«

Leonard antwortete nicht mehr, er war schon eingeschlafen oder stellte sich doch so.

--*--

Fünfzehntes Kapitel

Originalseiten 227 — 243

»Bis wann kannst du alle unsere Krieger mit solchen Gewehren versehen?«, fragte mich Aleddin am anderen Tage, als er das erste Gewehr fix und fertig in der Hand hielt.

Zum Modell hatten unsere eigenen gedient, nur die Magazinvorrichtung fehlte noch, die auch nachträglich anzubringen war.

Schon wiederholt hatte Aleddin diese oder eine ähnliche Frage gestellt. Ich hatte bisher immer ausweichende Antworten gegeben. Jetzt, da ich alle Maschinen dazu besaß und ihre Leistungsfähigkeit kannte, konnte ich das bestimmen.

»In vier Wochen sollst du tausend solcher Gewehre haben.«

»Was? Schon in vier Wochen?«, erklang es in freudigem Unglauben.

»Jetzt, da alle Maschinen zusammenwirken, ein Teil aus einer Hand in die andere geht, da ich schon geübte Arbeiter habe, ist das eine Kleinigkeit.«

»Und die Patronen dazu? Hast du noch nicht gefunden, wie das Pulver wirksamer wird?«

»Doch, ich glaube, dass mich mein Freund Leonard auf die richtige Fährte gebracht hat, ich will dann gleich Versuche anstellen.«

Ich sprach die Wahrheit — nur infofern nicht, als ich selbst in der Nacht, fast wie im Traume, einen glücklichen Gedanken gehabt hatte. Es konnte nur an der Mischung liegen, und wie eine Offenbarung war es plötzlich über mich gekommen, ich wusste bestimmt, dass das Problem bereits gelöst sei.

Zugleich war aber auch ein anderer Gedanke in mir aufgestiegen. Doch davon später!

»Und solche kleine Gewehre, die ihr Revolver nennt?«

»Davon sollst du innerhalb von vier Wochen gleichfalls tausend Stück erhalten.«

»Mit Patronen?«

»Ich hoffe, auch genügend brauchbare Patronen bis dahin liefern zu können. Wenn es einmal gelungen, ist das dann alles nur noch schnelle Massenfabrikation.«

»Und Fahrräder? Ist das erste noch nicht fertig?«

Soeben brachte der Werkmeister der Fahrradabteilung das erste Modell, an das er die letzte Hand gelegt hatte, um es mir mit Nihilit überzogen abzuliefern.

Ich prüfte es, es lief tadellos, ebenso wie unsere eigenen Elektriks, als diese noch neu waren — nur dass der Vollreifen nicht so die Erschütterungen abschwächte, die ja aber auf dem völlig ebenen Boden, den es hier überall gab, ganz wegfielen.

Unsere drei Räder, die wir mitgebracht hatten, waren schon längst in die Brüche gegangen. Denn Leonard hatte auch allen den 777 Kriegern, womöglich auch den 7777 Arbeitern, das Radfahren beibringen sollen, und das hielt kein Fabrikat der Firma Cunning & Co. aus, so wenig wie ein anderes. Schon nach der ersten Woche konnte auch ein Ned Carpenter die Defekte nicht mehr heilen. Immerhin, einige hatten es doch schon gelernt, auch mein junger Oberpriester.

So stieg er selbst auf die erste Maschine, und er äußerte sein Entzücken.

»Und bis wann kannst du tausend solcher Räder liefern?«

»Ebenfalls in vier Wochen. Und wieder vier Wochen später sollst du 10 000 und ebensoviele Gewehre und Revolver haben.«

Für einen, der die Sache kennt, dürfte das unglaublich klingen. Hier lagen aber ganz andere Verhältnisse vor. Hier brauchten keine Aktien ausgegeben zu werden, um das Kapital und damit die ganze Fabrikanlage zu vergrößern. Wenn ich wollte, hatte ich sofort 10 000 Paar Hände zu meiner Verfügung, geschickt zu jeder Arbeit. — Wenn ich wollte, konnte ich die Leistungsfähigkeit meiner Fabriken von Woche zu Woche und noch schneller im Quadrat vergrößern, sogar im Kubik. Während ich jetzt die ersten hundert Räder fertigen ließ, wurden schon wieder zehn, hundert andere Werkzeugmaschinen gebaut. Eisen und Arbeitskraft — mehr brauchte ich ja nicht.

Aleddin holte tief Atem, unterdrückte seine Erregung.

»Dann nur noch das Pulver.«

»Heute schon hoffe ich dir eine tadellose Mischung liefern zu können.«

»Komm, ich will dich sprechen!«, sagte Aleddin plötzlich und ging in mein Arbeitszimmer.

Verwundert folgte ich ihm. Hatten wir nicht schon immer zusammen gesprochen? Jetzt wollte er mir eine besondere Offenbarung machen.

»Was meinst du, wozu wir die Schusswaffen haben wollen?«, begann er.

»Um euch vor einem Einfall der Anglisi zu schützen«, entgegnete ich, dachte freilich ganz anders.

»Nun gut. Wozu brauchen wir da aber die vielen Fahrräder?«

»Um die große Steinwüste durchqueren zu können.«

»Du sagst es. Doch weshalb wollen wir das tun?«

»Um euch ein anderes Land zu suchen, wo ihr euch mehr ausbreiten könnt.«

»Du sagst es. Gibt es bei euch nach solches Land, wo keine Menschen wohnen, welches aber noch viele Menschen ernähren könnte?«

Ich verneinte es mit bestimmter Absicht — vorläufig wenigstens — und ich durfte es, denn diese Priester hatten ja immer noch ganz beschränkte Begriffe von der Außenwelt, so sehr sie mich auch schon ausgeforscht hatten.

Dass es in Afrika und Amerika noch unermessliche Strecken gibt, von äußerster Fruchtbarkeit, die noch der Besiedlung warten, hätte ich gar nicht sagen dürfen. Dieses so engbeschränkte Talvolk hätte ja gar nicht verstanden, wie es auf der Erde einerseits an vielen Stellen eine Übervölkerung, andererseits noch solch fruchtbare, unbesiedelte Gebiete geben kann. Darin gleichen diese Wuloden Kindern, die nicht begreifen, wie jemand etwas Anderes essen kann, wenn er immer genügend Geld zu Kuchen und Schokolade hat.

»Wie wird man uns empfangen, wenn wir in kultivierte Gebiete kommen?«

»Freundlich.«

»Du meinst?«

»Sicher.«

»Man wird uns fruchtbares Land abtreten, dass wir uns darauf niederlassen können?«

»Weshalb nicht? Es kommen doch alljährlich so viele Tausende Einwanderer nach Australien.«

»Aber die Anglisis werden uns als Untertanen betrachten.«

Ich wollte doch lieber reinen Wein einschenken — eben um das Weitere zu hören.

»Das wird wohl unvermeidlich sein.«

Aleddin erhob sich, doch sicher nicht, um zu gehen — er nahm gleich eine so stolze Gebärde an, er blickte auch auf mich herab.

»Und du meinst, dass wir uns das gefallen lassen werden?«

»Was wollt ihr dagegen tun?«

»Wir, wir sind die Herren, und man soll uns kennen lernen!!«, erklang es jetzt in maßlosem Stolze, und Aleddin verließ mich.

Ich hatte auch genug gehört. Es war eine offene Kriegserklärung gewesen. — — —

Meine traumhafte Offenbarung sollte sich bewahrheiten: Eine neue Mischung von Kohle, Schwefel und Salpeter nach ganz anderen Verhältnissen lieferte das vortrefflichste Schießpulver. Ich will hier nicht technisch werden — Traum und Technik reimen sich auch schlecht zusammen, und ich muss bei aller Bescheidenheit doch sagen, dass es weniger ein richtiger Traum gewesen war, als vielmehr meine durch das vorangegangene Abenteuer fieberhaft angeregte Phantasie, welche durch angestrengte Geistesarbeit mich das richtige, von den bekannten ganz abweichende Mischungsverhältnis hatte finden lassen.

Verschiedene offene Explosionsproben hatten glänzende Resultate ergeben, jetzt fertigte ich eine Patrone, wozu schon gegossene Kugeln massenhaft vorhanden waren. Das Blei wurde aus einem Bergwerk im Gebirge gewonnen, auch die Wuloden verwendeten viel von diesem Metall.

Während dieser Experimente hatte ich ganz besonderen Gedanken nachgehangen und dabei einen Entschluss gefasst, den mir niemand erschüttern sollte.

So dachte ich!

»Es wird die erste und letzte selbstgefertigte Patrone sein, welche ich verfeuere, es ist nur der Wissenschaft wegen«, sagte ich mir, als ich mich auf den vorgerichteten Schießstand hinaus begab.

Es war ein Kernschuss — Flugbahn, Durchschlagskraft und alles stimmte — das Problem war gelöst — für mich, für niemand anders.

Als ich mit dem noch rauchenden Gewehr nach meinem Laboratorium zurückging, trat mir Leonard entgegen.

»War das ein Schuss mit eigenem Pulver?«

Ich bejahte, ich berichtete — der Stolz des Erfinders schwellte doch ganz bedeutend mein Herz.

Ich hatte Leonard auch die Mischungszahlen genannt — ganz einfach — für den, der es nun wusste — so einfach wie das Ei des Kolumbus. Ein geschulter Feuerwerker hätte vielleicht sein Leben lang experimentieren können, und er hätte das richtige Mischungsverhältnis doch nicht gefunden.

»So, nun wissen wir beide, wie es gemacht wird, Sie und ich. Die Wuloden aber werden es niemals erfahren, und dass das nicht so einfach ist, habe ich Ihnen soeben erklärt. Es wird mir scheinbar nie gelingen, die richtige Pulvermischung zu finden, und so werden die Wuloden wohl Gewehre und Revolver haben, aber kein brauchbares Pulver.«

»Ja, warum wollen Sie denn den Wuloden diese Ihre Erfindung vorenthalten?«

»Lassen Sie sich erzählen!«

Ich berichtete, was mir Aleddin vorhin offenbart hatte — wenn auch nicht ganz direkt, so doch deutlich genug.

»Ja, haben Sie denn nicht schon vorher gewusst oder doch geahnt, dass diese Wuloden die Schusswaffen nur haben wollen, um als moderne Hunnen ihr enges und übervölkertes Tal zu verlassen?«

»Doch, geahnt habe ich es schon immer — aber vorhin ist es mir zur Gewissheit geworden. Und ich will nicht derjenige sein, der ihnen die Mittel dazu gibt.«

»Na, warum haben Sie ihnen denn da erst die Flinten gemacht?«

»Als ich an die Herstellung dieser Waffen ging, war mir das noch nicht so zum Bewusstsein gekommen — und wenn ich ihnen jetzt das Pulver verweigere, haben diese Gewehre ja auch gar keinen Wert.«

»Mann, lassen Sie sich doch nicht auslachen!«, fiel Leonard jetzt in seinen brüsken Ton.

»Sie können mich nicht irre machen.«

»Sie wollen durchaus nicht, dass die Wuloden dieses brauchbare Mischungsverhältnis erfahren?«

»Nein.«

»Dann töten Sie mich!«

Leonard wurde wieder einmal etwas überspannt.

»Was sagten Sie da?«, lächelte ich.

»Morden Sie mich!«

»Wozu denn das?«

»Wenn Sie Ihr Geheimnis wahren wollen. Denn ich selbst werde den Wuloden nun das nötige Pulver geben, wenn Sie es Ihnen verweigern.«

»Das würden Sie tun?!«, fuhr ich empor.

»Gewiss. Sie haben mir ja die Mischungszahlen genannt.«

Wir standen auf dem Punkte, aus Freunden die bittersten Feinde zu werden.

Da aber öffnete Leonard die Schleusen seiner Beredsamkeit, und dieser Überredungskunst wäre auch ein anderer unterlegen als ich.

Er hatte ja schließlich ganz recht. Kamen die Krieger auf den von mir gelieferten Rädern erst einmal in von Menschen bewohnte Gebiete, dann konnten sie sich Pulver genug verschaffen, dann brauchten sie meine Erfindung nicht mehr.

Kurz und gut, Leonard hatte sehr schnell meine moralischen Bedenken, die sowieso viel zu spät kamen, zu beseitigen gewusst, und ich sagte ihm zu, den Wuloden anstandslos so viel Pulver und Patronen zu liefern, wie sie wünschten.

Was für ein Interesse aber Leonard selbst daran hatte, dass die Wuloden genügend mit Pulver und Blei versorgt würden, das sollte ich erst später erfahren.

Am Abend fand sich der Lehrmeister der Athletik wieder bei mir ein, scheinbar um in meiner Wohnung der nächtlichen Ruhe zu pflegen, in Wirklichkeit, um mit mir wieder in den Orkus hinabzusteigen.

»Wenn aber nun eine andere Priesterin als Ihre Aridna Dienst hat?«

»Solche Unregelmäßigkeiten kommen hier gar nicht vor.«

»Es kann aber doch einmal der Fall sein, sie kann erkranken.«

»Wir haben schon unser Zeichen ausgemacht, wie sie jeder brave Soldat haben muss, der seine Küchenfee an die Haustür locken will. Vorwärts!«

Ich ermahnte Ned, doch lieber für unsere Sicherheit die Augen offen zu halten, und wir verschwanden im Wandschrank.

Den Gang durchwandert, durch die Röhre gekrochen, und wieder lag die grausige Schlucht vor mir, die ich jetzt durchqueren sollte.

»Es sind heute eine ganze Masse frische Leichen dazugekommen«, sagte Leonard, und ich glaube, er wollte mich dadurch ermuntern.

Es half alles nichts, wir mussten über all das hinweg, was für die Tiger zu viel gewesen war, und das war noch genug. Wie mir dabei zumute war, vermag ich nicht zu schildern.

»Sehen Sie dort oben das Lichtchen? Es ist das Zeichen, dass mich Aridna erwartet.«

Endlich hatten wir den schlüpfrigen, gräulichen Weg hinter uns, wir betraten einen offenen Gang, der anscheinend sorglichst gesäubert war. Die Lampen hatten wir verlöscht.

Leonard hantierte an mir herum, ein Duft von Rosen stieg in meine Nase.

»Was machen Sie da?«

»Ich parfümiere Sie.«

Das mochten wir beide auch sehr nötig haben.

»Woher haben Sie denn das Parfüm?«

»Von meiner Braut.«

Da war die sehr weitdenkend gewesen.

»Geben Sie mir Ihre Hand, ich führe Sie.«

Es ging einen finsteren Gang entlang, eine Tür öffnete sich, im Gegensatz zu der bisherigen Finsternis ein blendendes Licht, obgleich nur von einer trübe brennenden Nachtlampe stammend, und...

»Charly, mein Charly!«

Eine Weibsperson war meinem Begleiter an den Hals geflogen — sans façon, mich gar nicht beachtend.


Illustration

»Entschuldigen Sie einen Augenblick, Sie brauchen sich aber nicht dabei herumzudrehen, es geht ganz anständig zu«, sagte da Leonard auch noch.

Sie küssten sich und — wie Leonard mit Vorliebe sich ausdrückte — knutschten sich ab.... es ging eben zu, wie es schon 6000 Jahre vor Christi Geburt zugegangen ist, wenn der Soldat aus Nubierland sich mit dem Dienstmädchen aus Syrerland hinter der großen Pyramide traf. Ich verschmähe nicht, dieses von Leonard erfundene Gleichnis zu wiederholen.

Die beiden gebrauchten wohl auch ganz genau dieselben Redensarten, um sich ihre gegenseitige Liebe, das Glück des Wiedersehens zu versichern. Erst hatte auch sie einige Sätze im besten Englisch gesagt, dann bedienten sich die beiden einer Sprache, die ich noch nicht verstand, weil ich sie sehr wenig zu hören bekam — der heiligen Priestersprache, Sanskrit.

Einen besonders guten Geschmack hatte Monsieur Leonard übrigens nicht gerade entwickelt. Es war kein bevorzugtes Exemplar ihrer Rasse, die sonst solch herrliche Geschöpfe aufzuweisen hatte.

Offenbar stammte sie aus der Kriegerkaste, sie war sehr groß, außergewöhnlich groß, dabei sehr schlank, und schließlich hatte sie ein in diesem Tale ganz reglementwidriges Mopsgesicht.

Aber Leonard hatte ja keine Auswahl gehabt. Hier hatte es wirklich geheißen: die Erste, die Beste. Und da es nun einmal so war, tat Leonard auch seine Pflicht — der kleine Franzose reckte sich auf den Zehenspitzen empor, so hoch er konnte, sie bückte sich, und so konnte er nicht nur den Arm um ihre schlanke Taille legen, sondern sie auch küssen.

Und wie er dies wieder einmal so recht herzhaft tat — ›meine Ariadne — Aridna, wollte ich sagen — mein Leben, mein alles‹, — da schlenkerte dieser Ausbund dabei mit seinem Fuße nach hinten aus, als wollte er mir damit sagen: Ich mach's zwar nicht gerne, aber's hilft nischt, ich muss.

Ich wandte mich doch lieber schnell um, die Lachlust wandelte mich an.

Zu sehen gab es in diesem Raume nicht viel, es war nur ein Vorzimmer.

Die beiden unterhielten sich eifrigst miteinander, dabei auch manchmal nach mir blickend.

»Du bist der Freund meines Charlys?«, redete mich dann Aridna an, mir die Hand reichend. »Ich kenne dich. Schon oft habe ich dich beobachtet, auch Sanja, und sie sehnt sich danach, dich zu begrüßen.«

Sie eilte durch eine andere Tür hinaus.

Ich glaubte, nicht recht gehört zu haben.

»Wie? Sanja erwartet mich?!«

»Ja, es hat sich in den zwei Tagen mancherlei geändert. Aridna hat sich verraten. Das heißt, ihre sechs Mitschwestern haben erfahren, dass sie mit mir oder überhaupt mit einem Manne Zusammenkünfte hat. Durch einen Zufall hat sie sich verraten. Apropos — wie gefällt Ihnen meine Braut?«

»Sehr gut!«

»Sagen Sie die Wahrheit. Gefällt sie Ihnen wirklich?«

»Ach, das hat doch gar nichts...«

»Ich will es aber von Ihnen hören. Ist das etwa eine Schönheit?«

»Eine Schönheit gerade nicht...«

»Na, mir gefällt se ooch nich, sie hat ein richtiges Bulldoggengesicht und mehr Knochen im als Fleisch am Leibe. Aber in der Not frisst der Teufel Fliegen. Und was sie nicht am Körper hat, das hat sie im Kopfe. Die hat Haare auf den Zähnen, sage ich Ihnen.

Ja, mein Schreck war nicht gering, als sie mir vorhin sagte, dass die ganze Geschichte verraten worden sei. Aber es ist eben ein ganz raffiniertes Weib. Sie hat die anderen gleich auf ihre Seite zu bringen gewusst. Betreffs der hier herrschenden Eifersucht habe ich mich doch etwas geirrt. Oder die Sache ist eben die, dass die anderen nun auch auf diese Weise zu einem Schatz zu kommen hoffen, der ihnen hier in der Einsamkeit die Langeweile vertreibt, wenigstens die nächtliche...«

»Ja, sind denn solche Liebesabenteuer hier gang und gäbe?!«, staunte ich immer mehr.

»I Gott bewahre, ganz im Gegenteil! Ich bin der erste Mann — d. h. richtige Mann — der diese allerheiligste Pyramide betreten hat, soweit die Geschichte von Wulodschistan zurückreicht, und das dürften doch einige Jahrtausende sein. Der Sannyasi ist ein uralter Greis. Alle anderen Oberpriester, die abwechselnd hier Dienst haben, sind ebenfalls solche alte, wacklige Knaxe. Mit Ausnahme von Aleddin, der wegen seiner außerordentlichen Fähigkeiten schon mit so jungen Jahren zum Oberpriester befördert worden ist. Der darf aber, trotz all der sonstigen Vorrechte, die er selbst den anderen Oberpriestern gegenüber genießt, diese Pyramide nie betreten, schon deshalb nicht, weil sich seine einstige Braut hier als Dabodscha befindet. Er hat deswegen gewissermaßen einen Kontrakt unterzeichnet. Dann sind noch die fünfzig Sklaven vorhanden, die aber hat man unschädlich gemacht, so wie es auch die Türken tun, wenn sie Haremswächter brauchen...«

»Und da sind diese weltabgeschlossenen Mädchen so einfach und plötzlich auf solch ein Abenteuer eingegangen?«

»Hm. Sie verstehen nicht, wie das möglich ist? Wissen Sie, Monsieur Schwarz, ich denke mir immer, die allerintrigantesten Weiber stecken doch in den Nonnenklöstern. Auch bei uns. Ich habe schon etwas Erfahrung darin gesammelt, und es ist Tatsache. Diese Weiber müssen irgend etwas haben, woran sie ihre Intrigen ausüben können. Zuerst machen sie das unter sich ab. Dabei können sie tatsächlich die tugendhaftesten, keuschesten Wesen sein. Nun braucht aber nur einmal eine Gelegenheit zu kommen, nur eine Verführung, ein Mann hat sich in das Kloster geschlichen — mit einem Male kippt die ganze Geschichte um. Verstehen Sie, was ich meine?«

O ja, ungefähr verstand ich.

»Na, genau so ist es hier. Seit Jahrhunderten schon warten diese Dabodschas von Generation zu Generation darauf, die unnatürlichen Klosterregeln einmal brechen zu können — Kommen Sie, ich zeige Ihnen einstweilen die Menagerie.«

Leonard schien hier schon recht zu Hause zu sein; denn es war ein ziemlich weiter Weg, den wir noch zurückzulegen hatten; es ging aus einem Zimmer ins andere, alle durch Naphtalampen erleuchtet.

»Wo befinden wir uns hier eigentlich? In welcher Etage der Pyramide, meine ich.«

»Noch unter der Erde, im Keller.«

»Und wir können hier von keinem der Arbeiter überrascht werden?«

»Ganz ausgeschlossen. Diese Arbeiter sind willenlose Maschinen.«

»Und der diensthabende Oberpriester?«

»Denkt gar nicht daran, in den Keller zu gehen, und der Sannyasi ist überhaupt gelähmt. Nein, wir sind hier sicher, und überall dort, wohin uns die Weiber führen werden. Die haben doch hier das Regiment und tanzen den alten Knaben auf der Nase herum.«

In einem großen Raume sah ich die Tiger in Käfigen untergebracht, darunter prachtvolle Exemplare. Nicht nur, dass sie sich um uns gar nicht kümmerten, sondern Leonard griff auch einen nach dem anderen an, und ich durfte dasselbe tun.

»Sie sind vollständig zahm. Das heißt hier drin. wer einmal in der Pyramide ist, der ist ihr Herr. Draußen dürften sie sich anders benehmen.«

Aridna kehrte zurück, wusste uns gleich hier zu finden.

»Sanja begehrt dich zu sehen. Komm, folge mir!«

Leonard blieb noch bei den Tigern, ich folgte der Priesterin.

Auf den Weg, den wir zurücklegten, achtete ich nicht, mich beherrschte nur ein fieberhafter Gedanke: Ich sollte sie sehen, meine Göttin, die auch die der Wuloden war!

Und drei Minuten später stand ich vor ihr, die jetzt keinen Tigerleib mehr hatte, wohl aber noch dasselbe Antlitz, dieselben Augen, dasselbe goldblonde Haar.

Wie alles kam? Was wir zur Einleitung sprachen? Ich weiß es nicht.

Ich saß auf einem hohen Polster und sie auf meinem Schoße, und wir sagten uns beide, dass wir uns liebten, und dann küssten wir uns.

Sie erzählte mir von ihrem Vater, wie er ihr von Kindheit an eingeimpft habe, dass sie keine Wulodin sei, dass sie einmal dieses Tal verlassen müsse, um wieder unter richtige Menschen zu kommen.

»Als ich dich sah, da wusste ich, dass du der Mann seiest, der mich von hier befreien wird. Ach, wüsstest du, wie unglücklich ich bin, und nicht nur, wenn ich auf die Gräuelszenen herabschauen muss, die mir zu Ehren stattfinden. Nicht wahr, du wirst mich befreien, mit mir fliehen?«

Ich wollte es. Ja, aber wie?

Da wusste auch Persine keinen Rat.

»Sei getrost, ich werde dich dennoch befreien, wir werden einen Fluchtweg finden.«

Wir wurden durch Leonards hastiges Eintreten aufgescheucht.

»Vorwärts, vorwärts! Wir haben die Zeit versäumt, schon beginnt der Morgen zu grauen!«

Ich lachte ihm ins Gesicht. Wir waren doch kaum eine Stunde...

Ein Blick auf meine Taschenuhr ließ mir das Wort im Munde ersterben.

Es war keine goldene Uhr, nur eine silberne, aber auch sie hatte dem Glücklichen keine Stunde geschlagen.

Es ging schon auf sechs — ungefähr neun Stunden hatten wir zusammen geplaudert und mehr noch geküsst.

Wir mussten Abschied nehmen.

»Auf Wiedersehen morgen!«

Dieses Wiedersehen fand statt, und so noch fast sechs Wochen lang Nacht für Nacht.

Wir wurden an diese nächtlichen Zusammenkünfte so gewöhnt, dass wir gar nicht mehr über die Flucht sprachen. Vielleicht sogar mit Absicht nicht. Es hätte mir etwas gefehlt, wenn ich nach fleißiger Tagesarbeit nicht noch meine Geliebte heimlich besuchen durfte, und in demselben Taumel befand sich auch Persine.

Ja, ich befand mich wie in einem Taumel — in einem glückseligen. Was um mich her vorging, wusste ich kaum noch, obgleich ich deshalb mit ganzer Seele bei meiner Arbeit war. Oder doch mit dem Kopfe. Mein Herz war ständig in der Pyramide.

Einmal aber nahm ich Leonard doch vor, als wir beide wieder in den Schrank steigen wollten.

»Wie soll das noch enden?«

»Nun, wie denken Sie sich die Sache?«

»Einmal werden wir doch dabei ertappt.«

»Das ist leicht möglich.«

»Wir müssen fliehen.«

»So fliehen Sie doch mit Ihrer Göttin.«

»Ja, wenn ich den Weg zur Freiheit wüsste.«

»Ich kenne ihn.«

»Wie? Sie kennen einen Weg aus diesem Tale!?«

»Gewiss!«

»Wie haben Sie ihn entdeckt?«

»Einfach, indem ich Umschau hielt. Ja, ja, ich habe meine Zeit nicht so vergeudet wie Sie. Haben Sie denn ganz die andere Seite des Tunnels vergessen?«

»Sie haben dort weitere Untersuchungen angestellt?«

»Allerdings. Während Sie in der Pyramide poussierten, bin ich noch oft in der Nähe des Feuerstromes gewesen, habe ihn auf der Hängebrücke überschritten, bin weiter vorgedrungen, bin sogar schon außerhalb dieses Tales gewesen.«

»Der Weg ist frei?!«

»Nicht immer.«

»Nur bei besonderen Gelegenheiten?«

»Ja.«

»Und wann ist eine solche?«

»Warten Sie das Fest der Göttin ab, dann kommen Sie am leichtesten ungehindert durch.«

»Und wann ist denn das Fest der Göttin?«

»Das wissen Sie wirklich nicht?«

Nein — ich war tatsächlich ganz aus dem Kalender gekommen.

»In drei Tagen.«

Ich erschrak fast.

»Haben Sie denn mit Persine gar nicht darüber gesprochen?«

»Mit keinem Wort, die hat selbst gar nicht daran gedacht.«

»So sind eben Verliebte.«

»Und Sie meinen, dann wird uns die Flucht gelingen?«

»Dann oder niemals — oder Sie müssen wieder bis zum nächsten Fest warten.«

»Sie kommen doch natürlich mit.«

»Das ist sehr die Frage. Doch darüber sprechen wir noch.«

--*--

Sechzehntes Kapitel

,

Originalseiten 243 — 256

Wir sollten doch nicht mehr darüber sprechen. Leonard wusste sich wieder einmal unsichtbar zu machen, wenigstens für mich.

Also kam er auch nicht mehr nach meiner Wohnung, um mich nach der Pyramide zu begleiten, ich machte diesen Weg jetzt immer allein.

Meine Ungeduld wuchs, und einmal fasste ich ihn doch, am Tage vor dem Feste, auf das sich jetzt auch Persine schon vorbereitet hatte.

»Morgen ist noch nichts zu machen, erst der zweite Tag des Festes kann in Betracht kommen, wenn alle Krieger versammelt sind, und Vorbereitungen haben wir ja nicht zu treffen.«

So sprach Leonard, und ich musste mich zufrieden geben.

Der erste Tag des Festes kam. Ich war schon in der vorhergehenden Nacht nicht in der Pyramide gewesen, weil sich jetzt manchmal die sämtlichen Oberpriester darin befanden, die Dabodschas hatten viel zu tun.

Nun muss ich ausführlicher schildern, wie es an diesem ersten Tage zuging, was ich das vorige Mal unterlassen habe.

In aller Frühe versammelte sich die ganze männliche Bevölkerung des Tales in dem Amphitheater. Die Göttin erschien also an diesem Tage nicht, nur der Sannyasi, unter dessen Vorsitz eine religiöse Feier abgehalten wurde — Kirche, wollen wir sagen.

Im Zentrum des Theaters standen die makasi erklärten Arbeiter, Frauen und Kinder, welche für würdig gehalten wurden, mit Bravour einen öffentlichen Selbstmord zu begehen.

Es waren diesmal außergewöhnlich viele — nicht weniger als achtundsiebzig Männer und eine entsprechende Zahl von Frauen und Kindern.

Weshalb solch ein Massenurteil erfolgt war, das wusste ich nicht. Ich hatte mich ja in letzter Zeit um gar nichts mehr gekümmert, was nicht mit meiner Arbeit und mit meiner Geliebten in der Pyramide zusammenhing.

Um diese zum Tode Verurteilten standen, also noch in der Arena selbst, die sämtlichen Krieger des Tales, soweit sie nicht auf Wachtposten waren, sonst aber auch die, welche ebenfalls makasi waren, doch erst morgen sterben würden. Heute waren sie ja noch lebensberechtigt und genossen überhaupt gleiche Rechte wie die anderen.

Diese Krieger, ungefähr siebenhundert, sodass also etwa siebenundsiebzig fehlten, waren zu dieser Feier nicht gepanzert, hatten nur ein Schuppenhemd an, das überhaupt zu ihrer gewöhnlichen Kleidung gehörte, trugen keine einzige Waffe.

Und ringsherum nun im Kreise saßen übereinander auf den Steinstufen des Theaters alle anderen männlichen Arbeiter, mindestens 7000 Mann, um dem Gottesdienst, der ihren zum Tode verurteilten Kameraden galt, beizuwohnen.

War er beendet, dann ging es im gemeinsamen Zuge hinauf zur MakasiSchlucht, wo das Fest nun erst richtig begann.

Doch so weit war es noch nicht. Das Erscheinen des Sannyasis wurde erst erwartet.

Ich befand mich mit unter den Kriegern, die auf keinen festen Platz gebannt zu sein brauchten, sondern sich frei hin und her bewegten, wenn auch in gemäßigten Grenzen — viel freier bewegte sich Leonard, der im ganzen Kreise herumlief, mit dem und jenem sprach, ab und zu auch mit einem der verurteilten Sklaven, die heute eine besondere Ehre genossen. Sie waren ja schon so gut wie tot, und durch den Tod sühnten sie ihr Vergehen.

Ein schwacher Donnerschlag — nicht zu vergleichen mit dem, der der Göttin zur Verfügung stand — und auf einer Art von Balkon in der ersten Etage des Tempels erschien der Sannyasi, höchst ehrwürdig aussehend, sonst aber auf eine recht natürliche Weise.

Nicht er selbst sprach, sondern der älteste Oberpriester, auf einer Kanzel unter dem Sannyasi stehend.

Er hielt eine Predigt — es war überhaupt ein richtiger Gottesdienst — die ganze Religion der Wuloden ward dem Volke noch einmal vorgetragen, ihre Lehre von der Wiedergeburt erläutert und so weiter.

Dann beglückwünschte ein anderer Oberpriester die Verurteilten zu ihrem Lose, und dann fand eine Art von Litanei statt, nur dass sie nicht gesungen, sondern gesprochen wurde.

Der Priester stellte an die Verurteilten Fragen, vorschriftsmäßige Formeln, die von einem einzelnen Manne, dem Sprecher, vorschriftsmäßig beantwortet wurden.

Dieser Sprecher war ein schon älterer Mann — soweit man hier überhaupt alt werden darf — ein echter Typ der Arbeiterkaste, klein, aber gedrungen, mit einem wahren Stiernacken, die kurzen Ärmel der grauen Toga ließen riesige Muskeln sehen.

»Seid ihr bereit, zu Ehren der Göttin Sanja, welche uns Indra gegeben hat, freiwillig in den Tod zu gehen?«, lautete die erste Formel, welche der Oberpriester mit schallender Stimme rief.

»Nein!«

Diese Verneinung war ebenso laut und deutlich gerufen worden, aber der Oberpriester glaubte wohl, ebenso wie ich, nicht richtig gehört zu haben, und dasselbe galt sicher von allen anderen. Ich sehe nur noch diese Gesichter.

»Seid ihr bereit«, wiederholte der Priester nach einer kurzen Pause, »zu Ehren der Göttin Sanja, die uns Indra gegeben hat, freiwillig in den Tod zu gehen?«

»Nein!«, erklang es abermals aus dem Munde des Sprechers, und »Nein!!«, echote es hundertstimmig nach, von all den Verurteilten, Männern und Frauen und Kindern, ausgerufen.

Wahrend der Litanei, während des ganzen Gottesdienstes hatte schon immer die größte Stille geherrscht. Aber so ganz ruhig kann es doch nicht sein, wenn mehr als 10 000 Menschen zusammen sind, man hört förmlich ihren Atem, das Blut in ihren Adern pulsieren.

Jetzt jedoch kam es mir nicht anders vor, als ob plötzlich das ganze Weltall in Todeskälte erstarre, für immer und ewig.

Alles stand wie die Statuen — natürlich, wenn das ganze Weltall erstarrt, um für immer so stehen zu bleiben! Und diese Gesichter! Ich kann es unmöglich schildern.

Wie lange das währte? Ich weiß es nicht. Für mich eine Ewigkeit.

Der Oberpriester war der erste, in den wieder Leben kam. Langsam erhob er die Arme, griff sich an den Kopf — wahrscheinlich, um sich zu überzeugen, ob er auch wirklich noch einen habe.

»Nein«, nahm da der Sprecher selbst wieder das Wort, und seine Stimme beherrschte das ganze Amphitheater, »wir sind nicht bereit, freiwillig zu sterben — wir wollen überhaupt nicht sterben — wir wollen leben und wissen, weshalb wir des Todes schuldig befunden worden sind — wir wollen einmal Rechenschaft abgelegt haben — auch wir sind Menschen, halten uns mit euch Kriegern und Priestern gleichberechtigt — wir wollen wissen, weshalb...«

»Aklami — Meuterei!!!«, ertönte da der Schrei.

Wer ihn ausstieß, weiß ich nicht. Jedenfalls gehörte der dröhnende Bass einem Krieger an, und der Ruf fand bei allen anderen Kriegern Widerhall.

Mich wunderte nur, dass die Wuloden überhaupt für Meuterei einen Ausdruck hatten.

Was nun vor sich ging, vermag ich nicht zu beschreiben, so wenig ich die einzelnen Vorgänge schildern könnte, die sich in einem Ameisenhaufen abspielen, wenn man plötzlich mit einem Stock hineinstößt.

Einzelheiten wohl, aber das gibt doch kein Gesamtbild. Und auch die Einzelheiten sind nur ganz spärlich.

»Aklami, Aklami — Meuterei, Meuterei!«

Ein riesenhafter Krieger stürzte sich auf den Sprecher, da aber hatte dieser plötzlich einen Dolch in der Faust, schnellte in die Höhe und stieß dem Gegner den blitzenden Nihilitstahl in den entblößten Hals, dass der Krieger sofort zusammenbrach — — das war das erste, was ich sah, und da war schon die allgemeine Katzbalgerei im besten Gange, die Krieger würgten sich mit den Sklaven herum — — und das ganze Amphitheater eben ein aufgestachelter Ameisenhausen, nur nicht so ruhig — ein Mordsskandal — und da plötzlich auch Gewehrschüsse, ganze Salven, die von den Treppen abgegeben wurden...


Illustration

»Ergebt euch!«, donnerte da eine Stimme, bei der mir im Augenblick am rätselhaftesten das war, wie die sich noch verständlich machen konnte. »Ergebt euch — der Sannyasi hat seine Rolle ausgespielt, jetzt bin ich euer Sannyasi...«

Ich wandte meinen Blick dorthin, von wo die mir so wohlbekannte Stimme kam — und da sehe ich, wo eben noch der alte Sannyasi gesessen hat, plötzlich meinen Freund Leonard stehen, ein Gewehr in der Hand — und jetzt reißt er dieses an die Wange, ein Feuerstrom...

Das war das letzte, was ich von dem ganzen Tumult sah und hörte. Plötzlich bekam ich einen Schlag mitten vor die Stirn, dass mir das Feuer aus den Augen spritzte...

»Da hat mir einer eine Kugel durch den Kopf geschossen«, denke ich noch ganz vernünftig — dann war es mit mir vorbei.

*

Aber tot war ich nicht.

Als ich wieder zu mir kam — ich entsinne mich noch ganz deutlich — war mein erstes, dass ich an meine Stirn griff, um das geschossene Loch zu befühlen. Statt eines Loches aber fand ich mitten auf der Stirn eine mächtige Brausche, ganz spitz in die Höhe gegangen, ein wahres Horn.

»Na, Sie alter Schwede, konnten Sie nicht noch ein bisschen warten, ehe Sie in Ohnmacht fielen? Den Spaß hätten Sie doch mitmachen sollen.«

Es war Leonards Stimme. Beim Öffnen der Augen erblickte ich zunächst einen Raum, in dem schöngewebte Teppiche die Hauptrolle spielten, und dann blickte ich in Leonards Gesicht, der sich gerade eine Zigarette anbrannte.

»Wo bin ich?«, brachte ich mühsam hervor.

Mein Kopf schmerzte fürchterlich, ich fühlte mich äußerst elend, konnte kaum sprechen.

»In der Pyramide — in der Privatwohnung des Sannyasis, welcher jetzt aber Charles Leonard heißt und sich lieber den König von Wulodschistan und benachbarter Länder nennt, meinetwegen der ganzen Erde.«

Ich starrte den Sprecher verständnislos an.

»Können Sie sich nicht mehr entsinnen?«

Doch, jetzt kehrte bei mir die Erinnerung langsam zurück.

»Die Sklaven haben gemeutert?«

»Ja, wie ein Mann.«

»Und Sie — Sie — Sie standen doch oben auf dem Balkon...«

»Na freilich, ich bin doch der Hauptmacher, ich habe doch die ganze Verschwörung erst angezettelt.«

»Sie hätten...«

»Natürlich habe ich. Wissen Sie, was Sie mir von einer Maschine vorphantasierten, die Sie hier erfinden wollten — auf der einen Seite steckt man einen Regenwurm hinein...«

»Ach, das war doch nur ein Witz!«

»Na, dachten Sie etwa, ich hätte das für Ernst genommen? Und da sagte ich Ihnen: Und ich zettele hier eine Rebellion an, schwinge mich zum König von Wulodschistan empor... das hielten Sie auch für einen Witz, nicht wahr? Nein, das war kein Witz, das war von allem Anfang mein ernster Vorsatz.

O, wenn Sie wüssten, wie ich vom dritten Tage an, da ich die erste Umschau gehalten, hier unter den Sklaven gewühlt habe! Und das sechs Monate lang! Diese Versammlungen, die wir in den unterirdischen Katakomben während der Nacht abgehalten haben! Und ich habe ihnen gesagt, wie sie an der Nase herumgeführt werden, dass die Göttin Sanja nur ein in eine Tigerhaut eingenähtes Weib ist... na, Sie können sich denken, was ich alles gepredigt habe.«

»Und davon haben die Priester und die Krieger niemals etwas gemerkt?«

»Nicht das Geringste. Ist das etwas so Wunderbares? Bedenken Sie den indischen Aufstand, wo ein Volk von über hundert Millionen Seelen jahrelang einen Aufstand vorbereiten konnte, der plötzlich zu ein und derselben Minute an allen Ecken und Kanten des riesigen Reiches aufflammte. Warum sollte hier so etwas nicht möglich sein? Vorsichtig mussten wir natürlich sein — na, in so etwas habe ich ja etwas los — und dann der Samodi, wissen Sie, der den Sprecher machte, das war meine rechte Hand, und das ist der allertüchtigste Kerl.«

»Und es ist geglückt?«

»So ziemlich.«

Leonard drehte sich eine neue Zigarette, leckte am Blatt, dadurch wurde er am Sprechen verhindert.

»Sie haben offenbar einen Prellschuss abbekommen«, sagte er dann. »Eine vom Stein abprallende Kugel hat Sie gegen die Stirn getroffen.«

So war es wohl gewesen.

»Die Krieger sind doch nicht sämtlich erschossen worden?«

»O nein! Nur elf Mann sind tot, etwa zwanzig verwundet. von denen nur noch vier abgehen werden. Allerdings wären sie alle abgeschlachtet worden, wenn sich Ihr Freund, der Aleddin, nicht so großartig betragen hätte. Zunächst muss ich erwähnen, dass sich die tausend Gewehre und Revolver, nebst den nötigen Patronen, die Sie schon geliefert haben, bereits in unserem Bestitze befanden. Nun wissen Sie auch, weshalb ich durchaus wollte, dass Sie den Wuloden nicht das Pulver, respektive die Patronen, vorenthielten. Das ist eben alles von langer Hand vorbereitet, und heute, am ersten Festtag der Sanja, wo wir alle Krieger waffenlos so hübsch beisammen hatten, sollte der Schlag ausgeführt werden, wie es denn auch geschehen und geglückt ist.

Als der Sannyasi den Gottesdienst eröffnete, plünderten unterdessen dazu abgeteilte Sklaven und noch mehr Frauen die Waffenmagazine, die ja gar keine Bewachung hatten. Die Revolver wanderten von den obersten Sitzreihen nach den unteren, nur die Gewehre blieben oben. Mit der Handhabung der Waffen waren ja die meisten Sklaven schon vertraut gemacht worden.

Als der Sprecher sein ›Nein‹ sagte, das war das Signal zum Aufstand. Es musste ja überhaupt so kommen. Ich hatte wenig Hoffnung, die siebenhundert Krieger am Leben zu erhalten. Es war eigentlich ganz selbstverständlich, dass sie sich lieber Mann für Mann niederschießen ließen, ehe sie sich gefangen gaben — den Sklaven. So mussten sie eben zusammengeschossen werden, und die Sklaven, die sich in der Arena befanden, würden wohl ihr Schicksal teilen, wenn sie sich nicht schnell genug auf die Sitzreihen retten konnten.

Ich erhob vergebens meine Stimme, die Krieger auffordernd, sich zu ergeben. Es wäre so gekommen, wie ich gesagt. Da plötzlich aber — in dem Augenblick, als ich Sie zusammenbrechen sah, was mich nicht wenig bestürzte — entsteht hinter mir ein Donnern, dass ich doch denke, die Trommelfelle sollen mir platzen — es ist Aleddin. der auf dem Trommelapparat herumarbeitet, noch ganz anders, als wenn die Göttin erscheint, und dieses furchtbare Donnern verfehlt auch nicht seine Wirkung, im Moment hörten das Handgemenge und die Schießerei auf, alles steht wie erstarrt — und da steht auch schon Aleddin neben mir auf dem Balkon, und jetzt fordert der die Krieger auf, beschwört sie, befiehlt ihnen, jeden Widerstand aufzugeben, sich ins Unvermeidliche zu schicken.

Der Kerl sprach wie ein Buch, wie ein Gott. Ja, den hat man nicht umsonst schon mit so jungen Jahren zum Oberpriester erwählt. Dass er hier die allergrößte Autorität auf das ganze Volk ausübt, wusste ich ja, aber ich hätte mir doch nie träumen lassen, dass der sich auf meine Seite stellen würde, hätte ihm niemals so einen Vorschlag zu machen gewagt...«

»So ist Aleddin mit Ihnen verbündet?«

»Nicht doch, nicht einmal dem Geiste nach. Aleddin war nur der Vernünftigste, der einsah, dass hier nichts mehr zu machen war, der das Leben dieser siebenhundert Krieger schonen wollte und der auch kraft seiner Autorität hier Einhalt gebieten konnte.

Also die Krieger gehorchten ihm, gaben den Widerstand auf. Aleddin trat mit mir in Unterhandlungen — aber nicht etwa als Freund! ›Was willst du eigentlich, Fremdling?‹, fragte er, jetzt nachträglich vor Erregung an allen Gliedern zitternd.

Ich machte es ihm klar. Diktatorische Gewalt! Jetzt war ich hier der unumschränkte Herr, und ich wurde und werde neue Gesetze vorschreiben, wie es mir beliebt.

Es ist ein kluger Mann, dieser Aleddin. Er gab nach. Nicht etwa deshalb nur, weil er zu seinem Schrecken sah, wie ich die ganze Sklavenkaste hinter mir hatte, sondern weil er eben das Leben der Auserwähltesten unter den Wuloden, der Krieger, schonen wollte. — Dass er die Zwecklosigkeit einsah, hier blindlings in den Tod zu rennen. Vielleicht heroisch, aber dumm.

So ist Aleddin jetzt wirklich mein Verbündeter. Die Krieger sind einstweilen in dem Amphitheater, das man durch Herausnehmen einiger loser Stufen mit einer förmlichen Mauer umgeben kann, interniert. Auch ihre Familien hat man zu ihnen gebracht. Die wenigen Priester kommen gar nicht in Betracht, und sie gehorchen auch dem Aleddin, der seine Macht ebenso wie die anderen Oberpriester ausübt. Wissen Sie, wie lange Sie bewusstlos gewesen sind?«

»Lange Zeit?«

»Etwa sieben Stunden. Ich hatte eine schöne Sorge um Sie. In dieser Zeit nun ist auch alles andere unschädlich gemacht worden. Es gab doch noch verschiedene Wachtposten von Kriegern im Gebirge. Wer sich nicht ergeben wollte, musste fallen, wurde erschossen. Das ging nicht zu ändern. Doch meist genügte immer wieder Aleddins Autorität, um jeden Widerstand zu brechen. So bin ich jetzt Herr der Situation, bin unumschränkter Diktator, und wenn ich will, lasse ich mich noch heute zum König krönen — oder lieber gleich zum Kaiser — Sie können dann König werden — und unserem Ned, der wieder ein ausgezeichnetes Beispiel von seiner Dummheit geliefert hat, verleihe ich den doppelgeschwänzten Elefantenorden mit Brillanten am Hosengummibande.«

Leonards Humor konnte mich nicht aufheitern. Ich war ja auch noch ganz verwirrt von dem Umschwung, der hier plötzlich eingetreten war.

»Ja, was beabsichtigen Sie eigentlich?«

»Nun, eigentlich geht die Geschichte hier ganz ruhig weiter. Nur dass ich jetzt hier unumschränkter Herr bin. Diese ganze Priesterwirtschaft hört natürlich auf. Dadurch, dass ich den Sklaven erklärt habe, was für ein Hokuspokus mit ihnen getrieben wird, brachte ich sie ja so schnell auf meine Seite, erfüllte sie mit Entrüstung gegen die Priester. Jetzt hat jeder Zutritt zur Pyramide, es geht wie in einem Bienenstocke aus und ein, jeder soll die sieben Millionen Zimmer suchen, von denen die Priester ihnen immer erzählt haben. Die Tiger sind ihnen gezeigt worden, Persine hat sich noch einmal in eine Tigerhaut stecken und mit dem Schwanze wackeln müssen. Die Entrüstung der Arbeiter gegen die Priester wächst noch immer, ich habe schon kräftig einschreiten müssen.«

»Und das Makasi, das Selbsttöten?«

»Na, das ist nun erst recht hier vorbei. Jetzt kann hier jeder ein seliges Ende erreichen.«

»Wenn aber nun da bald eine Übervölkerung eintreten wird?«

»Dann wird einfach ausgewandert.«

»Und der Glaube an die Wiedergeburt?«

»Die habe ich den Arbeitern gleich am Anfang gründlich lächerlich zu machen gewusst.«

Ich holte tief Atem.

»Leonard, Leonard!«

»Was gibt's? Was haben Sie da zu piepsen?«

»Wenn Sie da nur nicht etwas Fürchterliches heraufbeschworen haben.«

»Was denn Fürchterliches?«

»Man nimmt einem Volke nicht ungestraft seine Götter, an denen es Jahrhunderte lang gehangen hat.«

»Nicht? Diesen Wechsel hat wohl schon jedes Volk durchgemacht.«

»Aber nicht auf so plötzliche, gewaltsame Weise, das hat noch nie ein gutes Ende genommen. Ich denke an die französische Revolution, als man den lieben Gott für abgesetzt erklärte, an seine Stelle die reine Menschenvernunft stellte. Auch das nahm ein Ende mit Schrecken.«

»Ah, bah, hier ist das etwas ganz Anderes — ich weiß, was ich tue.«

»Dann wohl Ihnen! Und was dann?«

»Nun, die Geschichte geht eben ganz gemütlich und genau so weiter.«

»Ja, dann hätten Sie doch eigentlich alles beim Alten lassen sollen!«

»Mit diesem Hokuspokus? Nimmermehr! Die Hauptsache aber ist doch die, dass ich hier nicht nur Schwimm- und Fechtlehrer sein wollte. Und mich langsam emporzuarbeiten, dazu hatte ich keine Lust, das hätte zu lange gedauert, ich hätte mein Ziel überhaupt nie erreicht. Nein, solch ein Handstreich musste unbedingt arrangiert werden, und es ist ja, was Menschenleben anbetrifft, billig genug abgelaufen. Dass ich aber nun, da ich an der Spitze stehe, keinen Sannyasi und keine Göttin über mir dulde, ist doch ganz selbstverständlich. Also mussten sie beide stürzen, dem ganzen Humbug ein Ende gemacht werden. Und es ist erreicht.«

»Und wie gedenken Sie es später mit der Auswanderung zu halten?«

»Reden Sie doch etwas deutlicher. Ich höre schon heraus, was Sie wollen.«

»Nun gut — gehen Ihre ehrgeizigen Pläne noch weiter? Wollen Sie jetzt als Welteroberer auftreten?«

»Hm. Davon wollen wir später einmal sprechen. Jetzt will ich Sie nicht länger Ihrer degradierten Göttin vorenthalten, die schon lange dort an der Tür steht.«

--*--

Siebzehntes Kapitel

Originalseiten 256 — 272

Wieder war ein Vierteljahr vergangen. Dem äußeren Anscheine nach hatte sich in dem Tale absolut nichts verändert, alles ging seinen altgewohnten Gang.

Die Arbeiter bestellten die Felder und meißelten zu ihrem Vergnügen in Stein; die Krieger übten sich in athletischen Spielen und in Handhabung der Waffen, zu denen jetzt nur noch Gewehre gekommen waren, die sie aber ja auch schon vor dem Umsturz gehabt hatten; die siebenundsiebzig Priester waren die Aufseher, die sieben Oberpriester die Minister des Allerobersten, der jetzt nicht mehr Sannyasi hieß, sondern Charles Leonard.

An diesem selbst war ebenfalls keine große Umwandlung zu merken. Fast nur, dass er jetzt in der Pyramide wohnte. Sonst leitete er nach wie vor die athletischen Übungen der Krieger.

Etwas anders war es aber jetzt doch geworden. Die Kasteneinteilung bestand noch. Sie war auch gar nicht auszurotten, war diesem Volke schon zu sehr in Fleisch und Blut übergegangen. Jetzt aber mussten auch die Sklaven, wenn sie von ihrer Arbeit abkommen konnten, an den ritterlichen Übungen der Krieger teilnehmen, und dann vor allen Dingen auch sämtliche Kinder der Arbeiter, wenigstens die Knaben.

Und schließlich nahm doch Leonard in der Pyramide die Berichte der Priester in Empfang, kümmerte sich auch wirklich um alles.

Ja, er war der unumschränkte König. Aber er trat nicht als solcher auf, wenigstens nicht äußerlich. Das heißt, ohne jeden Prunk.

Auch ich war ganz derselbe geblieben. Ich lieferte Waffen und Fahrräder.

Vor allen Dingen aber ließ ich jetzt in den Werkstätten mit fieberhafter Eile bei Tag und Nacht an riesigen Kesseln für Destillierapparate arbeiten.

Denn die Stimmung im Tale war keine so heitere, wie sie hätte sein können. Seit sechs Wochen war kein Tropfen Regen gefallen. Eine Dürre herrschte, wie sie in den Annalen von Wulodschistan seit Jahrhunderten nicht verzeichnet worden war.

Man würde in diesem Jahre kaum ein Korn ernten können. Alles total versengt, noch ehe die Hauptfrucht, von der das Leben dieses Volkes abhing, zum Schnitt gereift war. Das fasste man mit ziemlichem Gleichmut auf. Ein solcher vollständiger Ausfall der Ernte durch Dürre kam ja hier öfter vor, deshalb war ja immer, wie früher erwähnt, Vorrat für ein ganzes Jahr vorhanden. Denn durch Erfahrung hatte man mit fast untrüglicher Gewissheit die Regel aufstellen können, dass nach einem missratenen Jahr stets eins mit einer außerordentlich reichen Ernte kam, die gleich den doppelten Ertrag lieferte.

Auch vor zwei Jahren war die ganze Ernte durch Dürre ausgefallen. Dafür aber war das vorige Jahr ein ungemein fruchtbares gewesen, die Vorratskammern waren gestrotzt voll.

Das also war das Wenigste. Verhungern konnte man in diesem Jahre nicht, und das nächste würde das Ausgefallene schon wieder einbringen.

Aber eine so lange regenlose Zeit, eine so furchtbare Hitze, dass sogar alle Süßwasserquellen versagten, war in diesem Tale denn doch noch nicht vorgekommen.

Nein, davon wussten die ältesten Leute nichts zu berichten, davon stand nichts in den seit Jahrhunderten geführten Annalen.

Wohl flossen in besonders trockenen Jahren die Süßwasserquellen etwas spärlicher, aber so viel Wasser, dass man seinen Durst hatte löschen können, war stets vorhanden gewesen. Und dann waren da ja auch die ungeheuren Zisternen mit angesammeltem Regenwasser vorhanden.

In diesem Jahre aber hörte alles auf. Die an sich schon so spärlichen Süßwasserquellen versiegten bis zum letzten Tropfen, das Wasser in den Zisternen verfaulte, ging durch die Hitze in Gärung über, so tief sie auch angelegt sein mochten.

Dabei war es wie ein Hohn, dass jetzt die vielen Salzwasserquellen nur umso reichlicher flossen.

»Das ist Sanjas Fluch, dass wir jetzt alle verdursten müssen,« hörte ich einen Arbeiter zum anderen sagen, welche gingen, um aus einer Zisterne fauliges Wasser zu schöpfen.

Es war das erste Mal, dass ich so etwas hörte, und ich erschrak nicht wenig. Aber lag es nicht nahe, dass das Volk diese Wassernot jetzt als eine Strafe betrachtete, weil es den uralten Glauben seiner Väter verleugnet hatte? Sie hatten eben ihre Götter und ihre Sanja noch immer nicht vergessen, mochte sich auch vor ihren eigenen Augen die Tigersphinx in ein menschliches Weib verwandelt haben, das nur in ein Tigerfell genäht gewesen war, das jetzt als meine Frau meine Wohnung mit mir teilte.

Sobald ich Leonard sah, sagte ich es ihm ganz erregt.

»Denken Sie, ich weiß nicht schon längst, dass schon immer so gesprochen wird?«, meinte er gleichgültig.

»Und Sie fassen das so gleichmütig auf? Das bedeutet die größte Gefahr für uns!«

»Was für eine Gefahr?«

»Das könnte eine Gegenrevolution verursachen, welche die alten Sitten wieder einführt.«

»Ah bah! Dafür lassen Sie nur mich sorgen. Und Sie sorgen dafür, dass die Destillierapparate möglichst bald in Tätigkeit treten.«

»Der erste ist schon fix und fertig.«

Ich führte ihn hin, wo der ungeheure Kessel eingemauert war, der mit den nötigen Kohlen täglich hundertzwanzig Kubikmeter Salzwasser verdampfen konnte und dafür hunderttausend Liter trinkbares Wasser lieferte. Noch zwei andere solche Kessel mit Destillieranlage wurden demnächst fertig, und dann war jede Wassernot behoben, dann kamen auf den Kopf täglich zehn Liter, und an Kohlen war hier kein Mangel.

Noch an demselben Tage begann der erste Destillierapparat seine Tätigkeit, schon konnte sich jeder satt an reinem Wasser trinken — etwas gar zu rein, zu fade schmeckend, es musste durch etwas Salz verbessert werden, und als der Tag heranrückte, an dem sonst das Fest der Sanja gefeiert worden war, war die Wassernot vollkommen behoben.

Leonard war zu klug, um diesen Tag unbeachtet vorübergehen zu lassen. Nach wie vor fanden athletische und kriegerische Spiele statt, an denen sich diesmal aber auch die Arbeiter beteiligten, die jetzt gleichberechtigt waren. Leonard hatte alle Vorratskammern geöffnet, es wurde mehr denn früher an diesem Tage geschmaust, und er hielt eine Rede, in der er angab, warum man nicht mehr mit dem Reserveproviant zu sparen brauche.

Nur noch wenige Wochen, dann sei alles so weit, dann würden die ersten Wuloden, einige hundert Mann, Krieger und Arbeiter, dieses Tal verlassen, um für sich und für die anderen eine neue Heimat zu suchen — und mit glühenden Farben verstand Leonard den Wuloden auszumalen, wie es draußen in der ihnen unbekannten Welt aussehe, welche Freuden ihrer dort warteten.

Dieses Fest fand natürlich im Amphitheater statt. Leonard war im besten Beschreiben jener fremden Herrlichkeiten, er ließ den auswandernden Wuloden nur immer so die gebratenen Tauben oder nach dem Geschmacke dieses Volkes den gekochten Brei ins Maul fliegen resp. fließen, als an einer Stelle auf den mittleren Galerien eine große Unruhe entstand.

Leonard achtete nicht weiter darauf, fuhr fort in seiner Rede. Bei solch großen Menschenansammlungen kommen ja immer einmal derartige Unruhen vor. Aber diese nahm immer mehr zu, sie entstand auch an anderen Stellen, ganz unabhängig von jener, und das Gewoge und das Gemurmel nahm dermaßen zu, dass der Redner gar nicht mehr gehört wurde.

»Was gibt es da eigentlich?«

Seine Boten flogen.

Eine ganz seltsame Erscheinung! Der eine Arbeiter hatte zuerst zu seinem Nachbar wimmernd gesagt, dass er es vor Leibschmerzen nicht mehr aushalte, er sterbe — und da hatte der Nachbar gestanden, dass auch er schon seit langer Zeit von Leibschmerzen geplagt würde — und an anderen Stellen des Theaters waren nach und nach ebensolche Beichten abgelegt worden — kurz und gut, die mehr als zehntausend Zuschauer hatten plötzlich höllisches Bauchweh, und zwar schon seit längerer Zeit.

Dass dies so lange von allen verheimlicht worden war, das kam eben von der ganzen Erziehung dieses Volkes her. Jeder hätte sich doch geschämt, etwas davon zu sagen, wenn er einmal ein bisschen Bauchkneipen hatte. Erst als der und jener schon dem Tode nahe war, kam das Geständnis über seine Lippen, und weil der Schmerz ein so allgemeiner war, wurde er auch zum allgemeinen Geständnis.

Da muss ich zunächst bemerken, dass so etwas wie Krankheit in diesem Tale so gut wie unbekannt war. Vor etwa fünfzig Jahren hatte hier einmal eine Epidemie gehaust, wahrscheinlich die Pocken, der zehnte Teil der Bevölkerung war daran gestorben — seitdem war so etwas nicht wieder passiert, und von früheren Epidemien berichteten die Chroniken nichts.

Es kamen aber auch gar keine einzelnen Krankheiten vor. Dieses Volk musste eine eiserne Gesundheit besitzen. Die Hauptsache war wohl, dass eine Seuche bisher gar nicht hatte aufkommen können. Entweder sagte der Betreffende nichts davon, dass er sich krank fühlte, oder wenn man es ihm anmerkte, wenn er zu schwach wurde, oder er bekam etwa einen Hautausschlag, so wurde er einfach von den Priestern sofort für makasi erklärt und in die Schlucht hinabgeschmettert.

Da ist leicht begreiflich, dass gar keine Epidemie entstehen kann. Einmal bewirkt ja schon der feste Wille Wunder, der nichts von Krankheit wissen mag, und nicht minder wichtig ist die schnellste Ausmerzung des kranken Gliedes der menschlichen Gesellschaft.

Und es ward immer böser. Auf allen Sitzreihen starben Arbeiter unter den entsetzlichsten Schmerzen. Nicht massenhaft starben sie, aber doch hier und da einer, während die anderen sich noch halten konnten.

Ich sah, wie Leonard erblasste, als er dies vernahm, und als er sich gleichgültig eine Zigarette drehte, sah das in diesem Augenblick durch die Erkünstelei fast lächerlich aus.

»Haben Sie denn Leibschmerzen?«, wandte er sich an mich.

»Ich absolut nicht.«

»Ich auch nicht. Und du, Ned?«

»Nee, mir fehlt nischt, mir tut der Bauch nich weh!«

»Und du, hast du Schmerzen im Magen, im Leibe?«, fragte Leonard den ihm zunächst stehenden Krieger.

Dieser verneinte. Leonard sah ihn scharf an.

»Sprich die Wahrheit! Hast du Leibschmerzen?«

»Nein.«

»Du siehst aber...«

Da stürzte der riesenhafte Krieger hin, um fünf Minuten später eine Leiche zu sein.

Auch die Krieger waren von denselben Schmerzen befallen, desgleichen die Priester — alle, mit Ausnahme von uns drei Fremden.

Ich will es kurz machen. Die Leibschmerzen hörten bei allen bald wieder auf, um einer anderen Krankheit Platz zu machen. Es wurde keine Dysenterie daraus, keine Cholera, keine Ruhr — wohl aber wurden alle mehr oder weniger von einem Ausschlag befallen. An allen Teilen des Körpers entstanden dicke Beulen.

»Das ist die Pest!«, flüsterte ich entsetzt.

»Ach, Unsinn!«, erwiderte Leonard. »Die Pest kenne ich, die Pestbeulen sehen ganz anders aus.«

»Ja, was ist es denn sonst?«

»Eine mir unbekannte Krankheit. Dieses weltverlassene Tal muss auch seine eigene Krankheit haben. Verflucht!«

»Aber die Wuloden selbst kennen diese Krankheit nicht.«

»Das ist es eben.«

»Das sieht bald aus wie Aussatz«, meinte Ned, »ich habe einmal einen Aussätzigen gesehen, so fängt die Geschichte an.

Er mochte recht haben. Aber gehen denn dem Aussatz Leibschmerzen voraus?

»Nein, es ist eine neue, diesem weltabgeschlossenen Tale spezifische Krankheit«, entschied Leonard, hatte freilich dadurch nichts erreicht.

Am Nachmittage war die Erkrankung an dem beulenartigen Ausschlage eine allgemeine, also auch die Frauen und Kinder wurden davon befallen, bei ihnen waren ebenfalls heftige Leibschmerzen vorausgegangen.

Noch immer starb ab und zu einer daran, und man konnte nicht sagen, ob an dieser Hautkrankheit oder an den inneren Leibschmerzen.

Das Entsetzen war groß.

»Das ist das Wasser, welches die Fremden uns aus den Kesseln zu trinken geben«, erklang der Ruf, »es ist vergiftet!«

»Unsinn«, entgegnete Leonard, wenn ihm ein Priester dies direkt sagte, »dann ist höchstens das faulige Zisternenwasser daran schuld, welches ihr so lange getrunken habt.«

»Wir haben schon häufig in trockenen Jahren nur Zisternenwasser getrunken und sind nie erkrankt.«

»Dann war es eben nicht schon verdorben wie in diesem Jahre.«

»Doch, faulig wurde es zuletzt stets.«

»Aber doch nicht so sehr wie in diesem Jahre«, beharrte Leonard. »Warum erkranken denn wir drei nicht? Warum fühlen wir drei nicht die geringsten Leibschmerzen? Weil wir schon immer destilliertes Wasser getrunken haben.«

Das war eine Tatsache. Wir drei, Leonard, Ned und ich, hatten von allem Anfang an das Zisternenwasser verschmäht, hatten immer das Kondenswasser der kleinen Dampfmaschine getrunken, die seit einiger Zeit im Betriebe war.

Aber was half diese Erklärung? Das Volk hatte nun einmal die Meinung gefasst und blieb dabei, dass die Krankheit nur von dem Genusse des destillierten Wassers herrühren könne. Das war ihnen etwas zu Unbekanntes. Bei uns Fremden mochte das anders sein, wir waren eben keine hier geborenen Wuloden.

Und eine drückende Schwüle lag über dem ganzen Tale, ein heranziehendes Ungewitter ankündend, obgleich noch immer kein Wölkchen am blauen Himmel zu sehen war.

Eine Deputation der Arbeiter verlangte Leonard zu sprechen.

»Was wollt ihr?«

»Sanja zürnt uns.«

Da war es! Ich hatte es erwartet.

»Was für eine Sanja?«, lachte Leonard. »Die Gattin von Monsieur Schwarz, die immer in das Tigerfell eingenäht wurde?«

»Das war nur ein Symbol der Göttin.«

»Was? Wisst ihr auch schon etwas von einem Symbol?«

»Indra wird uns eine neue Sanja geben.«

»Geht, ihr Narren! Es ist nur ein Anfall, der bald wieder vorbei sein wird. Es sterben ja immer weniger. Geht!«

Aber die Leute gingen nicht.

»Was wollt ihr noch?«

»Wir wollen die Göttin versöhnen.«

»Wie wollt ihr das anfangen?«

»Wir müssen ihr Opfer bringen.«

»Auf welche Weise?«

»Die Göttin fordert an ihrem heiligen Feste Menschenopfer.«

»Sie hat sich ja solche selbst genommen«, ging Leonard leider darauf ein, denn sein Spott war jetzt ganz unangebracht.

»Die MakasiSchlucht hat lange keine Menschen mehr geschluckt, und unter uns sind gar viele, welche sich schuldig fühlen. Sie wollen freiwillig sterben.«

Mehr als dreihundert Männer, Frauen und Kinder, die sich irgendeiner Schuld bewusst waren, erklärten sich bereit, zu Ehren der Göttin Sanja zu sterben, sich in die MakasiSchlucht zu stürzen, und zwar, muss ausdrücklich bemerkt werden, waren das ausschließlich solche, welche noch nicht von der Krankheit befallen worden waren, weder von Leibschmerzen noch von dem Hautausschlag.

Denn wenn ich vorhin sagte, dass die Erkrankung eine allgemeine war, so darf man das nicht gar zu wörtlich nehmen. Ich meinte damit, dass man überall, wohin man auch blickte, sich in ihren Schmerzen windende Menschen sah, dann später solche, deren Körper sich mit Beulen zu bedecken begann. Aber mehr als die Hälfte der Bevölkerung war doch noch von diesen Anfällen verschont geblieben — vorläufig — und man stelle sich nur vor, was das heißt, wenn innerhalb weniger Stunden 25 000 Menschen von einer akuten Krankheit befallen werden, die zum Teil einen tödlichen Ausgang nimmt, da darf man wohl von einer ›Allgemeinheit‹ sprechen.

»Was hast denn du verbrochen, dass du dich des Todes schuldig fühlst?«, wandte sich Leonard an den ersten besten Mann.

»Ich habe seitdem unterlassen, die Priester mit der nötigen Achtung zu begrüßen«, lautete die Antwort.

»Und weshalb fühlst du dich schuldig?«, wurde eine junge Frau gefragt.

»Ich habe gestern einen Napf gekochtes Gemüse fallen lassen und es nicht wieder aufgelöffelt.«

»So so. Und was hast du Fürchterliches begangen, du kleiner Wicht?«

»Ich habe gestern Abend vergessen, meiner Schwester Gute Nacht zu sagen«, entgegnete der zehnjährige Junge.

»Und deshalb fühlt ihr euch des Todes schuldig?«, fragte Leonard nach langer Pause.

»Sind wir nicht alle makasi, des Lebens unwürdig, da wir unsere Schutzgöttin verleugnet haben?«, erklang es da dreihundertstimmig im Chor. »Deshalb müssen jetzt alle sterben, wir müssen die Göttin versöhnen.«

»Narren seid ihr!«, brach Leonard zornig los. »Geht und hängt euch!«

Und sie gingen — nicht, um sich zu hängen, sondern um in die MakasiSchlucht hinab einen eleganten Todessprung zu machen. Leonard hätte es gar nicht verhindern können, hier hatte sein Einfluss ein Ende.

Die Nacht war angebrochen. Aber nicht wie sonst herrschte tiefe Stille in dem friedlichen Tal. Oben an der MakasiSchlucht wurde unter Fackelbeleuchtung und vor einer zahllosen Zuschauermenge noch immer der Todessprung ausgeführt. Aus den dreihundert waren schon achthundert geworden, die sich freiwillig opferten, um die Göttin zu versöhnen, welche im Herzen des Volkes noch immer lebendig war, auch wenn es jetzt keine Tigersphinx mehr gab, die man ihm zeigen konnte. Die Tiger hatte Leonard gleich am Beginn seiner Regierung getötet, sie konnten mit dem Aufhören des täglichen Selbstmordes ja nicht mehr ernährt werden.

Und merkwürdig — so schnell, wie die Krankheit entstanden war, so schnell ließen die Erscheinungen auch wieder nach. Die Beulen verschwanden zusehends, und wer nicht gestorben war, der konnte morgen wieder kerngesund sein.

Was für Schlüsse das Volk daraus zog, ist wohl selbstverständlich. Es gab eben doch noch eine Sanja, und der Opfertod hatte sie versöhnt.

Ich saß bei Lampenschein mit Persine und Ned in meiner Wohnung. Auch Persine war von allem ganz verschont geblieben.

Wir sprachen darüber, was wohl die Krankheit hervorgerufen hatte. Unbedingt eine akute Vergiftung, aber nicht durch Wasser, sondern durch ein Essen bewirkt, welches die Proviantkammern heute geliefert hatten. Wer zufällig nicht davon gegessen hatte, war verschont geblieben.

Wir gingen die ganze Speisekarte durch, um das vergiftete Gericht herauszufinden. Aber wir taten das nur, um nicht von etwas Anderem sprechen zu müssen, was uns mit größter Sorge erfüllte.

Da trat Leonard ein, zwischen den Fingern die Zigarette, angeraucht, aber nicht mehr brennend.

»Aus!«, rief er, die Zigarette von sich schleudernd.

Wir verstanden die Bedeutung dieses Wörtchens nur zu gut. Seine Zigarette hatte er damit nicht gemeint.

»Ja, ich glaube, wir haben unsere Rolle hier ausgespielt«, bestätigte ich.

»Da ist gar nichts mehr zu glauben — das ist so. Was nun?«

»Was treibt das Volk jetzt?«

»Alles ist im besten Zuge, den alten Hokuspokus wiederherzustellen. Jetzt eben holten sie den Sannyasi im Triumphe wieder hervor.«

Der Greis hatte bisher in der Pyramide das Gnadenbrot erhalten.

»Leonard, wir wollen unsere Sachen packen und das Tal verlassen, ehe es zu spät ist«, riet ich.

»Verdammt, und ich habe keine Lust dazu! Und es muss mir dennoch gelingen, sie wieder herumzubringen, diese Narren!«

Da ward die Tür aufgestoßen, eine Schar Arbeiter stürmte herein, die sich ganz geräuschlos herangeschlichen hatten.

»Gebt euch gefangen, Fremdlinge!«

Dabei aber hatten sie sich schon auf uns gestürzt, vor allen Dingen auf Leonard, um erst diesen gefährlichen Kämpen unschädlich zu machen, allen voran Samodi, Leonards rechte Hand bei der Meuterei.

Ich sah ihn mit zerschmettertem Schädel zusammenbrechen. Wie sich Leonard sonst noch wehrte, weiß ich nicht, sah ich nicht. Ich hatte genug mit mir selbst zu tun, und doch war es ganz zwecklos.

*

Wir waren nach einem Tempel geschleppt worden, auch Persine. Mitgefangen, mitgehangen, und auch die Tochter des englischen Dieners hatte schon immer als Fremde gegolten.

In dem Raume, in dem wir auf nacktem Stein lagen, war es stockfinster. Ich war an Händen und Füßen gebunden, und das letzte, was ich bei Fackellicht gesehen hatte, war, dass man Leonard netzartig umwickelt hatte.

Ob ein Wächter in dem Raume war, wusste ich nicht; bemerkbar machte er sich jedenfalls nicht. Nun, man würde uns schon bewachen.

»Jetzt ist's mit uns vorbei«, ließ sich zuerst Ned stöhnend vernehmen.

»Dir wenigstens, Persine, kann man doch nichts anhaben wollen«, sagte ich.

Es war der einzige Trost, den ich geben konnte, und es war ein gar schwacher. Ich glaubte auch selbst nicht daran, so wenig wie Persine. Mitgefangen, mitgehangen!

Leonard sagte gar nichts. Ich glaubte einmal, ihn mit den Zähnen knirschen zu hören, aber dieses Geräusch hatte eine andere Ursache.

Wie lange wir so gelegen haben, weiß ich nicht. Mitternacht war sicher schon vorüber. Auch draußen herrschte wieder die tiefste Stille, oder die Tempelmauern waren zu dick, um irgendeinen Laut durchzulassen.

Da ein schwacher Lichtschein für einen Moment — die Tür hatte sich geöffnet, es war jemand eingetreten.

»Fremdlinge!«, flüsterte eine Stimme.

»Was gibt es?«, erwiderte ich gewohnheitsmäßig.

Ich hörte einen tiefgehenden Atem, eine Hand tastete an mir herum.

»Bist du der Maschinenmann?«

So wurde ich allgemein genannt.

»Ich bin es.«

»Du wirst morgen der Göttin Sanja zur Versöhnung geopfert — du und alle anderen.«

»Auch Persine, meine Frau?«

»Auch sie.«

»Was hat sie denn getan, dass sie sterben soll?«

»Gleichgültig, auch sie wird geopfert — es ist soeben im Priesterrat beschlossen worden.«

Und während dies gesagt wurde, zerschnitt schon ein Messer meine Banden.

»Kennst du mich?«

»Die Stimme kommt mir bekannt vor.«

»Malek. Du hast mir einst das Leben gerettet — ich zürnte dir — ich musste — jetzt will ich das deine zu retten suchen. Willst du fliehen?«

Ich hörte meinen Engel sprechen. Und ob ich wollte!

»Du kannst mir zur Flucht verhelfen?«

»Ich will es versuchen — mehr kann ich nicht versprechen.«

»Auch meine Freunde, meine Frau?«

»Sie sollen mit dir gehen.«

In fliegender Eile, während er auch die anderen befreite, setzte er uns seinen Plan auseinander. Es war übrigens ganz einfach. Wir mussten eben über jene Brücke hinüber.

»Ist der Ausgang nicht besetzt?«

»Ihr geht durch deine Wohnung.«

»Was?«

»Durch den Schrank.«

»Was?«, staunte ich nur immer mehr.

»Ich habe euch beobachtet, als ihr damals bei Agnis Strom aus der Wand tratet, und habe dann die geheime Tür zu finden gewusst.«

»So ist unser Geheimnis verraten?«

»Nein, nur ich weiß darum. Sollte ich meinen und meines Weibes Retter dem Tode ausliefern?«

Treue Seele! Sonst war jetzt keine Zeit, hierüber noch ein Wort zu verlieren.

»Wir brauchen Räder«, sagte ich nur noch.

»Es ist alles, alles bereit, Proviant ist verpackt, Wasserschläuche sind gefüllt — nur Waffen musst du aus deiner Wohnung mitnehmen. Schnell, schnell, jede Minute ist kostbar.«

Wir waren frei, traten hinaus. Es herrschte in der mondlosen Nacht eine Stockfinsternis. Doch wir wussten den Weg nach meiner Wohnung im Dunklen zu finden.

Wie Malek uns befreien konnte, ob er Helfershelfer gehabt oder Gewalt angewandt, Wächter überwältigt hat — ich habe es nie erfahren.

Niemand begegnete uns, ungehindert erreichten wir meine Wohnung, in der ich ungescheut Licht machen durfte. Malek hatte sie nicht betreten, er begab sich in den Brückenraum auf dem gewöhnlichen Weg. An dem geheimen, ihm also bekannt gewordenen Tor wollte er uns wieder in Empfang nehmen.

Es waren dieselben Waffen, die wir mitgebracht hatten, die wir jetzt wieder mitnahmen, genügend Patronen dazu, meine Instrumente zur Orientierung, und dann vor allen Dingen mein Tagebuch. Ich steckte es in eine Blechhülse, welche ich in den nächsten Tagen mit Nihilit hatte überziehen wollen.

Dann das Licht ausgeblasen, und wir schlüpften hintereinander in den Schrank, nahmen den bekannten Weg.

Als wir vorsichtig die Steintür öffneten, stand richtig Malek schon da, eine brennende Naphtalampe in der Hand. Sonst lag alles im Finstern.

»Fort, fort«, drängte er ungestüm, »nur noch drei Minuten, dann ist alles, alles zu spät!!«

Und ob wir uns beeilten! Wir überschritten die Hängebrücke, wanderten durch die uns nun schon wohlbekannten Räume, deren Türen wir selbstverständlich auch alle zu öffnen wussten.

Das Merkwürdige war nur, dass keine einzige Wache zu sehen war. Wie Malek das fertig gebracht hatte, oder was sonst hier vorlag — wie gesagt, ich habe es nie erfahren.

Im letzten Raume, der uns noch von der freien Steinwüste trennte, standen vier Räder, lagen vier große Packe und vier gefüllte Wasserschläuche, wie die Wuloden solche aus wasserdichtem Stoff zu fertigen wissen und welche vor den Nihilitbehältern bevorzugt werden.

Malek erschrak, als er die Räder beleuchtete. Er habe sich vergriffen, diese seien noch nicht mit Nihilit überzogen.

»Was macht das? Sie sind ebenso gut.«

»Dann fort, fort!«, drängte Malek immer mehr, die letzte Tür öffnend, die direkt ins Freie führte.

»Und du, kommst du nicht mit?«

»Ich? Was verlangst du von mir!«

»Kann nicht entdeckt werden, dass du uns...«

»Was geht es dich an? Fort, fort, oder ihr seid verloren, wie ich auch!«

Da sprangen wir auf die Räder, die Proviantsäcke hatten wir schon umgehangen, auch Persine hatte das Radfahren gelernt, und wir jagten hinaus in die finstere Nacht, ohne Abschied genommen zu haben von unserem Retter.

Lautlos glitten wir dahin, dem Westen zu, aus dem wir vor etwa einem Jahre gekommen waren.

Da hörte ich wieder ein Geräusch, das wie ein Zähneknirschen klang, und diesmal war es ein echtes, das aus Leonards Munde kam.

»Das also ist das Ende der Nihilitexpedition!!«

* Es ist auch das Ende unserer Erzählung. Hier schließt das Tagebuch, welches auf den letzten Seiten mit gedrängter Kürze abgefasst ist.

Die Radfahrer haben die Grenzen der Kultur nicht erreicht, sie sind in der Wüste verschmachtet.

Nihilitsachen hat man bei ihren irdischen Überresten nicht gefunden, nicht ein einziges Stück.

Die anderen Mitglieder der Expedition, welche auf der MacDonall-Station zurückgeblieben waren, sind ebenfalls während des Rückmarsches sämtlich zugrunde gegangen, von Eingeborenen überfallen und erschlagen worden.

Die Firma Cunning und Co. bankrottierte, ihre Inhaber verschwanden.

Die große, im Herzen Australiens liegende Steinwüste ist bekannt, aber noch kein Forschungsreisender hat sie durchquert, noch kein darin liegendes Gebirge erblickt, und noch kein Mensch, der von der anderen Welt noch nichts wusste, ist aus ihr herausgekommen.

Es war einmal...

So beginnt jedes echte Märchen — wir schließen damit.

--*--

ENDE


Roy Glashan's Library
Non sibi sed omnibus
Go to Home Page
This work is out of copyright in countries with a copyright
period of 70 years or less, after the year of the author's death.
If it is under copyright in your country of residence,
do not download or redistribute this file.
Original content added by RGL (e.g., introductions, notes,
RGL covers) is proprietary and protected by copyright.