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ROBERT KAFT

DIE SCHATZKAMMER
DES PHARAO

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Ex Libris

Erstveröffentlichung als Fortsetzungsroman in
in der Zeitschrift »Der Gute Kamerad«, 1916

Erste Buchausgabe: Verlag Wilhelm Spemann, Stuttgart, 1916

Diese E-Buchausgabe: Roy Glashan's Library, 2025
Fassung vom: 2025-11-01

Erstellt von Roy Glashan

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»Die Schatzkammer des Pharao« ist ein spannender Abenteuerroman, der eine geheimnisvolle Expedition in die jordanische Felsenstadt Petra mit mystischen und kriminalistischen Elementen verbindet.

Im Zentrum der Handlung steht Traugott Tannert, ein deutscher Gelehrter, der sich im Britischen Museum in London auf die Expedition vorbereitet, wo er die sagenumwobene Schatzkammer des Pharao erforschen will. Während seiner Studien begegnet er der geheimnisvollen Leonore und ihrem Bruder Harris, die in derselben Pension wohnen und ein ungewöhnlich asketisches Leben führen —sie essen nur Früchte und Nüsse, rauchen und trinken nicht und leben nachts statt tagsüber. Tannert ist fasziniert und schließt sich dem Geschwisterpaar an.

Die Geschichte entwickelt sich zu einem Abenteuer, das von wissenschaftlicher Neugier, okkulten Rätseln und kriminalistischen Verwicklungen geprägt ist. Tannert gerät in ein Netz aus Intrigen und Geheimnissen, das ihn bis in die Tiefen der Wüste und zu den verborgenen Kammern der alten Pharaonen führt. Dabei spielen auch ägyptische Mythen, alte Manuskripte und mysteriöse Begegnungen eine Rolle.



INHALTSVERZEICHNIS


1. Kapitel.

Erst die zehnte Abendstunde, und schon waren die Straßen der Londoner City, in denen das Leben am Tage so mächtig pulsiert, wie ausgestorben. Nur hin und wieder ein Konstabler, der die Haus- und Ladentüren untersuchte, ob sie geschlossen seien. Noch seltener einmal ein anderer Mensch, der dieses Geschäftsviertel, in dem wohl nur Wächter wohnen, bei Nacht eilig durchkreuzt.

So eilig hatte es auch der Mann, der sich fest in den wolligen Wettermantel wickelte. Es war Mitte Dezember, die trübste Zeit für London, man wußte nicht, ob es schneite oder regnete oder ob das nur Nebel war, der bis auf die Haut drang, der die elektrischen Straßenlaternen nur wenige Schritt weit leuchten ließ, obgleich noch lange nicht mit jenem schwarzen oder gelben Nebel zu vergleichen, der auch die blendende Bogenlampe in ein armseliges Fünkchen verwandelt.

Da in einer noch stilleren Seitenstraße, in der die Beleuchtung gespart wurde, ein gellender Schrei, dem ein fürchterlicher Fluch nachfolgte.

Der Fuß des schnellen Wanderers stockte, er machte die Arme frei, schob den Schlapphut aus den Augen, das blondbärtige Gesicht eines jungen Mannes kam zum Vorschein — und aus seinem Spazierstock ein kurzer Gummiknüppel.

»Hilfe, mir ist der Knochen zerschlagen!« gellte noch einmal die helle Stimme.

»Noch nicht genug?« rief eine nur ein wenig tiefere Stimme. »Da — und da — und da — und nimm das noch....«

Der Mann mit dem Gummiknüppel rannte um die Ecke, in die Seitenstraße hinein. Von drei Gestalten sah er zwei männliche davonflüchten, eine weibliche blieb zurück.

Es war eine mit einfacher Eleganz gekleidete Dame, ihr aufgerissenes Jackett zeigte eine Fütterung mit Zobelpelz. Mit auffallender Gelassenheit ordnete sie ihren dichten Schleier, wobei man sah, daß ihr rechter Glacéhandschuh ganz aufgeplatzt war.

»Die beiden Rowdies überfielen mich«, wendete sie sich ganz ruhig an den im schnellsten Laufschritt Herbeikommenden, »wollten mir das Handtäschchen entreißen. Schade, daß Sie dazwischen gekommen sind.«

Solch einen Empfang hatte der Retter in der Not nun freilich nicht erwartet. Oder er hatte sich verhört.

»Schade?« wiederholte er.

»Nun ja, sonst hätten diese Burschen noch etwas ganz anderes erlebt. Dem einen, dem mit der quäkenden Stimme, habe ich wahrscheinlich das Schlüsselbein durchgeschlagen. Es tut mir leid, aber das ist man der Menschheit direkt schuldig. Der fällt keine einsame Dame mehr an.«

Der Mann starrte auf die schlanke, elegante Gestalt.

»Ihm das Schlüsselbein zerschlagen? Womit denn?«

»Nun hier mit meiner Hand. Ich komme nicht umsonst soeben aus dem Lady-Boxing-Gymnasium, habe nicht umsonst einen Kursus in Dschiudschitau durchgemacht

Es sei gleich verraten, daß der junge deutsche Gelehrte, der er war, jetzt nicht mehr den Schnee oder Regen merkte, sondern es war ihm plötzlich zu Mute, als ob ihm ein ganzer Eimer eiskalten Wassers über den Kopf gegossen worden.

Er liebte nämlich die ganze Boxerei der Engländer nicht, ärgerte sich immer, wenn er so eine Unterrichtsanstalt, wo man lernte, dem Ebenbild Gottes mit der Faust alle Knochen im Leib zu zerschlagen und sein Gesicht in ein rohes Beefsteak zu verwandeln, »Gymnasium« nennen hörte, und am allerwenigsten liebte er boxende Damen, gleichgültig, ob sie englisch oder japanisch boxten.

»Ach soooo! Da waren es also die beiden Banditen, die um Hilfe schrien, weil Sie ihnen so übel mitspielten! Ich bitte um Verzeihung, Miß, ich werde Sie niemals wieder bei Ihren Vergnügen stören!«

Hinter dem dichten Schleier erklang ein silbernes Lachen.

»Nein, nein, Herr Doktor Tannert, ich erkenne Ihren Ritterdienst voll und ganz an, nehme ihn für geschehen. Das Sie meinetwegen nicht etwa Ihren Mut zügeln, wenn Sie einmal ein Weib um Hilfe rufen hören.«

Wieder glaubte der so Angeredete einen Wassersturz zu fühlen. Er war erst seit zwei Tagen in London, in England, war ganz wildfremd, er selbst kannte noch gar keinen Menschen.

»Ja, wie ist es möglich...«

»Wir sind doch Nachbarn, wir wohnen doch bei Mrs. Haller auf ein und demselben Flur.«

Bei einer Mrs. Haller wohnte er, daß stimmte, nahe beim Britischen Museum, in dem er täglich zu tun hatte. Dort gibt es sehr viele Pensionen, die speziell die Fremden aufnehmen, welche für längere Zeit die größte Bibliothek der Welt benutzen oder die von den Engländern dort zusammengehäuften Schätze zu besichtigen, untersuchen und studieren wollen, ägyptische Sarkophage oder Nürnberger Taschenuhren oder Lappländische Götzen. Und immer mehr nimmt auch die Zahl der weiblichen Pensionäre zu, die aus allen Ländern, aus allen Erdteilen kommen, nicht nur um das Britische Museum flüchtig zu besuchen, wozu freilich, um alles nur einmal gesehen zu haben, auch schon ein Menschenalter gehört — es ist ja ganz fabelhaft, was die Engländer da aus aller Welt zusammengeschleppt und wohlgeordnet haben — sondern vom Wissenshunger getrieben, zum ersten Studium.

»Aber Sie kennen mich nicht?« fuhr es heiter wie zuvor hinter dem Schleier fort. »Glaubt schon. Sie sind doch erst gestern Mittag eingezogen. Ich stand im dunklen Hintergrund. Und ich von Evas Geschlecht mußte die Mrs. Haller dann gleich fragen, wer der neue Pensionär sei. Jetzt habe ich Sie gleich wiedererkannt. Wir wohnen Ihnen gerade gegenüber, mein Bruder und ich. Lavoir heißen wir.«

Das alles wurde so heiter und naiv herausgeplaudert, daß vor seinen geistigen Augen die boxende, knochenzerschlagende Dame immer mehr zurücktrat, bis sie ganz verschwunden war.

»Na, wollen wir denn die ganze Nacht stehen bleiben?« lachte es wieder.

Ja, fast hätte Dr. Tannert Lust dazu gehabt. Ohne das er das Gesicht der offenbar noch jungen Dame zu sehen bekam, ging doch etwas von ihrer ganzen Person aus, das ihn immer mehr fesselte. Hauptsächlich lag es wohl in ihrer sonoren und doch so weichen Stimme, in ihrer heiteren, unbefangenen Ausdrucksweise.

»Ich darf Sie wohl nach Hause...«

»Selbstverständlich dürfen Sie! Das müssen Sie! Was überhaupt für eine Frage! Wir haben doch ein und denselben Weg, ein und dieselbe Wohnung. Geben Sie mir Ihren Arm. Oder ich lege vielmehr den meinen in Ihren. Wir machen deutsch. Unsere Mutter war eine Deutsche. Wir können auch deutsch zusammen sprechen, das ist mir sogar viel lieber.«

Sie hatte sich bei ihm eingehängt.

Und wieder wurde der junge Mann fast mit Bestürzung erfüllt.

Himmel, hatte die einen Arm! Wie Eisen. Auch bei der leisen Berührung, der er sich befleißigte, fühlte er die schwellenden Muskeln hervortreten..

Jedenfalls eine Artistin, die sich mit dem Bruder in solch eine Pension verirrt hatte. Eine Reck- oder Trapezturnerin oder so etwas. Denn vom Boxen allein bekommt man nicht solche stählerne Muskeln.

»Sie turnen wohl viel, mein Fräulein? Nicht wahr, ich darf Sie Fräulein anreden?«

»Ja, Sie dürfen«, wurde wieder gescherzt. »Ja, ich treibe athletische Spiele aller Art. Das ist hier schön in England, daß man dabei Rücksicht auch auf die arbeitenden Klassen nimmt, besonders auf die Angestellten von Geschäften, die bis acht Uhr und noch länger auf sind. Alle die Gymnasien, auch einige Schwimmhallen sind bis Mitternacht geöffnet. Das gibt es in Frankreich nicht. Und es ist doch nur ein pekuniärer Vorteil der Besitzer solcher Institute.«

Also doch wohl keine professionelle Artistin. Sie hatte gerade und wiederum nur des Abends Zeit.

»Wir müssen hier gehen.«

»Nein, hier. Immer quer durch diese schmalen Gassen, da schneiden wir fast die Hälfte des Weges ab.«

»Sie sind schon lange in London, Fräulein, daß Sie den Weg so gut kennen.«

»Kaum zwei Wochen.«

»Und da finden Sie sich in diesem Häusermeer so gut zurecht?«

»Das macht, weil ich immer nur in der Nacht ausgehe. Da trifft man selten einen Menschen, den man nach dem Weg fragen kann, da muß man selbst tüchtig aufpassen. Wenigstens hier in der City ist es so einsam, und viel mehr als diesen Teil von London kenne ich auch nicht.«

Immer nur in der Nacht ging sie aus? Merkwürdig?

»Nur um solche... Turnanstalten zu besuchen?«

»Fast nur. Die liegen ja alle um die City herum. Die anderen benutzen die Untergrundbahn. Das mag ich nicht. Ich gehe lieber zu Fuß.«

»Begleitet Sie denn da nicht Ihr Herr Bruder?«

»Nein. Der ist zu faul Der sitzt jetzt zu Hause und liest. Nur ins Theater oder zu Vorträgen gehen wir zusammen.«

»Darf ich fragen, was Ihr Herr Bruder für eine Beschäftigung hat?« ging Dr. Tannert jetzt direkt auf sein Ziel los.

»Sie dürfen«, wurde wiederum heiter erlaubt. »Beschäftigung? Gar keine. Wir sind bis vor einem Vierteljahr auf einer Stelle festgenagelt gewesen, unten in Südfrankreich. Das sind Verhältnisse, die ich Ihnen nicht so ohne Weiteres schildern kann, sie sind auch durchaus nicht interessant. Wir hatten es niemals nötig, den ernsten Kampf mit dem Leben aufzunehmen — leider nicht — saßen dafür aber in einem Käfig, wenn auch in einem goldenen. Endlich sind wir frei geworden. Da sind wir auf Reisen gegangen. Haben uns Frankreich angesehen, besonders Paris, und nun sind wir in London. Ich fürchte nur, mein Bruder will ganz hier bleiben. Er ist des Reisens schon überdrüssig. Er ist so schrecklich faul. Wenn er auf dem Sofa sitzt und immer wieder andere Bücher haben kann, Unterhaltungslektüre, ganz gleichgültig welche, er liest alles — mehr braucht er nicht. Da ist es ihm ganz gleichgültig, ob er in Avignon oder Taracon oder London oder in Haiderabad sitzt. So, nun kennen Sie uns, so weit das in zehn Minuten möglich ist. Und ich bitte Sie nun nicht erst, fragen zu dürfen, sondern jetzt verlange ich von Ihnen, daß Sie mir nun auch sagen, wer Sie sind und was Sie hier treiben. Mit Ihren Ahnen brauchen Sie aber nicht anzufangen, ich will auch nicht wissen, ob Sie Morgens Kaffe oder Tee trinken und wie viele Stückchen Zucker Sie dazu nehmen. Das wird mir alles schon Mrs. Haller erzählen, sie hat gestern und heute nur keine Zeit dazu gehabt, und das schmerzt die arme Frau sehr.«

Schon zehn Minuten? Tannert hätte nur an eine Minute geglaubt. Wahrhaftig, da waren sie ja schon auf der Oxfordstreet. In dieser Gesellschaft verging die Zeit wie im Fuge.

»Ich bin oder war Custos im Berliner Museum für Völkerkunde. Jetzt hat man mich nach London geschickt, um mich im Britischen Museum für eine Forschungsexpedition nach Syrien vorzubereiten, die ein reicher Privatmann, der Kommerzienrat Kluge, der an so etwas Interesse hat, auf seine Kosten ausrüstet. Es gilt, einmal die Ruinen des alten Petra ganz gründlich zu durchforschen. Haben Sie von dieser Felsenstadt schon gehört?«

»Nein. Kein Wort. Nehmen Sie's mir nicht übel — Geographie und Weltgeschichte waren immer meine schwächsten Seiten.«

»Nein, das nehme ich Ihnen nicht übel«, scherzte jetzt Tannert seinerseits. »Petra war die Hauptstadt der alten Nabatäer, lag oder liegt mitten in der wüstesten Gegend des Peträischen Arabiens, im Tale eines Felsengebirges. Fast die ganze Stadt ist aus dem Felsen herausgehauen, oder doch die prächtigsten Gebäude sind hineingemeiselt.

Das kann gar nicht in Trümmer gehen. Nur die außerhalb aufgeführten Bauten sind Ruinen. Nach der Eroberung durch die Araber wurde sie verlassen. Sie wurde wegen eines religiösen Frevels verflucht. Die Hauptsache aber war wohl das Versiegen der Brunnen. Jahrhunderte lang gehörte Petra mehr der Sage an, man zweifelte überhaupt an der Existenz solch einer Felsenstadt. Bis sie von dem deutschen Orientreisenden Burckhardt, der im Dienst einer englischen Gesellschaft stand, unter unsäglichen Schwierigkeiten wieder aufgefunden wurde. Danach ist sie noch mehrfach besucht und beschrieben worden, meist von Engländern. Nun werde ich hingeschickt als archäologischer Teilnehmer einer größeren deutschen Expedition.«

»Das ist ja sehr interessant. Von dieser Stadt, die so ganz in die Felsen hineingemeiselt ist, müssen Sie mir mehr erzählen.«

»Mit dem größten Vergnügen.«

»Sie waren schon einmal dort?«

»Ich? Das ist überhaupt meine erste Reise hierher nach England. Ich bin noch gar nicht aus Deutschland herausgekommen. Bisher habe ich die orientalische Altertumskunde nur theoretisch betrieben. Und auch darin kann man den letzten Schliff nur hier in London bekommen, im Britischen Museum. Die meisten Spezialwerke sind englisch und im Buchhandel nicht mehr zu haben. Und in den Übersetzungen von Burckhardts Werken fehlen die Karten. Doch daß wird Sie nicht so sonderlich interessieren.«

«Woher wollen Sie denn das wissen?« wurde mit gewöhnlichem Freimut zurückgefragt. »Im Gegenteil, mich interessiert alles sehr, was Sie mir da erzählten, wie ich doch auch schon sagte. Hier sind wir.«

Eine Nebenstrasse, nur eine schmale Gasse, hatte sie auf einen jener freien, kleinen, mit etwas Rasen geschmückten Plätze gebracht, die durch ganz London verstreut sind, Squares genannt, wie stille, grüne Oasen mitten im brandenden Weltgetriebe liegend.

Die Dame verzögerte ihren elastischen Schritt.

»Herr Doktor, erst noch ein offenes Wort. Wir beide, mein Bruder Harris und ich, leben ganz zurückgezogen, ganz einsam, nur für uns, verkehren mit gar niemanden. Aber es ist mir ganz unmöglich, daß wir uns hier vor der Haustür oder oben auf dem Korridore trennen sollen, jeder in sein Zimmer gehend. Ist es denn nicht ganz wunderbar, daß wir, die wir einander gegenüber wohnen, ohne uns noch zu kennen, uns in der City bei nächtlicher Weile treffen mußten, bei einer Gelegenheit, die sehr böse hätte verlaufen können? Daß gerade Sie mir zu Hilfe eilen mußten?«

Ja, es war wirklich ein ganz merkwürdiger Zufall gewesen.

»Aber ich möchte nicht Ihren Herrn Bruder in seiner Einsamkeit stören.«

»Nein, nein, davon ist gar keine Rede! Im Gegenteil, ich wollte Ihnen nur sagen, daß Sie nicht erst auf Ihr Zimmer gehen, um etwas erst abzulegen. Dann ist die Überraschung zur Hälfte schon vorbei. Sie kommen sofort mit zu uns herein, jawohl, mit Ihrem nassen Mantel.

Ich bin doch nicht minder naß. Mein Schutzengel hat mich eben nach Hause gebracht. Sie wohnen doch wo ganz anders, zwei Meter von uns entfernt. Und selbst zwei Millimeter können so viel wie zwei Meilen bedeuten, zum Beispiel, wenn einem eine Kugel am Ohr vorbeipfeift. Vorwärts, Sie kommen sofort mit?«

Die Pensionsmutter hatte doch gesagt, daß es keinen Hausschlüssel gebe, es sei hier nicht üblich, der Hausdiener sei die ganze Nacht zum Öffnen bereit.

Diese junge Französin aber hatte einen Hausschlüssel in der Tasche.

2. Kapitel

»Harris, sieh, wen ich hier mitbringe!«

Ein feiner Duft schlug dem Eintretenden entgegen, er fühlte sich plötzlich an den heimatlichen Weihnachtstisch unter dem Christbaum versetzt, und außerdem verschmolz ein Märchen aus Tausendundeinernacht mit einer feierlichen Zeremonie der katholischen Kirche.

Die Einrichtung dieses Zimmers war nicht daran schuld, daß in ihm augenblicklich solche Bilder hervorgerufen wurden. Die war so wie die seines Wohnzimmers, gut englisch, durch vielen Gebrauch ein wenig abgenützt, durch einige deutsche Möbel behaglicher gemacht. Zum Beispiel stand auch hier ein Schreibsekretär. Statt der Couch, die man zu allem anderen gebrauchen kann nur nicht um sich darauf zu setzen oder gar hinzulegen, ein deutsches Sofa mit Rückenlehne.

Die Art der Beleuchtung machte es. Statt des Gases oder elektrischen Lichtes, was beides den Pensionären zur Verfügung stand, brannten ein Dutzend Wachskerzen, spannendicke, meterlange Kirchenkerzen von allen Farben, im ganzen Zimmer verteilt.

Daher das kirchliche vermischt mit dem Märchenhaften, daher der Weihnachtsgeruch, der durch den feinen Duft von Apfel noch verstärkt wurde.

Auf dem Sofa saß ein junger Mann, vor sich auf dem Tische drei solche brennenden Riesenkerzen, einige Bücher und eine große Schale mit Äpfeln und Nüssen, mit deren Aufknacken er gerade beschäftigt war.

Dr. Tannert staunte über dieses brünette Gesicht. Solch ein edles Profil hatte er noch nicht gesehen. Diese Adlernase, dieser Adlerblick der großen schwarzen Augen, dieser Schwung der Lippen, dieser unnahbare Stolz, der sich in jedem Zuge ausprägte, und dabei dennoch diese freundliche Ruhe — solch eine Vermischung hatte der junge Gelehrte noch nicht gesehen.

Er erhob sich sofort, allerdings in eigentümlich phlegmatischer Weise. Stehend machte die schlanke mittelgroße Gestalt in dem schwarzen Gehrock einen noch viel vornehmeren Eindruck. Ja, schlank war die Figur wohl, sogar schmächtig, aber Tannert sah gleich die Hände, auch wieder die feinsten Männerhände, die er je gesehen, wie aus gelben Elfenbein geschnitzt, und dennoch starrend von Muskeln und Adern und Sehnen, woraus man auf seine Kräfte schließen konnte.

»Herr Doktor Tannert, unser Nachbar hier gegenüber.«

»Es ist mir sehr angenehm, Herr Doktor!« sagte eine tiefe Bruststimme, die man dieser schmächtigen Gestalt wiederum gar nicht zugetraut hätte.

»Denk dir, Harris, was mir passiert ist. Ich bin angefallen worden.«

Sie erzählte ihr Abenteuer, berichtete zwar, daß sie sich tapfer gewehrt hätte, gab aber die Ehre doch dem herbeigeeilten Doktor. Der hätte die Straßenräuber erst in die Flucht geschlagen.

Dr. Tannert kam nicht dazu, sie zu korrigieren, der Wahrheit die Ehre zu geben. Er hörte gar nichts davon, war nur Auge.

Während sie erzählte, hatte sie das einfache Hütchen und den Schleier abgelegt. Und der junge Deutsche wurde noch mehr von der Bewunderung hingerissen.

Ja, die beiden waren Geschwister? Ganz genau das selbe Gesicht, wie das des Bruders, nur in weibliche Abrundung übertragen. Statt der Adlernase, ein Adlernäschen, die geschwungenen Lippen voller, das Kinn weicher.

Das Ideal eines italienischen Bettelbuben!

Der junge Gelehrte lachte dann, als er sich darüber Rechenschaft ablegte, wie er auf diesen merkwürdigen Vergleich gekommen war. Und doch, er war ganz richtig. Das prächtige Gesicht eines jener Lazzaroniknaben unter denen die Maler doch natürlich als Modell immer nur die schönsten Köpfe aussuchten.

Die Ähnlichkeit wurde noch größer, als sie das blauschwarze Haar, das sie zu einer vollen Frisur geordnet trug, mit einem einzigen Griff auflöste, so daß es plötzlich in schwarzen Locken herabfiel, aber nur bis zu den Schultern. Nun war ein solcher römischer Adonis erst rechtfertig.

Und auch sie hatte solch eine merkwürdige Hand, wunderbar fein, aber ungemein kräftig, jedes Muskelchen wie gemeißelt hervortretend, wenn auch nicht geradeso von Sehnen und Adern strotzend wie die des Bruders.

Dr. Tannert wurde sich gar nicht bewußt, wie er in seinem nassen Mantel so unbeholfen in der Mitte des Zimmers stand, immer nur starrend und staunend, und ehe er zur Besinnung kam, daß er endlich doch auch etwas sagen müsse, wandte sich das Mädchen schon wieder an ihn, dabei schnell einige Wallnüsse zwischen den Händen aufknackend.

Dieses schöne Antlitz mußte eigentlich sehr ernst sein, das passte zu den ganzen Zügen, war es auch — aber sofort, wenn sie sprach, wurde es durch ein ungekünsteltes, heiteres Lächeln noch mehr verschönt.

»So, jetzt ist die Vorstellung vorüber, Sie sind eingeführt. Nun dürfen Sie sich in Ihrem Zimmer umziehen, jetzt erlaube ich es Ihnen. Aber wehe, wenn Sie nicht sofort wiederkommen! Ich hole Sie. Und nicht etwa Toilette machen! Ich will Sie in den Filzschuhen sehen, mit denen Sie heute früh über den Korridor gingen! Meine Pantoffeln sind noch viel abgetretener. Vorwärts verschwinden Sie! Der letzte, der wieder in diesem Zimmer ist, muß dem anderen die Nüsse aufknacken und die Äpfel schälen!«

Bei den letzten Worten war sie schon nach der Seitentür gesprungen.

Wie Dr. Tannert eigentlich in sein Zimmer gekommen war, wußte er gar nicht. Wußte nicht, wie er sich umzog. Nur das wußte er, daß er sich eben im Traum befand.

»Nein, so etwas!« seufzte er manchmal. »So etwas habe ich noch gar nicht erlebt, gar nicht für möglich gehalten. Ganz fremd — ich stehe da wie ein Stockfisch — ich ich ich... ich weiß gar nicht, was mit mir los ist. Das Mädchen muß mich geradezu verzaubert haben. Und diese holdselige Unschuld zerschlägt ab und zu einem Menschen das Schlüsselbein!«

Als er schon hinübergehen wollte, merkte er erst, daß er an einem Fuße einen Filzschuh, am anderen einen Stiefel hatte. Kopfschüttelnd blickte er hinab auf das ungleiche Paar.

»Was ist nur mit mir los? Und schon dieser halbe Versuch, dort drüben in Filzschuhen erscheinen zu wollen, ist doch eine beispiellose Ungezogenheit. Aber was hilft's? Sie hat es befohlen, ich muß gehorchen. Und wenn die mir je befiehlt, ich solle aus dem Fenster dieser zweiten Etage einen doppelten Salto mortale schlagen — ich würde ihn schlagen. Obgleich ich nicht einmal einen einfachen Salto kann. Hoffentlich befiehlt sie's nicht.«

Immer noch kopfschüttelnd stellte er die Harmonie an den Füßen durch den zweiten Filzschuh her, ging hinüber, klopfte an.

»Come in!« rief die tiefe Stimme des Bruders.

Als Tannert die Tür öffnete, trat auch sie gerade durch die ihre in das Zimmer, in einem faltigen Morgen — oder Abendkostüm, einfach Schlafrock genannt, auch wieder so elegant und doch ganz einfach, ohne alle Borten und Bändchen und Spitzchen, wie Tannert auch schon bemerkt hatte, daß die beiden keine Ringe und keinen anderen Schmuck trugen.

»Ach, das ist schade! Ich habe mich so beeilt. Von wegen der Aufknackerei. Setzen Sie sich — hierher in die andere Ecke — so. Harris, wo ist der Nußknacker? Natürlich wieder keiner da. Wir haben ein ganzes Dutzend, sonst liegen sie überall herum, aber wenn man einen braucht — natürlich keiner zu finden. Doch, hier ist einer. Und hier unter der Zeitung liegen gleich noch drei. Hier haben Sie einen. Oder warten Sie, ich werde Ihnen aufknacken. Denk dir Harris, der Herr Dr. Tannert geht nach Afrika, nach Arabien.«

»Erlauben Sie, daß ich eine Bemerkung mache?« lächelte der Doktor.

Er war nicht gerade ein schüchterner Mensch, schloß sich nur an, es dauerte immer lange, ehe er in fremder Gesellschaft »auftaute«. Hier aber fühlte er sich gleich ganz wie zu Hause.

»Ja, ich erlaube Ihnen eine Bemerkung«, entgegnete sie mit gravitätischem Ernst, und das hatte jener ja nur hören wollen.

Dann mache ich Sie darauf aufmerksam, daß Arabien nicht zu Afrika, sondern zu Asien gehört. Aber sie nehmen es mir doch nicht übel? Und wenn Sie durchaus darauf bestehen, dann könnte das ja geändert werden.«

Sie schlenkerte in komischer Weise die Finger.

»Au! Da habe ich mich ja nicht schlecht blamiert! Da sehen Sie, wie es mit meinen geographischen Kenntnissen beschaffen ist. Das mir freilich so etwas passieren muß...«

»Das, verehrtes Fräulein, ist schon manchem anderen passiert und wird noch häufig vorkommen«, tröstete sie Dr. Tannert. »Ich habe sogar konstatiert, daß Arabien von geographisch sonst ganz sattelfesten Personen zu Afrika gerechnet wurde, wenigstens so in der Gedankenlosigkeit. Und diese häufige Verwechslung muß doch einen Grund haben. Und der besteht eben auch. Arabien ist in Wirklichkeit vielmehr zu Afrika zu rechnen als zu Asien, dem Charakter der Landschaft, der Fauna, der Flora wie dem seiner Bewohner nach. Die Grenzen der beiden Erdteile sind doch nur in der Phantasie gezogen, aus Bequemlichkeit, möchte man sagen. Weil da so recht bequem die Landenge von Suez ist, die man am leichtesten durchstechen konnte. Die natürliche Grenze wäre viel richtiger vom Persischen Golf aus den Euphrat entlang nach dem Winkel des Mittelmeeres gezogen, wo es den Busen von Jskanderum bildet. Und wer so in der Eile versehentlich Arabien zu Afrika rechnet, der bekennt nur, daß er in seiner Gedankenlosigkeit den Charakter Arabiens ganz richtig beurteilt.«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden«, verbeugte sich das Mädchen mit schalkhaften Ernste.

»Nach Arabien gehen Sie?« fragte der Bruder.

»Ja«, glaubte die Schwester für den Gast das Wort nehmen zu müssen, »zur Erforschung der Felsenstadt Pe — Pat... ja, nun weiß ich wieder diesen Namen nicht mehr.«

»Petra. Das ist griechisch der Fels. Sie brauchen ja nur an Petrus zu denken, als an den Felsen, auf den der Herr seine Kirche erbaut hat.«

»Ach ja richtig.«

»Ich habe auch noch nichts von diesem Petra gehört«, gestand der Bruder.

Der junge Gelehrte ward bei ihrer Schilderung noch etwas ausführlicher als vorhin gegen die Schwester, führte Daten an, auch das sie vom dritten bis zum fünften Jahrhundert ein christlicher Bischofssitz gewesen ist.

»Der Hauptzweck unserer Expedition ist, das Alter der Bauwerke zu bestimmen, was nach ihrem verschiedenen Stilen recht wohl möglich ist. Denn sie sind in den verschiedensten Jahrhunderten entstanden.«

»Sind schöne Bauwerke dort?«

Die interessantesten sind wohl die Felsengräber, die ringsum etagenweise in die Bergwände gemeiselt sind. Das ganze Wadi Musa, Mosestal, in welchem Petra liegt, wimmelt von solchen Felsengräbern, die wenigsten sind untersucht, viele noch nicht einmal gefunden worden. Da werden wir wohl noch manche interessante Entdeckung machen, auch an Sarkophagen und Mumien, an Waffen, Schmucksachen, Hausgerätschaften und Ähnlichem mehr. In der Ruinenstadt selbst ist am wohlerhaltensten und am merkwürdigsten ein Amphitheater. Es kann gar nicht zerstört werden, höchstens durch Sprengung, weil es ebenfalls in den Felsen gemeiselt worden ist. Sehr groß ist es nicht, hat oben nur 36 Meter Durchmesser mit 35 Sitzplatzreihen, hat aber über deren oberste noch eine Unzahl von Felskammern, deren

einstiger Zweck noch zu ergründen ist. Deren Eingänge sollen zum größten Teil verschüttet sein, sicherlich künstlich, und wir haben die Aufgabe, sie freizulegen. Das prächtigste Gebäude aber, ebenfalls nicht aufgebaut sondern auch in die Felswand gemeiselt, ist das sogenannte Chaznet Firaun, das ist die Schatzkammer Pharaos.«

»Hat dort ein ägyptischer Herrscher seine Schatzkammer gehabt?«

»Das ist eben auch so ein Rätsel, welches es zu lösen gilt. Wir wissen von den Eroberungszügen der alten Ägypter herzlich wenig. Aber warum sollen sie nicht auch bis nach Kleinasien vorgedrungen sein? Es wäre sogar merkwürdig, wenn sie es nicht getan hätten. Nur das sie nirgends ihre charakteristischen Bauten mit Hieroglyphen und Keilschriften hinterlassen haben. Das ist außerhalb ihres Mutterlandes vielleicht verboten gewesen. Die arabischen Geschichtsgelehrten, unter denen es ja ganz bedeutende Männer gibt, behaupten, daß ein Pharao hier einmal seine Residenz gehabt hat. Vielleicht im Exil lebend. Und wahrscheinlich es, daß es der Pharao Scheschonk oder Schischak der Erste gewesen ist. Denn dieser ist einmal bis nach Jerusalem gekommen, hat es geplündert, unter Rehabeam, tausend vor Christi. Und die ungeheuren Schätze, die ihm in die Hände fielen, scheint er nicht nach Ägypten gebracht zu haben. Sonst würden Inschriften schon darauf Bezug nehmen.«

»Dann liegen diese Schätze gewiß noch dort in Petra!« sagte die Schwester eifrig und ernst, aber man hörte den Scherz schon durch.

»Ganz sicher. Die wollen wir ja eben abholen.«

»Ach bitte, bringen Sie mir doch die Hälfte mit. Ja?«

»Na, die Hälfte von allem nicht, das können Sie nicht verlangen. Aber die Hälfte von meinem Anteil, die sollen Sie bekommen. Wie soll ich das Gold verpacken? Sind Ihnen Ledersäcke oder Eierkisten angenehmer?«

»Sie scherzen, aber wo sind denn diese Schätze hingekommen?«

»Wenn jemals welche dagewesen sind. Na, Petra ist doch lange die Hauptstadt der Nabatäer gewesen, aber lange nach Rehabeam, dann waren griechische Christen darin ansäßig, schon vorher wurde sie zahllose Male erobert und geplündert, unter anderem von König Amazia, von Atigonus und Trajan, zuletzt von den Sarazenen — da wird von den Schätzen für uns wohl nicht mehr viel übrig geblieben sein. Nein, uns beschäftigt nur die wissenschaftliche Forschung, das Studium der Baustile. Kleinigkeiten mögen wir dabei ja noch finden.«

»Da möchte man gleich mitkommen«, sagte der Bruder.

»So kommen Sie doch mit. Wenn Sie so ganz frei und unabhängig sind, wie mir Ihr Fräulein Schwester erzählte.«

»Hat Ihnen das Leonore gesagt? Nein, so ganz frei und unabhängig sind wir nicht.«

Dr. Tannert hatte nur den Namen gehört.

»Leonore heißen Sie?« wandte er sich mit ausfallender Hast an sie..

Noch anderes als diese Hast war auffallend. Der Frager war dabei vor innerer Erregung ganz rot geworden, mit der größten Spannung hingen seine Augen an dem schönen Mädchen.

»Ja, Leonore«, wollte diese ganz unbefangen bestätigen. Aber es gelang ihr nicht. Jetzt färbte sich auch ihr brünettes Gesicht noch dunkler, sie wurde ganz unsicher, wie nun auch der junge Deutsche. Erst hatten sie sich tief angeblickt, und jetzt wichen sich ihre Augen scheu aus.

Leonore machte der peinlichen Szene, die ja nur wenige Sekunden gewährt hatte und von dem phlegmatischen, immer noch Nüsse knackenden Bruder gar nicht bemerkt worden war, dadurch ein Ende, daß sie schnell aufstand und den Schreibsekretär öffnete, aus dem erst recht ein intensiver Duft von Äpfeln drang.

»Unsere Großmutter väterlicherseits hieß Leonore«, sagte der Bruder, »sie war eine Italienerin, daher auch unser Typus, vermischt mit dem des französischen Vaters. Von unserer deutschen Mutter haben wir nur die Sprache erlernt. Darauf hielt sie.«

Leonore kehrte schnell mit einer neuen Schale von Äpfel, Birnen, den verschiedensten Nüssen, Rosinen, Datteln, Feigen und anderen getrockneten Früchten zurück. Sie hatte wie Dr. Tannert ihre Selbstbeherrschung wiedergefunden.

Der eigentümliche Vorfall, den nur dieser Name bewirkt hatte, sollte erst später seine Erklärung finden.

»Bitte, langen Sie doch zu. Sie essen ja gar nichts. Wir naschen den ganzen Tag.«

»Sie leben wohl nur von Früchten und Nüssen?« konnte er schon wieder unbefangen lächeln.«

»Ausschließlich.«

»Wirklich nur von Früchten und Nüssen?'«

»Tatsache. Wir essen auch kein Brot, nichts gebackenes. Nur Nüsse und frische oder getrocknete Früchte. Wir sind von kleinauf nichts anderes gewöhnt. Und sehen wir etwa schwächlich aus?«

Der junge Gelehrte bekam nicht etwas für ihm ganz Neues zu hören. Besonders in Amerika und in England gibt es schon viele Tausende, die sich nur von rohen Früchten und Nüssen nähren. Nach wissenschaftlichen Gesetzen reicht das auch, in der nötigen Menge genossen, zur vollkommenen Ernährung aus. Nüsse haben einen hohen Gehalt an Eiweiß und Fett, reichliche Mengen das letzteren machen die Kohlehydrate, das Stärkemehl, überflüssig. Diese Lebensweise geht von den Theosophen aus, die schon mehr bis zu den Rosenkreuzlern zurückgreifen, welche ihren Durst sogar nur mit Morgentau stillen, oder mit Regenwasser. Im übrigen hängt das zusammen mit dem Schlagwort »Zurück zur Natur«! Natürlich haben diese Nahrungskünstler, Theosophen oder nicht, gleich Vereine gebildet, wollen durch Zeitschriften und Flugblätter nun die ganze Menschheit beglücken.

»Nach Pausanias bekamen die griechischen Athleten, die in Olympia um die Siegespalme ringen wollten, vorher wochenlang von ihren Trainern, den Gymnasien oder Aleipten, nur möglichst trockene Datteln zu essen«, zeigte der Bruder wieder seine Belesenheit, wobei es freilich um die Athletik handelte, die er wohl auch so wie seine Schwester betrieb oder doch betrieben hatte.

»Wird solch eine Fruchtnahrung auf die Dauer nicht recht eintönig?« meinte Dr. Tannert etwas kleinlaut, denn er war ein Freund von einem saftigen Beefsteak, möglichst groß.

»Eintönig?« wiederholte Leonore. »Aber ich bitte Sie! Hier in dieser Schale liegen acht verschiedene Apfelsorten, jede von einem total anderem Geschmack. Sauer und süß und nach Muskat und nach sonst was schmeckend. Und nun die vielen anderen Früchte. Und hier sind vier Sorten von Nüssen. Und es sind schon zweierlei Haselnüsse, deren Unterschied im Geschmack ein noch viel größerer ist als zwischen gekochten Hammelrippchen und einem Schweinebraten. Nein, an Reichhaltigkeit des Geschmacks kann der Tisch eines Fruchtessers niemals von dem eines Fleischessers übertroffen werden. Und es ist so bequem. Man hat die Früchte immer zur Hand, ist, wenn man Appetit hat, ist unabhängig, kein Sklave eines Kochs. Aber ich will Sie nicht etwa zur Fruchtnahrung bekehren! Das liegt mir fern. Soll ich klingeln? Wollen Sie einen Schinkenknochen haben? Sie können ihn hier ruhig abnagen.«

Lachend wehrte Tannert ab, er habe schon eine reichliche Abendmahlzeit hinter sich, aber er freute sich wirklich sehr, daß man ihm dieses Angebot gemacht hatte. Denn Dr. Tannert war der ganz vernünftigen Ansicht, daß ja jeder Mensch täglich einen Zentner Heu fr... verspeisen kann, wenn es ihn glücklich macht. Aber er soll nur andere Menschen mit seinem Heu in Ruhe lassen. Wem's schmeckt, der wird schon von ganz allein einmal dahinter

kommen. Und dann vielleicht erlernt er auch noch das Wiederkäuen.

»Aber ein Glas Punsch trinken Sie doch mit uns«, fuhr Leonore fort, unter der silbernen Teekanne, wahrscheinlich Eigentum, den Spiritus anzündend.

»Oho. Seit wann sind denn Vegetarier und besonders solche Fruchtesser dem Alkohol ergeben?« Der Irrtum wurde gleich aufgeklärt.

»Es ist alkoholfreie Punschessenz, nichts weiter als Fruchtsaft«, erklärte der Bruder, »ich trinke das Zeug auch nicht gern, es schmeckt so nach Lack, und für einen ehemaligen Studenten, wird es erst recht nichts sein. Haben Sie nicht etwas Kräftigeres auf Ihrem Zimmer? Oder vielleicht die Mrs. Haller?«

Ach, das waren ja prächtige, unbezahlbare Menschen! Solche fand man ja gar nicht wieder.

Und es war noch nicht alles.

»Ach«, sagte Leonore noch, als er sich schon erhob, um die Rumflasche zu holen, die ihm ein Onkel für das nebelige England eingepackt hatte, für die er freilich einen fabelhaften Zoll hatte zahlen müssen, »ach, da bringen Sie doch auch Ihre Fuhrmannspfeife mit, bitte!«

»Was, Fuhrmannspfeife?« lachte Tannert. »Was wissen denn Sie Französin davon, und das ich überhaupt eine lange Pfeife habe?«

»Na, ich hab's doch gleich gerochen, als Sie heute früh Ihre Zimmertür aufmachten. Ich konnte auch ein bißchen hineinblicken. Herr Gott, war das ein Nebel! Wir hatten in Avignon einmal einen deutschen Herrn zu Besuch, der rauchte auch so eine mächtige Pfeife, und da sagte unsere Mutter immer: das riecht hier so gut nach Fuhrmann.«

Tannert lachte noch aus vollem Herzen, als er in seinem Zimmer die Rumflasche auspackte, und wiederum wußte er gar nicht, daß er dies tat. Mit seiner qualmenden pfeife kam er zurück.

»So, nun werde ich Ihnen ein Glas Grog brauen. O, das kann ich auch. Ohne Zitrone? Desto besser, weil wir gar keine hier haben. Ach, riecht Ihre Pfeife gut, so gemütlich.«

»Rauchen Sie denn nicht?« fragte Tannert, in der Meinung, daß die Französin diese Gelegenheit nur abgewartet hatte, um gleich nach dem Zigarettenetui zu greifen.

»Ich? Ich rauche nicht. Ich habe ja gar nichts dagegen, wenn Damen rauchen, aber ich mache das nicht mit. Ich habe keinen Genuß daran, habe es noch gar nicht probiert. Auch Harris raucht nicht.«

»Wie, auch Ihr Herr Bruder raucht nicht?« stieß Tannert förmlich bestürzt hervor.

»Nein, warum sollte er denn?«

Es war schwer zu beschreiben, was den Doktor in förmliche Bestürzung versetzte. Man findet selten solche Menschen, die Nichtraucher sind und anderen das Rauchen nicht nur erlauben, sondern sie sogar darum bitten, doch zu rauchen.

»Aber ich kann doch unmöglich hier rauchen, wenn Sie selbst....«

»Pfaffen Sie! Jetzt befehle ich es Ihnen! Immer qualmen Sie! Mehr, mehr! Und wenn Sie zufälliger Weise eine Kanone bei sich haben, und Sie möchten gerne schießen — immer schießen Sie. Wenn es die Nachbarschaft nicht stört — uns stört's nicht im geringsten.

Dr. Tannert gehorchte, pfaffte und qualmte. Nein, solche Menschen gab es nicht wieder, wenigstens kein solches Geschwisterpaar.

Das Gespräch kam wieder aus Petra, der Gelehrte wurde immer ausführlicher.

»Ich möchte gern selbst einmal die Bücher lesen, die Sie da anführen«, sagte Harris.

»Die sind aber nur im Britischen Museum zu haben.«

»Die Bücher werden doch ausgeliehen?«

»Nein. Diese Bibliothek leiht kein einziges Buch aus.«

»Gegen genügende Sicherheit,«

»Nicht gegen Deponierung einer Million. Das ist so eins der eigentümlichen Gesetze im konservativen England. Der Gründer des Britischen Museums war Sir Sloane, der seine Sammlungen und seine kolossale Bibliothek dem englischen Volke vermachte, unter der Bedingung, daß nur Mitglieder der königlichen Familie Bücher mit nach Hause nehmen dürfen. Und das wird heute noch ganz wörtlich befolgt. Ich habe es erst selbst nicht glauben wollen, sprach erst gestern mit dem Generalkonsul darüber, als ich mich ihm vorstellte. Mir selbst ist die Sache äußerst unangenehm. Ich kann nicht aufmerksam lesen, wenn andere um mich herum sind, fremde Menschen, und so vortrefflich dort auch alles eingerichtet ist, ganz kleine Lesekabinetts, in denen nur einer Platz hat — es ist doch nicht dasselbe wie zu Hause in seinem stillen Studierzimmer. Eine Ausnahme kann nur ein Regierungsbefehl machen, oder sogar ein direkter Befehl des Königs muß es sein. Aber um den zu erlangen, das ist wieder eine ganz verzwickte Geschichte. Da nützt es noch nichts, daß ich deutscher Staatsbeamter bin. Da müßte erst die deutsche Gesandtschaft in förmlich politische Verhandlungen mit der englischen Regierung treten. Und so etwas wird wegen meiner Leserei natürlich nicht gemacht.«

Er sah nach der Uhr.

»Schon Mitternacht vorüber. Es ist wohl bald Zeit schlafen zu gehen.«

»Nicht für uns«, sagte Leonore, »für uns ist jetzt Mittag.«

»Wie meinen Sie?«

»Wir schlafen am Tage, stehen Nachmittags so gegen vier Uhr auf, warten die Dämmerung ab, wenn es genügend dunkel ist, gehen wir zusammen durch möglichst einsame Straßen spazieren, oder ins Theater, in ein Konzert, in einen Vortrag, oder ich gehe allein in so ein Gymnasium oder in eine Schwimmhalle, die bis Mitternacht offen ist. Um Mitternacht sind wir spätestens wieder zu Hause, und während dann für die andere Welt das Leben erlischt, fängt es für uns erst richtig an. Dann wird bis früh gegen acht gelesen. Dann geht's zu Bett.«

»Sie sind ja die reinsten Wahabiten. Habe schon vorhin einmal daran gedacht, und Sie werden es ja immer mehr!« staunte Dr. Tannert.

»Was sollen wir sein?«

»Wahabiten. Wissen Sie nicht, was das für eine arabische Sekte ist?«

»Nein. Noch niemals davon gehört.«

»Natürlich — verzeihen Sie mir — ich falle manchmal noch in den Fehler zu glauben, daß alle anderen Menschen das wissen müssen, was meine ganze Gedankenwelt ausmacht. Kennen Sie nicht den alten Witz mit dem Geschichtsprofessor, der auf der Eisenbahnstation sein Cupe verläßt, sieht sich die Nummer des Waggons, 715, prägt sich die zur Vorsicht mnemotechnisch ein, 715 vor Christi Geburt: Numa Pompilius wird als zweiter römischer König auf den Thron erhoben — jetzt geht er beruhigt in das Restaurant. Der Zug wird abgeläutet, der Herr Professor stürzt heraus, findet seinen Waggon nicht, hat die Nummer vergessen — aber er hat sie sich ja mnemotechnisch gemerkt. Also er stürzt auf einen Schaffner los: »Schaffner, Schaffner, wann hat Numa Pompilius den römischen Königsthron bestiegen?!!«

Die Geschwister lachten.

»Und wie ist es nun mit den Wahabiten?«

Der Gelehrte wurde etwas gründlicher, als es nötig gewesen wäre.

»Eine mohammedanische Sekte, die sich im 18. Jahrhundert furchtbar gemacht hat. Ihr Stifter war ein reicher Kaufmann namens Abd el Wahab in der Provinz Nedschd, das fruchtbare Hochland im Herzen Arabiens. Ihm gefiel die immer mehr zunehmende Vergötterung des Propheten Mohammed nicht, womit auch die Lockerheit der Sitten seiner Landsleute wuchs. Für ihn war Mohammed nur ein einfaches Werkzeug Allahs gewesen, er hätte sich eben so gut in jedem anderen Menschen offenbaren können. Und tatsächlich war Mohammed auch ein recht minderwertiger Geist, litt an epileptischen Anfällen, was dort aber, weil den Leute unbegreifliches, als ein Zeichen der Heiligkeit gilt. Wahab wollte den ganzen Koran nicht gelten lassen, den Mohammed erst später diktiert hat, als er nur noch seinen Herrschergelüsten nachging, als er die Vielweiberei eingeführt hatte und anderes mehr. Für Wahab galt nur die Sunna, das ist die reine Lehre, die ersten Religionsformeln Mohammeds, die nicht niedergeschrieben worden sind, nicht geschrieben werden durften, die nur als Sprichwörter von Mund zu Mund gehen. Übrigens hat, nebenbei bemerkt, des Propheten erste Frau, die ganz gewaltige Aische, die wahrscheinlich viel bedeutender war als Mohammed selbst, ihm von dem Verfassen des Korans abgeraten, und das ist der Grund, warum die Wahabiten dann ihren Herrscher aus der Verwandtschaft dieser Aische wählten, warum sie noch heute lieber eine Emira als einen Emir haben, lieber eine Fürstin als einen Fürsten, und warum noch heute bei den Wahabiten auch die jüngeren Frauen mit in den Kampf ziehen, wofür sie natürlich auch ganz anderes Ansehen genießen, als sonst bei den Mohammedanern üblich ist.

Abd al Wahab fand schnell Anhänger, die streng nach der Sunna lebten. Der Koran zählte alles gewissenhaft bis ins Kleinste auf, was erlaubt und mehr noch was verboten ist. Das Weintrinken ist verboten. Aber nicht das Trinken von Bier und Branntwein. Weshalb nicht? Weil Mohammed noch nichts von Bier und Schnaps wußte. Heute zechen die meisten Mohammedaner ganz tüchtig. Bier wird massenhaft vertilgt, die Schnapsbrüder torkeln auf der Straße herum. Nur keinen Wein! Die Sunna aber sagt: du sollst kein berauschendes Getränk trinken. Also natürlich auch kein Bier und keinen Branntwein. Rauchen heißt auf arabisch ischrub tuchan, das ist Tabak trinken, weil der Orientale den Rauch doch stets inhaliert, und daß das den Kopf betäubt, weiß jeder, der es probiert hat. Also darf auch nicht geraucht werden. Der Koran zählt allen Luxus auf, der verboten ist. Die Sunna verbietet einfach jeglichen Luxus, jeden Schmuck. So dürfen die Wahabiten nicht den geringsten Zierrat tragen, sich keine Blume anstecken, von Ringen und dergleichen gar nicht zu sprechen. Sie tragen Kleidung in größtmöglicher Einfachheit, auch im Essen und so weiter.

Dann als die Sekte der Wahabiten zu einer Macht angeschwollen war, die sich zum Religionskrieg rüstete, erfand Wahab aus eigener Initiative eine Vorschrift, welche seine Anhänger so furchtbar machte. Wenn sich die Wahabiten im Kriege befanden — und das waren sie ja immer — wurde die Nacht zum Tage gemacht und umgekehrt. Am Tage schlief im Lager alles, bei Nacht waren sie wach. Das erscheint höchst unbedeutend. In Wirklichkeit wurden die Wahabiten dadurch so furchtbar. Am Tage wichen sie dem Feinde aus, überließen ihm unter Umständen sogar ihr Lager. Sie griffen den Feind in der Nacht an, oder bei Nacht erschienen die Geflohenen wieder, und die nächtliche Finsternis war ihr Element geworden, da sahen sie wie die Katzen, da nahm jeder Mann zehn Feinde auf sich, die im Finsteren herumtappten. Die Wahabiten hatten im Laufe zweier Jahrhunderte keine einzige ihrer zahllosen Schlachten verloren, die sie bei Nacht lieferten. — Sehen Sie, daran dachte ich. Sie nähren sich nur von den einfachsten Naturprodukten, trinken keinen Alkohol, rauchen nicht, ich bemerke an Ihnen — verzeihen Sie, daß ich darauf Obacht gegeben habe — gar keinen Schmuck, Monsieur Lavoir dort hat zwar eine goldene Uhr, hat sie aber an einem einfachen schwarzen Bindfädchen hängen, und nun offenbaren Sie mir auch noch, daß Sie die Nacht zum Tage machen, nur überhaupt in der Nacht leben — Sie sind ja die echten Wahabiten.«

Die Geschwister lachten wieder.

»Brennen die auch solche Wachskerzen?«

»Das weiß ich allerdings nicht. Ich bezweifle es. Die wollen sich ihre Augen ja durch kein Licht verderben. Die brennen wohl nur Kameldünger, um ihre Brotfladen zu backen.«

»Leben sie auch nur von Früchten und Nüssen?«

»Nun die Dattel spielt sicher eine große Rolle. Sonst besteht die Hauptnahrung aus Reis und durra, das ist Hirse.«

»Kein Fleisch?«

»Das kommt dort selten vor, daß einmal ein Zicklein geschlachtet werden kann, so daß darüber gar kein Verbot zu existieren braucht. — Bekommt Ihnen denn dieses Nachtleben?«

»Wie Sie sehen. Sind wir etwa melancholisch?«

»Sind Sie davon nicht nervös geworden?«

»Na nun hören Sie aber auf!« wurde gelacht.

»Wie sind Sie denn darauf gekommen?«

»So nach und nach. Durch langes Aufbleiben und spätes Aufstehen. Und das wurde immer länger ausgedehnt. Jetzt sind wir vollkommen daran gewöhnt, sind richtige Nachtvögel geworden. Ach es gibt doch zahllose Menschen, die die Nacht zum Tage machen, es tun müssen, denken Sie doch nur an die vielen Bäcker und Verkehrsbeamten. Na, und die werden auch nicht krank. Und in die helle Sonne können wir auch noch gehen, in die Sonne blicken aber kann irgend ein anderer Mensch so wenig wie wir. — Was ist nun aus diesen Wahabiten geworden?«

»Zuletzt wurden sie doch geschlagen. Erst von Ibrahim Pascha, dann von dem gleichfalls ägyptischen Pascha Khurschid. Die ägyptischen Soldaten wurden speziell im Nachtkampf ausgebildet, wurden deswegen in Nachtvögel verwandelt. In den letzten fünfzig Jahren haben die Wahabiten Ruhe gehalten, haben aber wohl viel innere Kämpfe auszufechten, wegen der Thronnachfolge. Es sind zwei Parteien entstanden, die jede ihren eigenen Emir haben will. Wenn sie sich da geeinigt haben, dann werden die Wahabiten schon wieder von sich hören lassen.«

»Wo wohnen sie jetzt?«

»Immer noch in der Provinz Nadschd. Das ist ein Gebiet so groß wie Deutschland, für arabische Verhältnisse ein gar reiches, fettes Land. Es sind ziemlich anderthalb Millionen Wahabiten, die in mehr als 300 Ortschaften wohnen. Jetzt haben sie wieder eine Fürstin, die Emira Aische al Sela, das heißt übersetzt, das Brot von Stein, das steinerne Brot/

»Das steinerne Brot? Ein seltsamer Name!«

»Nur für uns, wenn wir es übersetzen. Aische heißt Brot, und das ist für die Araber schön ein heiliger Begriff. Dem Fremden wird Brot und Salz gereicht als Zeichen, daß er die unverletzliche Gastfreundschaft genießt. Nun, und die Emira wird wohl eine steinerne Jungfrau sein, sowohl dem Herzen wie dem Körper nach, ein tüchtiges Kriegsweib, das Lanze und Schwert zu schwingen versteht. Die Gegenpartei möchte lieber einen Emir aus einer anderen Dynastie haben. Vorläufig aber herrscht die Emira al Sela.«

»Sie sprechen arabisch?« fragte der Bruder, der sich sonst nur selten am Gespräch beteiligte.

»Ja, vollständig.«

»Und natürlich auch türkisch.«

»Nein, türkisch nicht.«

»Dort wo Sie hingehen, wird aber doch zumeist türkisch gesprochen.«

»O nein. Nur arabisch.«

»Syrien ist aber doch eine türkische Provinz.«

»Ja, dem Namen nach. Nur auf dem Papier. Ganz Arabien ist ja eigentlich ein türkischer Vasallenstaat, mit Ausnahme des Sultanats Maskat. Aber kommen Sie mal hin. Selbst dort oben in Syrien, dicht an der Grenze vom türkischen Kleinasien, wo die türkische Macht wirklich herrscht, werden die vorgeschriebenen Steuern nie eingehoben. Die Araberscheichs würden die türkischen Steuereinzieher nicht schlecht auslachen. Oder wahrscheinlich etwas anderes mit ihnen machen Es gibt gar keinen selbstherrlicheren Fürsten als solch einen Beduinenscheich, wenn er auch nur über ein Duzend Lanzen gebietet. Es ist ja diesen Beduinen auch gar nicht beizukommen. Die Araber haben uns Europäer oft genug besiegt, sind über Spanien bis nach Frankreich vorgedrungen, dort wurden sie von Karl Martell geschlagen — aber in ihrer Heimat hat ihnen noch niemand etwas anhaben können, wenn sie eine offene Schlacht vermeiden. In diesen Wüsten kann sich keine europäische Kavallerie halten, und auch die türkischen Wüstenreiter können mit den arabischen Beduinen nicht im entferntesten konkurrieren. Was die für Pferde haben! Die sich bei ihrer Leistungskraft mit Datteln begnügen. Die Beduinen ziehen sich in die Wüsten zurück, vergiften hinter sich die Brunnen, und wenn die Feinde schon als halbe Leichen im Sattel hängen, fallen sie über sie her. Nein, da ist nichts zu wollen. — Nein, dort oben wird nicht türkisch gesprochen. Man kann es wohl, will es aber nicht verstehen.

Der Erzähler machte eine Pause, und wie er vor sich hin pfaffte, wurde sein Gesicht recht verdrießlich.

»Das ist es eben! Unsere Expedition ist falsch eingeleitet. Die Deutsche Regierung hat dem Kommerzienrat ihre Unterstützung zugesagt — das ist ja recht schön und gut, aber besser wäre es, wenn sie es nicht täte. Nun hat sie sich schon an die Pforte gewendet, an die türkische Regierung in Konstantinopel, wegen Pässen usw., die Türkei hat uns ihren Schutz denn auch sofort zugesichert, uns eine Schwadron Arnauten, türkische Polizeisoldaten, zur Verfügung gestellt. Diese Schutzwache, gegen hundert Mann, erwarten uns in el Arisch. In dieser Hafenstadt geht es ja noch. Nun rücken wir aber in die Wüste hinein. Diese hundert Mann muß Kommerzienrat Kluge aus seiner Tasche unterhalten. Was das kostet? Und was deswegen wieder für ein Proviant und Futter mitgeschleppt werden muß. Wo wir allein manchmal froh sein werden, wenn wir nur Trinkwasser für uns genug finden. Und nun sind es verhaßte Türken, auch noch Polizeisoldaten dazu. Anstatt das uns die dort hausenden Araber behilflich sind, werden sie uns alle Schwierigkeiten in den Weg legen. Und den Ferman des Sultans, den Schutzbrief, können wir nur gleich ins Feuer stecken.. Die lachen uns ja aus, wenn wir den vorzeigen.«

»So tun Sie's doch. Nehmen Sie die türkische Schutzwache nicht mit.«

»Das geht nun auch nicht mehr rückgängig zu machen. Die Pforte würde sich natürlich beleidigt fühlen. Das ist jetzt eben politisch geworden. Es ist traurig. Jetzt aber verzeihen Sie — oder Sie brauchen mir auch nicht zu verzeihen, Mademoiselle — ich muß unbedingt schlafen gehen. Ich habe morgen früh viel zu tun.«

Die Sitzung wurde aufgehoben.

»Aber morgen kommen Sie wieder, erzählen uns mehr, nicht wahr?«

»Wenn Sie erlauben....«

»Ich erlaube es.«

»Bitte lassen Sie mich aussprechen. Wenn Sie erlauben werde ich morgen oder eigentlich heute Mittag wieder bei Ihnen anklopfen.«

»Nein, nein, nein, das erlaube ich nicht!« lachte Leonore. »Da liegen wir ja im tiefsten Schlafe.«

»Sehen Sie, seien Sie ein andermal nicht so voreilig mit dem Geben Ihrer Erlaubnis. Dann morgen oder vielmehr heute Abend auf Wiedersehen. Gute Nacht.«

3. Kapitel.

Dr. Tannert hatte von Wachskerzen, Äpfeln, Nüssen und Wahabiten geträumt, und mehr noch von einem holdseligen, unschuldsvollen Mädchen, das hin und wieder einem Menschen das Schlüsselbein zerschlug.

Als er erwachte, war es neun Uhr. Da wurde die Bibliothek geöffnet, und er hatte jetzt schon dort sein wollen. Eilig kleidete er sich an, klingelte nach dem Frühstück.

Mrs. Haller selbst brachte es ihm, eine rundliche Witwe, eine Deutsche, die schon dreißig Jahre in London lebte und deutsch geblieben war.

Gestern hatte sie dem neuen Pensionär nur erzählt, daß sie dem jetzigen englischen Premierminister, als er vor zehn Jahren noch Sekretär im Kolonialamt gewesen, auch schon ein hoher Posten, Köchin gewesen war, woraus der neue Pensionär wohl schließen konnte, was sie in der Küche leiste. Dasselbe wie der jetzige Reichskanzler im Parlament.

Dann hatte sie noch gesagt, daß sie leider keine Zeit habe, weil zwei Tage lang Reinemachen wäre, und sie war gegangen.

Heute folgte die Fortsetzung. Eine Antwort auf ihre Fragen verlangte sie nie.

»Sie waren gestern drüben bei den französischen Geschwistern? Bis heute früh? Wie ist denn das nur gekommen? Hören Sie, Herr Doktor, da haben Sie aber Glück gehabt! Die verkehren doch sonst mit keinem anderen? Hören Sie, Herr Doktor, das sind die reizendsten, solidesten Pensionäre, die ich je gehabt habe. Die Anwesenden natürlich ausgenommen. Und wie sie sich lieben! Ich dachte erst etwas anderes. Aber ganz ausgeschlossen. So einfach, so bescheiden, so freundlich. Sie sind in voller Pension, bezahlen dafür und nehmen doch gar nichts, nicht einmal Tee und Kaffee. Den trinken sie gar nicht, überhaupt ganz, ganz merkwürdige Menschen. Aber Geld müssen sie haben! Die verbrennen jeden Tag doch wenigstens für zehn Schilling Wachskerzen. Die Dinger brennen ja sparsam, aber immerhin, was so eine kosten mag! Und immer gleich ein abgezähltes Dutzend muß brennen. Was das nur zu bedeuten hat. Ob die wohl...«

Wir wollen es nicht hören, in was für Vermutungen sich die gute Frau erging. Dr. Tannert hörte es auch nicht. Er war in sein Frühstück und in den Plan seiner Tagesarbeit vertieft, ging dann nach dem nahen Britischen Museum.

Zwei Tage verstrichen. Von früh bis abends arbeitete der Gelehrte in der Bibliothek, des Mittags zu Hause nur einen kleinen Lunch einnehmend, und von neun Uhr an bis früh um zwei saß er drüben bei den Zimmernachbarn, aß Nüsse und Äpfel und Feigen, trank Grog und rauchte seine Pfeife.

Von dem früheren Leben der beiden erfuhr er nichts. Er war es immer, der erzählen mußte, meist von Arabien, das er aus den Büchern so gut kannte, als wenn er selbst ein Beduine wäre, und sonst eine allgemeine Unterhaltung, bei der es meistenteils höchst humoristisch zuging.

Am dritten Tag, als er in einem der Lesezimmer in Büchern und Karten vertieft war, näherte sich ihm ein alter Herr mit langem, weißen Vollbart, eine ehrwürdige, patriarchalische Erscheinung im schwarzen Gehrock. Sonst war nichts auffallendes an ihm.

»Monsieur le docteur Tannert?«

»C'est moi, monsieur.«

»Taraf arabi?«

»Eju.«

«Mein Sohn, folge mir, und deine Ohren werden etwas hören, was ihnen köstlicher dünkt als Vogelsang.«

So sagte der alte Herr auf arabisch, dann war das auch ein echter Araber. Dr. Tannert hatte nicht nur die arabische Grammatik gelernt, sondern auch arabische Literatur gelesen, so kannte er diese blumenreichen Ausdrücke schon und wußte, daß im arabischen Orient jeder alte Bettler sogar einen Prinzen »Sohn« nennen darf.

Er folgte, Bücher und Karten zur Vorsicht mitnehmend, wurde in ein freies Kabinett geführt, das wenig mehr als zwei Personen faßte. Die Tür konnte zugemacht werden.

Der alte Herr sprach weiter arabisch, ließ aber alle Bilderausdrücke weg.

»Du willst, mein Sohn, nach Syrien gehen, um die Ruinenstadt Petra zu untersuchen?«

»Woher weißt du das?«

»Ich habe es gehört.«

Nun, das wußten auch noch andere, er hatte mit einigen Bibliothekaren darüber gesprochen, hatte es tun müssen.

«Ja.«

»Wie stellst du dir das vor?«

»Was soll ich mir dabei vorstellen?«

»Es ist eine größere Karawane, nicht war?«

»Gegen zwanzig Mann, wozu noch hundert türkische Arnauten kommen.«

»In Petra gibt es kein Wasser.«

»Das weiß ich.«

»Wo wollt ihr Wasser herbekommen?«

»Von dem Dorfe Bell Musa, das nur zwei Kilometer von Petra entfernt ist.«

Der Alte strich sich bedächtig den langen Bart.

»Was ist heute nach eurer Berechnung für ein Tag?«

»Mittwoch der 19. Dezember.«

»Wann wollt ihr in el Arisch sein?«

»Ende Januar.«

»Am 16 Januar, wenn der Tag anbricht, werden die Weiber von Bell Musa die Eimer aus den Brunnen leer wieder herausziehen, kein Tropfen Wasser wird sie genetzt haben.«

Verwundert blickte Tannert den Sprecher an.

»Was sagst du da?«

»In der Nacht von 15. zum 16 Januar werden die Brunnen von Bell Musa versiegen.«

»Woher willst du denn das wissen?«

»Ich weiß es.«

»Bist du ein Prophet?«

»Du sagst es.«

Der Alte durfte sich eine Prophetenrolle anmaßen, ohne einen Frevel zu begehen, denn die Mohammedaner haben noch viele andere Propheten. Christus ist der zweite. Ob aber der Alte wirklich ein Prophet war, das war ja nun eine andere Frage.

Doch Dr. Tannert wollte das jetzt nicht wissen, sondern ganz sachgemäß vorgehen.

»Mir ist nicht bekannt, das die Brunnen von Bell Musa jemals kein Wasser gegeben haben.«

»Nein, noch nie. Aber am 16. Januar werden sie für immer versiegt sein.«

»Woher soll das kommen?«

»Daher«, wurde der alte Herr nicht gerade höflich.

»Nun da gibt es noch andere Ortschaften genug mit Brunnen, wenn sie auch eine oder zwei Stunden weiter entfernt sind.«

»Am 16. Januar nach eurer Zeitrechnung werden um Petra herum in einem Umkreis von 25 Kamelstunden alle Brunnen versiegen, kein Tropfen Wasser wird zu haben sein.«

Tannert starrte den Alten an. Was beabsichtigte der eigentlich? Warum wollte er der Expedition bange machen? Und tat es auf so plumpe Weise, hüllte sich dazu in den Mantel eines Propheten, hier in London?

Ehe er noch etwas dazu sagen konnte, zog der Alte aus der Brusttasche einen Rosenkranz mit sehr vielen Kügelchen hervor. Auch der Mohammedaner hat einen Rosenkranz, so wie der Buddhist. Von dem stammt überhaupt erst der christlich-katholische. Der mohammedanische Rosenkranz, Tesbhi, hat 99 Kugeln, an ihnen werden die »schönen Namen« Allahs aufgezählt, wie sie im Koran angeführt sind, in der Sunna in mündlicher Überlieferung. Strenggläubige Mohammedaner, die nichts weiter zu tun haben, sieht man ununterbrochen mit den Kügelchen spielen, im Kaffeehaus, auf der Straße überall.

»Weißt du, was dies ist?«

»Eine Tesbhi.«

»Du sagst es. Nimm die Schnur. Wenn du in el Arisch das Land betrittst, so halte sie auffallend in der Hand. Noch besser hänge sie um den Hals, sichtbar. Ein Sarazen wird sich dir nähern. Wenn er das Wort »London« spricht, dann ist es der richtige. Dem folge. Dann werdet ihr Petra erreichen und Wasser finden. Sonst nichts. Behüte den Talisman wie deinen Augapfel. Er wird dir auch noch andere Dienste leisten. Wenn der erste Führer dich verlassen hat und ein Sarazen oder irgend ein anderer Arabi nähert sich dir feindselig, oder du brauchst seine Hilfe, so versuche es erst mit dem Tesbhi, spiele mit der Schnur, daß er sie sieht. Selam.«

Der alte Herr stand auf, berührte mit den Fingerspitzen flüchtig Mund und Stirn, aber nicht die Brust, was zum vollständigen Gruße der Ergebenheit gehört hätte, und griff nach der Türklinke.

Tannert war aufgesprungen und wollte ihn zurückhalten.

»Wer bist du?«

»Ein Diener Allahs.«

Der junge Gelehrte ließ ihn gehen, wußte das doch weiter nichts von ihm zu erfahren war. Und zum Spion, ihm nachzuschleichen, dazu eignete er sich nicht.

Es waren alte, abgegriffene Holzkügelchen auf einer Seidenschnur, jedes mit einem eingelegten Perlmutterring. Nichts weiter. Gar keine wertvolle Tesbhi, während der reiche Mohammedaner mit diesem Gebetsinstument manchmal enormen Luxus treibt.

Es war schon Abend, für die letzten Stunden hatte Tannert doch keine Ruhe zum Lesen mehr, er gab seine Bücher zurück, die in einem besonderen Fache aufgehoben wurden, fragte den ihn näher bekannten Bibliothekar, ob er den Herrn mit dem langen weißen Vollbart gesehen habe, ob er ihn kenne.

Ja, gesehen hatte er ihn, aber kennen tat er ihn nicht, er hatte auch kein Buch entnommen.

Zu Hause suchte Tannert gleich seine Nachbarn auf, teilte ihnen alles mit. Warum sollte er nicht.

»Das ist ja ganz geheimnisvoll! Wie kann der wissen, daß dort an einem bestimmten Tag die Brunnen versiegen?«

Es gab nur eine einzige Erklärung dafür, Tannert hatte sie sich schon zurechtgelegt. Es mußte dort eben die Möglichkeit vorhanden sein, durch Ableiten des Grundwassers in einem Umkreis von vielen Meilen die Brunnen versiegen zu lassen. Warum das geschehen sollte? Innerhalb des bezeichneten Kreises lagen nicht weniger als sieben türkische Forts, befestigte Oasen. Die arabischen Beduinen, denen dieses Geheimnis bekannt war, oder wahrscheinlich es erst jetzt erfahren hatten — das heißt, einige Monate oder selbst Jahre spielten dabei keine Rolle, vielleicht waren auch erst große Vorbereitungen dazu nötig gewesen — wollten die verhaßten Türken auf diese Weise aus ihren Befestigungen vertreiben. Dann mußten freilich darunter auch die arabischen Oasenbewohner leiden, sie mußten ihre Heimat verlassen, aber das war Nebensache, die wurden vorher benachrichtigt, und hatten erst die Türken die wasserlosen Forts geräumt, so konnten die Brunnen wohl wieder gefüllt werden, dann stellten sich die arabischen Oasenbewohner auch wieder ein.

»Das ist die einzige Erklärung, die ich dafür finde.«

»Ja, diese Erklärung hat Hand und Fuß«, wurde ihm beigestimmt. »Wer ist aber nun der alte Herr gewesen?«

»Keine Ahnung. Er sah gar nicht wie ein Orientale aus. Jedenfalls aber ist er in den Plan eingeweiht und nimmt gleichzeitig großes Interesse an unserer Expedition, möchte diese durchgesetzt haben.«

»Weshalb?«

»Vielleicht nur in wissenschaftlichem Interesse.«

»Dann muß er dort doch große Macht ausüben.«

»Das ist anzunehmen. Ich bin natürlich höchlichst gespannt, was ich mit diesem Rosenkranz für einen Erfolg haben werde.«

»Werden Sie den Vorfall der türkischen Regierung mitteilen?«

»Ich nicht. Das geht für mich zu weit. Ich mag durchaus nichts mit der Polizei zu tun haben. Aber ich werde es dem Kommerzienrat Kluge mitteilen, das ist meine Pflicht — der mag das Weitere veranlassen, wenn er es für gut befindet.«

Dr. Tannert schrieb sofort nach Berlin, erwähnte und beschrieb den Rosenkranz, hatte aber schon die Absicht, diesen nicht herzugeben, falls dessen Einsendung gewünscht würde. Es sei denn, daß er selbst aus irgend einem Grunde noch an der Teilnahme an der Expedition verhindert würde.

Am anderen Morgen wartete Dr. Tannert in dem Hausflur auf die erste Post. Der Briefträger kam, ein junger, kaum aus der Schule gekommener Bengel, hatte für dieses Haus nur ein winziges Briefchen in der Hand, er sah den Herrn in der offenen Haustür stehen, warf es aber dennoch in den Briefkasten, in einer Weise, als habe er es gar nicht nötig.

Tannert mußte erst das Dienstmädchen rufen, daß es den Kasten aufschloß, der Brief war für ihn bestimmt.

»To Dr. T. Tannert, Esquire«, stand darauf geschrieben, und darüber gedruckt »In the service of His Majesty.«

Alle Wetter, im Dienste des Königs? Und der Bengel wirst dieses Schreiben so in den Kasten, als wäre es ein Reklamezettel.

Dr. Tannert wußte noch nicht, wie in England die Post scheinbar so nachlässig gehandhabt wird, und wie dennoch alles so vorzüglich klappt.

Was hatte er denn aber mit dem englischen König zu tun?

Nun, schreiben tat ihm Seine Majestät nicht persönlich.

In zwei Maschinenschriftzeilen wurde ihm mitgeteilt, daß die Bibliothek des Britischen Museums angewiesen sei, ihm Bücher mitzugeben.

Stempel und Unterschrift waren unleserlich.

Tannert war ebenso froh wie erstaunt. Wem hatte er denn das zu verdanken?

Dem deutschen Generalkonsul? Der hatte ihm doch ausdrücklich erklärt, daß er da gar nichts machen könne, das sei ganz ausgeschlossen.

Er begab sich nach der Bibliothek, und wandte sich an den ihm bekannten Bibliothekar.

»Ja, wir sind vom Ministerium schon benachrichtigt. Sie können für dieses und nächstes Jahr bis zu zehn Bücher mit nach Hause nehmen, täglich oder wie Sie wollen.«

»Wem habe ich das zu verdanken?««

»Das kann nur ein direktes Mitglied des Königlichen Hauses für Sie ausgewirkt haben, es hat seine Berechtigung zur Entnahme von Büchern auf Sie übertragen.««

»Aber wer soll denn das sein?««

»Das weiß ich nicht. Das erfahren wir nicht.««

Tannert erfuhr es auch anderswo nicht, nicht auf dem deutschen Generalkonsulat, wo man über diesen Fall höchstlich erstaunt war.

Nun, die Hauptsache war, das er die Erlaubnis hatte, jetzt zu Hause lesen konnte.

Da er nun Herr seiner Zeit war, blieb er gleich beim ersten Male in dieser neuen Periode bis früh in die sechste Stunde mit seinen Korridornachbarn zusammen, schlief dafür bis in den Nachmittag hinein, und ehe er sich versah, war auch er ein vollkommener Nachtvogel geworden, stand regelmäßig erst um vier Uhr aus, bearbeitete in seinem Zimmer in einigen Stunden das, wozu er völlige Ruhe haben mußte, wobei er schon, weil er sich immer mehr daran gewöhnt hatte, die dichtschließenden Jalousien herabließ und Gas brannte, dann, wenn es draußen dunkel wurde, ging er mit den beiden, meist aber mit Leonore allein, in den einsamsten Straßen spazieren, oder sie strichen durch den nahen Regentpark, ob Mondschein war oder nicht, besuchten auch manchmal das Theater und Konzerte, wobei sich der Bruder regelmäßig anschloß, während die Schwester jetzt nicht mehr in die Sportinstitute ging, spätestens um Mitternacht waren sie wieder zu Hause, dann wurde im gemeinschaftlichen Zimmer beim Licht der Wachskerzen gelesen und zwischendurch manchmal geplaudert, Nüsse geknackt und Äpfel gegessen, und immer seltener wurde es, daß sich der deutsche Gelehrte einmal ein Beefsteak zu Gemüte zog.

Ach, es waren herrliche Tage oder vielmehr Nächte! Es war eine köstliche Zeit! Und der junge Gelehrte fühlte eine Arbeitsfreudigkeit in sich, konnte seine Arbeit bewältigen, wie er es noch nie gekannt hatte.

Ach wenn es doch immer so bliebe!

Warum konnte es denn nicht möglich sein?

Das er Leonore liebte, daß sie ihn wieder liebte, dessen war er sich bewußt. Und wie er sie liebte! Und wie sie ihn liebte!

Aber es war eine ganz eigentümliche Liebe. Wenn man eine völlig reine, keusche Liebe eigentümlich nennen darf. Leider muß man es.

Der junge Gelehrte war bei aller Tatkraft Idealist. Diese reine auf Sympathie beruhende Liebe — törichter Weise immer platonische Liebe genannt, obgleich Plato niemals von solcher Liebe gesprochen hat — beglückte ihn gegenwärtig vollkommen und er hielt sich ihrer für immer fähig. Es gibt solche Männer genug, und die schlechtesten sind es natürlich nicht, und es sind auch niemals Schwächlinge, es sind vielmehr diejenigen, die das Zeug zum Welteroberer haben, die sich aber, wenn sie dabei auch wirklich weise sind, nur damit begnügen, alle ihrem bescheidenen und doch so unendlichen Glück im Wege stehenden feindlichen Mächte mit einem Atemhauch zu beseitigen. Und für das edle Weib ist diese keusche Liebe überhaupt der natürliche Zustand, in dem es sich voll und ganz beglückt fühlt. Und wer das bezweifelt, der kennt eben die Menschen nicht, ist noch nicht in die tiefsten Tiefen der Menschheit und zu ihren höchsten Höhen emporgestiegen. Und auch die Tiefen muß man kennen lernen, will man die Höhe beurteilen.

Ja, Dr. Tannert fühlte die Kraft in sich, dieses Leben der glücklichen Liebe ungetrübt von sinnlicher Leidenschaft, fortzusetzen, bis... in die Zukunft kann niemand blicken. Nach menschlicher Berechnung bis zum Tode. -

Frei war er. Jetzt war er für zwei Jahre beurlaubt. Der kleine Hilfsassistent, der jetzt seine Stelle als Custos verwaltete, würde sich nicht schlecht freuen, wenn er niemals wiederkam. Er hatte ein hübsches Vermögen, jährlich 2000 zu verzehren, damit kam er ganz gut aus.

Aber er wagte nicht, mit Leonore darüber zu sprechen, auch nicht mit dem Bruder. Nichts ist vollkommen, auch dieses sein Glück war es nicht. Immer mischte sich eine geheime Angst dazwischen.

Wann wird dieses Glück zusammenbrechen?

Warum wurde sie damals an jenem ersten Abend, als sie ihr Bruder zum ersten Male Leonore nannte, als ich sie fragte, ob sie Leonore hieß, so furchtbar verwirrt?

Und warum machte der Name Leonore auf mich einen so furchtbaren Eindruck.

Ich weiß es.

Leonore?

Und ich!

4. Kapitel.

Sie hatten zusammen Weihnachten bei einem Christbäumchen verlebt, heute Nacht wollten sie den Eintritt des neuen Jahres feiern.

Vorher wanderten die beiden Menschenkinder, die sich so seltsam zusammengefunden, wieder durch die einsamen Straßen, durch die ausgestorbene City.

Wenn sie bei diesen nächtlichen Spaziergängen sprachen, so unterhielten sie sich fast nur über Literatur. Leonore hatte alles gelesen, was ein gebildeter Mensch, der wirklich gebildet sein will, gelesen haben muß.

Machmal aber verließen sie die Wohnung und kamen nach zwei Stunden wieder zurück, ohne unterwegs auch nur ein einziges Wort gesprochen zu haben. Arm in Arm gingen sie, jeder für sich, ganz in Gedanken versunken, ihre gegenseitige Nähe genügte ihnen, um glücklich zu sein.

So auch heute abend wieder.

»Herr Doktor, ich möchte wieder nach Hause«, sagte plötzlich Leonore, das bisherige Schweigen brechend. Dabei waren sie erst eine halbe Stunde unterwegs, hatten um ihr Haus nur einen großen Bogen beschrieben.

»Warum denn?« fragte Tannert bestürzt.

»Es ist... mir etwas eingefallen.«

Von einer Verstimmung ihrerseits hatte er aber bisher nichts bemerkt.

»Sie heißen mit Vornamen Traugott, nicht war?« begann sie nach einer kleinen Pause wieder.

»Ja.«

»Ein sehr schöner Name.«

»Finden Sie? Ich nicht.«

»Aber warum denn nicht?« fragte sie erstaunt.

»Weil... ich kann es selbst nicht recht erklären. Mein eigener Vorname gefällt mir nicht. Gesetzt nun den Fall — der bei mir nicht vorliegt — ich leugne das Dasein eines Gottes?«

»Das hätte immer noch nichts zu sagen. Vertraue auf Gott — das ist ein Rat, eine Ermahnung. Etwas anderes ist ein Name wie Felix, der Glückliche. Das ist eine Herausforderung des Schicksals, ist geradezu ein Frevel. Oder Richard, der Reiche, und dabei ist der Betreffende wirklich arm dadurch, weil er unzufrieden ist. Aber Traugott — das finde ich sogar herrlich. Traugott Tannert...«

Mit einem Male blieb sie stehen.

»Herr Doktor! Weshalb wurden Sie an jenem ersten Abend so bestürzt, als Sie meinen Namen Leonore vernahmen?«

Endlich sollte die Erklärung kommen! Sie hatte sich dazu die dunkelste Stelle der Straße ausgesucht. Und das war gut, denn der junge Gelehrte wurde von neuem grenzenlos verwirrt.

»Weil — weil — weil Sie plötzlich so verlegen wurden.«

»Ich wurde es erst durch Sie. Weshalb?«

Es kam keine Antwort.

»Soll ich Ihnen zu Hilfe kommen?« erklang es dann leise wieder von des Mädchens Lippen. »Ja, ich glaube, wir haben damals in demselben Augenblicke das Gleiche gedacht.«

»Sprechen Sie!« wurde zurück geflüstert.

»Ich hatte im Parlor auf dem Tische Ihre Visitenkarte liegen sehen — Dr. T. Tannert -- die beiden T fielen mir auf, weil... ich gerade Goethes »Tasso« las. Torquato Tasso.«

Wieder eine Pause. Dann endlich konnte Dr. Tannert eine Antwort geben.

»Seltsamer Zufall!« sagte er so ruhig als möglich. »Ich wurde als Student von meinen Kommilitonen immer Torquato Tasso genannt, aus Scherz, es war mein Spitzname, nur wegen der beiden T in meinem Namen.«

»Ja, ein seltsamer Zufall.«

Sie setzten ihren Weg fort, unterhielten sich nicht weiter über den unglücklichen Tasso, dessen kurzes Dichterleben zwei Leonoren auffüllten — Leonore Sanvitale, Gräfin von Scandiano, die dem vergötterten Dichter des »Rinaldo« und des »Befreiten Jerusalem« rückhaltslos ihre Gunst schenkte — und Leonore von Este, die Schwester des Herzogs von Ferrara, die er liebte, die auch ihn liebte, die ihm aber die Kluft zeigte, die zwischen ihnen bestände, und die ihn, um ihn von seiner Leidenschaft zu heilen, mit erkünstelter Grausamkeit zurückstieß — worüber er den Verstand verlor.

»Sie kommen doch gleich zu uns herüber, nicht wahr?«

Das hatte diese Leonore hier erst auf dem Korridore gesagt, ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit. Es war doch ganz selbstverständlich, er kam doch seit zwei Wochen jeden Abend sofort hinüber.

Heute abend aber sollte nichts daraus werden. Tannert wollte sich eben, um erst auf andere Gedanken zu kommen, für eine halbe Stunde in eine schwere Lektüre vertiefen, als es klopfte, Harris trat ein.

»Ich bitte um Entschuldigung, Herr Doktor, ich habe unerwarteten Besuch bekommen, von einem Bekannten. Er wird ja nicht lange dableiben, dann hole ich Sie oder meine Schwester wird es tun. Darf ich? Nicht wahr, Sie verübeln es uns nicht. Wir haben etwas wegen eines Erbschaftsprozesses zu verhandeln, den wir führen.«

Nichts war dem Doktor jetzt angenehmer als das. Er brauchte noch mehr Zeit zur Sammlung, um drüben wieder mit heiterem Gesicht erscheinen zu können.

Es gelang ihm bald, seine Gedanken so auf die Lektüre zu konzentrieren, daß er an nichts anderes mehr dachte.

Da mußte ihn natürlich wieder seine Pensionsmutter stören.

»Hatten Sie geklingelt, Herr Doktor?«

»Nein.«

»Wünschen Sie nichts zum Abendessen?«

Zu seinem Erstaunen sah Tannert, daß es unterdessen schon neun Uhr geworden war, zwei Stunden waren unterdessen schon vergangen.

»Was denken Sie, wer da drüben ist«, kam die gute Frau erst jetzt mit dem Hauptgrund ihrer Anfrage heraus. »Was meinen Sie?«

»Wie soll ich denn das wissen!« wurde Tannert ungeduldig, aber doch auch aufmerksam, weil die Frau gar so entgeisterte Augen machte.

»Der englische Premierminister.«

»Ach wo!«

»Sie glauben es nicht? Na ich werde ihn doch kennen!«

»Er wird als Staatssekretär wohl nicht oft in Ihrer Küche gewesen sein!«

»Nicht? Und wie oft! Der kümmerte sich um alles. Wenn ich die Poularden mit....«

Eine Klingel schrillte, Mrs. Haller eilte mit der Versicherung hinaus, gleich wiederzukommen. Aber sie kam nicht wieder.

Drüben der englische Premierminister?

Jetzt am Silvesterabend drei Stunden vor Mitternacht? Der hatte heute ganz andere Verpflichtungen!

Und was hatten diese so einfachen...

Er griff schnell wieder zum Buche, und sein Geist war schon so trainiert, geschult, daß er gleich darauf an nichts weiter dachte als an das, was er las.

So vertieft war er, daß er nicht hörte, wie über den Korridor Männerschritte gingen, die von drüben herausgekommen waren, ja das er nicht einmal merkte, wie seine Tür aufging, wie jemand hereinschlüpfte.

Er fühlte erst, wie sich plötzlich ein Arm um seinen Nacken schlang, wie heiße Lippen auf die seinen glühende Küsse drückten.

»Leonore!« konnte er nur stammeln.

Da war sie auch schon wieder hinausgehuscht.

Und er warf sich aufs Sofa, vergrub das glühende Gesicht in den Polstern. Es sauste ihm in den Ohren, wie Donnerhall läuteten plötzlich die Kirchenglocken, die sonst so weit entfernt klangen.

»Das neue Jahr! Das neue Jahr! Leonore!«

Er dachte nicht daran, jetzt hinüberzugehen.

Das Dienstmädchen kam ohne Anklopfen herein. Sie glaubte doch den Herrn Doktor drüben im Bett liegend, es war ja schon acht Uhr.

»Herr Doktor, die Post!«

Er mußte es wohl glauben. Viele Briefe und Karten, es war ja Neujahrstag, außerdem noch eine Zeitung, die er sich aus der Heimat schicken ließ.

Erst öffnete er das Kuvert, welches das Signum seines Museums, seiner vorgesetzten Behörde trug, das war dienstlich. Aber das Schreiben war von einem Bekannten in vertraulichem Tone gehalten.

Kommerzienrat Kluge war plötzlich verschieden, die Expedition nach Petra wurde verschoben, oder — gleich offen gestanden — ganz aufgegeben. Die ganze Sache hatte sich bereits zerschlagen. Was fängst du nun mit deinem zweijährigen Urlaub ab? Kommst du zurück? Dein Stellvertreter ist natürlich unglücklich. Der müßte wieder zurück in seine Rumpelkammer. Du aber wirst in zwei Jahren so wie so das ägyptische Museum übernehmen.

Ja, es war eine wichtige Frage, überlegend blickte Tannert vor sich hin, zufällig auf die Zeitung, die von einem schmalen Poststreifen zusammengehalten wurde.

Da ward seine Aufmerksamkeit durch eine Notiz gefesselt, wohl unter den »Letzten Nachrichten« stehend. Sie war noch ganz zu lesen.

»Das rätselhafte Verschwinden der Prinzessin Eleonor von Bourbon von ihrem Landgut bei Avignon, wovon wir vor vier Wochen berichteten, scheint jetzt seine Erklärung zu finden. Sie scheint von ihrem eigenen Bruder, dem Herzog von Asturien, entführt worden zu fein. Beide sind erst in Paris und dann in London gesehen worden. Es verlautet, daß hinter dem Ganzen englische Diplomatie stecke. Prinzessin Eleonor, die vor allen Bourbonen auf einen französischen Königsthron die meisten Ansprüche erheben könnte, sollte auf englischen Wunsch, heißt es, mit dem Herzog von Braganza vermählt werden, der wiederum an Stelle des entthronten Königs Manuel eingesetzt werden könnte. Sie soll sich dem auf ihr ausgeübten Druck mit Hilfe ihres Bruders entzogen haben. Eine Flucht nach England wäre freilich eine Flucht in die Höhle des Löwen. Wir werden später mehr berichten.«

Dr. Tannert starrte auf das Blatt. Die Buchstaben tanzten vor seinen Augen.

Es klopfte, in demselben Augenblicke kam auch schon Mrs. Haller herein.

»Herr Doktor, Herr Doktor, denken Sie sich? Ich will die französischen Zeitungen hineinbringen — da kommt mir im Wohnzimmer alles gleich so merkwürdig vor, auf dem Tisch liegen zwei Briefe, einer an mich — ich lese ihn... die beiden sind fort! Die sind heute Nacht ausgerückt! Das heißt, schuldig sind sie mir nichts, sie bezahlten ja immer im Voraus, und alles, was sie zurückgelassen hätten, soll ich behalten, auch den echtsilbernen Teekessel — und die vier Koffer mit allem, was drin ist — und hier ist auch ein Brief für Sie, der lag auch auf dem Tisch.....«

Tannert nahm ihn mit zitternder Hand.

»Bitte lassen Sie mich allein! Verlassen Sie mich!« stieß er nach einem ersten Bitten rauh hervor.

In der Ecke des Briefbogens drei Lilien, und dann einige Zeilen geschrieben.

Leonore an Tasso:

Unüberbrückbar ist die Kluft, die mich, Geliebter, von dir trennt.

So heiß die Sehnsucht in mir auch brennt,

dein Bild wird stets in meinem Herzen scheinen

du reiß das meine aus dem deinen!

Das Blatt entsank seiner Hand, laut aufjammernd warf er sich auf das Sofa, das Gesicht in dieselben Polster vergrabend, die vor wenigen Stunden die ersten und die letzten Küsse gefühlt hatten.


5. Kapitel.

Zwei Tage währte der Schmerz, in halber Betäubung durchkostet, dann verwandelte er sich in einen gefaßten Entschluß in eine ruhige Heiterkeit.

Nein, er war kein Tasso, bei dem sich durch solch einen Schmerz gleich der Geist verfinsterte. Aber ein Sonderling war er doch, sonst hätte er nicht gleich wieder so heiter sein können.

Er rief Mrs. Haller, sah sie zum ersten Male wieder. Sie mochte ja viel ahnen, wenigstens den Liebesschmerz ihres Doktors und deutschen Staatsbeamten, mit dem sie renommierte, der sich zwei Tage lang eingeschlossen, hatte, ohne etwas zu sich zu nehmen: die rührselige Frau wagte ja gar nicht, ihm in die Augen zu blicken.

»Ist das Wohnzimmer mir gegenüber noch frei?«

»Das ist noch nicht vermietet. Ich würde gerne bei Ihnen bleiben, wenn ich dieses Wohnzimmer statt meinem bisherigen bekommen würde und mein altes Schlafzimmer behalten kann.«

Das war der Frau nur sehr recht. Die beiden angrenzenden Schlafzimmer welche die Geschwister inne gehabt, hatten besondere Korridortüren, so wie auch das des Doktors, und sie vermietete lieber nur Schlafräume, keine Wohnzimmer.

»Was kosten die beiden Zimmer?«

»Ein Pfund die Woche — so viel wie der Herr Doktor bisher bezahlt hatte.«

»Aber ich gehe nicht in volle Pension, das fällt jetzt weg, ich nehme nur die beiden Zimmer.«

Das hatte nichts zu sagen. Aus der Pension machte sie sich gar nichts, daran sei heutzutage kein Farthing mehr zu verdienen, was die Pensionäre heutzutage für Ansprüche stellten — Die Anwesenden natürlich ausgenommen.«

»Haben Sie die zurückgelassenen Sachen noch?«

»Alles noch. In den Koffern Waren nur Kleider und Wäsche, aber alles ungezeichnet, so daß man gar nicht erfahren kann...«

»Keine Photographie?«

»Gar keine Bilder, keine Briefe und sonstige Papiere, woraus man...«

»Der silberne Teekessel?«

»Alles, alles ist noch da.«

»Auch noch die Wachskerzen?«

»Das volle Dutzend. Sie waren noch ganz neu, brannten erst die erste Nacht. Diesmal nur bis Mitternacht, und solche dicken Dinger brennen ja ganz sparsam, halten einige Tage aus.«

»Was wollen Sie mit alledem anfangen?«

»Ja, was damit anfangen. Den silbernen Teekessel könnte ich selbst recht gut gebrauchen...«

»Wollen Sie alles verkaufen?«

»Ach beim Trödler bekommt man ja nichts dafür, und den silbernen Teekessel kann ich...«

»Wollen Sie mir alles verkaufen? Ich gebe Ihnen mehr als jeder andere bietet.«

Damit war Mrs. Haller sofort einverstanden, ließ aber lieber keinen Trödler, sondern einen amtlichen Tacator kommen, der eine ganz andere Summe nannte als die ein Trödler geboten hätte. Dr. Tannert rundete diese Summe noch nach oben ab, so war er Besitzer der ganzen Hinterlassenschaft.

Die vier Koffer mit Inhalt, dessen Besichtigung er gar nicht beigewohnt hatte, ließ er unter seinem Bett verschwinden. Deren Erwerb war nur ein Akt der Pietät gewesen, die Sachen der Geschwister sollten von keinem anderen Menschen getragen werden. Für ihn selbst kam nur das in Betracht, was in ihrem Wohnzimmer gewesen und ihnen selbst gehört hatte, der heizbare Teekessel, die vielen Nußknacker, die noch vorhandenen Wachskerzen und einiges andere.

Und das neue Leben im neuen Jahr begann. In seiner Lebensweise ähnelte es ganz den letzten beiden Wochen im alten Jahre. Am Tage schlief er, stand gegen vier Uhr auf, ging jetzt aber sofort nach dem Wohnzimmer hinüber, dessen Fenster er verfinsterte. Zwölf Wachskerzen konnte er freilich nicht immer brennen, das erlaubten ihm die 20 Schilling nicht, die er, wenn sein Gehalt erst ausblieb, wöchentlich noch zu verzehren hatte, höchstens. Nicht eine Kerze brannte er, auch nicht Gas, was schon wegen der Berechnung schwierig gewesen wäre, sondern seine eigene Petroleumlampe.

Wenn er aber einmal in seinem Lesen und Schreiben eine Pause machte, dann zündete er sogar alle zwölf Wachskerzen an, nur für ein Viertelstündchen. Dann wurden die Kerzen wieder verlöscht, bei Lampenlicht fleißig weitergearbeitet, bis wieder solch eine Ruhepause kam.

Nachdem er es nochmals vierzehn Tage so getrieben hatte, auch die nächtlichen Spaziergänge immer mehr abkürzend, stellten sich die Folgen der ganzen vier Wochen solcher Lebensweise ein. Nicht zu seinem Schaden. Sein Geist, der bisher geschlafen, erwachte durch dieses Nachtleben, pochte bei ihm an.

Seine Stellung hatte er bereits gekündigt. Nun brauchte seine Arbeitszeit nicht mehr nur die exakte Literatur über Arabien auszufüllen, zu deren Studium man ihn doch nur hierher geschickt und womit er es bisher sehr ernsthaft genommen hatte.

Jetzt sah er sich unter den zwei Millionen Büchern und Handschriften des Britischen Museums auch nach der schönen Literatur der Araber um, fand die unbekannte englische Übersetzung einer noch unbekannteren arabischen Märchensammlung à la Tausendundeinernacht, sie gefiel ihm, er begann sie ins Deutsche zu übersetzen. Es dauerte gar nicht lange, so erdichtete er einige Märchen im arabischen Stile.

Dann entdeckte er ein arabisches Manuskript von Gedichten, in Ghaselen gehalten. Bisher hatte man nur persische und indische Ghaselen gekannt, gar keine arabischen. Je länger er in der betreffenden Abteilung suchte, desto mehr fand er solche.

Persische Ghaselen sind besonders von Rückert, Platen und Bodenstädt ins Deutsche übertragen worden. Die Übersetzungen Rückerts können nicht mehr übertroffen werden, sie übertreffen sogar an Sprachgewandtheit und Reinheit das persische Original. Englische Übersetzungen gibt es gar nicht. Die englische Sprache will sich durchaus nicht für solche »kniffliche« Ghaselen, die man gelesen haben muß, eignen.

Der junge deutsche Gelehrte verglich die kläglichen englischen Versuche mit der Übersetzung Rückerts, versuchte es einmal mit der Übersetzung ins Englische. Er beherrschte diese Sprache vollkommen, auch im Geiste. Es gelang ihm, glückte immer besser.

Als er einmal einen Versuch dem ihm bekannten Bibliothekar, mit dem alleine er fast nur noch sprach, zeigte, sagte ihm dieser voller Staunen, aber dabei gleich mehr die materielle Seite im Auge habend:

»Herr Doktor, wenn Sie das können — da haben Sie ja eine Goldgrube entdeckt? Schreiben Sie nicht auf Papier, sondern auf Stein, auf möglichst schweren Steintafeln — sie werden Ihnen mit Gold aufgewogen.«

Der junge Gelehrte dachte nicht an Gold, ihm genügte ein Mittel zu haben, um seinen Liebesschmerz zu betäuben, um sich zeitweise dessen Süßigkeit um so intensiver hingeben zu können. Er übersetzte weiter, aber es dauerte wiederum gar nicht so lange, als er solche Ghaselen nach eigener Erfindung dichtete.

So war er zum Dichter geworden, ohne daß er vorher etwas von einer solchen Gabe geahnt hätte. Er war ja schon beim Schreiben der Märchen in Prosa gewesen, jetzt aber hatte er vom Genius den letzten Kuß erhalten, der zum vollendeten weiht.

Wer ist der Dichter? Wie wird man zum Dichter?

Dante Alieghieri hat einmal gesagt, daß jeder echte Dichter einen süßen Liebesschmerz haben muß, den sein ganzes Leben ausfüllt. Also keinen einfachen Liebesschmerz — den hat jeder Mensch in seinem Leben einmal durchgekostet, oder er ist kein wirklicher Mensch -sondern man muß sich diesen lebenslänglichen Kummer in ein stilles Glück zu verwandeln wissen. Im übrigen ist das nicht weiter zu definieren, das muß erlebt werden. Nun, Dante hatte solch einen süßen Liebesschmerz, der sein ganzes Leben ausfüllte — durch seine Beatrice — Dr. Tannert hatte ihn jetzt auch.

Aber zum echten Dichter gehört noch mehr. Oder es mag durch diese Voraussetzung kommen. Er mußte sein eigenes Ich dramatisch spalten können.

Wenn jemand träumt, er ist in der Schule, der Lehrer richtet an ihn eine Frage, er kann sie nicht beantworten, wie er sein Gehirn auch martert, sein Nachbar steht auf und beantwortet die Frage richtig — so ist das eine dramatische Spaltung des eigen Ichs im vollendetsten Grade. Das kann jeder Mensch im Traum. Im Traum kann jeder Mensch zum vollendetsten Dichter werden. Der echte Dichter kann dies im Wachen tun. Die Geschehnisse, die er schildert, erlebt er selbst, die handelnden und sprechenden Personen, die er schildert, sind nicht außer ihm, sondern er personifiziert sich mit ihnen. Deshalb weint und lacht er beim Schreiben, flucht und rast. In einem richtigen Wachzustand befindet er sich auch nicht, er führt während seiner Arbeit doch mehr ein Traumleben.

Nach weiteren vier Wochen zeigten sich neue Folgen dieses intensiven Traumlebens, durch die nächtliche Lebensweise verstärkt. Wenn er jetzt eine Arbeitspause machte, die Wachskerzen anbrannte, dann gab er sich nicht mehr der Erinnerung hin, sondern diese wurde zur wirklichen Gegenwart. Dann sah er dort auf dem Stuhl Leonore sitzen, und dort in seiner Sofaecke saß der Bruder, sie lasen und aßen Nüsse und Äpfel dazu, und nicht nur, daß er sie ganz deutlich sah, er plauderte auch mit ihnen, hörte ihre Antworten, die scheinbar mit seinem eigenen Gehirn gar nichts zu tun hatten.

Er las die letzte Seite vor, die er gedichtet.

»Wie finden Sie das?«

Und nie, niemals hätte sich dieser so bescheidene Mann solch ein eigenes Lob gespendet, das wäre ihm wirklich nicht im Traum eingefallen.

»Der Rhythmus der letzten Strophen gefällt mir nicht recht, da ist etwas Unreines darin«, hörte der Doktor den phlegmatischen Bruder sagen.

Er las es noch einmal — wahrhaftig, jener hatte recht. Das mußte geändert werden. Er selbst hätte es gar nicht bemerkt.

Rätselhaft! Aber so ist, kann es sein.

Dann sah Leonor nach der Uhr, stand auf.

»Es ist gleich acht. Herr Doktor wir müssen die Sitzung aufheben.«

»Ja, ich bin auch recht müde«, sagte der mit offenen Augen träumende so laut, daß man es draußen auf dem Korridore hören konnte.

»Gute Nacht oder vielmehr guten Morgen, mein lieber Doktor. Schlafen Sie recht wohl. Auf Wiedersehen heute abend.«

Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen. Ach, da fällt mir ein... haben Sie vielleicht mein Manuskript von der sterbenden Nachtigall noch? Ich kann es nicht finden.«

»Nein, das habe ich Ihnen zurückgegeben.«

»Oder Sie, Monsieur Lavoir?«

»Ich entsinne mich, daß Sie es in den Pappkasten getan haben«, entgegnete dieser.

»Ach ja, richtig, wie man so vergesslich sein kann«, lachte Tannert, und er lachte noch draußen auf dem Korridore.

Scheu beobachteten Mrs. Haller, das Dienstmädchen und auch die anderen Pensionäre den Mann, der solche laute Selbstgespräche führte, ungehörte Fragen beantwortete.

Manchmal, besonders wenn er sein kühles Schlafzimmer betrat, in das die Morgensonne schien, dessen geöffnete Fenster er erst jetzt schließen und verfinstern mußte, erwachte er doch aus seinem Traumleben, und dann erschrak er wohl über sich selbst. Doch schnell beruhigte er sich jedesmal wieder, und die erst zögernde Hand schloß und verdunkelte doch noch die Fenster.

Ja, er wußte, wohin dieses Leben möglicherweise zuletzt noch führen konnte, ins Irrenhaus. Aber das war ihm kein schrecklicher Gedanke. Wenn sich sein Geist einmal umnachtete, dann haschte er gewiß keine eingebildeten Fliegen oder Mäuse, trieb keine sinnlosen Kapriolen. Er würde ganz sicher dieses Traumleben fortsetzen, würde ganz sicher vernunftgemäß weiter arbeiten und dichten, nur das er den Traum dann als vollständige Wirklichkeit hielt, solche Perioden des Erwachens gar nicht mehr dazwischen kamen. Was konnte er denn von seinem Genius mehr verlangen?

Wenn er sich aber weiter überlegte, so kam er zur Überzeugung, daß sein erwachendes Genie nie in Wahnsinn umschlagen würde, daß auch dieses Nachtleben ganz unschädlich sei. Von körperlichem oder geistigem Unbehagen fühlte er absolut nichts. Er rauchte täglich noch ein Dutzend Pfeifen, weil Leonore das so liebte, trank einige Gläser Grog — die er aber nicht selbst, sondern die ihm Leonore bereitete, und da konnte seine Phantasie nicht irre gemacht werden — und wenn er sich morgens hinlegte, fiel er augenblicklich in einen tiefen, traumlosen Schlaf von mindestens sieben Stunden aus dem er wie neugeboren erwachte, erfüllt von einer geradezu unbezähmbaren Arbeitsfreudigkeit, die so lange anhielt, bis ihn nach sechzehn Stunden wieder die Müdigkeit überwältigte. Er war durchaus glücklich, und das ist schließlich doch die Hauptsache.

Was ist Glück? Es gibt viele Definitionen. Das beste Merkmal, woran man erkennt, daß man voll und ganz glücklich ist, ist wohl das:

Wenn man sich beim Schlafengehen darauf freut, am ändern Morgen wieder zu erwachen. Wenn man sich ärgert schlafen zu müssen, wenn man das neue Erwachen gar nicht erwarten kann. Das ist das sicherste Zeichen, daß man sich in einer glücklichen Lebensperiode befindet. Sie ist für längere Dauer nur bei intensivster Arbeit möglich, welche im Grunde genommen aber gar keine ergötzliche zu sein braucht

Nun, dann hatte jetzt der junge Gelehrte das im irdischen Leben denkbar vollkommenste Glück erreicht. Mit dem letzten Gedanken beim Einschlafen freute er sich auf das Erwachen, das ihm wieder hinüber in die trautliche Stube führte, zu seiner Arbeit, zu Leonore, zu ihrem Bruder, den er nicht minder in sein Herz geschlossen hatte.

Der Träumer war auch noch so praktisch, an die Zukunft zu denken. Er legte wöchentlich einige Schillinge zurück, die er sich freilich vom Munde absparen mußte -aber was hat den für so einen das Essen zu bedeuten? -um später ohne sein Kapital anzugreifen, wenigstens die ganze Einrichtung dieses Wohnzimmers zu kaufen, falls Mrs. Haller das Pensionat einmal aufgab. Dann dachte er jetzt doch manchmal an eine pekuniäre Verwertung seiner Übersetzungen und eigenen Erzeugnissen, die er sicher sehr gut bezahlt bekam, um vielleicht das ganze Haus, das 2000 Pfund Sterling kosten sollte, dereinst zu erwerben. So sorgte der Träumer ganz praktisch für die Zukunft und war sogar so vernünftig, sich selbst zu sagen, daß sich dieses Leben doch einmal ändern könne. Er wünschte es nicht, im Gegenteil, aber er hatte doch solch eine Möglichkeit vor Augen, dachte manchmal daran. Es würde schon einmal eine Krise kommen, nach deren Überwindung er entweder das ganze Traumleben aufgab oder für immer darin versank.


Ich fühl's, ich bin nicht für die Welt geboren,
Ich würde sonst sie nehmen, wie sie liegt,
Hätt' nie an Traumgestalten mich geschmiegt,
An die mein Herz unrettbar nun verloren....


Und diese Krisis sollte kommen.


6. Kapitel.

Einen nächtlichen Spaziergang machte er noch regelmäßig, wenn auch nur für eine halbe Stunde.

Dann wanderte er durch die einsamsten Straßen der City oder auf finsteren Parkwegen, nicht allein, sondern mit Leonore. Gesprochen hatten sie ja auch früher schon oftmals nichts, kein einziges Wort. Aber wenn er wollte, konnte er sich auch jetzt mit ihr unterhalten. Die kühle Nachtlust im Freien tat seiner Einbildungskraft keinen Abbruch. Nur in seinem Schlafzimmer erwachte er manchmal, eben weil er dort immer allein gewesen war.

Aber lieber ging er stumm und träumend vor sich hin, ihre Nahe deutlich fühlend, und das genügte ihm, und wenn ihm einmal zum Bewußtsein kam, was für ein Phantast er doch sei, so lächelte er über sich selbst, und es war nur das glücklichste Lächeln.

So wanderte er auch heute wieder durch die ausgestorbene City, in der achten Abendstunde.

Plötzlich stockte sein Fuß, er hob den Kopf, blickte sich um.

»Leonore, hier war es doch, wo Sie....«

Da merkte er, daß er ja alleine war, und das Merkwürdigste dabei war, wie er sich wunderte, daß er sich darüber wunderte — nämlich eine gar nicht vorhandene Person angesprochen zu haben.

Es war das erste Mal, daß ihn deswegen etwas wie Staunen über sich selbst ergriff. Denn gestaunt hatte er bisher darüber noch niemals. Entweder er war früher erschrocken, zuletzt hatte er nur immer über sich selbst gelächelt, um dann gleich in seine Träume zurückzusinken.

Aber er blieb stehen und blickte sich weiter aufmerksam um.

Gewiß, hier war es, wo Leonore damals überfallen wurde. Die beiden waren nicht wieder hierhergekommen, bei ihm war das jetzt ein Zufall gewesen.

»Ja, hier hat es mit mir angefangen. Wie lange ist denn das schon her?«

Keine Ahnung! Na ja, es war März. Aber aus dem Datum war er ganz gekommen. Seit länger als vierzehn Tage hatte er keinen Brief mehr bekommen und noch viel länger keinen mehr geschrieben. Und Zeitungen las er erst recht nicht. Da hätte er doch wieder einmal etwas über die Prinzeß Eleonor von Bourbon lesen können. Und das durfte natürlich nicht sein. Für ihn gab es nur eine Mademoiselle Eleonore Lavoir, die aus irgend einem Grunde spurlos verschwunden war, ihn unter glühenden Abschiedsküssen verlassen hatte, — unüberbrückbar ist die Kluft — und damit basta! Aber durch eine Zeitungsnotiz hätte sich das ganze Gebilde noch einmal verschieben können, und deshalb nahm er lieber gar keine Zeitung mehr in die Hand.

Gelegenheit dazu hätte er immer gehabt, so auch jetzt. Auf den Londoner Straßen liegen außer zahllosen Reklamezetteln auch immer genug Zeitungen herum. Besonders in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag gleicht ganz London einem Papierkorbe.

Gleich zu seinen Füßen lag das wohlerhaltene Exemplar einer Zeitung.

»Ich muß doch einmal sehen, was wir heute für ein Datum haben....«

Er hob den einzigen Bogen mit dem behandschuhten Fingerspitzen auf.

Es war eine Zeitung, die vom Volkswitz nur das »Filterpapier« genannt wird, weil sie alle Bewegungen von Fürstlichkeiten und anderen mehr oder weniger berühmten oder berüchtigten Persönlichkeiten registriert, was so eine Art von Durchsieberei ist.

Davon wußte Dr. Tannert nichts, es kam ihm nur auf das Datum an.

»Der 16.März! Ist nicht möglich! Am l6.Dezember, genau vor einem Vierteljahre ist das hier passiert. Das ist ein merkwürdiger Zufall.«

Er wollte das Blatt schon wieder fallen lassen, als seine Augen auf einer Stelle haften blieben, und immer mehr erweiterten sie sich. Deutsch übersetzt lautete die Notiz: »Ihre königlichen Hoheiten der Herzog von Asturien und seine Schwester die Prinzeß Eleonor von Bourbon haben gestern auf der Jacht des amerikanischen Krösus Allan Wesly, der sich auch als Orientforscher einen weitbekannten Namen gemacht hat, von Marseille aus eine Orientreise angetreten.«

Wohl eine Minute starrte der junge Gelehrte auf die Notiz, dann ließ er das Blatt fallen und stürmte mit Riesenschritten von dannen, denen eine Dame nur im Dauerlauf hätte folgen können. Aber Leonore brauchte keinen Trab anzuschlagen, die fühlte er nicht mehr neben sich, die schwamm jetzt auf der Jacht des Amerikaners auf dem Mittelländischen Meere.

Aber seine Gedanken hielten mit dem Sturmlauf gleichen Schritt, und deshalb wollen wir sie gar nicht zu schildern versuchen.

Dabei sei nachträglich Einiges über diesen Gelehrten erzählt.

Wie ein Gelehrter sah er eigentlich gar nicht aus. Eine hohe, breitschultrige Gestalt mit Bärenknochen. Und das bärtige Antlitz, so einen idealen Zug es auch haben mochte, besonders durch die großen, blauen Augen, war eher das eines sehr energischen Mannes als das eines phantastischen Träumers. Und man sah ihm auch sonst nicht an, was alles in ihm steckte.

»Junge«, hatte einmal ein humaner Lehrer zu ihm gesagt, es war in der Quinta gewesen, als der kleine Traugott einmal eine ganze Klasse verprügelt hatte, weil sie sich samt und sonders in einer Klatschgeschichte feig gezeigt. »Junge«, hatte also dieser Lehrer gesagt, ehe er den Übeltäter für einige Stunden in den Karzer schickte, »du solltest nicht Traugott heißen, sondern Karl — denn du bist mit deinen zehn Jahren ein ganzer Kerl vom Scheitel bis zur Sohle.«

Als Student hatte er einer schlagenden Verbindung angehört, hatte aber keine Narbe aufzuweisen. Er war nie abgeführt worden.

»Können Sie denn reiten?« hatte Leonore einmal gefragt, als er wieder von den Beduinen erzählte.

»Ach ja.«

»Na, na«, hatte Leonore auf dieses so demütige »ach ja« gelacht. »Wo haben Sie es denn gelernt?«

»Auf dem Gute meines Vaters, der war Gutsbesitzer.«

»Wollen Sie nicht erst hier noch einige Reitstunden nehmen?«

»Ach nein, das halte ich nicht für nötig, so viel kann ich schon.«

»Na, nehmen Sie sich in acht, die Beduinen sind doch geborene Reiter, bei denen fängt der Mensch überhaupt erst mit dem Reiten an.«

Damit war die Sache erledigt gewesen.

Hm, hatte der junge Gelehrte damals gedacht, ob es mit so einem Beduinen im arabischen Sattel nicht ein preußischer Husarenoffizier aufnehmen sollte.

Denn ein solcher war er, Leutnant der Reserve, hatte es aber nicht auf der Visitenkarte stehen, die er sich für England hatte anfertigen lassen, das hätte hier ja gar keinen Zweck.

So erfuhren auch die Geschwister hiervon gar nichts. Sie fragten nicht weiter über seine Vergangenheit, um nicht über die eigene Auskunft geben zu müssen. Und der Gelehrte war viel zu bescheiden, als daß er selbst ohne einen besonderen Grund hiervon berichtete. Mochten die doch glauben, daß er nur auf einen Ackergaul am Göpel reiten konnte. Wurde er dadurch etwas besser, wenn er ihnen erzählte, wie er unter anderen Kunststückchen einmal im Manöver als Ordonanz mit seinem Pferde, um eine Depesche vor dem Feind zu retten, einen Steinbruchrutsch hinabgeschusselt war? Er hatte nicht nur Philosophie studiert — heutzutage überhaupt nur Philosophiegeschichte — hatte zum Beispiel die Kapitel Schoppenhauers »was einer hat, was einer vorstellt, und was einer ist« nicht nur gelesen, um ein Examen bestehen zu können, sondern er hatte diese Weisheiten wirklich in sich aufgenommen.

Immer riesenhafter wurden die stürmischen Schritte, er begann zu sprechen, aber nicht zu Leonore, die ja auf dem Mittelländischen Meere schwamm.

»Jawohl, ich tu's. Der Deiwel, warum nicht? Das kann doch nur ein Wink des Schicksals gewesen sein. Nun fiel ihm auch die Wichtigkeit der abgesagten Reise wieder ein. Allan Wesly, ja, der ist auch einmal in Petra gewesen, hatte eine Broschüre darüber geschrieben und veröffentlicht, ein ganz elendes Machwerk. Wußte das auch selber, hat am Schlusse damit getröstet, daß er das nächste Mal ausführlichere Untersuchungen anstellen würde. Und mit dem ist Eleonore als Gast mitgereist? Der Deiwel, was der Tranhändler kann, kann ich auch. Dann kann sie auch mein Gast sein. Prinzeß von Bourbon -- ei was, ich pfeife auf die ganze Prinzesserei! So eine Kluft gibt's heutzutage gar nicht mehr. Wenn man sie sich natürlich einbildet, ist sie ja auch da. Oho, diese Kluft wollen wir doch überbrücken, vorausgesetzt, daß sie wirklich existierte. Jawohl! Machen wir?«

Er hatte einen großen Umweg beschrieben, bis er seine Gedanken geordnet, dann erreichte er sein Haus.

Mrs. Haller selbst war es, die dem Klopfenden öffnete.

»Ha, meine liebe Frau, was machen Sie denn gutes?« Die so Angeredete prallte vor ihm doch gleich wie vor einem Gespenst zurück.

»Herr Doktor, was ist denn mit Ihnen?«

»Na, was soll denn mit mir sein? Hunger habe ich. Machen Sie mir erst einmal ein Beefsteak, so einen kleinen halben Meter lang.«

So sehr die Frau auch staunte, ja sich fast fürchtete, konnte sie jetzt nicht weiterforschen, mußte sich erst eines Auftrages erledigen.

»Herr Doktor, kaum waren Sie fort, da kam ein Herr, fragte nach Ihnen, ich sagte, Sie wären spätestens in einer Stunde zurück, er wollte in einer Stunde wieder herkommen.«

»Wer ist es denn?«

»Einen Namen nannte er nicht. Sie kennen ihn schon, es ist ein alter Herr mit einem langen weißen Barte...«

»Was, der war hier?« rief Tannert, nur an einen alten Herrn denkend.

»Ja, nun sitzt er schon seit einer Viertelstunde im Parlor und....«

»Ach, er ist noch oder schon wieder hier! Im Parlor? Dort will ich ihn auch gleich sprechen. Das ist ja wieder ein merkwürdiges Zusammentreffen.«

Im Parlor, dem Sprech- oder Empfangszimmer, saß er. Ja, es war der alte Araber im schwarzen Gehrock. Er erhob sich zum Gruße, und setzte sich gleich wieder. Tannert setzte sich ihm gegenüber.

»Du bist nicht nach Syrien gegangen, mein Sohn«, begann der Alte ohne weitere Einleitung.

»Nein. Aus der ganzen Expedition ist nichts geworden.«

»Warum nicht?«

»Aus vielen Gründen. Es ist eben nichts daraus geworden. Jetzt aber gehe ich allein hin.«

»Du allein?«

»Ja.«

»Nach Petra?«

»Ja.«

»Wann?«

»Schon morgen reise ich ab — womöglich ganz früh. Es handelt sich nur um das Einpacken und das Besorgen von photographischen Platten und dergleichen.«

»Nach el Arisch?«

»Ja, ich werde denselben Weg nehmen. Den habe ich am besten ausgearbeitet.«

»Hast du Geld dazu?«

Na, unter gewissen Verhältnissen ist solch eine Frage erlaubt und im Arabischen überhaupt immer.

»Das habe ich.«

»Hast du noch die Tesbhi?«

»Habe ich auch noch.«

»Selam.«

Der Alte griff nach dem aus dem Tisch liegenden Zylinder, stand auf und ging nach der Tür.

Dr. Tannert war ganz verblüfft über dieses »Selam«. Dann aber sprang er auf und vertrat jenem gleich den Weg.

»Nein, nein mein guter Vater, diesmal kommst nicht wieder so weg.«

»Was willst du noch von mir, mein Sohn?«

»Noch etwas mehr von dir erfahren.«

»Ich habe dir nichts weiter zu sagen.«

»Sit down, sit down!« ermunterte Tannert und schob und drückte den Alten gleich wieder auf seinen Stuhl zurück.

»Was willst du von mir, mein Sohn?«

Dich noch etwas mehr fragen, mein Vater.«

»Frage.«

Wer bist du?«

»Ein Diener Allahs.«

»Wer schickt dich zu mir?«

»Allah.«

»Warum nimmst du an meiner Expedition nach Petra solches Interesse?«

»Weil Allah es will.«

Da war nichts zu machen. Foltern konnte er den Mann doch nicht. Aber er hatte auch noch andere Fragen zu stellen.

»Wirkt die Tesbhi noch heute?«

«Ja.«

»Wenn ich in el Arisch die Kugelschnur auffallend trage, wird sich ein Beduine an mich wenden?«

»Ja.«

»wohin wird er mich führen?«

»Du willst doch nach Petra.«

»Nicht? Wohin denn sonst?«

Aha, jetzt taute der Alte doch auf! Es mußte nur danach gefragt oder geantwortet werden.

»Was soll ich denn in Petra?«

»Was wolltest du denn in Petra?« echote es zurück.

»Antworte mir, dann antworte ich auch dir.«

»Geh nach Petra.«

»Warum?«

»Es ist dein Glück.«

»Was für ein Glück?«

»Das was du suchst.«

»Was für ein Glück suche ich?«

»Das deine.«

»Was weißt du von meinem Glück?«

Statt der Antwort griff der Alte mit seinen welken Fingern nach des Doktors Hand, spannte durch Straffziehen der Haut die Innenfläche, betrachtete diese aufmerksam.

Aha, dachte Tannert, jetzt wird er zum Wahrsager, jetzt versucht es der weiße Fuchs auf diese Art!

»Du bist unglücklich.«

»Nein.«

»Aber dein Glück ist nicht vollkommen.«

»Hm. Nein. Seit einer Viertelstunde nicht mehr so ganz. Da hast du recht.«

»Du liebst.«

»Nein.«

»Du lügst!« durfte der Alte auf arabisch ganz ruhig sagen, und er hatte ja auch ganz recht, wozu bei einem jungen Mann freilich nicht viel gehörte. Vor einem Vierteljahr, gerade heute vor einem Vierteljahr, hätte Dr. Tannert diese Frage freilich mit ehrlichem Gewissen verneinen können.

»Nun gut — ja, ich habe eine große Liebe.«

»Es ist eine unglückliche Liebe.«

»Nein, das ist sie nicht.«

»Ja, ich sehe: deine Liebe wird erwidert. Aber ihr werdet durch ein großes Hindernis von einander getrennt.«

Bald wäre Tannert emporgesprungen. Plötzlich war eine klare Erkenntnis über ihn gekommen. Eigentlich hätte er sie schon längst haben können.

Er beherrschte sich, wollte den Alten weiter aushorchen.

«Ja, zwischen uns steht ein großes Hindernis.«

»Hier ist ein großer Kreuzpunkt — was beschäftigt deine ganzen Gedanken?«

»Meine Liebe.«

»Wohl, aber dieser Kreuzpunkt zeigt etwas Greifbares an.«

»Na, greifbar ist... also etwas Reelles... meine Arbeit.«

»Nein. Nenne etwas Bestimmtes.«

Tannert wußte ja schon ganz genau, wohinaus der Alte wollte, so schlau war er auch.

»Die Ruinenstqdt Petra«, kam er ihm also entgegen.

»Ja, das wird dieser Kreuzungspunkt sein, etwas Steinernes mußte er bedeuten. Was willst du in Petra suchen?«

»Gerätschaften, Kleinodien.«

»Nichts von Stein?«

»Inschriften.«

»Keine Häuser?«

»Ja, das Amphitheater will ich besuchen und untersuchen.«

»Sonst nichts weiter?«

»Die Schatzkammer des Pharaos.«

»Dort drin wirst du dein Glück finden. Hier steht es geschrieben. Selam. Schnell erhob sich der Alte — ebenso schnell drückte ihn Tannert wieder nieder.

»Halt?«

»Was willst du noch immer von mir, mein Sohn?«

»Wen werde ich in der Schatzkammer des Pharaos finden?«

»Dein Glück.«

»Die Prinzessin Leonore von Bourbon?«

»Wen?«

»Verstell dich doch nicht. Du kennst die Prinzessin Eleonor, die Schwester des Herzogs von Asturien doch recht gut.«

»Nein.«

»Die beide hier gewohnt haben.«

»Weiß ich nicht.«

»Du kennst die Prinzessin Eleonore von Bourbon nicht?«

»Nein.«

»Schwöre es beim Barte des Propheten, daß du sie nicht kennst.«

Sofort nahm der Alte seinen weißen Bart in die rechte Hand.

»Ich schwöre dir beim Barte des Propheten, daß ich sie nicht kenne«, sagte er feierlich.

»Hm. Glaubst du aber auch an den Propheten Mohammed?«

»Nein.«

Tannert hätte sein Lachen dem würdigen Alten, der noch seinen Bart umklammert hielt, beinahe ins Gesicht geplatzt, so komisch hatte dieses trockene ,Nein' auf ihn gewirkt.

»Bist du denn überhaupt Mohammedaner?«

»Nein.«

»Jude?«

»Nein.«

»Was bist du denn sonst?«

»Ein Diener Allahs.«

Es war mit dem Alten nichts anzufangen. Er mochte ja auch die Wahrheit sprechen. Es gibt genug arabische Sekten, die von dem Propheten Mohammed nichts wissen wollen, die nur an Allah glauben, der doch schon vorher existiert hat, so wie die Juden an Jehova. Nur daß sie gegen die große Religionsgemeinschaft der Mohammedaner, wozu auch die Wahabiten gehören, gar nicht in Betracht kommen. Und daß dieser alte Mann sofort beim Barte des Propheten schwor, wenn es gewünscht wurde, daß er eventuell falsch schwor, das war so echt orientalisch.

Dann hatte Tannert nur noch einige sachliche Fragen wegen der Reise zu stellen.

»Der Weg über Jakka wäre kürzer.«

»Nein.«

»Aber ich kann bis Jerusalem mit der Eisenbahn fahren und habe dort begangene Karawanenwege, die mich auch durch fruchtbare Gegenden führen. Dann etwa von Kurnub aus, habe ich nur noch 15 geographische Meilen durch die Wüste bis nach Petra, 30 Kamelstunden, wie ihr rechnet. Von el Arisch aus habe ich dagegen einen Wüstenmarsch von 25 geographischen Meilen oder 50 Kamelstunden.«

»Gehe lieber von el Arisch aus, wie es für die große Expedition ausgemacht war.«

»Weshalb lieber?«

»Es ist billiger für dich.«

»Weshalb?«

»In el Arisch stehen dir Diener mit Pferden und Kamelen zur Verfügung.«

Tannert konnte nur mit dem Kopf schütteln. Das wurde ja immer großartiger.

»Wer stellt die mir zur Verfügung?«

»Allah.«

»Gut, ich werde über el Arisch gehen.«

»Tue es.«

»Soll ich in el Arisch über die Grenze gehen? Denn diese Stadt liegt noch auf ägyptischem Gebiet, die hundert Arnauten hätten sich uns erst auf türkischem Gebiet angeschlossen.«

»In el Arisch wirst du alles erfahren. Hast du einen türkischen Paß?«

Ja, den hatte Tannert, für seine eigene Person war dieser ausgestellt, er hatte ihn schon nach London mitgenommen.

»Den brauchst du nicht. Aber bewahre ihn doch lieber. Was ist das Wort, durch welches sich der Sarazen dir zu erkennen gibt?«

»London.«

»Es ist noch dasselbe.«

Tannert überlegte, ob er sonst noch etwas zu fragen habe.

»Kann ich jetzt gehen?«

»Wenn du selbst nichts mehr zu sagen hast — ich halte dich nicht mehr.«

»Salam. Friede sei mit dir und Allah schenke dir Kinder wie Sandkörner in der Wüste.«

»Dito.«

Hinter ihm schlug sich Tannert gegen die Stirn. Die klare Erkenntnis war ihm plötzlich gekommen.

Das er die Entleihung der Bücher den Geschwistern zu verdanken hatte er sofort gewußt, als er dann erfuhr, daß es Fürstenkinder waren, königliche Hoheiten. Wenn sie hier mit dem englischen Premierminister verkehrten, dann hatten sie es wohl leicht durchsetzen können, daß ihm die Bücher mit nach Hause gegeben wurden.

Aber den alten Araber hatte er bisher noch nicht in Beziehung gebracht, diese Möglichkeit hatte er als Tatsache erst jetzt erkannt.

In England halten sich doch gar viele Orientalen auf. Inder, Türken und Araber, reiche Kaufleute, Handelsagenten, die aber sicherlich meistenteils auch in Politik machen. England hat in der Türkei und in Arabien noch große Interessen, es hat Ägypten schon so gut wie in der Tasche, hat die meisten arabischen Inseln im roten Meere besetzt, hat Aden, es wird dereinst auch noch das reiche Maskat schlucken, in dem sich der indische Handel nach Europa konzentriert, die deutsche Bagdadbahn ist ihm ein Dorn im Auge.

Die Bourbonkinder hatten Interesse an dem deutschen Gelehrten, viel mehr noch als Interesse. Sie wollten der ganzen Expedition behilflich sein, der er sich anschloß. Auch in dieser Sache wendeten sie sich, die Verhältnisse wenigstens ungefähr kennend, oder doch erst mit einer Frage an den englischen Premierminister, der den französischen Thronprätendenten so zu Diensten war, daß er sie dann in der Sylvesternacht sogar in ihrer bescheidenen Wohnung aufgesucht hatte.

Ja, der Minister hatte Rat gewußt. Er kannte so einen in London lebenden Araber, der in jener Gegend großen Einfluß ausübte. Der hatte den deutschen Gelehrten in der Bibliothek aufsuchen müssen.

So war es gekommen. Tannert staunte jetzt nachträglich nur darüber, wie die Geschwister sich doch hatten verstellen können! Aber das war Nebensache. Das hatten sie natürlich tun müssen, wollten sie ihr Inkognito wahren. Und die Bedeutung der Kugelschnur hatten sie jedenfalls wirklich eben so wenig gekannt, wie der Minister. Es war vielleicht ein ehemaliger und noch jetziger Schaik, der seine Geheimnisse hatte. Oder an Geheimnisse brauchte man dabei auch gar nicht zu denken. Diese Tesbhi war sein eigener Talisman, ein Zeichen seiner Herrscherwürde, alle seine Stammesmitglieder, die diese Kugelschnur sahen, mußten ihrem Träger gehorchen. Oder das hatte der Alte auch erst brieflich nach dort berichten können. Man lebte doch nicht mehr im Mittelalter. Heute überschwemmen die Araber, die auf dem Libanon wohnen, die ganze christliche Welt mit Bettelbriefen, wollen Schnipsel von Zedernholz des heiligen Berges, Jordanwasser und andere Raritäten verkaufen. Heute nimmt jeder indische und arabische Händler in ganz Asien und Afrika einen Scheck an, macht in Wechselsachen einen ganz genauen Unterschied zwischen Forschungsreisenden, ob sie sich als deutsche oder spanische Offiziere legitimieren.

Die Geschwister hatten nach ihrer letzen Unterredung mit dem englischen Minister London verlassen müssen, jedenfalls doch fluchtähnlich. In dem Vierteljahr mochte sich Vielerlei geändert haben, vielleicht waren sie jetzt ganz frei, wurden nicht mehr in politische Intrigen hineingezogen, hielten sich aber doch lieber außerhalb Europas auf. Deshalb die Orientreise. Als Gäste eines Privatmannes, unter dem Schutze der Flagge der Vereinigten Staaten von Nordamerika.

Jetzt wollte sich Leonore wieder mit dem Geliebten vereinigen. Vielleicht für immer. Das aus der Expedition nichts geworden war, wußte sie, und ebenso, daß der Geliebte noch in seiner Wohnung das alte Leben weiterführte, vielleicht sogar die näheren Einzelheiten. Das kann man doch heute per Telephon alles in einer Viertelstunde erfahren. Entfernungen spielen dabei gar keine Rolle. Sonst spricht der Telegraph.

Eine romantische Phantasie besaß dieses Mädchen doch. Es schrieb dem Geliebten nicht direkt. Wieder wurde die Vermittlung des englischen Pemierministers und des alten Arabers angerufen. Der junge Gelehrte mußte doch noch nach Petra. In der Schatzkammer des Pharaos kam dann die große Überraschung, da sollte er den Schatz seines Lebens finden.

So glaubte der junge Gelehrte mit felsenfester Sicherheit zu kalkulieren.

Der alte Herr hatte doch etwas mehr ausgeplaudert, als er hätte tun dürfen.

Es schadet nichts. Tannerts Entschluß war ja schon vorher gefaßt gewesen und auf die stille Romantik wollte er jetzt erst recht eingehen.

Neue Lebenslust erfüllte ihn, vor ihm lag die Zukunft in den rosigsten Farben.

Während er in der Nacht seine Sachen packte, leise vor sich hinpfeifend, kam er immer mehr zu der Überzeugung, daß tatkräftiger Lebensgenuß unter Gottes schöner Sonne doch eine bessere Sache sei, als schmerzlichsüßes Dichterglück in nächtlicher Kammer, wenn sie auch mit einem Dutzend Kirchenwachskerzen erhellt wird. Oder aber....

»Variatio delectat vitam — die Abwechslung ergötzt das Leben.«

So lächelte er vergnügt vor sich hin, und damit hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen.


7. Kapitel.

Der kleine von Alexandrien kommende Dampfer lief als erste Zwischenstation Port Said an.

Er fuhr unter türkischer Flagge, die Heizer waren indische Kulis, Offiziere und Matrosen meist Deutsche. Besitzerin war eine englische Gesellschaft. Er klapperte die ganze asiatische Küste bis hinauf nach Konstantinopel ab, alle die zahllosen Häfen und auch die nahen Inseln mitnehmend, wozu er fast ein ganzes Jahr brauchte. Aber diese Gesellschaft hat mehr als sechzig solcher Dampfer gehen. Abfahrt und Ankunft ist nach genauem Fahrplan wöchentlich einmal. Ohne Konkurrenz.

Dr. Tannert war über Vlissingen, Berlin und Wien nach Triest gefahren, von hier den Bremer Lloyd benutzend, der abwechselnd von Triest und Venedig zwei Dampfer nach Alexandrien und Port Said gehen läßt, die »Danzig« und die »Stettin«. Er hatte gerade noch den nach Alexandrien fahrenden erreicht und hier auch eben noch den Küstendampfer.

Nur in Berlin hatte er sich einen halben Tag lang aufgehalten, unterwegs keine Bekanntschaft gemacht, hatte immer gelesen oder an seinen Ghaselen gearbeitet oder geschlafen.

In Port Said sechs Stunden Aufenthalt. Abends um acht ging es weiter, morgen früh um sieben war man in el Arisch.

Was in den sechs Stunden anfangen? Natürlich an Land gehen. Das »natürlich« galt aber nur für Dr. Tannert. Die anderen Passagiere, die weiterfuhren, zogen es vor, sich unter einen Ventilator zu legen. Denn jetzt war gerade die beste Mittagsglut, die Stadt um diese Zeit ja doch wie ausgestorben. Die deutschen Matrosen freilich hatten tüchtig zu arbeiten, mußten Fracht einnehmen und ihr gelehrter Landsmann wollte sich von ihnen nicht beschämen lassen.

Er nahm nichts weiter mit als seinen Spazierstock, der schon wiederholt Aufmerksamkeit erregt hatte. Der schwarze Knüppel war ganz breit, sah wie eine riesige Johannisbrotschote aus. Es war ein Stockdegen oder mehr ein Schwertstock, so breit war der darin enthaltene Stahl — das Vermächtnis eines japanischen Korpsbruders, der es ihm in weinseliger Stimmung geschenkt hatte, es dann aber auch nicht wieder zurücknahm, dazu erklärend, daß dieses Holz von dem zehntausendjährigen Schlangenbaume des heiligsten Buddhatempel stammte, daß dieser Stahl zehntausend Schwertfeger aus den Spitzen von zehntausend Hufnägeln heiliger Pferde innerhalb von zehntausend Jahren zusammengeschweißt hätten. Dann war der fidele Jap am zehntausendsten Kognak gestorben.

Seinen Knipskasten hing er nicht um, hier war schon alles photographiert, was man nur photographieren konnte.

Er ging über das Laufbrett und befand sich in einer sonnendurchglühten Kaistraße, deren Front die prachtvollen Gebäude der Suezkanalgesellschaft, der nicht minder prächtigen Hotels, der Konsulate und anderer Behörden bilden.

Aus dem schmalen Schattenstreifen einer Nebenstraße lösten sich Esel ab, die von zerlumpten Jungen durch Schläge und mehr noch durch Stiche mit einem spitzen Stock zum allgemeinen Wettrennen veranlaßt wurden, das Ziel war der einsame Fremde, der sich ohne Schutz eines Dragomans an Land gewagt hatte.

Im Nu war der Fremdling, der auch in jeder Verkleidung von diesen welterfahrenen Burschen als Deutscher erkannt worden wäre, umringt.

»Mein Esel, Herr Baron, mein Esel Baronesel -- -- mein Esel noch guter Esel, Herr Baron, mein Esel, Herr Baron, mein Baronesel -- -- Mein Esel noch mehr guter Esel, Herr Graf, nickt mit dem Kopf...«

So schrie es durcheinander, immer auf deutsch. Die beste Anpreisung seines Esels aber verstand ein kleiner Wicht.

»Mein Esel, gutester Esel, Eier Exzellenz, mein Esel Bismarkesel, Eier Exzellenz, nickt mit die Kopf, nickt mit dem Schwanz und pfeift die Wacht am Rhein.«

Das konnte nicht mehr übertroffen werden. Aber die Eierexzellenz nahm auch den pfeifenden Bismarkesel nicht, ging, eingedenk der Ratschläge und Warnungen aller Reisenden, die Ägypten nicht nur unter der Führung eines Leithammels besucht haben, stumm und stolz geradeaus, und da wagte man nicht seine Kleider zu streifen, ließ von ihm ab. Wehe aber, wer einer Gruppe Eseljungen winkt! Der hat in der nächsten Minute keinen Fetzen mehr auf dem Leibe.

Noch einen Ansturm hatte der Fremde, der hier zum ersten Male gesehen wurde, zu bestehen. Plötzlich war er von einer Unmasse von Jungen und Mädchen umringt, hätte gar nicht gesehen, woher sie gekommen waren, sie mußten aus dem Boden geschossen sein. Waren die Eseljungen nur zerlumpt gewesen, so bestand die Kleidung dieser Burschen und Mädel nur noch aus an Fäden zusammenhängenden Löchern.

Es galt eine Kupfermünze oder eine Zigarette zu erbeuten. Als der Fremde so gar keine Miene machte, ihrem Wunsch nachzukommen, versanken sie wieder spurlos in der Erde, warfen sich hinter die aufgestapelten Kisten und Säcke.

So, jetzt war er gefeit, in ganz Port Said und Umgegend; soweit die Herrschaft dieser wohlorganisierten Bettlergilde reichte, wurde er nicht mehr angebettelt, jetzt galt er für einen angesehenen, wirklich vornehmen Mann. Nur dumme Gimpel geben gern oder ungern, vornehme Menschen gar nichts. Das heißt nach Ansicht dieser Horden.

Im Schattenstreifen einer anderen Seitenstraße sah er eine Gruppe Eingeborener stehen, auch einige Europäer besichtigten da etwas, sogar eine elegante Dame, die aber auch schon nicht mehr angebettelt wurde.

An der Häuserwand hockten ein halbes Dutzend Araber, meist alt, in Lumpen gehüllt, vor den gekreuzten Füßen auf den Steinen ein kleines Kissen liegen habend, und auf dieses schlugen sie ständig durch Beugen des Oberkörpers mit der Stirn — wieder zurück, wieder vorgeschnellt, fabelhaft schnell, in der Sekunde wohl einmal, dabei jedes Mal Allah rufend.

Es sah ganz schauerlich aus, und noch schauerlicher aber waren die Folgen. Immer heiserer, röchelnder wurde das Allahbrüllen, aber immer schneller das Verbeugen, immer heftiger schlugen sie mit der Stirn gegen das harte Kissen, bis einer nach dem anderen zusammenbrach, Schaum vor dem Mund, sich noch etwas in Krämpfen wälzte und dann still dalag, mit verdrehten Augen und verzückten Zügen. Diese Ohnmacht war der Endzweck der asketischen Übung. War der Nachbar endlich soweit, dann kam der Betäubte wieder zu sich, begann sein Spiel von neuem, und so ging das von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.

Unterbrochen wurden diese Verbeugungen nur, wenn jemand ihnen eine Kupfermünze zuwarf. Nach der wurde hastig gegriffen und gleichzeitig die Gelegenheit benutzt, einmal aus einem neben ihm stehenden Tonkrug zu trinken, aber der Derwisch brauchte ihn nicht selbst zu heben, die umstehenden Araber, jung und alt und arm und reich, wetteiferten um die Ehre, den Wasserkrug an die Lippen des heiligen Mannes zu führen. Dann ging es mit frischen Kräften weiter: Allah — bums, Allah — bums, Allah — bums.

Weshalb taten sie das? Nur um der paar Kupfermünzen willen? Oder um für einige hundert Menschen einen Heiligenschein zu haben? Oder was träumten sie in dem extasischen Zustand? Hatten sie in den fünf Minuten überirdische Visionen? Die ihnen die Qual einer halben Stunde hundertfältig, jedesmal für eine erträumte Ewigkeit vergällten?

In einer moralischen Entwicklung nach oben hatten diese asketischen Übungen jedenfalls nicht zu tun. Zwei der Derwische kamen wegen einer zwischen ihnen gefallene Münze in Streit. Und in was für einen! Wenn er auch nur mit Worten ausgesuchten wurde,

»Du Hund, du Sohn einer Hündin, du Enkel einer Hündin, du Urenkel einer Hündin, du Urenkel einer Hündin, du Urenkel...«

Nanu, dachte Tannert, wann wird der mit dem Aufzählen der Ahnenreihe endlich einmal aufhören?

Das mochte dieser Chronist und Heraldiker ebenfalls denken, daß er auf diese Weise nie fertig würde, und so machte er mit dem Stammbaum des anderen einen kürzeren Schluß:

»...und du von einem Hund Erzeugter und von einer Hündin Gesäugter!«

Der andere heilige Mann blieb die Antwort schuldig, machte es aber wieder ganz anders.

»Allah lasse dir Steine wachsen im Bauch und deine Kinder sollen Gras und Disteln fressen!«

»Shocking!« sagte die Dame und ging.

»Brüte«, setzte ihr Begleiter Hinzu. »Das wollen nun Menschen sein?« '

Es waren wohl Amerikaner. Aus seiner Tasche sah eine amerikanische Zeitung hervor. Ach, und es gibt amerikanische Zeitungen, in denen auf den politischen oder kaufmännischen Gegner noch ganz anders geschimpft wird«

Tannert trat zurück und blickte sich um.

Wahrhaftig, er hatte nicht nur geträumt, europäische Prachtbauten waren es, die ihn umgaben!

Und hier — hier!!

Nicht angeekelt, sondern erschüttert ging er weiter.

In dem europäischen Stadtteil, erst seit einigen Jahren bestehend, ist nicht viel zu sehen, besonders nicht zu dieser Mittagszeit, da alles Siesta hält. Alle Läden waren geschlossen. Dort hatte einer einmal auf. Ausgestopfte Krokodile, von denen man eins selbstgeschossen mit nach Hause bringt. Waffen von Eingeborenen, Kriegskeulen, an denen noch Blut und Haare des erschlagenen Feindes klebten, vieltausendjährige Mumien -- alles ganz frisch aus der englischen Fabrik.

Tatsache! Das wußte dieser Archäologe und Ethnologe sehr gut. Die Kriegskeule, die der Forschungsreisende von einem nackten Südsee-Insulaner erwirbt, stammt höchstwahrscheinlich aus jener englischen Fabrik, in Hammersmith bei London, dort werden auch gleich die Haare dran geklebt, von dort gehen solche archäologischen und ethnologischen Sachen, Waffen, Schmuckgegenstände, Totenschädel, Skalpe, ganze Mumien schiffsladungsweise hinaus, für die Eingeborenen der fernsten Erdteile. Ja, wo sollen die armen Menschen das auch alles herbekommen, was von ihnen verlangt wird! Und mit ihrer Handarbeit können sie nicht gegen die englische Fabriksware konkurrieren. Es ist viel Erfahrung dazu nötig, um da echt von unecht unterscheiden zu können. Auch in Hamburg existiert eine Raritätenfabrik. Einem sehr bekannten , und sehr gewissenhaften Brasilienforscher ist es passiert, daß er von Botokuden, die noch gar keinen Weißen gesehen hatten, eine Hängematte eintauschte, selbstverständlich ganz echt, aus einheimischen Lianen geflochten, ganz alt — und wie er sie zu Hause auspackte, klebte noch die Hamburger Fabrikmarke daran.

Tannert hatte Durst, betrat ein glänzendes Café, oder setzte sich vielmehr auf dem Trottoir unter ein Zeltdach an einen Marmortisch.

»Was wünschen der Herr?« redete der Kellner gleich auf Deutsch an.

»Haben sie Bier?«

»Müncher, Kulmbacher, Pilsner — das Tücher läuft nicht.«

Tannert dachte an die Derwische dort draußen, die mit ihrem Kopfe das Pflaster zerschlagen wollten. Ach, die Erde wird doch immer kleiner! Wenn die Kreuzritter hier Pilsener bekommen hätten! Und was sind die paar hundert Jahre, die dazwischen liegen?

Nicht weit von ihm saßen zwei Herren, der eine schwarz mit Zylinder, der andere weiß mit einem Panama. Sie sprachen französisch zusammen.

»Ich muß die Ziegenfelle am Donnerstag haben«, sagte der Panamahut.

»Das ist nicht möglich«, entgegnete der Zylinder, »Krieg und Eingriff höherer Mächte entschuldigen das Verzögern der Lieferung, können den ganzen Kontrakt aufheben.«

»Was Krieg, was höhere Mächte?«

» Ich habe es Ihnen ja schon gesagt: Die Karawanen müssen den Umweg über el Kahsa machen. Das bedeutet zwei Tage mehr. Zwischen Dusileh und Naga sind alle Brunnen versiegt. Das ist die höhere Macht.«

»Zum Teufel, warum bringen die Kerle die Felle nicht nach Akka, von dort per Schiff?«

»Sie tun es nicht. Einmal boykottieren sie die europäischen Dampfer und dann überhaupt alte Tradition. Nein, geehrter Herr, vor Sonnabend können Sie die Felle nicht haben.«

Das Gespräch drehte sich nur noch um Ziegenfelle.

Zwischen Dusileh und Naga alle Brunnen versiegt? Ja, das waren zwei große türkische Forts, zwischen denen auch Petra lag.!

Tannert hatte jenen alten Araber zu fragen vergessen, ob denn seine Prophezeiung eingetroffen sei. Hier vernahm er es. Weiter wollte er bei diesem Herrn keine Erkundigungen einziehen. Mit so etwas war der junge Gelehrte nicht so rasch bei der Hand. So hatte er sich auch noch nicht weiter über die Orientreise des Herzogs von Asturien und der Prinzessin Eleonor von Bourbon erkundigt, hatte auch noch gar keine Gelegenheit dazu gehabt.

Das würde alles schon von allein kommen, wenn eben die Zeit dazu war. Ebenso, was nützte es ihm denn, ob er wußte oder nicht, ob dort die Brunnen ausgetrocknet waren. Er fand so oder so einen Führer oder er fand keinen. Fand er keinen Führer, dann fand er sich auch nicht nach den gefüllten Brunnen.

Er wanderte weiter, der arabischen Altstadt zu, deren Lage er auf einem mitgenommenen Kärtchen er erkannte. Auch das Aussehen der Häuser bezeichnete ihm schon den Weg, wenn er einmal die Richtung kannte, und er sah den Nationalcharakter an sich vorbeimarschieren, jetzt waren es noch englische und französische Paläste, dann — Deutschland kommt in Port Said nicht in Betracht — kamen italienische Wohn- und Geschäftshäuser, die immer einfacher wurden, bis sie in griechische Spelunken übergingen, denen sich die arabischen Lehmhütten anschlossen. Gleich im Anfang ein arabisches Café, ganz echt, aber doch schon auf neugierige Franken reflektierend. Tannert drang weiter ein in dieses Viertel, vor dessen Besuch alle Erfahrenen warnten. Aber jetzt am hellen Mittag — und überhaupt, der neugebackene Forschungsreisende wollte noch in ganz andere Gegenden eindringen.

Die Handwerker rüsteten sich wieder zur Arbeit, meist Sacknäherei, hockten dabei vor der Hüttentür oder in solideren Häusern mit den scheibenlosen Fenstern. Untätiges Volk noch genug. Kinder wollten den Fremden erst anbetteln, blieben aber wie auf ein geheimes Kommando zurück. Wehe aber, hätte er schon den Bettelkindern am Hafen etwas gegeben! Er wäre hier totgemacht worden.

Eine Garküche interessierte ihn. Vor einem Hüttenfenster noch auf der Straße brannte auf einer Art Feldschmiede ein Holzkohlenfeuer, auf dem eine Menge Töpfe standen. Der arabische Koch, nicht sehr reinlich, aber durch seine Dicke die beste Reklame für sich machend, verteilte soeben in den verschiedensten Töpfen Gewürze, immer kostend, und es roch gar lieblich.

»Koste, Effendi«, schmunzelte da der Koch, mit dem langen Messer ein Würfelchen rot aussehendes Fleisch anspießend und es dem Fremden dicht vor dem Mund haltend.

Na, der junge Gelehrte pustete etwas und schnappte zu. Hammelfleisch in Tomaten — ganz delikat schmeckend.

»Für wen kochst du so viel?«

»Für die Arbeiter, die den französischen Dampfer mit Kohlen befrachten. An einer halben Stunde kommen sie, müssen aber gleich wieder fort.«

»Wieviel Mann sind das?«

»Zweiundfünfzig.«

»Und für alle die soll das in diesem Töpfchen reichen?«

Jawohl, das langte. Die Hauptsache ist ja nur die Sauce, um das viele Brot hineinzutauchen. Dafür gab es zehnerlei Gerichte, alle ganz verschieden.

Tannert gab dem Mann für den Bissen einen halben Piaster, 10 Pfennige, was aber in Unterägypten allgemein ein ganzer Piaster genannt wird, wofür er eine ganze Portion hätte bekommen können, der Koch freute sich königlich, wünschte dem Fremden noch viel mehr Kinder als Sandkörner in der Wüste.

Dann kam er an einem Lehmhause vorüber, in dessen Hof er mehrere alte Weiber in schwarzen Gewändern kauern sah, die Brust entblößt, die sie mit ihren langen Fingernägel blutig kratzten, dazu jammernd, schreckliche Töne ausstoßend, manchmal mit den Fäusten gegen die Brust trommelnd, sich Sand und Asche über die aufgelösten Harre schüttend. Klageweiber, die gegen Bezahlung einen Toten im Hause bejammerten.

Plötzlich ein frischer, fröhlicher Gesang von Männer- und Kinderstimmen. Der Tote wurde aus dem Haus getragen, in einer Holzkiste auf den Schultern von vier Männern.

»Allah il Allah, Mohammed rassuhl Allah!«

Immer dasselbe, immer ein und dieselbe Melodie, die recht heiter klingt. So wurde der Sarg nach dem Kirchhof getragen, unterwegs schlossen sich alle Männer und Kinder, die nichts weiter zu tun hatten, an, alles sang fröhlich mit.

Wer nicht mitging, verbeugte sich vor dem vorüberkommenden Sarge und murmelte etwas, und der junge Deutsche hielt es nicht nur für gut, sondern überhaupt für anständig, den Hut zu ziehen. Gleich darauf merkte er, wie er jetzt überall höflich gegrüßt wurde, was vorher nicht der Fall gewesen war.

Dann trat er in ein Cafehaus, das allerdings gerade hier in der Mitte des arabischen Stadtteils, in dem sich noch die ganze Urwüchsichkeit erhalten haben sollte, nicht mit Teppichen und Polstern, sondern mit Tischen und Bänken ausgestattet war, und an den Lehmwänden klebten zahlreiche Bilder aus Illustrierten Zeitungen, französischen, englischen und deutschen, von den letzteren war besonders der »Kladderadatsch» vertreten.

Aber ganz richtig so? Eben hierdurch war dieses arabische Dorfcafé ganz echt. Das vorn am Dorfe, für die neugierigen Fremden berechnet, mit Teppichen und Polstern und Wasserpfeifen in den Nischen, das war für ein Dorf unecht. Es müssen Bänke und Tische darin stehen, auf die sich der Araber kauert — auch auf den Tisch — und die Bilder der europäischen Zeitungen spielten hier ganz genau die selbe Rolle wie bei uns in einer Stadtkneipe, die an der Wand befestigten Geweihe, diese Tiere sind doch auch nicht in den Straßen erlegt worden, oft sind es sogar exotische Geweihe.

Hier sah er auch, wie im Orient der Kaffee zubereitet wird. In einer Ecke brannte auf einem erhöhten Lehmherd ein Holzkohlenfeuerchen. Der arabische Wirt zählt einige rohe Kaffeebohnen in eine Art Kugelzange, vorn also mit einem Hohlraum versehen, der geschlossen wird, quillt ihn schnell über der Glut herum, bis aus den Fugen der aromatische Qualm hervorquoll, unterdessen kochte schon das Wasser in einem winzigen Kupferkesselchen, nun noch die glühendheißen Bohnen schnell in einen Mörser zum feinsten Pulver zerstampft, dieses in das kochende Wasser geschüttet, das Kochen hört für einige Sekunden auf, stieg wieder mit dem Staub, und als dieser etwas über den Rand quoll, war das Gebräu fertig, wurde dem Gaste in einem Kesselchen mit einem noch winzigeren Täßchen, genau unseren Eierbechern gleichend, vorgesetzt, und noch nie hatte Tannert einen köstlicheren Kaffe geschlürft. Nur die letzte Delikatesse verschmähte er, den mit dem kleinen Finger elegant aufgerührten Satz.

So wird in den orientalischen Cafés, ob arm oder luxuriös, jede Tasse einzeln von Grund aus frisch gebraut, die abgezählten Bohnen extra geröstet. Etwas anderes ist es ja, wenn gleich viele Gäste bestellen.

Tannert war der einzige Gast. Da sich gleich Neugierige vor der Tür ansammelten, setzte er sich in eine Ecke, wo er nicht gesehen wurde. Er war recht müde. Ein Einschlafen gab es natürlich nicht.

Bis er wieder aufwachte. Da merkte er, daß er eingeschlafen war, ohne es bemerkt zu haben. Und er bemerkte noch anderes. Erstens, daß es im Raume ganz finster war. Zweitens, daß ihn in der Hinteren Hosentasche der Revolver nicht mehr drückte. Drittens, daß ihn auch in der linken Hosentasche das Portemonnaie nicht mehr drückte. Und in summa merkte er, daß er total ausgeplündert war und einen infamen Kopfschmerz hatte.

»Man hat mich mit einem Opiat betäubt und beraubt? Daß mir so etwas noch passieren kann!«

Noch? Er hatte seine so genaue Bekanntschaft mit den Arabern erst durch Bücher gemacht. Und Theorie und Praxis ist doch zweierlei. Und er brauchte sich gar keine großen Vorwürfe wegen Dummheit zu machen, so etwas ist im arabischen Viertel, von Port Said noch ganz anderen Leuten passiert, sogar einem Wißmann. Dem haben sie hier sogar das Hemd vom Leibe gezogen, nachdem er schon ganz oder doch halb Afrika durchwandert hatte. Das hatte der edle Wirt dem jungen Gelehrten wenigstens noch gelassen, auch seine anderen Kleidungsstücke. Nur das, was ihm nicht ausgezogen zu werden brauchte, hatte man ihm genommen, aber auch ganz radikal.

Im Portemonnaie hatte er gegen 15 Pfund, in der Brieftasche 200 Pfund gehabt. Das macht zusammen etwas mehr als 4300 Mark. Für diese Summe gab der Wirt hier seine Lehmbude samt der ganzen Innendekoration auf, etablierte sich irgendwo anders. Hätte der Effendi, der so unvorsichtig war, allein seinen Kaffeeschank zu betreten, nicht genügend Geld bei sich gehabt, daß sich eine Flucht lohnte — nun, so hätte der Fremde hier eben ein Schläfchen gehalten. Von Beimischung eines Opiats war nichts zu beweisen. Kessel und Tasse waren natürlich schon fortgeräumt.

Dies alles zuckte durch Tannerts schmerzendes Gehirn. Nämlich die Erkenntnis, daß hier gar nichts mehr zu machen war. Das ganze Dorf steckte doch mit diesem Spitzbuben unter einer Decke, das heißt, sie alle waren Spitzbuben, die sich gegenseitig kein Auge aushackten.

Vorläufig saß Tannert noch im Finstern, fühlte nur Tisch und Bank und eine Lehmwand. Er hatte in der Seitentasche eine elektrische Lat... ach, kein Gedanke mehr daran. Auch die Tesbhi, die er zwischen Weste und Hemd um den Hals getragen, war verschwunden, überhaupt alles, was man ihm nicht auszuziehen brauchte.

»Ei verflucht, das ist ja eine nette Geschichte! Traugott, hier hilft nur Humor.«

Wohl ihm, daß er noch so denken konnte. Es war das vernünftigste in seiner Lage.

Er tastete sich hinter dem Tische hervor, an der Wand weiter, fühlte eine Tür, rüttelte daran — da ging die Türe aus der Lehmwand heraus, er befand sich im Freien.

Es war schon Nacht, aber die Dorfstraße erst recht belebt, alles kauerte vor den Hütten am Feuerchen, auch viele Lampen brannten, man ging hin und her. Allgemeines Erstaunen beim Anblick des Fremden, der mit der Tür und der halben Lehmwand das Café verlassen hatte.

Inschalla, der Essendi war noch in dem Cafalla!«

»Eine Lampe her!« kommandierte Tannert.

Alles eilte dienstbeflissen herbei, mit einem Dutzend Lampen.

Tannert war so optimistisch, noch zu hoffen, daß ihm alles nur aus den Taschen gefallen sein könnte, alles unter dem Tische lag — im nächsten Augenblick hoffte er nur noch auf seinen zehntausendjährigen Spazierstock.... Aber nein, unter dem Tisch lag nicht einmal ein abgenagter Knochen.

»Was fehlt dir denn Effendi? Es ist dir doch nichts gestohlen worden, Effendi?«

»Kanaillen«, dachte Tannert, »wenn ihr einmal tot seid, vor euch nehme ich nicht wieder den Hut ab.«

Plötzlich durchzuckte ihn ein furchtbarer Schreck, der mit keinem Humor zu dämpfen war.

»Welche Zeit ist es. Hat jemand eine Uhr bei sich?«

Ja, sogar drei Mann. Bei dem einen war es Punkt neun, bei dem anderen drei Minuten vor, bei dem dritten zwei Minuten nach Neun.

Diese Zeitdifferenz war Nebensache — die Hauptsache war für Tannert, daß sein Dampfboot schon um acht Uhr abgehen sollte.

Er stürzte davon, dem Hafen zu.

Er hätte gar nicht so zu rennen brauchen — der Dampfer war schon vor einer Stunde abgegangen, Punkt acht. Und sein Gepäck war natürlich mitgenommen worden.

Tannert stand am Kai und blickte in das dunkle Wasser.

»Das ist bitter. Sollte meine asiatische Forschungsreise schon hier in Afrika sein Ende nehmen? Nein, nur immer den Kopf hoch! Ich habe einfach Schiffbruch erlitten, kann Gott danken, daß ich mit dem gesunden Leben davongekommen bin. Schließlich ist es doch ganz dasselbe, ob man in Port Said oder im Innern Afrikas ausgeplündert wird, hier wie dort steht man ganz mittellos und muß sich zu helfen wissen. Halt — nein — es ist doch nicht dasselbe. Nur immer ehrlich, wenn's auch schwerfällt. Wo man mir im Innern Afrikas die Knochen zerschlägt, so werde ich dann, wenn ich es erzähle, als Held bewundert — wenn ich aber erzähle, wie ich hier mit schwerem Kopfe ausgeplündert erwachte, so werde ich ausgelacht. Ja, das ist der gewaltige Unterschied und das ist eben das Bittere dabei. Aber das Letzte bleibt doch bestehen, man muß sich weiterzuhelfen wissen.«

Ja, aber wie? Das deutsche Konsulat war geschlossen. Erst mußte er doch auf die Polizei gehen und dann die Unterstützung von Landsleuten aufsuchen. Da half alles nichts.

Es war zu fatal! Noch stand er so, an seiner Unterlippe kauend, an dieser einsamen Stelle da, als sich ihm ein Araber näherte, im kurzem blauen Hemd, an ihm vorüberging, etwas fallen ließ und dann lief, was er nur laufen konnte.

Zu seinem maßlosen Erstaunen sah Tannert da im Mondschein seinen schotenförmigen Degenstock liegen! Und daneben ein Leinenpäckchen.

»Alle Wetter, sollte die...«

Mit etwas zittrigen Händen öffnete er das Päckchen und... wahrhaftig, da war sein Revolver, sein Nickfänger, der kurze Gummiknüppel, mit welchen Waffen man sich aber nicht gegen ein Opiumtränklein schützen kann, seine Taschenuhr und ferner war da sein elektrische Taschenlampe, sein Feuerzeug, die Tesbhi und — last not least — Portemonnaie und Brieftasche mit sämtlichen Gelde und allem, was darin gewesen war. Und schließlich war zu alledem noch eine rote Nelke gelegt, die man ihm nicht abgenommen hatte.

Tannerts Erstaunen war größer als seine Freude.

»Eine rote Nelke? Das Symbol der Liebe? Sollte etwa eine arabische Maid... ach Unsinn, ebensogut könnte ich annehmen, daß es hier in Port Said so Sitte ist, den Fremden erst zu betäuben und zu berauben und ihm dann alles mit einem Blumengruß wieder zu übermitteln. Und auch ein schlechter oder guter Witz liegt nicht vor. Was ist das für ein Rätsel?«

Er war wohl schon auf einer Spur, er betrachtete so aufmerksam die Kugelschnur. Diese war auch ebenso wie seine Taschenuhr noch besonders eingepackt gewesen, obgleich die durch das Hinwerfen doch gar nicht hätte entzwei gehen können, und bei ihr hatte auch die rote Nelke gelegen.

Sagen tat er nichts, und seine Gedanken wollen wir nicht kennenlernen. Jetzt, da er alles wieder an seinem Körper verpackte, brach bei ihm auch die Freude durch.

»Aaaah — jetzt eben ist mir ein Zentner vom Herzen gerutscht — jetzt schon wieder einer — ich fühle mich um zwanzig Jahre jünger -- Gott ich danke dir von ganzem Herzen. Ich werde auch bei der ersten Gelegenheit eine Hekatombe opfern, So, rin mit dir Gummiknüppel ins Hosenbein, wo du hingehörst. Nun will ich den sehen, der dich da wieder herausholt. Ich trinke keinen arabischen Kaffe mehr. Wenigstens nicht hier in Port Said. Aaaah, ist mir wohl zu Mute!«

Ein Herr näherte sich ihm langsam, drüben von der belebten Straße kommend, im schwarzen, griechischen Gehrock, sehr eng mit rotem Fez.

»Darf ich Sie um Feuer für meine Zigarette bitten, Monsieur?«

»Ja, das können Sie bekommen«, sagte Tannert, mit Wohlbehagen sein Benzinfeuerzeug springen lassend. »Vor einer Minute hätte ich Ihnen noch keines geben können.«

»Weshalb denn nicht?« lächelte das schwarzbärtige Gesicht im Scheine des Flämmchens.

»Ich hatte mein Feuerzeug verborgt.«

»Verborgt? Sie meinen wohl verloren. Der Herr ist gewiß ein Deutscher.«

»Merken Sie das etwa meinem Französisch an? Nein, nicht verloren, sondern verborgt, verborgt. Ich hatte noch viel mehr verborgt. Ich hatte überhaupt alles verborgt. Ich bin ein guter Mensch.«

»Der Herr ist ja vorzüglicher Laune«, lächelte der andere.

»Ha, soll man das auch nicht sein, wenn man alles Verborgte gleich wiederbekommt, noch dazu mit dem Anfang zu einem Blumenbukett. Nach anderer Seite hin habe ich freilich weniger Ursache, so lustig zu sein — so nach asiatischer Seite hin. Sind Sie hier in Port Said mit den Verkehrsverhältnissen vertraut?«

»Vollkommen, ich bin hier zu Hause, bin Schiffsagent. Kann ich Ihnen mit etwas dienen?«

»Heute Mittag gegen zwei ist doch der »Cypros« von der Ottomanischen Linie aus Alexandrien hier angekommen.

»Jawohl, ich habe den Herrn sogar von Bord gehen sehen.«

»Und vorhin um acht ist er weitergedampft, ohne mich mitzunehmen.«

»O weh! Wo wollen der Herr denn hm?«

»Nach el Arisch.«

»Hatten Sie Gepäck an Bord?«

»Zwei Handkoffer und ein Gewehr im Lederfutteral.«

»Haben Sie Order gegeben, daß Ihr Gepäck in el Arisch abgeliefert werden soll?«

»Nein, wie sollte ich?«

»Das ist fatal. Dann geht Ihr Gepäck bis nach Konstantinopel mit und wird dort als herrenlos in der Ottomanischen Zeitung gemeldet. Das heißt, wenn Sie nichts dagegen tun.«

»Was ist da zu tun?«

»Sie telegraphieren einfach.«

»Nach el Arisch?«

»Jawohl.«

»Existiert denn von hier aus eine Telegraphenlinie?«

»Die ist seit einem halben Jahr eröffnet.«

»O, das ist famos! Wo ist das Telegraphenamt?«

»Gleich hier in der Nähe. Aber warten Sie — haben Sie denn schon im Lagerraum der Ottomanischen Schiffsgesellschaft nachgefragt, ob das Gepäck des Passagiers, der ein Billet nach el Arisch hatte und nicht mitgefahren ist, nicht doch vielleicht an Land gebracht wurde?«

Nein, daran hatte Tannert noch gar nicht gedacht.

»Es wäre eine große Ausnahme, denn die Engländer kümmern sich sonst nicht um so etwas, und Sie haben eigentlich ja auch ganz recht. Sie konnten ja mit Absicht hier bleiben und ihr Gepäck mit Absicht weitergehen lassen wollen, aber es wäre ja auch einmal möglich. Bitte kommen Sie mit. Das Office ist zwar geschlossen, aber drin ist immer jemand, und ich bekomme schon Auskunft, ich habe dort viel zu tun. Ich klopfe so lange, bis mir geöffnet wird.«

»Ach Herr, Sie sind ja zu liebenswürdig! Doktor Tannert ist mein Name«

»Pachageorgy.«

Während des kurzen Weges schalt Tannert alle die Orientreisenden Lügner welche die Griechen als die größten Spitzbuben schildern. Lieber mit zwölf der abgefeimtesten Araber verhandeln als mit einem Griechen! Freilich tat es Tannert schon mit Vorbehalt.

Ja man lernt im Orient die Griechen als das schmachvollste Element der Menschheit kennen. Aber... Extreme berühren sich eben, auch im Charakter der Nationen. Dann findet man wieder Griechen, und zwar viel zu häufig wie anderswo, welche die reine Nächstenliebe sind.

Neben dem Lagerschuppen war ein besonderes Häuschen, der Schiffsagent klopfte so lange gegen das Schalterfenster, bis Tannert der Überzeugung war, daß niemand drin sei.

»O ja, ein Commis muß drin sein, ich weiß auch wer, ich kenne ihn, der junge Mann hat wieder eine Phantasia gefeiert.«

Er klopfte und polterte beharrlich weiter, und richtig, da ward drinnen Licht gemacht. Ein junger Herr öffnete, das englische Gesicht ganz verschlafen, in schlechtester Laune.

Pachageorgy trug die Frage vor, Tannert unterstützte ihn durch Vorzeigen seiner Schiffskarte, auf dem auch Name und Heimat des Passagiers eingeschrieben war.

»Dr. Traugott Tannert aus Berlin? Ja, dort steht doch sein Gelumpe!«

Ach war der glücklich, als er seine beiden Koffer und das Gewehr wieder hatte!

»Wie ist denn das gekommen, daß sein Gepäck abgeliefert wurde?« erkundigte sich der Schiffsagent.

»Der Herr hat es doch selber gleich hierher beordert.«

»Ich?« fragte Tannert. »Ich habe nichts beordert.«

»Ja dann ein anderer. Ich waaaaaa....«

Die Worte verloren sich in einem Gähnen, unter dem sich der Beamte zum Weiterschlafen wieder einschloß.

»Das ist seltsam«, sagte Tannert.

»Eben eine Ausnahme, wie ich schon sagte.«

Aber Tannert dachte lebhaft an die Tesbhi. Der hatte er doch offensichtlich nur die Rückgabe der gestohlenen Sachen zu verdanken. Als einfache Beute hatte sie ihm der Dieb abgenommen, erst dann hatte er etwas besonderes an ihr erkannt, sie samt und sonders ihm wieder vor die Füße geworfen, oder hatte dies durch einen anderen besorgen lassen. Hier schien es sich um einen Geheimbund zu handeln. Wie freilich sein Gepäck von Bord....

Er schlug sich die Grübeleien vorläufig aus dem Kopf, hatte erst noch anderes zu fragen.

»Nun machen Sie das Maß Ihrer Güte voll und geben mir weitere Auskunft, wie komme ich am schnellsten nach el Arisch?«

»Schnellstens? Das ist schlimm. Der nächste Dampfer, der »Diomedes«, geht heute über acht Tage abends acht Uhr wieder ab.«

»Geht denn gar kein anderer Dampfer da hinauf, ein Frachtdampfer?«

»Nein. El Arisch ist ja ein ganz ansehnlicher Platz, aber der Handel wird nur mit Alexandrien betrieben, liegt ganz in den Händen von arabischen Kaufleuten, die sich nur arabischer Segelboote bedienen. Mit einem solchen brauchen Sie unter Umständen, und gerade bei den jetzigen Windverhältnissen, noch länger als acht Tage.«

»Hm. Ginge es denn nicht... es ist ein kühner Einfall, Sie werden ihn vielleicht komisch finden — wie wäre es denn über Land?«

»Ich komisch finden? Denselben Vorschlag hätte ich Ihnen gleich gemacht. Es gibt hier genug reiche Leute, allerdings Araber, aber zivilisierte Handelsherren, die. sich lieber acht Tage auf einem Kamel schaukeln lassen als einen Tag auf einem Schiffe. Von Kantura aus führt eine direkte Karawanenstraße nach el Arisch, eben dem Telegraphendraht entlang — oder dieser ist vielmehr von Kairo aus diese alte Karawanenstraße entlang gezogen worden.«

.Wie weit ist das von hier?«

»Nicht ganz vierzig Kamelstunden, die in drei Tagen gemacht werden.«

»Eine Kamelstunde bedeutet doch vier Kilometer.«

»Ja, es sind immer Lastkamele gemeint, die viel langsamer gehen als ein normal ausschreitender Fußgänger. Auf gutem Pfade können Sie es in anderthalb Tagen machen. Aber es muß genügend Wasser mitgenommen werden. Es ist kein einziger Brunnen dazwischen. Am besten ist ja ein Hedjin. Wissen Sie was das ist?«

»Ein Rennkamel.«

Ah, Sie sind gut bewandert!«

»Nur in der Theorie. Was kostet denn eigentlich so ein Kamel? Ein Lastkamel erst.«

»Für 500 Francs bekommen Sie schon ein gutes, starkes, genügsames Tier, das viermal zwölf Stunden acht Zentner ohne Wasser trägt.«

»Und ein Hedjin?«

»Tausend bis hunderttausend Francs.«

»Oho!«

»Na, so eins für hunderttausend Francs bekommen Sie hier nicht, so eins gibt es in ganz Afrika nicht mehr. So ein Hedjin das in drei Tagen vierhundertfünfzig bis fünfhundert Kilometer ohne Wasser rennt, das findet man nur im Herzen Arabiens. In Nedschd, bei den Wahabiten, einen ganzen Stall solcher Tiere hat nur noch der Emir von Nedschd, oder jetzt vielmehr die Emira, die Aische al Seba. So ein Hedjin ist auch so wenig verkäuflich wie eine Stute des Propheten, ob es nun eine Manekeye oder eine Djulf ist. Hier bekommen Sie ein ganz brauchbares Hedjin schon für tausend Francs, das die vierzig Stunden seiner ordinären Brüder in fünfzehn macht. Können Sie Kamelreiten?«

»Ach, das wäre das wenigste, aber tausend Francs sind mir...«

Nein, nein. Sie brauchen sich gar keines zu kaufen, keines zu mieten, sich nicht gegen Bezahlung einer Karawane anzuschließen. Ich wollte Ihnen schon den Vorschlag machen. Es ist ein glücklicher Zufall. Oder aber... ach was, mache ich es doch kurz!«

Sie standen noch in der Nähe eines Lagerschuppens, der Grieche blickte sich um und trat näher an Tannert heran.

»Herr, Sie sind schon avisiert!« sagte er leise.

«Was bin ich?« staunte jener, aber auch gleich wieder von einer Ahnung erfüllt.

»Ihr Tesbhi ist auch für Alexandrien und Port Said gemeldet worden.«

Da war es! Tannert hatte so etwas schon geahnt, hatte auch dieses Griechen Entgegenkommen schon mit der Kugelkette in Verbindung gebracht, wenigstens an so eine Möglichkeit gedacht.

»Ist Ihnen nicht gesagt worden, daß Sie beim Betreten auch des ägyptischen Bodens irgend etwas rotes im Knopfloch tragen sollen?«

»Aha! Die rote Nelke!«

»Nein.«

»Von wem haben Sie... doch halt, ich darf gar nicht fragen. Jedenfalls hat der, der Sie instruierte, die Sache nicht geschickt genug gemacht, oder er hat nicht an die Schwierigkeiten gedacht, die Sie haben könnten, weil Sie doch erst mit einer großen Expedition kommen wollten, und nun haben Sie aber allein den Weg über Alexandrien genommen. Ich bitte demütig um Verzeihung, daß Sie hier in solche Verlegenheiten kamen.«

Der elegant gekleidete Grieche hatte es nicht nur gesagt, sondern auch, mit der Hand auf dem Herzen, eine demütige Verbeugung gemacht.

Jetzt wußte der junge Gelehrte, daß er im Schutze einer jener geheimen Verbrüderungen stand, die im Orient die Politik und das ganze öffentliche Leben beherrschten. Diese Geheimbündlerei ist eben orientalisch. Selbst die Bettler bilden eine wohlorganisierte Gilde mit ihren Geheimnissen, deren Einfluß auf die Politik wahrscheinlich ganz unbedeutend ist. In Europa steht dem Orient in dieser Beziehung am nächsten Italien — die Camorra, die Mafia, die Carbonari, die Sansedi, die Calderari — von deren geheimes Treiben, nur zum geringsten Teil verbrecherisch, erst jetzt nach und nach bekannt wird, daß ihre Mitglieder oftmals die höchsten Staatsämter bekleiden. Ohne irgendwie eingeweiht zu sein, wußte Tannert jetzt bestimmt, daß er über diesen griechischen Schiffsagenten zu befehlen habe.

»Wissen Sie, daß ich hier beraubt worden bin?«

»Ja.«

»Wie kam das alles?«

»Der Kaffeewirt hat den unvorsichtigen Fremden betäubt, der sich in seine Höhle wagte. Die Tesbhi erkannte er erst nachträglich als das geheime Zeichen. Die Sachen wurden Ihnen wieder zugestellt. Gleichzeitig wurde der Vorstand des Bundes in Port Said benachrichtigt, daß sich der avisierte Fremde hier befinde. Ich wurde beauftragt, Sie weiter ins Schlepptau zu nehmen, Ihnen dienstbar zu sein.«

»Was ist das für ein Geheimbund?«

Der Grieche trat noch näher heran.

»Herr? Ich habe Ihnen unbedingt zu gehorchen. Aber es gibt für alles Grenzen. Nennen Sie uns... Tesbhiten, Rosenkreuzler, etwa den Rosenkreuzlern, den Vorgängern der Freimaurerei entsprechend. Sie können diesen Namen ruhig aussprechen, niemand kennt ihn. Für uns besteht jetzt ein viel größeres Rätsel als für Sie. Sie sind ein Tesbhite und sind doch keiner. Sie sind nicht eingeweiht, können nicht einmal das Erkennungszeichen des untersten Grades geben. Wer sind Sie? Weshalb hat man Ihnen diese ungeheure Macht über uns gegeben? Denn Sie sind nicht zufällig in den Besitz der heiligen Tesbhi gekommen, man hat sie Ihnen anvertraut, Sie sind bereits überall gemeldet.. Und doch sind Sie keiner der Unsrigen. Wie kommt das? Wir dürfen nicht fragen. Aber wir wissen, daß diese Tesbhi niemals einem Unwürdigen anvertraut wird, der sie benutzen würde, um in unsere Geheimnisse zu dringen, die ihm vorenthalten werden....«

»Genug? Ich werde niemals wieder solch eine Frage stellen.«

Der Grieche verbeugte sich abermals.

»Tragen Sie fernerhin immer irgendetwas rotes im Knopfloch oder sonstwo an der Kleidung, wo es auffällt, und wenn sich Ihnen ein Araber oder irgend ein anderer nähert, dessen Stand es erlaubt, mit Ihnen eine Unterhaltung anzuknüpfen, und er fragt während derselben, ob auch die Franken, die Christen Rosenkränze, Tesbhis haben — oder ein Bettler macht solche Anspielungen, dann zeigen Sie Ihre Gebetsschnur, und ist der Betreffende einer der Unsrigen, so wird er Ihnen zu Diensten sein.«

»Gut. Ich danke Ihnen. Wie ist es nun mit meiner Reise nach el Arisch? Das ist jetzt für mich die Hauptsache.«

»Ihr Ziel ist doch die Ruinenstadt Petra im Wadi Musa.«

»Ja.«

»Auch das wissen wir hier alle, es ist darüber viel bei unseren Zusammenkünften gesprochen worden. Und da ist jetzt wirklich eine günstige Gelegenheit vorhanden. In Port Said hält sich gerade der Scheich der Beni Busate aus, vom großen Stamm der Schämens. Scheich Mustapha hat für seinen Neffen, der sein Nachfolger sein wird — er selbst ist kinderlos — nach alter Tradition vom Stamme der Beni Suefs in der Lybischen Wüste eine Gattin gefreit. Mit dieser und seinem Gefolge aus sieben Mann bestehend, hält er jetzt, auf der Rückreise begriffen, einen Rasttag im Hause seines Gastfreundes Habbak Hammid, eines der reichsten arabischen Kaufleute von Port Said, wenn nicht Ägyptens. Auch ich kenne ihn gut. Einer der Busetas ist krank geworden, bleibt in Habbaks Haus zurück, sein Hedjin geht aber mit, leer. Das können Sie benutzen. Und Petra liegt im Gebiet der Busetas.«

»Ja, das weiß ich. Die Sache ist nur die, daß ich nun schon in el Arisch erwartet werde, mit Pferden und Kamelen, hat man mir gesagt.«

»Erwartet von wem? Wer kann Ihnen denn Pferde und Kamele stellen? Wer kann Sie denn zwei Tage durch die Wüste, in der jetzt alle Brunnen vertrocknet sind, unangefochten durch das Gebiet der Beni Busetas bringen?«

Der Grieche hatte im Mondschein ein recht biederes Gesicht — jetzt blinzelte er listig mit den Augen, und das genügte dem jungen Gelehrten.

»Ach so, die ganze Führung geht ja erst von diesem Scheich der Busetas aus.«

»Ich weiß von nichts«, wich der Grieche aus, jetzt auch kein Augenblinzeln mehr habend. »Ich weiß nur, daß der edle Scheich es Ihnen sehr verübeln würde, wenn er erfährt, daß Sie von seinem Hiersein gewußt, wie es doch nun der Fall ist, und sich nicht direkt an ihn gewandt haben, daß Sie jetzt noch auf anderen Wegen unter anderer Führung in sein Gebiet dringen wollen. Dann müssen Sie ihm jetzt wenigstens erst die Gründe hierzu darlegen.«

»Nun gut, desto besser, dann gehe ich mit dem Scheich gleich von hier aus direkt nach Petra. Mich Hält nichts ab. Es ist nur: jetzt erwartet mich der angestellte Führer in el Arisch.«

»Das lassen Sie nur die Sorge derer sein, die das alles erst arrangiert haben. Gesetzt den Fall, Scheich Mustapha hätte wirklich damit zu tun — was ich aber absolut nicht weiß — nun, so schickt er einfach einen Boten hin. Vielleicht von seinem Wüstenlager aus. Zwei mal zwölf Stunden hin und zweimal zwölf Stunden zurück — das hat für einen Beduinen ebensoviel oder ebensowenig zu bedeuten, als wenn wir eine halbe Stunde weit zum Mittagessen haben.«

»Nun gut, setzen Sie mich mit dem Scheich in Verbindung.«

»Ich werde es tun, aber erst muß ich allein hingehen, es ist ja noch immer möglich....«

»Heute Nacht noch?«

»Gewiß. Oh es ist ja noch nicht zehn. Da fängt das Leben hier erst richtig an. Ich begleite Sie in ein Café, dort warten Sie, bis...«

»Hören Sie, ich habe hier im Kaffee ein Haar gefunden, und mit Ihrem Mittagessen vorhin erinnerten Sie mich daran, daß ich einen ganz mörderischen Hunger habe.«

»So gehen Sie in ein Hotel, in dem Sie unter Umständen auch gleich schlafen können, falls Sie nicht sofort eine Einladung bekommen. Aber ein Zimmer bestellen Sie noch nicht.«

Der Grieche blickte hinüber nach der belebten Straße, stieß einen eigentümlichen Pfiff aus, worauf von dort einige Dutzend Jungen und Männer ein Wettrennen veranstalteten, aber sogleich zurückblieben, als sie im ersten den zukünftigen Sieger erkannten, was sie nicht getan hätten, wenn es nicht ein besonderer Pfiff gewesen wäre.

Der zerlumpte Achill hing das Gewehr auf den Rücken und trug ihnen die beiden, nicht sehr schweren Handkoffer nach.

Das Hotel befand sich in der Kaistraße, das Gepäck wurde beim Portier abgegeben, der Grieche versprach, spätestens in einer halben Stunde Bescheid zu bringen. Tannert betrat das vornehme Restaurant.


8. Kapitel.

Zum ersten Male konnte er, während er auf das bestellte Rumpfsteak wartete, in Ruhe seinen Gedanken nachhängen.

Was war das für eine geheime Gesellschaft, die ihre Mitglieder sowohl in der Wüste unter den Beduinen als in europäischen Städten unter reichen Kaufleuten hatte?

Doch hierüber dachte er weniger nach. Solche unerlaubte Fragen konnte er auch in Gedanken beherrschen. Jetzt fiel ihm einmal recht der Unterschied zwischen Gestern und Heute ein.

Vor acht Tagen noch, die hier ihm aber gestern bedeuteten, saß er noch in London in der nächtlichen Studierstube, bei Wachskerzenschein ein Träumer — morgen wahrscheinlich schon jagte er an eines Beduinenscheichs Seite auf einem Rennkamel durch die Syrische Wüste. Welch ein Unterschied!

Die Hauptsache aber war eine Frage, die er aufwarf. Würde er jenes Traumleben im stillen Zimmer wieder aufnehmen können? Ganz gewiß. Sofort. Nämlich als Dichter. Und dann wieder einmal zum Genuß der Wirklichkeit zurückkehrend.

Ja, jetzt hatte er es voll und ganz erfaßt. Ja, die Abwechslung ist es, die, weise geleitet, das wahre Glück oder doch den richtigen Genuß des Lebens bringt. Aber dabei waren seine ganzen Gedanken noch von Leonore ausgefüllt. Die Geliebte war jetzt sein Ziel in der syrischen Wüste, er konnte sich ohne sie auch nicht mehr im Dichtertuskulum vorstellen, und zwar kein erträumtes Schattenbild durste es mehr sein. Nein, das vermochte er jetzt nicht mehr. Oder er mußte in der Schatzkammer Pharaos nochmals eine bittere Enttäuschung erleben, mußte erst diese wieder in ein schmerzlichsüßes Glück verwandeln.

Um von solchen Gedanken abzukommen, griff er nach einer französischen Zeitung. In der Politik nichts Neues. Letzte Telegramme und Nachrichten?

»Konstantinopel, 23. März. Der Herzog von Asturien und Prinzeß Eleonor von Bourbon sind auf der Jacht des amerikanischen Multimillionärs Allan Wesly hier eingetroffen und als Gäste des Sultans aufgenommen worden. Die Weiterreise nach Smyrna erfolgt erst in einer Woche.«

Es war das heutige Datum. Tannert legte die Zeitung weg, sein Essen kam.

»Na ja! Die nimmt sich ja rechte Zeit, mich wiederzusehen. Dieser amerikanische Tranhändler! Und der Sultan? Die schlägt ja hin und wieder einem Menschen das Schlüsselbein kaputt. Was haben sich aber überhaupt die Zeitungen um meine Braut zu kümmern? Das hört auf, wenn sie erst meine Frau ist, Und der Kellner scheint auch nicht dem Geheimbund anzugehören. Oder ich hätte in der Küche das heilige Tesbhi dem Koch unter die Nase halten sollen.

Er hatte nämlich, als der Kellner gekommen war, um die Bestellung entgegenzunehmen, gerade die etwas hervorgezogene Kugelschnur betrachtet, auch der Kellner hatte neugierig hingesehen — und das Rumpfsteak war sehr klein und sehr hart. Tannert bestellte zur Vorsicht noch zwei Hammelkoteletten..

Eben hatte er diese bewältigt, als ein arabischer Diener, nur für den eingeweihten durch gewisse Abzeichen als solcher erkenntlich, durch den Oberkellner auf ihn zudirigiert wurde. Tannert hätte ihn eher für einen Pascha gehalten, der einmal seine drei Roßschweife abgelegt. »Chawaike Habbak Hammid läßt Effendi Doktor Tannert zu sich bitten.«

Der Pascha trug ihm auch sein Gewehr und seine Koffer eigenhändig nach.

Tannert wurde nicht weit entfernt in eine große Villa oder einen kleinen Palast geführt. Der elektrisch beleuchtete Treppenaufgang war so europäisch modern wie der Empfangssalon, wie der ihn in diesem erwartende ältere Herr im grauen Frackanzug; nur daß er sich dann auch auf einen hohen Stuhl mit untergeschlagenen Beinen hinkauerte und mit einem mohammedanischen Rosenkranz spielte.

»Habbak Hammid. Es freut mich sehr, Herr Doktor, Sie kennen zu lernen. Mein Freund Pachageorgy hat Sie mir empfohlen. Er konnte leider nicht bleiben. Sie sind natürlich mein Gast. Es ist alles in Ordnung. Mein Gastfreund Scheich Mustapha freut sich, Sie mitnehmen zu dürfen! Bitte, setzen Sie sich doch. Es geht morgen Vormittag erst um zehn Uhr ab. Es soll erst in Katara während der Mittagszeit richtig gefüttert werden. Die Hedjins wollen hier in der Stadt nicht ordentlich fressen und saufen — oh nein, essen und trinken, darf man bei diesen Tieren nur sagen. Haben Sie schon gespeist? Ich bedaure, aber desto besser, dann können Sie uns gleich noch Gesellschaft leisten. Erst erfrischen Sie sich wohl etwas in Ihrem Zimmer. Aber bitte ganz einfach. So wie Sie sind, wie Sie morgen reiten werden. Es geht ganz zwanglos zu. Nur dürfen wir nicht eher sprechen, als bis der Scheich gesprochen hat. Sie wissen wohl — so ein Beduinenscheich ist eine unnahbare Majestät, auch wenn er nur über ein Dutzend Lanzen gebietet. Der hier ist aber wirklich der mächtigste Scheich der Schamas. Auch seine Schwägerin ist dabei, die Braut seines Neffen, oder eigentlich sogar schon dessen Frau, wenn er sie auch noch nie gesehen hat. Die darf überhaupt nicht sprechen, dagegen den Gästen Aufmerksamkeiten erweisen. Die nehmen Sie ruhig hin, ohne Dank, ohne Kopfneigen. Weiter ist nichts zu beachten. Ich führe Sie ein. Eine Vorstellung findet nicht statt, Japhet, geleite den Herrn in sein Zimmer.«

Es war ein luxuriöses Schlafzimmer, in dem schon seine Sachen standen, mit allem erdenklichen Komfort, über der Waschtoilette, Marmor mit wunderbarem Mosaik und Goldverzierungen, vier Hähne, darunter zwei für kaltes und heißes Seewasser, in das Waschbecken konnte man sich gleich setzen, und doch gehörte zu dem Schlafzimmer noch ein besonderes Badezimmer, ebenso luxuriös gefüllt, und soeben steckte der Badediener, auf den Knien liegend, seine weit ausgestreckte Zunge in das Wasser.

»Wieviel Grad, Effendi?« fragte er mit hörbarem Stolz herüber.

»Fünfundzwanzig Grad.«

»Reaumur oder Celsius oder Fahrenheit?« wurde noch stolzer gefragt, was allerdings nicht gerade ein großes Verständnis für die Thermometerunterschiede verriet. Bei 25 Grad Fahrenheit fängt das Eis erst langsam aufzutauen an.

«Celsius«, lächelte Tannert belustigt. Kaltes Wasser nachgelassen, mit einer hölzernen Schaufel umgerührt, das Wasser wieder mit der Zunge geprüft. Himmel konnte der seine Zunge aus dem Halse recken! Jedenfalls ein ehemaliger Eierausbrüter.

In Ägypten sieht man in jedem Dorfe einige niedrige Lehmtürme mit vielen Löchern. Es sind Brutofen. Die ägyptischen Hühner haben im Laufe der Jahrtausende das Brüten ganz verlernt. Die Eier werden gesammelt und kühl aufbewahrt, bis die Mikals kommen, die menschlichen Ausbrüter, wieder eine geschlossene Kaste bildend. Sie heizen die Öfen mit Stroh, regulieren die Wärme durch Öffnen und Verstopfen der Löcher. Nun weiß jeder, der so etwas mit einem modernen Brutapparat versucht hat, wie peinlich genau man da die gleiche Temperatur einhalten muß. Selbst die elektrischautomatischen Thermometer lassen manchmal, ohne versagt zu haben, alles mißlingen. Diese Mikals prüfen die Wärme der Mauern und der Innenluft nur mit der Zunge, und es ist wirklich wunderbar, wie sie die geringsten Temperaturunterschiede fühlen.

Der Badediener bestätigte auf Tannerts Frage, daß er früher ein Mikal gewesen sei. Und was für einer! Aus tausend Eiern auf einmal neunhundert Hühner.

»Das ist nichts weiter. Bei mir zu Hause, in Berlin brütet man aus neunhundert Sperlingseiern tausend Enten.«

Die beiden arabischen Diener wollten über diesen harmlosen Witz vor Lachen, das nicht erlaubt war, bald ersticken.

Tannert beeilte sich mit Bad und Toilette so sehr er konnte. War er doch auf die Beduinengesellschaft höchstlich gespannt. Schon wie der arabische Kaufmann sie geschildert hatte, so etwas hatte er noch nicht in Büchern gelesen.

Wie er das neue für die Ewigkeit berechnete Strapazierkostüm angelegt hatte, klingelte er, ein Diener führte ihn zurück in den kleinen Empfangssalon, hier nahm ihn wieder Habbak Hammid ins Schlepptau.

Um einen runden, ganz niedrigen Tisch, nur einen Viertel Meter hoch, hockten aus Kissen fünf arabische Gestalten in weißen Burnussen, nur jüngere Männer, wenn auch bärtig, alle mit jenen Adlernasen und edlen Zügen, wie man sie bei Beduinen durchwegs findet.

Das Weib war verschleiert, trug aber nicht wie die Türkinnen, und die arabischen Stadtbewohnerinnen die Gille, die goldene und vergoldete Nasenschiene, an die der Schleier befestigt wird, so das nur der untere Teil des Gesichtes verhüllt ist, sondern vom Kopf herab fiel ein dichtes weißes Tuch, in dem sich nur Augenlöcher befanden. Wenn sie wirklich einmal die Hände aus den weiten Ärmeln schlüpfen ließ, was sie aber auch beim Zugreifen sonst zu vermeiden wußte, so sah man, daß sie auch seidene Handschuhe trug.

Auf dem runden Tische standen silberne Teller mit Confekt aller Art. Mixpickels, kleine Käsewürfel und Biskuits, Zigaretten, Zigarren, türkischer Tabak und Zigarettenpapier, ein geschliffenes Glas mit Bier und ein anderes mit Brauselimonade.

Es war ein Drehtisch. Die Teller standen im Kreise geordnet, jeder drehte bis er den gewünschten Teller vor sich hatte, so wurde auch gemeinsam aus dem Limonadenglas getrunken, was dann für Tannert und dem Hausherrn im Bezug auf das Bier galt. Die sonst unsichtbaren Diener kamen nur, wenn sie gebraucht wurden, der eine um Limonade einzuschenken, der zweite Bier, der dritte hatte die glimmende Lunte unter sich.

Kein Aufblicken beim Eintreten des Fremden. Der Wirt deutete stumm mit einladender Bewegung auf das zwischen zwei Beduinen freie Kissen. Tannert ließ sich darauf mit gekreuzten Beinen nieder, was ihm recht schwer fiel, kam so gerade gegenüber dem Weibe zu sitzen, neben dem der Wirt Platz nahm.

Ihr Nachbar war dann jedenfalls der Scheich, auch schon dadurch ausgezeichnet, daß er aus einem überaus kostbaren Tschibuk rauchte, das Rohr mit goldenen Ringen verziert, diese wieder mit farbigen Edelsteinen besetzt, während die anderen.... — Plötzlich begann Tannert zu stutzen.

Himmel, das war ja....

Ach Unsinn, der war jetzt in Konstantinopel beim Sultan der Türkei zu Gast.

Aber sonst ganz genau die selben Züge, dieselben Augen! Das dieser Scheich einen kurzen, schwarzen Vollbart trug, während Monsieur Harris Lavoir, alias der Herzog von Asturien immer glatt rasiert gewesen war, das konnte der Ähnlichkeit nichts nehmen.

Und auch diese Hände! Auch so schlank und fein und dennoch von Muskeln und Sehnen starrend. Dann aber bemerkte er, daß die anderen drei Beduinen ebensolche Hände hatten, und ferner, daß der Scheich, der wie ein Schlot dampfte, doch nicht so eine Hakennase hatte wie seiner Geliebten Bruder, auch die Wölbung der Augenbrauen war eine ganz andere.

Trotzdem eine auffallende Ähnlichkeit, und jetzt erst dachte Tannert daran, daß die beiden Geschwister eigentlich doch ein recht orientalisches Aussehen gehabt hatten. Nun ja, französisches und italienisches Blut, wozu vielleicht noch etwas maurisches kam — auch die spanische Königsfamilie der Braganzas ist bourbonisch — der romanische Typus ähnelt überhaupt sehr dem orientalischen. Die Wüstensöhne rauchten Tschibuk und selbstgemachte Zigaretten, die fertigen verschmähend, drehten sie den Tisch, naschten während des Rauchens abwechselnd süßen Konfekt und pfeffersaure Mixpickels, legten auch einmal auf ein überzuckertes Rosenblatt einen gepickelten Zwiebel — über den Geschmack ist eben nicht zu streiten — nichts weiter.

Nun, nach zehn Minuten fand das Tannert immer noch ganz interessant. Hauptsächlich die Verschleierte interessierte ihn. Wie die ihn immer durch ihre Augenlöcher unausgesetzt anblitzte! Das hätte in besserer Gesellschaft eine Dame nicht tun dürfen. Die anderen mußten es doch auch endlich bemerken, das war der verschleierten Braut oder Frau aber hier eben erlaubt. Vielleicht war es noch ein Kind von zehn Jahren. Und doch werde sie jetzt dem Gatten zugeführt. Als die berühmte Aische die Frau des Propheten wurde, war sie notorisch sieben Jahre alt. Da muß man allerdings glauben, daß dies zunächst nur eine Kontraktheirat gewesen ist. Und doch — in Ägypten und Arabien sind zehnjährige Mütter und zwanzigjährige Großmütter gar keine Seltenheit. Dann ist es mit ihnen aber auch vorbei.

Der Hausherr trank Bier und rauchte aus kostbarer Spitze eine Zigarre. Zum Bierglas kam Tannert auch einmal, aber mit den Zigarren wollte es ihm nicht gelingen. Man mußte sehr aufpassen bei dieser Dreherei. Schon zweimal hatte er die Zigarren zu sich gedreht, und sie zweimal an sich vorbeigedreht, und wenn er nochmals drehen wollte, drehte schon wieder ein anderer und die Zigarren rutschten schon wieder unter der Nase durch.

Das er es auf die Zigarren abgesehen hatte, schienen die anderen gar nicht zu bemerken, sie sahen auch nur aus den Tisch oder gerade aus. Gegenseitige Hilfe gab es gar nicht. Bedrehe dich selbst, hieß es hier.

Nur die hinter dem Schleier funkelnden Augen beobachteten ihn unausgesetzt. Das wurde ihm fast unangenehm.

Jetzt nahm sie, ohne die Hand aus dem Ärmel schlüpfen zu lassen, von dem gerade vor ihr stehenden Teller ein Praliné, führte es mit der unsichtbaren Hand unter den Schleier, dort wo die Nase saß, wackelte es etwas, und als der Ärmel unter dem Schleier wieder zum Vorschein kam, hielten die Finger, jetzt sichtbar, nur noch die Hälfte des Pralinés. Diese legte sie vor sich auf den Tisch, drehte ihn, bis der halbabgebissene Schokoladenbonbon gerade vor dem fremden Gast zu liegen kam. So hielt sie auch den Tisch fest.

Die Blicke waren nicht nötig, die ihm der Hausherr unter einem Räuspern zuwarf, Tannert wußte genau, was er zu tun hatte, es war ja auch zu deutlich gewesen.

»Ach, das ist ja reizend!« dachte er, als er das halbe Praliné in den Mund steckte. »Lieber wäre mir ja gewesen, wenn sie mir eine Zigarre angebissen hätte — aber es ist doch wirklich reizend von dem Kinde!«

Und jetzt ging es schnell weiter. Sie biß unter dem Schleier ein überzuckertes Rosenblatt an, schob es ihm zu, dann fehlte an einem Biskuit die Hälfte, man sah noch die Spur der kleinen Zähnchen.

»Ach, das ist ja allerliebst! Diese Sitte mit dem Drehtisch führe ich bei mir zu Hause auch ein. Da kommt schon wieder ein halbes Schokoplätzchen angerutscht! Wenn sie nur nicht mit Mixpickels anfängt, das Zeug mag ich nicht. Wenn sie mir nur einmal das Bier herüber balancieren könnte. Jetzt läßt sich der Habbak Hammid schon wieder das Glas vollschenken, ich habe doch ebensoviel Anspruch auf das volle Glas wie er, aber der Kerl trinkt mir egal die Blume weg. Wenn ich schieben will, dann schiebt schon ein anderer, und komme ich endlich zum Schieben, dann hat der schon das volle Glas in der Hand und ich den Untersetzer vor der Nase. Nein, einen Bierstammdrehtisch führe ich nicht ein. Ich habe die Dreherei nicht richtig heraus und das lerne ich auch niemals. Haaalt, was kommt jetzt, die will doch nicht etwa...

Jawohl sie wollte. Der Diener hatte das vor dem Hausherrn stehende Glas gefüllt, er griff schon danach — aber da rutschte es herum, bis es vor der Verschleierten stand, sie führte es wohl kaum bis an die Lippen, tat nur so, setzte es wieder auf den Tisch, drehte ihn, bis das Glas vor dem Gaste stand.

»Ach, das ist ja zu liebenswürdig! Schade, daß ich ihr nicht einmal zutrinken darf! Aber dafür...«

Er leerte das ganze Glas in einem Zuge, dann konnte er.es sich nicht versagen, das leere Glas vor den Hausherrn zu schieben, und er bildete sich wenigstens ein, von diesem einen vorwurfsvollen Blick zu erhalten.

Dr. Tannert begriff nur nicht, wie nicht auch die anderen den Humor dieser ganzen Schieberei erfaßten. Die blickten träumend ihren Rauchwölkchen nach und schoben und träumten weiter.

Und doch, eine Person hatte den Humor erfaßt — die Verschleierte selbst! Denn das sie dasselbe noch einmal wiederholte, das war doch offenbar Absicht, sie wollte Humor hineinbringen.

Der Diener hatte wieder das Bierglas gefüllt, der Hausherr drehte, da der Tisch sich unterdessen verschoben hatte, es zu sich herum — in dem Moment, da er danach griff, drehte die Verschleierte den Tisch weiter, bis das Glas wieder vor dem Fremden stand. Das war doch darauf abgesehen gewesen, dem Wirt einen Streich zu spielen, und nun ergänzte Tannert das Spiel seiner Partnerin, indem er das Glas wieder austrank und es dem Hausherrn abermals zuschob.

Und jetzt fing der wirklich an mit vorwurfsvollen Blicken um sich zu werfen, schielte bald nach dem weißen Fremdling, bald nach der Verschleierten, bald nach dem leeren Glase, und wie er nun dabei ein so ernstes, gleichgültiges Gesicht aussetzte, und wie er hastig mit beiden Händen nach dem gefüllten Glase griff, wie er es glücklich haschte, ehe es wieder fortrutschte — zum Glück beherrschte der junge Gelehrte seine Lachmuskeln vollkommen.

Aber nicht die Verschleierte. Die lehnte sich etwas zurück und brach in ein silbernes Lachen aus. Und Tannert hätte so gern aus vollem Herzen mit eingestimmt. Er durfte nicht, mußte so ernst bleiben wie die anderen Männer, die nichts zu sehen und nichts zu hören schienen.

Ihr Lachen war schnell wieder verstummt, jetzt nahm sie ein Blättchen Papier, legte Tabak hinein rollte eine Zigarette mit einer Schnelligkeit, die verriet, daß sie schon einige tausend Zigaretten gedreht und wahrscheinlich auch geraucht hatte. Zur Vollendung mußte aber das Papier erst noch angefeuchtet werden, das tat sie unter dem Schleier, der Diener eilte mit der Lunte herbei, sie beugte sich tief und etwas seitwärts, weil sie den Schleier dazu doch bis zum Mund lüften mußte, blies den Rauch unter dem Schleier hervor, legte die brennende Zigarette auf den Tisch und drehte sie dem Effendi zu.

»Ach, das ist ja zu aufmerksam! Eine Zigarre wäre mir ja lieber gewesen, aber die scheint mir heute eben unerreichbar zu sein. Wenn ich nur wüßte, wie ich mich bei dem Kinde gegenüber revanchieren könnte. Habe ich denn nichts in meinem Koffer! Mir kommt es nicht darauf an, ich breche die ganze Etikette.«

Er rauchte die Zigarette. Es war kein besonderer Genuß, zumal da er nicht inhalierte.

Was hatte der Hauswirt plötzlich? Warum räuspert er sich immer so und warf ihm solch vorwurfsvolle Blicke zu? Der hatte doch schon wieder drei volle Glas ausgekippt!

Und jetzt fing die Verschleierte wieder zu kichern an. Die Weiber genießen bei den Mohammedanern doch eigentlich sehr viel Freiheiten, das heißt bei den Beduinen. Die anderen durften keinen Mucks von sich geben, solange der Scheich nicht gesprochen hatte, und das schien er heute nicht mehr tun zu wollen, und die kicherte und lachte, so viel sie wollte.

Am fatalsten aber war ihm jetzt, daß dieses Kichern ganz offenbar ihm galt. Womit blamierte er sich denn nur so?

Über dieses Rätsel nachgrübelnd, tat er noch einen tiefen Zug und legte die halbe Zigarette einmal in das Schälchen, das jeder vor sich stehen hatte — da drehte die Verschleierte den Tisch sofort herum, nahm seine Zigarette, rauchte unter dem Schleier einige Züge, legte sie zurück aus das Teller und schob sie ihm wieder zu.

»Ah, wir rauchen sie gemeinsam! Eine Friedenszigarette! Ich muß sie ihr auch ab und zu geben!«

So rauchten sie jetzt abwechselnd, die Zigarette ging immer hin und her, und als diese zu Ende ging, drehte die Verschleierte eine neue, mit der das Spiel fortgesetzt wurde.

»Es ist doch ganz auffallend, wie die mich pausiert. Für diese Beduinen ist es aber eben nicht auffallend! Das ist nur eine große Artigkeit, die mir Franken, der sie morgen begleiten soll, erwiesen wird, und das Mädchen hat das Recht dazu, vielleicht sogar die Pflicht, daß es alles mit mir teilt. Die Braut oder Gattin des zukünfigen Scheichs weiß doch ganz genau, was sie tun und lassen muß.«

Endlich sollte das Schweigen doch gebrochen werden, aber nicht durch den Scheich, sondern wiederum durch die Verschleierte, wenn auch nicht direkt.

Sie neigte sich zu dem Schwiegeronkel, flüsterte oder hauchte nur ihm etwas zu, und da ergriff dieser das Wort.

»Meine Schwägerin fragt, ob der Effendi eine Frau hat.«

Es war eine tiefe wohllautende Stimme, bei deren Klang Tannert wieder aufhorchte. Doch nein, der Ton war etwas höher, kam nicht sosehr aus der Brust heraus wie bei Monsieur Lavoir, der sich als Herzog von Asturien jetzt beim Sultan sicher nicht so köstlich amüsierte. Ach, wären die Geschwister, doch lieber mit ihm nach dem Orient gegangen, wären sie doch jetzt mit hier!

Also ob er verheiratet sei. Natürlich — die erste Frage — auch von einer Beduinin — hier wenigstens gleich ganz offen gestellt.

»Nein.«

Wieder hauchte die Verschleierte dem Schwiegeronkel etwas zu, und dann später immer den Scheich. Er war nur ihr hörbares Sprechwerkzeug, und ihre blitzenden Augen hingen immer an den Lippen des Antwortenden.

»Meine Schwägerin fragt, ob du versprochen seist.«

»Ja«, antwortete Tannert unverzagt.

»Meine Schwägerin möchte wissen wie deine Braut heißt.«

Hatte der junge Deutsche A gesagt, so mußte er nun auch B sagen.

»Leonore.«

Wenn sie mich jetzt nur nicht fragt, wes Stand und Ranges, dann muß ich etwas vorflunkern, dachte er.

»Meine Schwägerin fragt, ob deine Braut schön sei.«

»Ja, sehr schön.«

Wenn sie jetzt folgerichtig weiterfragt, dann kommt jetzt: hat sie Geld?

»Ob du ein Bild von ihr hast«, kam aber.

»Nein.«

Es wurde durch den Schleier weitergehaucht.

»Meine Schwägerin fragt, ob du ein Andenken von ihr bei dir hast.«

»Ein Andenken?« wiederholte Tanner sinnend.

Plötzlich schoß ihm eine Idee durch den Kopf, er freute sich selbst ungemein darüber.

»Ja, ich habe ein Andenken von meiner Geliebten — ein Andenken, wie es nur wenige Menschen von ihrer Geliebten haben — ein Andenken unsichtbar im Herzen und doch von greifbarer Wirklichkeit — ein Andenken, welches nur Gott selbst wenigen Menschen verleihen kann....«

Schnell zog er das eingesteckte Notizbuch aus der Tasche. Er konnte sehr gut zeichnen, skizzieren, und porträtieren, hatte sein großes Talent hierin fleißig ausgebildet. Auch eben deshalb, weil er etwas konnte, skizzierte er nun nicht jedes Gesicht. Auch die Geschwister hatten davon gar nicht erfahren. Aber Leonores Züge hatte er so haarscharf im Gedächtnis, daß er sie sofort wiedergeben konnte, und das eben ist die Kunst, die sich überhaupt nicht erlernen läßt.

Er lehnte sich etwas zurück, daß das rote Licht der Ampel voll auf's Papier schien, mit flüchtigen Strichen warf er das Profil Leonores hin, aber doch etwas nach vorne blickend, mit dem aufgelösten Lockenhaar.

»Da, das ist sie — das ist ein Andenken, das mir niemand rauben kann.«

Er riß das Blatt heraus, gab es dem Scheich.

»Inschallah!!« rief dieser in namenlosem Staunen, seine Würde ganz vergessend; so groß war die Bestürzung, ein Menschenantlitz, in kaum einer Viertelminute hingeworfen, lebenswahr auf dem Papier zu sehen.

Nicht minder groß war wohl das Staunen der Verschleierten, der anderen Araber, aber diese wußten sich anscheinend mehr zu beherrschen, oder ihr Scheich hatte von ihnen die lebhafteste Natur, die doch einmal zum Durchbruch kommen mußte.

Zuletzt bekam der Hauswirt das Bild, betrachtete es lange, schüttelte den Kopf und machte dann erst recht ein erstauntes Gesicht.

»Diese Züge kommen mir recht bekannt vor, die muß ich erst kürzlich in einer Illustrierten Zeitung gesehen haben. Leonore heißt sie? Darf ich ihren Familiennamen erfahren?«

Dr. Tannert wurde etwas unruhig.

»Lavoir — Leonore Lavoir.«

»Leonore Lavoir?« wiederholte der Hausherr sinnend. »Ja, wie ist mir denn — hielt sich unter diesem Namen nicht vor etwa einem Vierteljahre eine Prinzessin von Bonbon in London auf?«

Also auch das hatte in den Zeitungen gestanden! Jetzt gab Tannert sein Zögern auf und der Wahrheit die Ehre.

»Sie ist es.«

»Die Prinzessin Eleonor von Bourbon?«

»Ja.«

»Sie macht jetzt mit ihrem Bruder, dem Herzog von Asturien, als Gast eines Amerikaners auf dessen Jacht eine Orientreise.«

»So ist es.«

»Heute stand in der Zeitung, das die beiden Hoheiten Gäste des türkischen Sultans seien.«

»Ich habe es gelesen.«

»Soso, da willst du wohl wieder mit ihr zusammentreffen?«

»In Petra, das sie mit dem Amerikaner, der schon einmal in der Ruinenstadt gewesen ist, ebenfalls besuchen wird.«

»Soso.«

Der moderne arabische Handelsherr, der so aufmerksam die Zeitungen las, hätte sicher gern noch mehr gewußt — eine europäische Kronprätendentin die Braut eines einfachen deutschen Gelehrten, das reimte sich doch nicht so recht zusammen — er tat es nicht, die diskrete Höflichkeit mußte gewahrt werden.

Die Verschleierte streckte die Hand oder doch den Ärmel nach dem Blatt Papier aus, der Hausherr gab es ihr.

Sie betrachtete das Bild nochmals lange, dann hauchte sie dem Schwiegeronkel wieder etwas zu.

Meine Schwägerin fragt, ob du sie heiraten willst.«

»Ich hoffe es.«

»Warum hoffst du nur?«

»Zwischen unserer Heirat stehen Schwierigkeiten/

»Welche?«

»Sie ist eine Fürstin und ich bin ein einfacher Mann.«

»Du bist ein freier Mann?«

»Das bin ich.«

»Jeder freie Mann ist ein Fürst.«

»So denke ich auch. In Petra werden wir uns aussprechen.«

Wieder wollte die Verschleierte durch den Mund des Scheichs sprechen.

»Meine Schwägerin fragt, ob sie das Bild deiner Braut behalten darf?«

»Ich bitte darum.«

Sie ließ es im Ärmel verschwinden, verharrte mit der Hand etwas länger darin, dann zog sie ein goldenes Kettenarmband hervor, an dem auch einige Steine blitzten, warf es geschickt dem Gegenüber zu.

Tannert fing es, unterdrückte eine Bestürzung, die ihn ob dieses kostbaren Gegengeschenkes anwandeln wollte, verbeugte sich schweigend und barg es in der Brusttasche.

Auch diese Verschleierte war eine Fürstin, blickte vielleicht auf eine ganz andere Ahnenreihe als irgend eine europäische Fürstin zurück, sie gab nur fürstliche Geschenke, konnte es wahrscheinlich — und auf alle Fälle wußte sie genau, was sie tun durfte, was sie tun mußte.

Ihr Schwiegeronkel und die anderen Araber hatten davon gar keine Notiz genommen.

Der Hausherr klatschte in die Hände, vor jedem ward auf den Tisch, dessen Drehbarkeit abgestellt wurde, ein rauchendes Täßchen gesetzt: Tannert glaubte natürlich erst an Kaffee, aber schon der Geruch belehrte ihn, daß es Bouillon war. Die Beduinen schienen die kräftige Fleischbrühe leidenschaftlich gern zu trinken, weil zwei Diener gingen mit einem silbernen Topfe ständig im Kreise herum, die mit einem Zuge geleerten Täßchen immer wieder füllend, und Tannert wunderte sich nur, wie die Araber das fast kochende heiße Getränk so hinuntergießen konnten. Die Verschleierte saugte es durch einen Strohhalm, den Vorhang ein wenig lüftend und die bedeckte Hand schützend vor Kinn und Mund haltend.

Da nahm der älteste Beduine, in dessen schwarzen Bart sich schon einige graue Fäden mischten, einmal selbstständig das Wort.

»Dort, wo in diesem Lande die Sonne sinkt, wohnt ein Volk, das sich Marokkana nennt. Kennst du es Effendi, der du schon viel gereist bist?«

»Ich bin nicht selbst dort gewesen, in Marokko, habe aber viel darüber gelesen.«

»Ich war dort, brachte zwei Saklawys hin, die der Padischah von Marokkana von uns kaufen wollte, zwei edle Stuten, deren Rücken zu besteigen sich der Prophet nicht geschämt haben würde. Ich nahm sie wieder zurück. Der Padischah feilschte wie ein verschnittener Hund.«

Der Erzähler machte eine Pause, trank sein Täßchen aus, blies den Rauch seiner Pfeife durch die Nase und strich den Bart.

»Diese Leute von Marokkana sind Araber und es sind keine Araber. Sie gleichen uns, wie ein Schakal einem edlen Gazellenjäger gleicht, dessen Stammbaum noch über den Propheten reicht. Diese Marokkani sind so viehisch, daß sie auch den Schakal fressen. Sie kochen ihn und trinken das Wasser.«

»Fleischbrühe von Schakalen?«

»Du sagst es. Sie fangen einen Schakal in der Schlinge, machen ein sehr großes Feuer an , hängen einen sehr großen Kessel mit Wasser darüber, und wenn das Wasser kocht, so tauchen sie den am Schwanz aufgehängten Schakal lebendig in das kochende Wasser...«

»Er ist noch lebendig?«

»Noch lebendig.«

»Auch nicht abgehäutet? Nicht ausgeweidet?«

»Nein, denn dann würde er doch nicht mehr leben.«

Ernsthaft hatte es der Beduine gesagt, auch die anderen hatten an dieser Zwischenfrage und Antwort nichts weiter gefunden. Nur hinter dem Schleier, der sich gerade über die Bouillontasse beugte, erklang ein merkwürdiger Laut, so wie ein unterdrücktes Grunzen.

»Drei Stunden wird der Schakal mit Fell und allen Eingeweiden gekocht«, fuhr der Beduine fort, »dieses Wasser wird fortgegossen und der Schakal kommt in ein anderes kochendes Wasser....!«,

»Nun ist er aber doch nicht mehr lebendig!«

Ganz harmlos hatte Tannert dies Bemerkung gemacht, in etwas fragendem Tone gestellt, nicht ahnend, was er damit für eine Katastrophe beschwor.

»Nein«, entgegnete der Beduine ganz ernst, »er hat ja schon drei Stunden gekocht.«

Da kam die Katastrophe. Plötzlich sprudelte die Scheichbraut unter und durch ihren Schleier die eingesaugte Bouillon wieder hervor und dann warf sie ihren Oberkörper zurück, platt auf den Teppich, und lachte, was sie lachen konnte, und da brach auch der würdevolle Scheich in ein dröhnendes Lachen aus — und die anderen Beduinen und der Hausherr stimmten mit ein — und da wurde sich Tannert bewußt, was er unbeabsichtigt für einen Witz geliefert hatte — und nun die trockene Antwort: nein, er hat ja schon drei Stunden gekocht — und auch Tannert schloß sich den Lachern aus vollem Halse an.

Die ganze zeremonielle Würde war über den Haufen geworfen worden, das Auseinandergehen wurde ein ganz anderes als wie es sonst geschehen wäre.

Die Beduinen standen und sprangen auf, liefen lachend im Zimmer herum, sich wirklich vor Lachen krümmend, die Verschleierte lag lachend am Boden, lachend richtete sie der Scheich empor, führte sie lachend hinaus, lachend folgten die anderen Beduinen.

Außer Tannert war nur der Hausherr zurückgeblieben, der alte Herr wischte sich die Augen und brach immer wieder in neues Gelächter aus.

»Der Schakal kocht drei Stunden und sie verlangen von ihm, daß er immer noch lebt — Herr Doktor, Sie sind ein Hexenmeister — Sie haben diese Wüstenbeduinen zum Lachen gebracht — zu einem herzlichen Lachen, daß sie darüber sich selbst und alles andere vergaßen — Herr Doktor, Sie sind ein Hexenmeister, wenn Sie vorhin mit mir gewettet hätten, daß Sie das fertig bringen könnten, ich hätte mein ganzes Vermögen dagegen gesetzt — Sie müssen mit uns in's Paradies — nehmen Sie's mir nicht übel, ich kann nicht mehr, ich fürchte für meinen alten Schädel — schlafen Sie wohl — Japhet.«

Kichernd ging der Diener voraus, lachend folgte Tannert. Erst in seinem Zimmer beruhigte er sich wieder. Das er selbst die unfreiwillige Veranlassung zu dem allgemeinen Gelächter gegeben hatte, das konnte ihn als einen vernünftigen Menschen natürlich nicht kränken oder beschämen. Ach, er hatte ja so herzlich gelacht! Und die eigentliche Veranlassung war ja gewesen, wie das verschleierte Mädchen sich verschluckt hatte und losgeplatzt war. -

Tannert lag im prächtigen Himmelbett, hatte aber die Gardinen ausgezogen. Er sah einen großen Kessel mit kochendem Wasser, in das von einem Galgen ein zappelnder Schakal hinabgelassen wurde, die Henkerin und Köchin war eine verschleierte Araberin, plötzlich aber hatte sie keinen Schleier mehr, und da war es Leonore, sie ging auf ihn zu, küßte ihn...

Tannert erwachte. Er hatte wirklich schon geschlafen. Aber hatte ihn nicht wirklich jemand geküßt? Er glaubte noch ganz deutlich die warmen, feuchten Lippen auf den seinen zu spüren, hatte sozusagen noch den Geschmack davon...

Da raschelte etwas in seinem Zimmer, wie Seide. Schnell drehte er das elektrische Licht an, blickte nach der Tür... jawohl, soeben wurde die Tür geräuschlos zugemacht, er hatte aber auch noch ein dunkles Gewand gesehen.

Tannert war natürlich ganz verblüfft Wer konnte das gewesen sein, die ihn geküßt hatte? Denn geküßt war er worden, das wußte er ganz bestimmt. Eine Dienerin? Die Uhr zeigte auf eins, er hatte doch schon eine ganze Stunde geschlafen. Eine Dienerin hatte sich hereingeschlichen, um dem fremden Gaste im Schlafe heimlich einen Kuß aufzudrücken?

Da sah er auf dem Boden dicht neben seinem Bett ein Blatt Papier liegen. Er hob es auf.

Aus seinem Notizbuche!

Leonores Kopf, den er vorhin skizziert hatte!

Das Blatt, welches die verschleierte Scheichsbraut im Ärmel hatte verschwinden lassen!

Er war sprachlos.


9. Kapitel.

Tannert nahm in einem kleinen Salon das Frühstück alleine ein, ein französisches Hotelfrühstück, er selbst schon als Beduine, wenn auch Messer und Gabel gebrauchend.

Nach dem Morgenbade war ihm ein Burnus aus weißer Baumwolle gebracht worden, den er gleich angelegt. Dazu gehörten auch solche Handschuhe, welche der vornehme Beduine beim Wüstenritt stets trägt, und sie sind manchmal auch sehr nötig, wie Tannert selbst noch merken sollte.

Als der Diener abräumte, stellte sich der Hausherr ein, erkundigte sich nach dem Befinden des Gastes, wie er geschlafen habe, fing dann wieder von der gestrigen Scene an, jetzt aber vollen Ernst wahrend.

»Das war ja ein köstlicher Abend gestern. Die Herren Beduinen sind etwas beschämt, weil sie so ihre Würde verloren, noch dazu einem Franken gegenüber, aber amüsiert haben sie sich doch wie noch nie in ihrem Leben, sie haben es mir selbst gesagt, und Sie haben bei ihnen einen großen Stein im Brette. Auch wegen Ihrer Zeichenkunst. Apropos, haben sie das Armband vielleicht bei sich? Darf ich es einmal sehen?«

Tannert zog es aus der Brusttasche, der arabische Kaufmann hatte ein Vergrößerungsglas bei sich, durch das er die roten und grünen Steine betrachtete.

»Tadellose Rubine und Smaragde, in altsarazenischer Fassung. Wissen Sie, was das Dingelchen wert ist? Ich kann es selbst nicht beurteilen. Man soll bei einem Geschenk auch nicht danach fragen. Jedenfalls aber ein Vermögen, von dessen Zinsen ein bescheidener Mensch ganz gut leben kann.«

Tannert wurde etwas bestürzt. Das hatte er nicht erwartet.

»Es könnte sie doch nicht etwa reuen, und ich habe nichts, was ich....«

»Monsieur! Wie beurteilen Sie diese freien Söhne der Wüste! Lassen Sie so etwas ja nicht verlauten! Und diese Fatime kann sich das überhaupt leisten, das ist ihr eine Kleinigkeit, die sie verliert, ohne sich zu bücken. Denn ihr Vater, der Scheich der Beni Suefs, ist der Erbe und Hüter all der ungeheuren Schätze, welche früher Piraten an der Küste Tripolis im Laufe vieler Jahrhunderte zusammengeraubt haben. Das heißt durch Beutezüge an den Küsten der Türkei, Griechenlands, Italiens und Frankreichs. Seine erste Tochter, Fatimes ältere Schwester, ist die Gemahlin des Vizekönigs von Ägypten. Der ist ihr Schwager. Ja, ja, Sie sind gestern in gar erlauchter Gesellschaft gewesen und werden weiter mit ihr reisen. Was meinen Sie wohl, was die für eine Morgengabe mitbringt. Ganze Kisten voll Gold und Edelsteine, nur ihr eigenes Geschmeide. Aber das nimmt sie alles wieder mit zurück. Aus der ganzen Heirat wird nichts.«

»Nein?«

»Nein. Das ist alles nur Formsache. Eine uralte Tradition muß befolgt werden. Der Scheich der Busetas muß eine Scheichtochter oder eine nächste Verwandte aus dem Stamme der Beni Suefs heiraten, mit denen sie Blutschwur haben. Sie tauschen sogar ihre Pferde. Das hat bei den Beduinen noch viel mehr zu bedeuten als das Heiraten der Menschen. Der Scheich Mustapha hat auch eine Schwester der Fatime zur Frau. Aber diese Ehe ist und bleibt kinderlos, die ist jetzt schon tot. Der Nachfolger Mustaphas wird sein Neffe Achmed. Aber das ist ein Kopfhänger, ein religiöser Schwärmer, will in ein Derwischkloster gehen. Wird es auch sicher tun. Doch die Tradition muß erfüllt werden. So hat denn jetzt Mustapha bei den Beni Suefs dem Neffen die Gattin gefreit, er führt sie zu ihm. Achmed nimmt sie nicht an, weist sie zurück. Das kann er. Gut, Fatime geht wieder zurück zum Vater. Und ein größeres Glück konnte ihr ja gar nicht widerfahren.«

»Was ist das für ein besonderes Glück?«

»Die verheiratete Jungfrau ist wieder frei. Und zwar genießt sie jetzt eine Freiheit, wie sie sonst bei Beduinenweiber und Mädchen gar nicht wieder vorkommt. Jetzt kann sie ihren Gatten selbst erwählen. Wenn sie will. Und ohne dabei ihre Rechte zu verlieren. Mit einem Male besitzt sie eine kolossale Macht und kann solche verleihen. Und wenn sie den armseligsten Sklaven erwählt — er wird als ihr Gatte Scheich. Der Stamm spaltet sich. Die Beni Suefs haben eine Spaltung auch einmal sehr nötig. Ein neuer Beduinenstamm wird entstehen, die Beni Fatmes, die Söhne Fatimes. Mit diesem Freien der abgewiesenen jungfräulichen Frau ist auch eine reizende Sitte verbunden. Sie schleicht sich in das Zelt, in dem der Auserwählte schläft und küßt ihn heimlich, ein Zeichen zurücklassend, daß sie bei ihm gewesen ist.«

Tannert hatte sich eben eine der auf dem Tisch liegenden Zigarren anbrennen wollen, er vergaß es.

Alle Wetter! Dachte er erschrocken. Die Geschichte ist ja nett!

Er zwang sich zur Ruhe. Da mußte er sich noch näher erkundigen.

»Gesetzt nun den Fall, der Betreffende ist schon verheiratet oder doch verlobt?«

»O, das hat bei uns nichts zu sagen«, lächelte der arabische Kaufmann, sich mit einem mohammedanischen Rosenkranz spielend. »Natürlich rangiert eine Scheichstochter vor den anderen Frauen.«

»Wenn er aber nun nicht will?«

»Bitte was nicht will?«

»Die Scheichtochter heiraten.«

»O, das ist doch ganz ausgeschlossen.«

»Es kann doch einmal vorkommen.«

»Nein, das kann nicht vorkommen.«

»Aber nehmen wir doch einmal an — es ist ein christlicher Sklave — oder ein Fremder verweilt einmal bei den Beduinen, ein Europäer, der zu Hause Frau und Kinder hat, die ledige Jungfrauwitwe verliebt sich in ihn, küßt ihn im Schlafe — was dann?«

»Ja, dann muß er sie eben natürlich heiraten.«

»Wenn er aber nun nicht will, der christliche Europäer?« ' -

»Ja allerdings — aber er muß — sonst verfällt er der Rache — die Empörung ob solch einer grenzenlosen Schmach, die den ganzen Stamm trifft, wäre eine ungeheure — der würde massakriert werden..«

Ich danke, ich reite nicht mit, sagte sich Tannert.

Unten ertönten schreckliche Stimmen. Kamele brüllten. Der Hausherr erhob sich.

Die Hedjins werden gesattelt. Ihre Koffer und das Gewehr sind schon unten. Sind Sie bereit?«

»Ich bin es.«

Nein, wegen solch einer Kleinigkeit gab der junge deutsche Gelehrte sein wissenschaftliches Ziel nicht auf! Er dachte an Vorbilder, an das von Ludwig Burckhardt, das gerade so gut auf ihn passte.

Auf seiner ersten Orientreise, die Burckhardt im Libanon machte, als christlicher Europäer, wurde er von einem Scheich aufgegriffen, der von ihm verlangte, er solle das vorgehaltene Kruzifix anspeien. Burckhardt hat es nicht getan, obgleich er fast zu Tode gefoltert wurde. Unter anderem wurden ihm unter die Fußnägel glühende Drahtstifte getrieben. Und dabei war Burckhardt gar kein frommer Heiliger. Aber auf Drohung hin den heiligen Glauben seiner Väter, wofür diese gelitten, abzuleugnen, zu schmähen, das gab's bei ihm nicht. Lieber unter Folterqualen sterben.

Aus seiner zweiten Reise dagegen, als er die syrischen Ruinenstädte besuchte, das vergessene Petra wiederfand, wanderte er in der Verkleidung eines mohammedanischen Derwischs. Das war auch wieder ganz etwas anderes. Das tat er freiwillig, um ein wissenschaftliches Ziel zu erreichen. Aber zwingen ließ er sich nicht. Das war ein ganzer Mann!

Und Tannert hätte wegen solch einer Liebesaffaire auf die Mitreise nach Petra verzichten sollen? Manch anderem würde das doch nur ein höchst angenehmes Abenteuer gewesen sein, hätte es gern bis zum letzten Rest ausgekostet. Das aber nun der junge Gelehrte hierüber doch etwas anders dachte, die Sache, wenn es so weit war, anders zu arrangieren hoffte, das gereichte ihm wiederum nur zu Ehren, da zeigte auch er schon, nur durch den bloßen Vorsatz, daß er ein ganzer Mann war.

»Haben Sie schon ein Kamel geritten?« fragte der Hausherr auf der Treppe.

»Nein.«

»Nun, das lernt sich alles. Nur der Paßschritt ist so unangenehm, da wird man leicht seekrank. Im Trab geht das Hedjin ruhiger als ein Pferd. Und auf das kniende Kamel können Sie auch nicht aufsteigen. Sie müssen auf das stehend aus einem Parterrefenster oder mit der Leiter klettern.«

»Mit der Leiter draufklettern?!« wiederholte der Husarenoffizier etwas entrüstet.

»Das geht nicht anders. Und da genieren Sie sich ja nicht. Ich habe noch keinen Sportsmann gesehen, der nicht auf irgend eine Weise hinaufgeklettert wäre — oder über den Kopf geschleudert wurde. Um diese drei Rucke auszuhalten, dazu muß man in der Wüste zwischen Kamelen geboren worden sein. Ich habe halb Afrika auf dem Kamel durchritten, war ein gewandter Bursche — habe das Aufsteigen nie gelernt. Sie bekommen nur einen Trensenriemen. Die anderen Reiter führen noch Nasenkandaren, um den Tieren das Galoppieren zu verleiden. Denn wenn das Kamel galoppiert, fliegt auch der beste Reiter sofort aus dem Sattel. Ihrem Tiere ist das Galoppieren mit Feuer ausgebrannt worden. Es läuft ruhig mit. Sonst brauchen Sie nichts weiter zu wissen. Die Beduinen geben Ihnen erst recht keine Instruktionen.«

Im Hofe knieten neun Kamele, mager und klein aussehend, nur mit sehr, sehr langen Hälsen, durch die sie sichtbar das schon einmal gefressene Futter in Kugeln wieder heraufwürgten, es behaglich nochmals kauend. Ihre Rücken waren mit rot oder blau gefärbten Lederdecken belegt. Der muldenförmige Sattel aus Holz war über den Höcker gestülpt, wurde durch drei Gurte festgehalten. Die ganze Polsterung ist auf die Innenseite verlegt, nur da, wo man sitzt, noch ein kleines Polster aus Roßhaar. An dem vorderen Sattelknopf hing Gewehr, Munitionskasten, Proviantsack, Wasserschlauch mit verstöpselter Flaschenmündung, gewöhnlich ein kleiner Ziegenbalg, die Öffnung ist ein Beinstück, und was sonst der Reiter zur Hand haben wollte, am hinteren Sattelknopf hingen zu beiden Seiten die sonstigen mitzunehmenden Gepäckstücke, hier besonders kleine Kästen, wohl den Brautschmuck der jungfräulichen Frau enthaltend.

Alle Kamele lagen fessellos ruhig da, nur dem einen waren die Beine geknebelt. Dieses zeigte an den Kniegelenken furchtbare Narben — ein durch gewöhnliche Dressur unheilbarer Gallopierer, dem die Lust dazu aber doch sehentlich durch glühende Eisen genommen worden war, vielleicht sogar die Möglichkeit dazu. Dieses gefesselte Tier trug hinten Tannerts Koffer und vorne die Proviantsäcke und sein Gewehr, dem jetzt noch sein Degenstock beigesellt wurde.

Es hatten sich also noch drei andere Beduinen eingefunden, zum Gefolge gehörend, die gestern Abend gefehlt halten. Einer blieb krank zurück.

Einer von Ihnen, der jüngste, ein bartloser Knabe, der aber die Rolle des Rittmeisters spielte, winkte den Effendi heran, zeigte ihm wie er aufsteigen oder vielmehr sich im Sattel zurechtsetzen müsse: die gekreuzten Beine vorn um den Höcker klammernd, die gekreuzten Füße um den Hals des Tieres klammernd.

Fragend blickte der Jüngling den Effendi an.

»Ja, ich habe es begriffen.«

Er mußte es vormachen. Die anderen Beduinen blickten gar nicht bin, nur die Verschleierte wandte kein Auge, von ihm.

Tannert stieg wieder ab. das Kamel wurde von seinem Koppeln befreit, blieb aber auch so ruhig liegen. In demselben Augenblick aber, da der Jüngling nur das erste Bein über oder um den Sattel legte, erhob es sich plötzlich mit drei gewaltigen Rucken, welche der Reiter durch Gegenbewegungen etwas aufzuheben wußte. Diese Schleuderbewegungen sind es, welche das Aufsteigen für jeden Menschen, der nicht professioneller Kamelreiter ist, einfach unmöglich machen. Besonders die Plötzlichkeit des Aufstehens, und es ist noch bei keinem einzigen Kamel gelungen, es so zu dressieren, daß es so lange knien bleibt, bis sich der Reiter zurecht gesetzt hat. Sobald es den ersten geringsten Druck des Reiters verspürt, erhebt es sich blitzschnell, und das ist ihm nicht auszutreiben.

Himmel, war das erst so unansehnliche Kamel im Stehen ein mächtiges Tier? Das machten die langen Beine, nur aus Knochen und Sehnen bestehend.

Der Rittmeister sprang von seinem hohen Sitz wieder herunter, legte eine Leiter an, der Husarenoffizier kletterte hinauf.

Und wieder ertönte hinter dem Schleier das Kichern?

»Na warte, bis du erst meine Frau bist!« dachte der Kletterkünstler vergnügt, als er sich oben zurechtsetzte.

Jetzt schwangen sich auch die Beduinen in den Sattel, die lange Lanze in der Hand. Das Weib machte es vielleicht am allergeschicktesten. Bei der sah das Aufstehen spielend aus. Der eine Beduine, der sich dann als vorzüglicher Reiter erwies, wurde dabei nach vorn geschleudert, blieb am Halse hängen, voltigierte zurück und ließ sich mit dunkelrotem Gesicht die verlorene Lanze reichen.

Die Reihe war schon geordnet gewesen. Zuerst der Scheich, hinter diesem der fremde Gast, dann Fatime, dann im Gänsemarsch die anderen sechs Beduinen. So ging es zum Hoftor hinaus, begleitet von einer Unmenge Segenssprüchen des Hausherrn, die nicht erwidert wurden, weil das die Beduinen schon vorher gemacht hatten.

Beim ersten Schritt, den sein Kamel tat, verlor Tannert mit seinen gekreuzten Beinen vorn den Halt und schoß nach hinten, sah sich schon am Boden liegen, aber ehe es soweit war, tat das Kamel schon den zweiten Paßschritt, und er schoß wieder nach vorn, wollte den Hals seines Tieres umklammern und küssen, da schoß er aber schon wieder nach hinten — und so ging das immer weiter, bis er den Stößen zu begegnen wußte. Jetzt war es nur mehr ein arges Auf- und Abschaukeln. Er konnte beobachten, und er bekam etwas später etwas zu sehen, wovon er noch nichts gehört und gelesen hatte.

Beduinen ritten durch die belebten Straßen der mehr europäischen als orientalischen Stadt!Freie Beduinen der Wüste. Die keine Steuern zahlen — ja, noch besser: die eigentlich Steuern zahlen müßten, die es aber nicht tun, weil sie es nicht brauchen, weil sie niemand dazu zwingen kann!

Wenn der Khedive, der Vizekönig mit glänzendem Gefolge durch die Straßen ritt oder in der Equipage rollte — die ihm zuteil werdende Ovation war nichts gegen die Ehrfurcht, die man diesen Beduinen zollte. Obgleich man sie gar nicht kannte. Es hätten auch wirklich die ärmsten, unbekanntesten Söhne der Wüste sein können.

Freie Beduinen, die keine Steuern zahlen, die keinen König über sich haben, die den Padischah in Stambul nur als Nachfolger des Propheten, nicht aber als Sultan anerkennen.

Die Strenggläubigen im Turban und Kaftan verbeugten sich bis zur Erde, Segenssprüche murmelnd, die Jungaraber und Türken im schwarzen Gehrock mit rotem Fez nahmen schnell die Zigarre aus dem Mund, damit sie ihnen nicht erst herausgeschlagen würde; und die armen Bevölkerung vollends warf sich vor dem Zuge gleich in den Staub nieder, als ritte an der Spitze der Prophet oder sein Nachfolger selbst. Viele rissen ein Kleidungsstück ab, warfen es den Kamelen unter die Füße, zogen sie nicht wieder an, nahmen sie als Heiligtum mit nach Hause.

Die Europäer mußten vorsichtig sein. Wegen solch einer kleinen Beduinenkarawne, wohl zu unterscheiden von einer Handelskarawane, ja nur wegen eines einzigen Beduinen der durch die Stadt ritt, ist schon manchmal der mohammedanische Fanatismus entflammt. Die Europäer hielten lieber, ehe sie den Zug kreuzten oder überholten, ließen ihn in einer Seitenstraße vorüber. Hielten sie nicht von selbst, so fielen den Pferden dutzende von arabischen Arbeitern in die Zügel. Allerdings war ein Grund zum Festhalten auch der, daß die Stadtpferde den Geruch der Kamele durchaus nicht vertragen können.

Sollte diese Verehrung der Beduinen seitens der arabischen Stadt- und Landbevölkerung nicht einen politischen Hintergrund haben? Diese freien, selbstherrlichen Wüstensöhne, die noch nie besiegt worden sind, mögen sie auch Schlachten verloren haben — sollte man von ihnen eine Befreiung von dem Fremdenjoch, mag dieses vorläufig auch noch so indiskret sein, erhoffen? Ein Wiederaufblühen der alten Sarazenenherrlichkeit? Ist's ein Traum, so ist's ein schöner.

* * *

Die scharfgezogene Grenze des neuen Port Said war erreicht,die Region des Sandes begann, die Wüste.

»Errrreeehhh!!« rief der Scheich langgedehnt, gleichzeitig die bisher aufrecht getragenen Lanze senkend, von allein fielen alle Kamele in Trab, und vorbei war das infame Schaukeln, welches der junge Deutsche kaum noch ertragen konnte, es wäre ihm übel geworden. Im Trab aber waren die von unten kommenden Rucke noch leichter als die auf einem trabenden Pferde.

Hinter einem Sandhügel tauchte ein schmales Flüßchen auf, dessen stilles Wasser ein Riesendampfer mit drei Schornsteinen zum stürmischen Fluten brachte — der Suezkanal.

So sehr schmal ist er ja eben nicht, 75 bis 90 Meter oben am Wasserspiegel. Aber wenn man so ein großes Seeschiff mit hohen Masten darauf dampfen steht, dann schrumpft diese Breite scheinbar ganz zusammen.

Dicht am Kanal ging der Trab entlang, dem Süden zu. Da rechts, am westlichen Ufer, wo ein Sandhöhenzug die Aussicht versperrte, konnte Tannert nicht sehen, das auch drüben noch Meer war. Es geht, zuletzt Sumpf, bis nach Kantara. Hier wird der Suezkanal nur durch eine Landzuge begrenzt. Aber das Meer dort drüben ist so flach, daß es nicht von Schiffen befahren werden kann. Auf der anderen der östlichen Seite die ganz ebene, vegetationslose Wüste.

Der in gleicher Richtung fahrende Dampfer blieb schnell zurück. Er darf in der Stunde nur 5 Seemeilen -9000 Meter machen. Ein mächtiger Passagierdampfer von 10000 Tonnen kam ihnen entgegen. Der mußte 70000 Francs Durchfahrtsgebühren bezahlen, für die 19 Stunden. Vorausgesetzt, daß er eine Dynamomaschine mit Scheinwerfern an Bord hatte. Sonst muß in der Nacht in einer »Ära« Bahnhof vertäut werden, das heißt festgemacht werden.

Aller anderthalb Kilometer solch eine Station mit Ausbuchtung zum Ausweichen, mit Signalmasten mit Ball und Wimpel, telegraphisch untereinander verbunden. Am Kanal läuft ein dickes Wasserleitungsrohr entlang.

Das westliche Ufer wird ziemlich begangen, außer von Fellas, die bei den Baggern Arbeit suchen, besonders von Hausierern, die zwischen Port Said und Suez ständig hin und her klippern, auf Eselchen, von denen sie nicht harabfallen können; den sie brauchen nur die hochgezogenen Beine auszuspreizen, so läuft das Tierchen unter ihnen durch. Und das arme Grautierchen trottet mit der schweren Last unermüdlich den ganzen Tag.

Da ein reisender Handwerksbursche, das Felleisen auf dem Rücken. Natürlich ein Deutscher oder ein Österreicher. Andere reisende Handwerksburschen gibt es nicht. Dieser nahm schnell noch einen Schluck aus der Pulle, dann stellte er sich mit gezogenen Hute hin, focht die Beduinen an. Man findet ihn überall in der Welt, wo es etwas zu fechten gibt, im Herzen Afrikas wie im Herzen Asiens.

So einer könnte noch ganz etwas anderes erzählen als ein Stanley und ein Sven Hedin. Aber man hört ja nicht auf ihn — die alte Geschichte.

Ein Reiter auf sehr gutem Pferd wollte sich von der Karawane nicht überholen lassen, setzte zum Galopp an.

»Errreeehhh — ram ram!!« kommandierte der Scheich, und die Hedjins gehorchten.

Hei, wie die jetzt mit den dürren, endlos langen Beinen ausgriffen, immer im eleganten Paßgang!

Ja, in langgestrecktem Galopp kam der Reiter mit, Für zehn Minuten. Dann fiel das auf's Äußerste angestrengte Roß ab, blieb schnell zurück. Es gibt kein Pferd, welches dem Hedjin nur für eine Stunde folgen kann. Ein Rennpferd für wenige Minuten, das ist natürlich etwas ganz anderes.

Ein glühender Südwind setzte ein, erwuchs, wollte zum Sturm ausarten. »Das ist der Samum«, denkt dann ein jeder, der ihn zum ersten Male erlebte. Er ist es nicht. Es ist der regelmäßige Mittagswind.

Der Scheich hob die Lanze, die Kamele fielen in Schritt und standen. Die Gesichtsschleier wurden herabgelassen, nur aus Rücksicht auf den fremden Effendi hielt man dabei. Für diesen kam diese Vorsicht etwas zu spät, er hatte schon das ganze Gesicht voller Blasen, ebenso die Hand, die er entblößt. Der entgegenspritzende Flugsand wirkte wie glühende Funken, erzeugt auf der Haut Brandbläschen.

Weiter ging es, dem »erreh ramm« wurde noch ein »Maha, maha«, hinzugefügt, und die Rennkamele griffen immer noch ganz anders aus. Merkwürdiger Weise werden durch dieselben Worte, die sonst nichts weiter bedeuten, in Indien auch die Elefanten angefeuert, bis zur Wut, wie früher bei den Kriegselefanten. Bei der Dressur werden sie unter diesen Worten hinten geschlagen, gestochen und gebrannt — dann sollen sie wohl laufen und wütend werden, wenn sie diese Worte hören.

Von Port Said nach Kantara sind es vierzig Kilometer. In drei Stunden waren sie gemacht. Auf dieser Hauptseite nichts weiter als eine Restauration mit Telegraphenstation nach Kairo und el Arisch, früher direkt nach Jerusalem. Drüben ein elendes Hüttendorf, von italienischen und griechischen Kanalarbeitern bewohnt, und eine große Karawanserei. Hier setzen die Handelskarawanen mit einer Fähre über den Suezkanal, vielleicht aus Timbuktu kommend, vielleicht nach Persien gehend.

Schon von weitem sah Tannert an der weißen Hausmauer zwei angemalte, sich kreuzende Billardstäbe, links und rechts ein schäumendes Bierglas und eine Weinflasche, und darunter — von oben nach unten — auf französisch, italienisch, englisch und deutsch: Treffpunkt aller Fremden!

Hier wurde drei Stunden gelagert. Habbak Hammid hatte es ihm gesagt, die Beduinen sprachen ja kein Wort, aber nicht drüben in der Karawanserei, wie jener gemeint, sondern sie blieben auf dieser Seite.

Ein großes Sonnensegel war auf der Station vorhanden, es wurde vom Hausdach aus gespannt, und nahm Menschen und Tiere in seinem Schatten auf. Von drüben wurden nur mächtige Heubündel geholt, die Kamele schmausten mit wahrem Heißhunger, weil sie in den Stadtmauern nichts hatten fressen wollen, leerten große Wassereimer wie die Fingerhüte. Zwischen ihnen ließen sich die Beduinen nieder, jeder für sich, aßen aus ihrem Sack eine Handvoll Datteln und Hartbrot, und streckten sich zum Schlafen aus. Nur der Scheich und seine Schwägerin hockten noch an der Hauswand. Wenn man sich nicht um den Franken kümmerte, so brauchte der sich auch nicht um die Beduinen zu kümmern. Er wollte in den Treffpunkt aller Fremden gehen und drin etwas essen und trinken.

Da winkte ihm der Scheich.

»Meine Schwägerin bittet dich, du möchtest mit ihr in das Haus gehen und ihr zeigen, wie ein Franke ißt und trinkt.«

Es war für den jungen Gelehrten kein merkwürdiger Wunsch, er begriff ihn sofort. So gehen wir in den Zoologischen Garten zur Völkerschau, um beizuwohnen, wie Araber ein Ferkel schlachten, es am Spieße oder im heißen Erdloch rösten, es tranchieren und verspeisen.

Fatime erhob sich. Sie konnte doch nicht nur so zehn Jahre alt sein, im Stehen und Gehen war es eine für ein Weib ziemlich hohe Gestalt, unter dem Burnus wölbte sich die Brust. Dabei jede Bewegung von wahrhaft königlichem Anstand. Nur ihr Lachen klang ganz kindlich.

Sie begleitete ihn nicht allein, auch der Scheich kam mit.

Die Restauration in der Wüste war recht hübsch eingerichtet, mit eckigen Marmortischen, sogar ein Klavier war vorhanden. Abends und besonders an Lohn- und Feiertagen mochte es hier recht lebhaft zugehen, da kamen hier wohl die Aufseher und die anderen Beamten der in der Nähe liegenden Baggerboote zusammen.

Jetzt befand sich nur ein einziger Gast darin, ein eleganter Herr, der Telegraphenbeamte. Er plauderte mit einem bildschönen Mädchen, wahrscheinlich eine Italienerin, im modernen Hauskleid, die an seinem Tische stand.

Das Beduinenpaar setzte sich auf Tannerts Einladung an einen Tisch, ohne die Füße auf dem Stuhle hochzuziehen, die glutäugige Italienerin, das tiefschwarze Haar pompös frisiert, wiegte sich heran, als wenn sie es gar nicht nötig hätte. Beduinen waren keine guten Gäste.

»Parlez vous français?«

»Oui monsieur. Englisch aussi, italiano, arabi, deutsch.«

A la Bonheur! Arabisch konnte er seinen Begleitern zuliebe nicht bestellen, wußte nicht, was eine Portion »Butterbrot mit Schinken« auf arabisch heißt. Das läßt sich eben nicht ausdrücken.

»Auch deutsch sprechen Sie?«

»Jawohl mein Herr.«

»Ich bin eine Deitsche.«

»Ach was! Doch nicht aus Sachsen?«

»Nu allemal. Aus Bärne.«

Zunächst schielte Tannert nach der Verschleierten. Was hatte die denn schon wieder zu kichern? Ihm selbst kam es freilich ebenfalls komisch vor, wie sich hier das bildhübsche, glutäugige, schwarzhaarige Mädchen als eine Italienerin aus »Bärne« entpuppte.

»Aus Pirna an der Elbe?«

»Nu allemal.«

»Wie kommen Sie denn hierher?«

»Nu wie's ähm so gommt.«

»Sind Sie die Wirtin oder die Tochter?«

»De Gellnerin.«

Ja, Handwerksburschen, Kellner und Kellnerinnen!

Aber der junge Gelehrte war ja zum ersten Mal in die Welt gekommen. Und selbst bei der wortreichen deutschen Sprache werden in der gewöhnlichen Unterhaltung nur rund tausend verschiedene Vokabeln verwendet. Allein die Sprach- oder richtiger die Sprechgewandtheit macht's. Zwei Monate im Lande, und so ein Wann oder Weib scheint die fremde Sprache vollkommen zu beherrschen.

»Ja, wie haben Sie sich denn nur hierher verirrt?«

»Verirrt? Ich erre mich iwerhaupt nie.«

Die »gellnerin« wurde ungeduldig, wollte Bestellung haben oder gehen können.

»Was haben Sie zum essen?«

»Schinken, Salami, Gäse, Schbiegeleier, Riehreier, harte Eier, weiche Eier, verlorene Eier, saure Eier...«

»Haben Sie nicht auch Fleisch?« unterbrach Tannert den Eierspeisezettel und schielte wieder nach dem kichernden Schleier.

»Nu Schinken und Salami.«

»Ich meine frisches Fleisch, gebraten, ein Beefsteak.«

»Nee, Bäffschteck hammer nicht. Schinken und Salami. Der Schinken is sehr scheen.«

Na dann bringen Sie mir Schinken und Salami un Gäse.«

Die Kellnerin wiegte sich hinaus.

»Versteht deine Schwägerin die Sprache der Nimschis und Prussians?« wendete sich Tannert an den Scheich. Die Araber haben kein Wort für »deutsch«. Nimschi ist eigentlich der Österreicher, hiermit bezeichnen sie aber auch alle Deutschen.

Der Scheich schüttelte den Kopf.

»Nur arabi. Sie lacht viel. Es ist ein Weib.«

Die Kellnerin wiegte sich wieder herein.

»Der Schinken ist alle.«

»Dann Salami und Käse und Brot.«

»De Salamiwurst stinkt, un den Gäse hammer selwer gegessen. Och Eier gibt's nicht mehr. Gar nischt mehr. Das gommt alles erscht morjen mit'n Broviantboot widder.«

Draußen gackerten unausgesetzt Hühner.

»So schlachten Sie mir ein Huhn, wenn die keine Eier legen wollen!« sagte Tannert erfreut, wenigstens nachträglich auf diese Idee zu kommen.

»Was denn fier ä Huhn? Mir Hamm hier geene Hiehner.«

»Ich höre sie draußen doch immer gackern.«

»Das sin de Ginder, die Schpieln Hiehnersch un Eierlegens.«

Jetzt mußte aber doch auch Tannert herzlich lachen, und die Verschleierte benutzte diese Gelegenheit, ihre helle Stimme lauter ertönen zu lassen.

Nun wenn er den Beduinen nicht zeigen konnte, wie ein Franke in einem ihrer vertrauten Lokale speist, so konnte er ihnen einen anderen Genuß verschaffen.

»Wo steht das Billard?«

»Das hammer neilich zerhackt.«

»Soo! Ist das Klavier dort auf?«

»Uff isses, awer schpieln gene Se nich druff.«

»Warum denn nicht?«

»Nu weil geene Dasten drin sin.«

Jetzt mußte Tannert erst recht aus vollem Halse lachen — Treffpunkt aller Fremden! — da aber wurde die Kellnerin ärgerlich und sogar ausfallend.

»Wenn Se was zu essen hamm wollen, da gehen Se niewer ins Dorf, da geheern die Beduinen iewerhaupt niewer, das hier is nur fier feines Buwligum. Die Nassauer genne ich, immer rin mit die in die Wieste.«

Der junge Doktor fühlte sich ja durchaus nicht beleidigt, im Gegenteil, er hätte den Humor nur noch weiter getrieben, Aber die Verschleierte, obgleich sie doch gar nichts davon verstand, allerdings sich schon viel aus den Augen und Gesten des Mädchens erklären mochte, fing schon wieder zu sprudeln an, sie zog den Onkel am Ärmel, und so wurden die in der Stadt vergötterten Beduinen hier in diesem Wüstenlokal durch die sächsische Kellnerin quasi hinausgeworfen.

Einer Entschuldigung gegen die beiden, bedurfte es nicht, diese legten sich gleich im Schatten zum Schlafen nieder, Tannert tat desgleichen.

Als die ärgste Mittagshitze vorüber war, wurden die Kamele noch einmal getränkt und auf der Fähre hinübergesetzt, was bei diesen Hedjins eine Spielerei war, während es bei den dummgeprügelten Lastkamelen eine furchtbare Arbeit bedeutete. Dieses Wüstentier ist entsetzlich wasserscheu, das Kamel und der Affe sind die einzigen Säugetiere, die nicht schwimmen können, so wenig wie der Mensch, der es nicht lernt, woraus sich merkwürdige Schlüsse ziehen lassen. Der Affe steht von den Tieren dem Menschen am nächsten, und das Kamel ist vom Menschen so abhängig geworden, daß es sich ohne dessen Hilfe nicht einmal mehr fortpflanzen kann.

Im schnellsten Trabe ging es durch die Wüste, erst die Telegraphenstangen entlang, dann wurde rechtsgeschwenkt. Als die Sonne sich dem Horizonte näherte, wurde gehalten, aber nur die männlichen Beduinen ließen ihre Hedjins niederknien, das des Scheichs blieb stehen und Tannert vermochte das seine nicht zum Knien bringen.

Jeder Beduine schnallte einen kleinen Teppich ab, zog die gelben, ziemlich hohen Stiefel aus, sie ahmten, in einer Reihe hinter hinter und auf den Teppichen stehend, im gleichen Takte die Verbeugungen und andere Bewegungen des vorbetenden Scheichs nach, die vorgeschriebenen Worte, Suren des Korans, lautlos plappernd.

Die Verschleierte schaute von ihrem Kamel aus zu, oder blickte gelangweilt anderswo hin. Ja, sie lachte, als der Franke mit seinem unruhig werdenden Tiere nicht fertig wurde. Sie brauchte nicht zu beten. Sie kam dereinst weder ins Paradies noch in die Dschehenna, in die Hölle. Die Mohammedanerin hat keine Seele, ist nur Erde, soll möglichst fruchtbare Erde sein.

Dann ging es noch stundenlang im Mondschein weiter. Als endlich Halt für die Nacht gemacht wurde, war Tannert durch die ungewohnte Anstrengung so erschöpft, daß er kaum noch einige Datteln und etwas Hartbrot essen konnte, weiter hatten die Beduinen auch nichts mit, er wollte nichts mehr von dem Kaffee wissen, den sie auf einem modernen Spiritusapparat brauten, wozu die Bohnen auch erst wieder frisch gebrannt wurden. Er kroch in eines der drei aufgeschlagenen Zelte, oder richtiger nur über Stöcke straff gespannte Tücher um sich gegen den nächtlichen Tau zu schützen und mittags etwas Schatten zu haben, wickelte sich in eine Decke und war augenblicklich eingeschlafen.

Das war um zehn Uhr gewesen. Um drei Uhr wurden sie schon wieder geweckt. Wieder hinauf auf's Kamel. Wie man ihn hinaufbrachte wußte Tannert dann nicht mehr. Und für siebzehn Stunden sollte er nicht wieder herunterkommen.

Was hatte der Grieche ihm von den besten Hedjins erzählt, was sollten die leisten können? In drei Tagen vierhundertfünfzig bis fünfhundert Kilometer. Lächerlich. An diesem Tage legten diese Hedjins hier die Hälfte jener größeren Strecke zurück, 250 Kilometer, wie er sich später berechnen konnte, und dabei waren die Beduinen zweimal zum Beten abgestiegen, in Gebirgsschluchten wurde Schritt geritten. Freilich wurde auch während des Reitens gegessen und getrunken und eine Pfeife geraucht.

Tannert sah nichts von Gebirgen und Schluchten. Das alles hatte für ihn gar keine Interesse mehr. Morgen war er tot, das wußte er bestimmt.

Aber er brauchte nur eine kleine Anregung, so wurde er doch wieder lebendig, dachte nicht mehr an Tod oder sogar Selbstmord.

Als die Beduinen in der siebzehnten Stunde des Rittes zum Abendgebet abstiegen, lenkte die Verschleierte ihr Hedjin neben das seine. Die Beduinen hatten ihn während des Rittes mit noch keinem Wort beglückt, wie sie allerdings auch untereinander nicht sprachen, und sie, die wohl gar nicht sprechen durfte, redete ihn an.

»Harre aus, Effendi«, flüsterte sie, »nur noch eine halbe Stunde, dort an den Hügeln wächst Gebüsch, die Hedjins müssen essen und ruhen, auch sie sind bis zum Äußersten erschöpft. Dort wird zehn Stunden gerastet. Du bist ein Mann, Effendi, meine Brüder staunen, sie wollen den Franken demütigen, du sollst sie bitten, Rast zu machen, nur noch eine halbe Stunde halte aus, und morgen bist du ein unermüdlicher Hedjan, der zehn Hedjins totreitet.«

Sie trieb ihr Tier zur Seite.

Oho! Demütigen wollte man ihn? Das hatte er nur direkt zu hören brauchen. So etwas geahnt hatte er schon. Jetzt war er bereit, noch die ganze Nacht im Sattel zu sitzen.

Er brauchte es nicht. Richtig, nach einer halben Stunde wurde das Lager aufgeschlagen. In der felsigen Gegend wuchsen arabische Mimosen mit fingerlangen Dornen, hart wie Nägel und spitz wie Nadeln, die Sarazenen machten früher daraus Pfeilspitzen, und die Kamele schnurpften sie wie saftiges Gras.

Wie gerädert streckte sich Tannert aus, aber als er nach zehnstündigen Schlafe erwachte, fühlte er sich wie neugeboren, er bat den jugendlichen Rittmeister, einmal sein Kamel zum Niederknien zu bringen, es geschah, so stieg er auf, es gelang, und die diesmal zusehenden Beduinen klatschten in die Hände.


10. Kapitel.

Wieder tauchte vor ihnen ein hoher Gebirgszug auf, im Norden scharf begrenzt, nach Süden sich unübersehbar hinziehend.

Der Scheich zügelte sein Tier, bis Tannert an seiner Seite war, richtete an ihn seit vorgestern die ersten Worte.

«Dschebel Schobek.«

»In dem Petra liegt?«

»Du sagst es.«

»Alle Oasen liegen auf der anderen Seite dieses Gebirges?«

»Ja.«

»Meist von der Türkei befestigt.«

»Du sagst es.«

»Alle die Brunnen sollen ausgetrocknet sein?«

»Sie sind es.«

»Wie kommt das?«

»Allah weiß es.«

Damit war ja noch nicht gesagt, daß kein Mensch darum wußte. Mit seiner Tesbhi hatte Tannert diesen Beduinen gegenüber noch nichts versucht, wollte es auch lieber nicht tun. Wenn sie darum wußten, so war es ja gut.

»Die Forts sind von den türkischen Soldaten verlassen worden?«

»Selbstverständlich.«

»Und die arabischen Oasenbewohner?« gewarnt »Sind von Allah im Traume rechtzeitig gewarnt worden.«

»Gibt es denn in Petra Wasser?«

»Für dich, ja.«

»Du begleitest mich bis in die Ruinenstadt?«

»Nein.«

»Wer sonst?«

»Ich zeige dir die Ruinen nur.«

»Wer führt mich zum Wasser, gibt mir Proviant?«

»Ein anderer.«

Der Scheich trieb sein Tier wieder vor, und Tannert war zufrieden.

Sie durchtrabten ein mehrere Kilometer breites Wadi, ein ausgetrocknetes Fluß- oder Strombett, in dem zur Regenzeit das Wasser aber nur in der mittelsten, ganz schmalen Rinne fließt. Das breite Strombett gehört der vorhistorischen Geschichte der Erde an.

Es war das Wadi el Arabah, durch das jedenfalls das tote Meer, für uns noch ein unergründetes Rätsel, einst einen Zu- und Abfluß gehabt oder mit dem Meerbusen von Akaba in Verbindung gestanden hat. Die Gebirge sind erst später durch vulkanische Erhebung erstanden.

Es zeigte sich, daß die Ferne des Gebirges nur eine perspektivische Täuschung gewesen war. Die steile Felswand stieg gleich am Rande des Wadis empor, von zahlreichen Schluchten unterbrochen. In solch eine Schlucht lenkte der Scheich sein Hedjin.

»Wadi Musa«, rief er zurück.

Man näherte sich dem Ziele, Tannert glaubte es, wie schwer es geworden war, die sagenhafte Ruinenstadt wiederzufinden, wenn die Eingeborenen den Forschungsreisenden die Auskunft verweigerten, ihnen Hindernisse in den Weg legten; vielleicht aber hatten auch die Araber die einst mächtige Stadt vergessen gehabt.

Kreuz und quer zogen sich die Täler und Schluchten, und innerhalb solch eines steinernen Vierecks sollte Petra liegen. Jetzt war ihre Lage ja nach Breiten- und Längengraden bis zur Ortssekunde bestimmt, es gab topographische Karten, aber wie nun wieder einen Aufstieg zu diesen natürlichen Festungsmauern finden?

Auf ein Zeichen mit der Lanze des Führers hielt die ganze Karawane, der Scheich stieg ab, auch Tannerts Hedjin mußte niederknien.

»Komm, Effendi!«

Niemand hätte geahnt, daß das Gebüsch, welches aus den Spalten wucherte, hier eine Steintreppe verdeckte Durch einen Kamin, wie man im Gebirge eine breite Felsspalte nennt, ging es auf steilen Stufen gegen 20 Meter hoch, dann wurde ein schräg nach oben führender Tunnel daraus, den man ohne Stufen begehen konnte.

Dort, von wo das Licht hereindrang, blieb der vorausgehende Scheich stehen und deutete mit der Hand nach unten.

»Petra.«

Ja, da lag sie, die märchenhafte Felsenstadt. Ein tiefes kreisrundes Tal von etwa anderthalb Kilometer Durchmesser, von 40 bis 50 Meter hohen, ganz glatten Felswänden eingeschlossen, diese überall kleine und große Löcher zeigend, die ihre meist viereckige Beschaffenheit den von der Hand des Menschen geführten Meißel verratend, übereinander in langen Reihen liegend, durch Galerien miteinander verbunden — und das ganze Tal selbst ein einziger Trümmerhaufen von quadratischen Steinen, aus denen hier und da noch eine geborstene Säule ragte.

Von hier aus führte eine schmale, halsbrecherische Treppe hinab und eine andere weitere weiter hinauf.

Von diesem Zugang hier hatte noch kein Besucher Petras berichtet. Die Stadt besaß unten zwei große Ein- und Ausgänge, den einen hatte Burckhardt fast nur zufällig gefunden, verschüttet und überwuchert, erst von anderen Forschungsreisenden war er unter unsäglichen Schwierigkeiten wenigstens so weit freigelegt worden, daß man zur Not ein Kamel durch bringen konnte. Der andere war noch total verschüttet. Dabei wußte man, daß es auch noch andere geheime Zugänge gab.

»Führt diese Treppe nach oben auf den Felsen?«

»Sie tut es.«

»Ein Ersteigen ist möglich?«

»Ohne Gefahr.«

»Ich werde erst einmal hinaufsteigen, um von oben Umschau zu halten.«

»Tue es.«

Es zeigte sich, daß nur einige wenige Stufen draußen im Freien am Felsen entlangführten, dann drangen sie wieder als Schacht in das Gestein hinein, so war es dann auch bei der nach unten führenden Treppe, und das war eben das Raffinierte dabei. Ein einziger Mensch konnte hier ein ganzes Regiment aufhalten, vernichten, er brauchte nur mit einer Stange jedem Erscheinenden einen kleinen Stoß zu geben, so stürzte er in die Tiefe hinab.

Oben war ein Plateau, sicher ebenfalls bemeiselt, spärlich überwuchert. Gleich bei einem der ersten Schritte trat er auf eine wackelige Steinplatte. Also hier ging es wieder in einen Schacht hinab. Ein Handgriff war an der Platte nicht, sie wäre Wohl auch zu schwer gewesen, und mit solchen einzelnen Untersuchungen wollte er sich jetzt noch nicht aufhalten. Erst das Gesamte.

Einen besseren überblick hatte er von hier oben über das Tal nicht, sah nur, daß es zwischen den Trümmern doch auch viele freie Plätze gab, dazwischen waren Gassen geschaffen worden, die Arbeit früherer Forscher, die Hunderte von Arbeitern dabei beschäftigt hatten.

Aber wie ward dem Doktor, als er nach der anderen Richtung blickte. Da sah er in einer weiten Schlucht oder engem Tale neun Kamele traben, das zweite ledig.

Ach so, die Beduinen suchten den bequemen Eingang, um die Kamele hereinzubringen, hatten dazu einen großen Umweg machen müssen. Aber etwas auffallend war es doch. Hätten sie ihm das nicht wenigstens sagen können, wo der Scheich zuletzt doch etwas mitteilsamer geworden war?

Tannert stieg wieder herab, mußte also erst noch einmal in den Mitteltunnel hinein.

Und da standen seine beiden Koffer, lag sein Gewehr und der Degenstock!

Nun wurde das doch mehr als auffallend. Warum transportierten sie das Gepäck nicht per Kamel in die Stadt hinein, schleppten es hinter seinem Rücken erst hier herauf? Sah das nicht fast aus, als ob...

Tannert schlug sich alle fragenden Gedanken aus dem Kopf, untersuchte die abwärtsführende Treppe, ob er sie mit einem Koffer begehen könne. Ja, es war ein meterbreiter Vorsprung den er nur zu überwinden brauchte, dann ging es wieder in den Felsen hinein. Er hing das Gewehr über den Rücken, nahm gleich beide Koffer und den Stock, kam sich recht als Commisvoyageur vor, als er so die Treppen eines vierstöckigen Hauses hinabstieg. Der Tunnel war durch in die Felsen gehauene Löcher erhellt.

So, jetzt befand er sich gewissermaßen auf der Straße. Nur das alle Häuser zusammengestürzt waren. Sein Gepäck konnte einstweilen hier in dem Tunneleingang bleiben, einem Koffer entnahm er vorläufig nur den besten Situationsplan der Ruinenstadt, nahm sonst nur noch den Spazierstock mit, ließ dafür den Burnus zurück, der ihm beim Klettern hinderlich war.

Er war noch nicht weit gekommen, stand auf dem nächsten freien Platz und vertiefte sich in die Karte, dabei den Taschenkompaß benutzend, als er leichte, rasche Hufschläge vernahm.

Hinter einem Trümmerhaufen kam ein Beduine hervorgesprengt, auf einem Pferde, so prächtig, von so edlem Gliederbau, wie er es wirklich noch nicht gesehen hatte., und auch der Beduine war eine prachtvolle, phantastische Erscheinung, der schneeweiße Burnus verbrämt, mit silbernen und goldenen Stickereien durchwirkt, der Lanzenschaft mit Gold ausgelegt, die Spitze vergoldet, um die Stirn ein Diadem, ein goldener Reif mit blitzenden Steinen, der den oberen Teil des Schleiers hielt, der untere wurde von einer Gille gehalten, der goldenen Nasenschiene, ebenfalls mit farbigen Edelsteinen besetzt. Also ein Weib, wie Tannert jetzt auch an der Figur erkannte.

»Eeeh, wer ist denn das?!« erklang eine metallene Stimme.

Im Moment stand das eben noch galoppierende Pferd, die Vorderbeine weit spreizend und den Kopf gesenkt, plötzlich wie angewurzelt dicht vor ihm, erst nach diesem Manöver sich wieder aufrichtend.

»Wer bist du?«

Tannert, die Arme verschränkt, hatte die prachtvolle Erscheinung mit vollem Genuß betrachtet.

»Ein Nimschi, der diese Ruinenstadt besucht.«

»Bist du ein Christ?«

»Ja.«

»Die Arme herunter, du Christenhund!!« donnerte da plötzlich die metallharte Stimme.

Oho? War denn das bei den Mohammedanern nicht gerade ein Zeichen der Ehrerbietung, die Arme auf der Brust zu verschränken? Aber richtig, sie hatte sich ja schon vergewissert, daß er ein Christ sei.

Er löste die Arme, ließ sie herabhängen, in einer Hand den Stock.

»Den Stock aus der Hand.«

Er legte ihn neben sich auf einen Felsblock. Den erforderlichen Anstand wollte er nicht verletzen.

»Weißt du wer ich bin?«

»Nein.«

»Auf die Knie nieder, Christenhund, das Gesicht in den Staub gedrückt. Du stehst vor der Emira Aische al Seba!«

Hatte er es doch fast geahnt. Warum wußte er selbst nicht. Die Grenze der Provinz Nedschd lag reichlich hundert geographische Meilen von hier entfernt, was hatte die denn hier zu suchen? Und trug sie, die als Fürstin der Wahabiten ein Vorbild der Einfachkeit wenn nicht der Armut sein sollte, nicht überreichen Schmuck? Aber wiederum, welches andere arabische Weib tritt denn so selbstherrlich auf als nur die Nachfolgerin der vergötterten ersten Gattin des Propheten?

»Weißt du nun, wer ich bin?«

»Wer bin ich?«

»Die Emira von Nedschd.«

»Nein.«

»Die Emira der Wahabiten.«

»Ja. Weißt du, was das zu bedeuten hat?«

»Ich weiß es.«

»Ich bin die Nachfolgerin der Prophetin Aische.«

»Ich weiß es.«

»Und du wagst mir zu trotzen?«

»Inwiefern trotze ich dir denn?«

»Auf die Knie nieder und das Gesicht in den Staub gedrückt!!«

Der junge Deutsche blieb stehen und — sah die Katastrophe schon kommen. An seinen Vorgänger Ludwig Burckhardt dachte er dabei nicht, sein Gehirn arbeitete fieberhaft, um auf diplomatischem Wege aus dieser fatalen Situation zu kommen.

»Du willst mir nicht gehorchen?«

»Wir Christen beugen unsere Knie nur noch vor Gott, nicht einmal mehr vor unseren eigenen Fürsten.«

Die goldene Lanzenspitze senkte sich.

»Ich aber, die Emira Aische al Seba, gebiete dir, vor mir niederzuknien! Schnell, oder ich spieße dich an und schleudere dich wie eine Ratte in die Luft!«

Statt einer Antwort wollte Tannert jetzt auch noch die Arme wieder über der Brust verschränken — da fiel ihm etwas ein — warum hatte er nicht gleich daran gedacht?

Schnell zog er zwischen Hemd und Weste die Tesbhi hervor, streifte sie gleich über den Kopf.

»Was ist das?«

»Eine Tesbhi.«

»Zeig her.«

«Sie nahm sie mit der Lanzenspitze, schleuderte sie in die Luft und fing sie.

»Was soll's mit dem wertlosen Dinge?«

»Kennst du diese Tesbhi nicht?«

»Was soll's?«

»Sie ist mein Talisman.«

»Er schützt dich nicht vor dem Tode.«

Sie warf ihm die Kugelschnur vor die Füße, senkte wieder die Lanzenspitze vor die Brust.

»Auf die Knie nieder?«

O weh, die Tesbhi versagte, sie gehörte nicht zu den Eingeweihten.

»Ich bin ein Gastfreund der Beni Busetas.«

»Gastfreund?«

»Ja.«

»Ich habe dich mit Busetas hierherkommen sehen.«

»Sie haben mich von Port Said hierher begleitet, ihr Scheich Mustapha selbst.«

»Ich weiß es. Mache das Zeichen, daß du ein Gastfreund der Beni Busetas bist.«

Tannert kannte kein solches Zeichen.

»Sieh, du lügst! Du bist kein Gastfreund der Beni Busetas. Was geht das überhaupt mich an?«

»Ich befinde mich auf dem Gebiete der Busetas.«

»Oho, versuchst du es so? Ich will dir gleich zeigen, was die Emira der Wahabiten zu bedeuten hat. Also nun zum letzten Male, auf die Knie nieder?«

Tannert blieb stehen.

»Du willst nicht?«

»Nein.«

»Du denkst, ein Lanzenstich ins Herz ist ein schneller Tod. So leicht sollst du es nicht haben. Freiwillig sollst du dich noch vor mir hinlegen.«

Hinter dem Schleier ein gellender Pfiff, plötzlich tauchten überall Beduinen auf, die schon auf der Lauer gelegen haben mußten, im Nu war Tannert umringt, gepackt, und an den Händen gefesselt. Doch war es dabei ohne jede Roheit abgegangen.

Dann ein Wort, daß er nicht verstand, sämtliche Taschen wurden ihm geleert, alles geordnet hingelegt, nur die Brieftasche der Emira gereicht, wohlwissend, daß in solch einem Etui die Franken ihre wertvollsten Effekten verwahren.

Sie zog die Papiere heraus, faltete einige auseinander, bis sie aufmerksam auf ein Blatt blickte, das Tannert noch nicht erkennen konnte.

»Was ist das?«

Sie hielt es hoch — seine Skizze von Leonores Kopf.

»Meine Braut.«

»Du lügst!«

»Ich spreche die Wahrheit.«

»Hier hinten darauf ist das Zeichen der Scheichstochter der Beni Suefs!«

Von solch einem Zeichen hatte Tannert dann, als das Blatt wieder in seinen Besitz gelangte, nichts bemerkt. »Von wem hast du das?«

»Von Fatime, der Scheichtochter der Beni Suefs.«

»In deren Begleitung du vorhin geritten bist?«

»Ja.«

»Sie wird dem Tarrascheich Achmed der Beni Busetas als Gattin zugeführt.«

»Ja.«

»Sie wird von ihm zurückgewiesen, oder ist es schon geschehen?«

»Möglich.«

»Nein, es ist so!«

»Ja, ich habe es so gehört.«

»Die Zurückgewiesene hat dir den Brautkuß gegeben?« Blitzschnell schossen dem jungen Gelehrten die Gedanken durch den Kopf. Das sicherste war, bei der Wahrheit zu bleiben.

»Ja.«

»Sie hat dich im Schlafe geküßt?«

»Ja.«

»Wo.«

»Im Hause des arabischen Handelsherrn Habbak Hammid zu Port Said.«

»Ich kenne ihn. Und sie hat dieses Zeichen hinterlassen?«

»Ja.«

»Hast du kein anderes Zeichen von ihr? Keinen Ring?«

»Dort liegt ein Armband, das sie mir schenkte.«

Sie bekam es, betrachtete es aufmerksam.

»Es trägt das Zeichen der dritten Tochter des Scheichs der Beni Suefs — ja, das wird Fatime sein — es stimmt mit dem anderen überein. Franke, das erspart dir die Tortur, rettet dir das Leben.«

Damit konnte der junge Deutsche vorläufig zufrieden sein.

Die Emira suchte weiter in der Brieftasche, fand die englischen Banknoten, deren Wert sie sicher kannte, steckte sie aber ungezählt und achtlos zurück — jetzt entfaltete sie den türkischen Paß, türkisch, arabisch und französisch abgefaßt.

Tannert glaubte, sie würde ihn sofort zerreißen und ihm die Fetzen vor die Füße werfen. Zunächst aber las sie ihn aufmerksam, wiegte den Kopf hin und her.

»Docteur — Traugott — Tannert — Berliner«, sagte sie mit schwerer Zunge.

»Das bin ich.«

»Du bist ein Krieger — ein Soldat der Nimschi — der Prussianis — der... deitski?«

»Ja.«

»Berliner... ich weiß. Du bist ein...Anführer der Soldaten, ein... Leutnant. Hier steht es.«

»Ja, das bin ich.«

Wieder wiegte sie den Kopf hin und her.

»Gut, ich weiß. Wenn du etwas zusagst, so mußt du es halten.«

»Das muß überhaupt jeder Mann, jeder Mensch.«

»Gut, nein. Es wäre gut, wenn es so wäre. Du mußt dein Wort ohne Hintergedanken geben, weil du bist Offizier der Prussiani, der deitski.«

»Ja. Für einen Offizier ist es doppelt schmachvoll, sein Wort zu brechen.«

»Gut, ich weiß es. Gib mir dein Wort, und du bist frei.«

»Worauf hin soll ich dir mein Ehrenwort geben?«

»Du sollst dieses Felsental mit keinem Schritte eher verlassen, als bis ich dir die Erlaubnis dazu gebe.«

»Auf mein Ehrenwort.«

»Gut. Du darfst keine Hintergedanken dabei haben. Aber noch mehr. Kennst du hier das Chaznet Firnun?«

»Die Schatzkammer des Pharaos. Bis jetzt habe ich nur davon gehört, ich bin zum ersten Male hier.«

»Du sollst dich hier ganz frei bewegen können. Nur dieses Chaznet Firnun darfst du nicht betreten.«

»Auf mein Ehrenwort. Nur wie soll ich es wissen, daß ich sie nicht zufällig ohne meinen Willen betrete. Ich kenne dieses Gebäude nicht«

»Sie wird dir von außen gezeigt. Ich gebe dir einen Diener, er wird für dich sorgen, und du solltest seine Anordnungen befolgen. Es werden nur gerechte sein.«

»Mit all dem bin ich einverstanden. Auf mein Ehrenwort.«

»Gut, löst ihm die Fesseln.«

Mit einem Schnitt war das geschehen, die Emira ließ die Brieftasche fallen, warf ihr Roß herum, und im Nu waren auch alle anderen Araber verschwunden. Tannert blickte sich um, es kam ihm alles etwas traumhaft vor. Diese Totenstille plötzlich nach der bewegten Szene, die voraussichtlich mit seinem Tode abgeschlossen hätte. Das er nicht geträumt, dessen war er sich natürlich bewußt.

Dort lagen noch all seine Sachen, dort die Brieftasche, und da stand ein zurückgebliebener Araber mit demütig verschränken Armen.

»Bist du der, der mich führen soll?«

»Ich bin dein gehorsamer Diener, edler Effendi.«

»Wie heißt du?«

»Hassan.«

Erst wollte Tannert seine Sachen aufsammeln, der Araber sprang sofort zu wehrte ihm, aber auch erst fragend, ob er die Gegenstände anfassen dürfe.

»Wo gibt es hier Trinkwasser?«

»Ich werde dir sofort welches bringen.«

»Halt! Willst du mich nicht hinführen?«

»Nein, das darf ich nicht.«

Diese Instruktionen waren ja äußerst schnell gegeben worden. Aber das war ja auch gar kein gewöhnlicher Araber, der sonst für einen anderen Dienste verrichtet? Der Griff seines im Gürtel steckenden Dolches war sehr kostbar.

»Warum darfst du nicht?«

»Herr, solche Fragen darf nun wieder ich nicht beantworten.«

»Gut, ich werde es auch nicht wiedertun, wenn ich es vermeiden kann. Aber ich darf dich doch zum Beispiel fragen, ob du dich in dieser Ruinenstadt gut auskennst.«

»Das darfst du. Ja, das tue ich.«

»Aber ich darf nicht fragen, wie viele ihr hier seid, was die Emira hier macht?«

Nein, das darfst du nicht. Oder es ist ganz zwecklos.«

»Welchem Stamme gehörst du an?«

»Das brauchst du nicht zu wissen, wenn ich dich durch die Ruinen führen soll«, war der offene Bescheid.

»Gut, nun kenne ich deine Grenzen, wie weit ich gehen darf. Erst will ich zurück zu meinem Gepäck.«

»Kennst du eine Unterkunft für mich?«

»Ich werde dich hinführen und sie dir einrichten.«

Der Araber ließ es sich nicht nehmen, ihm das Gewehr und beide Koffer zu tragen, führte ihn quer durch das ganze Tal, zeigte ihm eine Reihe zu ebener Erde gelegene Felsenkammern.

»Willst du hierbleiben bis ich wiederkomme?«

»Wohin gehst du?«

»Dir erst Wasser und Essen zu holen.«

»Wenn du nun nicht wiederkommst?«

»Weshalb sollte ich nicht wiederkommen?«

»Gott kann jedes Menschen Leben in jeder Minute fordern. Dann bin ich hier dem Verschmachtungstode verfallen.«

»Du sprichst die Wahrheit, Effendi. Aber unserer sind viele, sie alle würden für dich sorgen, wie es die Emira befiehlt.

»Ich bleibe hier.«

Der Araber rannte davon. Tannert wollte nicht zu grübeln anfangen, er vertiefte sich wieder in die Karte, untersuchte den photographischen Apparat und Zubehör.

Nach einer Viertelstunde kam Hassan zurück, brachte einen Krug Wasser, eine gebratene, noch rauchende Schöpsenkeule und frischgebackenes Durrabrot mit.

»Es ist nur diesmal, daß du dich mit dem Notdürftigsten behelfen mußt«, sagte Hassan, auf einem Quaderstein ein Holzbrettchen legend und auf dieses die Schöpsenkeule, daneben ein Holzbüchschen mit Salz. »Wartest du noch einige Minuten, so bringe ich schon jetzt noch mehr herbei, Decken und Kissen und alles, was ein Effendi bedarf.«

Tannert ließ sich schon die lieblich duftende Schöpsenkeule gefallen. Wo war denn die her? Ein frischgeschlachtetes Schaf hier mitten in der Wüste? Ja, mußte hier nicht ein Überfluß an Fleisch herrschen? Er durfte nicht fragen.

Das Wasser war köstlich, frisch aus einem kühlen Brunnen. Hassan stopfte in die enge Öffnung des Kruges wieder das Bündel trockenes Gras und setzte ihn in die Sonne, um das Wasser kühl zu erhalten. Denn es war einer jener irdenen Krüge, innen und außen unglasiert, also porös, wie sie im Orient allgemein üblich sind. Das Wasser sickert überall etwas durch, verdunstet an der Oberfläche, dadurch wird nach physikalischem Gesetz Wärme gebunden, der Inhalt des Kruges bleibt kühl, und war das Wasser erst warm, so wird es schnell kühl und umso schneller und kühler, je rascher die Verdunstung vor sich geht, also gerade in der heißen Sonne. Es ist unbegreiflich, daß solche Krüge, so ein einfaches Mittel, um im heißen Sommer ohne Eis ein kühles Getränk zu haben, womit auch Milch und Butter und alles andere gekühlt werden kann, noch nicht bei uns eingeführt worden sind. Doch, eine deutsche Tonwarenfabrik hat es versucht, aber beim Publikum kein Verständnis dafür gefunden. Für unsere Verhältnisse sind ja auch große Nachteile dabei. Die porösen Krüge sind ungemein zerbrechlich, erfolgt die Verdunstung nicht schnell genug, so leckt das Wasser heraus, mit der Zeit verstopfen sich die Poren — die Krüge müssen immer durch neue ersetzt werden, und so spottbillig, wie sie der bedürfnislose ägyptische Töpfer herstellt, sind sie auch bei uns nicht anzufertigen.

Von seinem zweiten Gange brachte Hassan Kissen und Decken mit. Nochmals ließ ihn Tannert, der seine Mahlzeit schnell beendet hatte, nicht gehen, er mußte ihm gleich als Führer dienen. Zunächst ein Rundgang, ohne ins Innere der Felsenkammern einzudringen.

»Chaznet Firnun«, deutete Hassan mit der Hand.

In der Höhe einer ersten, zweiten und dritten Etage zogen sich in der Felswand lange Reihen von großen Fensteröffnungen hin, dazwischen auch einige offene Kammern gewissermaßen nach innen gearbeitete Balkone — Loggias nennt man das heute — die ganze Fassade reich mit Skulpturen geschmückt, besonders viele Reliefpfeiler, ein Wort, das man nach rückwärts lesen kann — die bis hinabliefen, das Ganze wirklich einen höchst prächtigen, künstlerischen Eindruck machend.

Hier drin also soll ich mein Glück, soll ich Leonore finden, dachte Tannert.

»Wo ist hierzu eigentlich der Eingang?«

Denn von einem solchen war unterhalb der Fenster nichts zu bemerken, hier war alles geschlossener Felsen, nur mit Skulpturen bedeckt.

»Dort drüben.«

Die Türen und großen Tore lagen ganz seitwärts.

»Darf ich fragen, weshalb ich die Schatzkammer Pharaos nicht betreten soll. Das hängt mit meinen Forschungen zusammen, derentwegen ich hierher gekommen bin.«

»Die Emira hat es verboten. Ich weiß nicht warum.«

»Ist da etwas besonderes drin?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, die Emira wird dir später noch die Erlaubnis geben.«

Als er untergehender Sonne nach seiner Behausung zurückkehrte, zeigte es sich, daß unterdessen noch andere dienstbare Geister für ihn tätig gewesen waren. Zwei der Felsenkammern waren wohnlich eingerichtet worden, noch viel mehr Decken und Kissen, sowie Teppiche waren hinzugekommen, über zwei hohe Steine hatte man eine Steinplatte gelegt, so einen Tisch für den Franken herstellend. Als Stuhl diente ein Kamelsattel mit Rückenlehne, aber alles mit Decken und Teppichen belegt. Auf dem Tisch stand eine irdene, aber künstlerische Lampe mit wohlriechendem Semaöl, das andere Gemach diente als Schlafzimmer, ein erhöhtes breites Bett aus aufgeschichteten Teppichen, ein ausgehöhlter Stein diente als Waschtisch, das Wasser sogar zum Ablassen, es floß ins Freie, daneben Seife und ein großes Stück schneeweiße Leinwand, die Türen der Kammer durch Teppiche verhangen — es war an alles gedacht worden, Tannert war geradezu gerührt ob solcher Fürsorge.


11. Kapitel.

Zwei Tage vergingen. Tannert skizzierte und photographierte, entwickelte die Filme, wozu er alles mit hatte, Wasser stand ihm so viel zur Verfügung als er wünschte, es war weich genug. Im Besonderen begann er das kleine Amphitheater auszumessen, die oberen Kammern zu untersuchen, ohne etwas bemerkenswertes zu finden.

Der Magenfrage nach lebte er wie in einem englischen Hotel. Der Speisezettel sehr eintönig, aber das gebratene Fleisch immer in mächtigen Stücken, Hammel und Rind, auch viel Geflügel, abwechselndes Gemüse, arabische Möhren, gekochten Reis und Mais, auch frisch gebackenes Weizenbrot setzte ihm Hassan manchmal auf den Tisch, dazu Schafkäse und verdünnte Kamelmilch, für das Wasser Fruchtsäfte.

»Wo kommt nun immer das frische Fleisch her? Darf ich das nicht erfahren?«

»Von der nächsten Oase.«

»Ich denke, die Brunnen aller Oasen sind vertrocknet?«

»In dieser einen Oase nicht, und sie ernährt große Herden.«

»Was ist das für eine Oase? Wie heißt sie?«

»Das edler Effendi, brauchst du nicht zu wissen, wenn du hier die Ruinenstadt untersuchen willst«, war wiederum die bei aller Ehrerbietung abweisende Antwort.

Von den anderen Beduinen hatte er noch immer keine Spur bemerkt. Sie lagerten offenbar außerhalb des Tales, Hassan begab sich zu ihnen durch einen geheimen Tunnel, von dort besorgte er die Speisen. Das Wasser aber mußte er wohl in der Nähe schöpfen, da kam er immer viel zu schnell zurück.

Am dritten Tage brachte ihm Hassan seine frischgewaschenen Unterkleider.

»Du mögest mir folgen, Effendi.«

Er führte ihn einige hundert Schritte an der Felswand entlang, in eine Tür hinein, eine Treppe hinauf, vor ihm in der nackten Felskammer stand die Emira, noch in dem selben Kostüm, stehend, eine hohe, königliche Erscheinung.

»Franke, die edle Fatime al Suef hat dich zum Gatten gewählt.«

Ach, da kam es! Er hatte es vermocht, in den beiden Tagen gar nicht daran zu denken.

»Ich bin bereits verlobt.«

»Mit wem?«

»Mit der Prinzessin Eleonor von Bourbon.«

»Ist das die, deren Gesicht auf der Rückseite des Papieres war?«

»Ja, aber auf der Vorderseite.«

»Zeige es mir noch einmal.«

Er entnahm das verhängnisvolle Blatt seiner Brieftasche. Sie betrachtete aufmerksam das Bild, ebenso aufmerksam dann auch das Zeichen auf der Rückseite, die ihr aber als Vorderseite galt, dann wieder Leonores Kopf.

»Eine Prinzessin von Bourbon?« fragte sie ziemlich geläufig.

»Ja.«

»Du bist ein Franke. Ich weiß genug davon. Bist du nach den Sitten deines Landes ihr ebenbürtig?«

»Eigentlich nicht.«

»Wessen Landes Fürstin ist sie?«

»Ihre Vorfahren haben auf dem Thron Frankreichs gesessen, welches Land jetzt eine Republik ist, das heißt keinen König hat.«

»Republik, o, ich weiß. Fahre fort.«

»Sie hat wohl Ansprüche auf den Thron, aber sie sind ganz hoffnungslos. Es gilt nur den Schein des Rechts zu wahren.«

»Frankreich, o, ich weiß. Sie will deinetwegen auf ihre Ansprüche verzichten.

Tannert bejahte. Es war ja sehr kühn, was er da behauptete, aber er war dieser festen Überzeugung, so hatte er sich alles zurechtgelegt und so sprach er.

»Du liebst sie?«

Es war eine arabische, eine mohammedanische Frage. Denn bei den Mohammedanern hat ja das ganze Heiraten gar nichts mit Liebe zu tun.

»Ja, ich liebe sie.«

»Liebt sie dich auch?«

»Sie liebt mich auch.«

»Das ist sehr schön«, wurde die sonst so metallharte Frauenstimme einen Ton weicher gestimmt. »Wie habt ihr euch in Liebe gefunden?«

»In London, wo sie zusammen mit ihrem Bruder, dem Herzog von Asturien, zufällig mit mir in einem Hause wohnte, unter einem anderen, einfachen Namen.«

»Weshalb unter einem anderen Namen?«

»Weil die beiden unerkannt bleiben wollten und wohl auch mußten.«

»Warum?«

»Es sind Kronprätendenten. England scheint mit ihnen einen diplomatischen Schachzug vorzuhaben, womit sie nicht einverstanden...«

»Gut, ich weiß. Du hast Habbak Hammid davon einiges erzählt, dieser hat sich mit Scheich Mustapha darüber weiter unterhalten, diesen habe ich unterdessen bereits gesprochen. Du wußtest aber, das die, die du liebst, die Prinzessin von Bourbon war.«

»Nein, das wußte ich damals noch nicht. Sie entfloh plötzlich mit ihrem Bruder, mir nur die Andeutung zurücklassend, daß unsere Liebe durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt würde. Schon das machte mich stutzig, außerdem hatten die Geschwister mit dem englischen Staatsminister intim Verkehr, und dann erfuhr ich noch durch Zeitungen, daß die Geschwister, die sich Harris und Leonore Lavoir genannt hatten, niemand anderes sein konnten als der Herzog von Asturien und die Prinzeß Eleonore von Bourbon.«

»Hattest du denn deren Bilder nicht schon früher zu Gesicht bekommen?«

»Nein, nie.«

»Habbak Hammid hat sie doch in euren Zeitungen gesehen.«

»Ich zufällig nicht, auch bis jetzt noch nicht.«

»So. Und nun weiter.«

»Es war für mich natürlich ein furchtbarer Schlag, ich verfiel in Trübsinn. Ich hatte schon vorher beabsichtigt, mit einer größeren Expedition eine Forschungsreise nach Petra zu machen...«

»Ja, ich weiß. Durch Scheich Mustapha erfuhr ich es, dem Habbak Hammid davon erzählte. Ein Glück, daß daraus nichts geworden ist. Die türkischen Arnauten wären nicht lebend zurückgekommen, und die Franken hätten darunter leiden müssen. Weiter.«

»Ein Vierteljahr lebte ich in meinem Schmerze. Da kam ein alter Araber zu mir...«

»Der dir schon die Tesbhi gegeben, von der mir Mustapha erzählte?«

»Ja.«

»Dieser Talisman geht mich nichts an, aber auch ich will ihn ehren. Weiter...«

»Er forderte mich dringend auf, doch noch nach Petra zu gehen. Es war auch so schon meine Absicht gewesen. Das Drängen des Arabers nun machte mich stutzig. Ich hatte gelesen, daß die fürstlichen Geschwister eine Orientreise angetreten hätten, als Gast eines Amerikaners, der in Syrien schon viele Ruinenstädte besucht hat, auch Petra. Die will er ihnen zeigen. Also auch Petra. Nun bestand der alte Araber darauf, daß ich nach Petra gehen solle, wurde zuletzt, als ich mich scheinbar sträubte, immer deutlicher. In Petra würde ich mein Glück finden, er bezeichnete mir zuletzt den Ort: in der Schatzkammer des Pharao. War die Erklärung nun nicht ganz einfach? Die Prinzessin hatte ihren Entschluß geändert, die uns trennende Kluft doch noch überbrückbar gefunden. Europa mußte sie aus politischen Gründen wohl sowieso verlassen. Sie wußte das meine Sehnsucht Petra war. Also

bestellte ste mich hierher, in geheimnisvoller Weise. Hier in Petra, in der Schatzkammer des Pharaos, soll unser Wiedersehen, unsere Vereinigung stattfinden.«

Die Emira wiegte das diademgeschmückte Haupt, wie sie es gerne tat.

»Das finde ich alles sehr schön. Jetzt sind die beiden in Stambul?«

»Ja, als Gäste des Padischahs.«

»Wann wollen sie hier sein?«

»Das weiß ich nicht. Hiersein kann sie schon in einer Woche.«

»Gut. Ja, das finde ich alles sehr, sehr schön. Aber auch ich bin ein Weib und weiß was Liebe ist. Das ist so schön, wie es nur Dichter in ihren Liedern erzählen können. Aber es sind erdichtete Lieder. Zum Träumen geschaffen. Die Liebe ist goldener Schaum, und die Pflicht ist ein stählernes Schwert. Ich weiß ein Lied von diesem stählernen Schwert zu singen. Und du, wenn du es noch nicht kennst, wirst es lernen. Ja, du sollst deiner Geliebten hier in Pharaos Schatzkammer begegnen, dich mit ihr vereinen. Ich werde es nicht verhindern, im Gegenteil...«

»Emira, wie soll ich dir danken!« jubelte der junge Deutsche aus überquellenden Harzen »... erst aber wirst du hier die Fatime al Suef zum Weibe nehmen.«

Dieser Nachsatz hätte nicht kommen sollen. Aber er war ja schon eingeleitet gewesen. Tannert hatte nur schon zu sehr gehofft, durch die lange Schilderung seiner Liebe den Sinn der Emira, die hier zu befehlen hatte, geändert zu haben, hatte von einer anderen eisernen Pflicht zu hören geglaubt.

Er war wie niedergedonnert. Doch nicht lange.

»Ist das die Pflicht, die du das Schwert nennst?«

»Ja, die freie Jungfrau hat dich mit einem Kusse zum Gatten erwählt.«

»Ich habe gegen die Prinzessin eine viel größere Pflicht.«

»Du heiratest beide. Die Fatime al Suef dürste nicht minder edleres Blut haben. Wer von den beiden den Vorrang einnimmt, wird die Prüfung ergeben. Oder darüber kannst du auch frei entscheiden.«

»Ich bin ein Christ.«

»Warum sagst du das immer wieder, was ich nicht gerne höre, weil ich durch das Gesetz gezwungen bin, den Ungläubigen zu schmähen? Ich schmähe nicht gerne.«

»Weil ich als Christ nicht zwei Frauen haben darf.«

»Weshalb bleibst du dann nicht in deiner Heimat? Hier hast du dich den Sitten zu fügen! überhaupt ist da gar nichts mehr zu verfügen. Durch ihren Kuß bist du bereits ihr Gatte geworden. Diese Art der Vermählung ist eine so heilige, daß es einer weiteren Zeremonie gar nicht bedarf. Selbst eine lärmende Hochzeit fällt dabei als profan fort. Sie ist bereits deine Gattin.«

»Als sie mich im Schlafe geküßt, war sie von Achmed noch nicht zurückgewiesen.«

»Schweig! Du wirst mich die Gesetze dieses Landes nicht lehren wollen! Die Zurückweisung war bereits geschehen. Fatime trat die Reise nur an, um den Brautschatz zu gewinnen. Den Brautschatz hörst du? In jedem Falle muß der Araber die Frau kaufen. Diese Jungfrau aber bringt dir eine Kamelladung Gold und Edelsteine mit. Wirst du auch diese verschmähen?«

»Gold und Edelsteine können mich nicht reizen, und wenn sie mir auch eine ganze Karawane davon mitbringt.«

»Du bist ein Trotzkopf, Franke. Nimm doch Vernunft an...«

»Ich bin nicht trotzig und nicht unvernünftig, sondern ich bin ein Christ und ein Ehrenmann«, wagte er die hier allmächtige Herrscherin zu unterbrechen, und sie hat es merkwürdigerweise geduldet.

»Fatime liebt dich.«

»Es tut mir leid.«

»Nach euren Sitten ist es ja gar keine gesetzliche Heirat, du kannst sie, wenn du willst, wie eine Magd behandeln.«

»Ich kann mit ihr und meiner gesetzmäßigen Frau nicht unter einem Dache leben.«

»So lebe mit ihnen unter zwei Dächern.«

»Ich könnte meiner Frau, meiner Braut, meiner Geliebten nie wieder unter die Augen treten.«

Mit zitternder Stimme hatte es der junge Deutsche gerufen, sein Gesicht färbte sich rot, seine Augen begannen plötzlich verdächtig zu schimmern.

»Franke, wenn du Fatime zurückweist, die Busetas werden fürchterliche Rache ob dieser Schmach nehmen, es ist dein Tod, und noch mehr, du wirst...«

»Mein Gott, mein Gott, werde ich denn nicht schon genug gemartert?!« schrie da plötzlich der junge Gelehrte auf. »Diese Qual ertrage ich nicht länger, mache ihr ein Ende!«

Es war nicht anders, als ob die Emira von diesen Worten der größten Seelenqual wie von einem mächtigen Schlag getroffen worden wäre, so war sie zusammengezuckt und schnell einen halben Schritt zurückgetreten.

»Ich martere dich?« fragte die metallische Stimme leise.

»Ja, mein Gott, ja! Du weißt freilich nicht wie einem Christen und Ehrenmann bei so etwas zumute ist, bei euch Mohammedanern ist die Ehe nur ein Handel, und dich nennt man nicht umsonst al Seba, die Steinerne...«

Sie zog aus einem Schlitze ihres Burnus ein krummes Schwert her

»Ja, spalte meinen Kopf, er erträgt diese Pein nicht länger!!« rief Tannert außer sich.

»Du irrst, Franke«, entgegnete sie ruhig, aber mit noch etwas zitternder Stimme. »Ja, man hat mir den Namen al Seba gegeben, die Steinerne. Weil niemand so lange wie ich Hunger und Durst und schlaflose Tage vertragen kann. Weil ich einmal noch wie eine steinerne Säule stand, als ein Heer von Wahabiten unter der Sonnenglut entkräftet zusammenbrach. Weil ich schon als junges Mädchen das stärkste Pferd mit einer Hand zu Boden warf, wie ich dir noch heute vormachen will. Weil dem Schwerthieb meines stählernen Armes kein Mann widersteht. Weil sich die Beni Amek an mir die Köpfe wie an einer steinernen Mauer eingerannt haben. Deshalb hat man mich die Steinerne genannt. Aber nicht wegen meines Herzens. Ich habe nie ein steinernes Herz gehabt. Franke, du kannst dich rühmen, die Emira Aische al Seba, die Beherrscherin aller Wahabiten, besiegt zu haben — weil sie ein weiches Herz hat. Franke, ich bewundere dich. Franke, ich bedaure, daß du kein Sarazen bist. Denn in ganz Arabien gibt es keinen Mann so wie du, der so treu und beharrlich in seiner Liebe ist. Und ich allein habe die Macht, diese schon geschlossene Ehe wieder zu trennen, ohne daß du der Rache der Busetas oder der Beni Suefs verfällst. Denn auch diese sind meine Anhänger, sind Wahabiten. Die von mir ausgesprochene Scheidung wird als Gesetz anerkannt. Und das Kind wird dich schnell vergessen. Ja, jetzt will ich dir es offenbaren: sie hat es bereit bereut, sich so voreilig an dich gebunden zu haben, sie hat unter den Busetas ihren Jugendgespielen wiedergefunden, dem ihr Herz schon immer gehörte. Doch auch sie mußte der nun einmal auf sich genommenen Pflicht gehorchen.«

Die Emira hob das Schwert und ließ den blitzenden Stahl senkrecht durch die Lust sausen.

»Hiermit ist deine Ehe mit Fatime al Suef zerschnitten! Nur dir zu Liebe habe ich es getan, deine Treue soll belohnt werden. Und nun sage nicht mehr, daß die Emira Nische al Seba ein steinernes Herz habe.«

Sie wandte sich um, und das Schwert noch in der Faust, verließ sie mit stolzem Schritt, wie nur ein Beduine oder ein Siouxhäuptling schreiten kann, das Gemach.


12. Kapitel.

Dr. Tannert kroch wie ein Maulwurf in den zahllosen Tunnels herum, zeichnete und photographierte, und wie er dazu meistens vor sich hinpfiff, das sagte am besten, wie zufrieden er sich fühlte, wie wieder heitere Ruhe in ihm eingekehrt war. Er arbeitete nicht mehr nur darum, um in seinem Gehirn keine unangenehmen, wenn nicht verzweifelte Gedanken aufkommen zu lassen.

Wieder waren nach jener Scene, die ihm Ruhe und Freiheit zurückgegeben hatte, zwei Tage vergangen. Tannert saß beim Lampenschein am steinernen Schreibtisch, arbeitete am Tagebuch, rauchte dabei aus seiner kurze Jagdpfeife Kanaster, von dem er sich einige Pfund mitgenommen hatte.

Da kam Hassan, der nachts in einer benachbarten Felsenkammer auf einem Teppich schlief, immer den Wünschen des Effendi gegenwärtig. Doch so spät war es noch gar nicht.

»Die Emira will dich besuchen.«

Sie trat schon ein, jetzt einen schlichten braunen Burnus tragend, ohne jeden Schmuck, der Gesichtsschleier brauchte keine Gille.

»Friede sei mit dir, Effendi, und ich will ihn dir nicht stören. Oder macht es dich unglücklich, wenn du mir von deiner Liebe erzählst?«

»Wie kann das wohl einen Menschen unglücklich machen ?« lächelte Tannert. »Wer tut das nicht gern?«

Sie nahm auf einem teppichbelegten Quaderstein mit gekreuzten Füßen Platz.

»Was rauchst du da für einen merkwürdigen Tabak?« war ihre nächste Frage.

»Wenn dich der Rauch stört...«

»Nein, er riecht gut. Es riecht so gut, wie wenn man einen Hammel über qualmenden Holz räuchert. Du hast deine Pfeife weggelegt? Rauche weiter, ich befehle es. Weshalb ich zu dir komme? Ich bin lernbegierig. Du sollst mir erzählen, wie die Franken lieben.«

»Die Franken? Ach, meine Liebe bildet eine große Ausnahme von der Regel«, lächelte Tannert etwas wehmütig.

»Diese Ausnahme will ich kennen lernen. Eben von deiner Liebe sollst du mir erzählen, die so stark ist, daß sie Nebenfrau und Schätze verschmäht. Solche Liebe findet man in Arabien nicht. — Du sagtest, nach der Flucht deiner Geliebten seiest du in Trübsinn verfallen.«

»Ja, anfangs. Doch wußte ich das Unglück in Glück zu verwandeln.«

«Das Unglück in Glück? Wie gelang dir das, durch welche Kunst, durch die du der Weiseste aller Weisen sein würdest.«

»Es ist nicht so leicht zu schildern, da müßte ich vom Anfang an erzählen, unser erstes, eigentümliches Zusammenleben...«

»Du hast recht. Erzähle vom Anfang an. Wie du sie das erste Mal sähest. Schildere mir auch immer deine eigenen Gedanken dabei, die du bei allem damals hattest.«

Ja, das konnte der junge Gelehrte! Er erzählte. Am heutigen Abend bildete den Hauptinhalt die Schilderung des gemütlichen Zusammenlebens. Ja, da konnte er ausführlich werden. Und glaubte er, zu ausführlich zu sein, wollte er einlenken, entschuldigte er sich, so bat ihm die Emira, doch noch ausführlicher zu erzählen. So interessierte sie sich dafür.

Um acht Uhr war die Emira gekommen, um Mitternacht saß sie noch da. Die Erzählung war an einen Abschnitt gelangt — zum Silvesterabend.

»Ach, es waren glückliche Tage gewesen. Da kam die Silvesternacht, die mir ein ganz besonderes neues Jahr bringen sollte, ein neues Leben.«

Da erhob sie sich.

»Von diesem neuen Leben sollst du mir morgen abend erzählen. Erlaubst du, daß ich dich morgen abend wieder besuche?«

»Edle Emira, ich habe dir nichts zu erlauben...«

»Ob du es mir erlaubst, fragte ich.«

»Wenn du mich bittest, dir tausend Nächte von meiner Liebe zu erzählen, so würde ich dich bitten, mir noch tausend Nächte zuzuhören.«

«Friede sei mit dir, Effendi. Träume von deiner Geliebten, und hunderttausend Wahabiten werden sie in ihr Gebet... Friede sei mit dir.«

Am anderen Abend kam sie wieder, abermals bis Mitternacht bleibend, und so noch weitere acht Abende. Es gab keine Falte seines Herzens mehr, die er ihr nicht schon offenbart hätte, er konnte nur noch wiederholen, und sie bat ihn immer, es zu tun.

So war er nun schon zwei Wochen hier. Wo blieb Leonore? Nun hätte sie hier sein können. Es wäre aber auch der früheste Termin gewesen. Er wollte geduldig warten. Er war innerlich wieder so heiter und ruhig geworden, eben durch diese allabendlichen Erinnerungen, und diese heitere Gemütsruhe ist die Quelle der ergebungsvollen Geduld.

Eines Morgens erwachte er sehr spät, es war fast schon Mittag, denn er hatte bis früh um vier gearbeitet.

Hassan deckte schnell den Tisch.

»Effendi, ich soll dir die Erlaubnis der Emira mitteilen, daß du das Chaznet Firnun betreten darfst.«

Ah, endlich! Er selbst hatte das vertrauliche Zusammensein niemals dazu gebraucht, um deswegen eine Frage oder Bitte zu stellen, sie hatte nicht davon gesprochen.

»Es sind jetzt aber Fremde darin.«

»Fremde?«

»Heute früh ist in das Felsental eine Karawane von zehn Kamelen gekommen. Die Reisenden, Franken und Araber, haben sich in der Schatzkammer Pharaos einquartiert. Auch eine Dame ist dabei. Ich soll dir von der Emira sagen, daß es die Dame ist, die du hier treffen willst.«

Tannert war erstarrt. Nicht vor unaussprechlichem Glück. Das Erwartete kam zu unerwartet. Es kam auch nicht alles so, wie er es sich ausgemalt. Obgleich er gar nicht gemalt hatte. Es war eben nicht das Rechte. Vor allen Dingen hatte er es verschlafen.

»Hat sie schon nach mir gefragt?«

»Ich weiß von nichts. Ja, daß ein Effendi Doktor Tannert sich in der Ruinenstadt aufhält, wissen sie alle. Es hat in den Zeitungen gestanden, sagen sie.«

Das war leicht möglich. Er hatte ja von seiner Expedition auf eigene Faust gesprochen, in England, wie in Berlin.

.Werde ich nicht gesucht?«

»Jetzt sind alle beim Frühstück. Dann werden sie dich schon suchen.«

Sind beim Frühstück. Wie das klang. Wenn Leonore nun einmal das Wiedersehen nicht für das Erste hielt?

Tannert konnte keinen Bissen hinunterbekommen, er mußte gleich gehen. Auf dem Wege nach dem ziemlich entfernten Chaznet wurde er wieder unschlüßig. Sollte er nicht lieber... na, nun ging er weiter. Aber alles so nach seinem Geschmacke war es nicht gekommen.

Hatte denn die Emira der Karawane gleich die Erlaubnis zum Einzug gegeben? Hassan, den er deswegen fragen wollte, war ihm nicht gefolgt.

Da sah er auf halben Wege einen Herrn, der zwischen den Steinen eine kleine Smaragdeidechse zu haschen versuchte. Er blickte auf, richtete sich empor, zog vor dem Kommenden den Strohhut.

»Ah, das ist wohl der berühmte Forschungsreisende Dr. Tannert?« sagte er auf Französisch.

»So heiße ich, nur berühmt bin ich noch nicht.«

»Oh, alle Zeitungen stehen doch voll von Ihnen. Hoborne ist mein Name.«

»Angenehm. Sie gehören doch mit zu der Karawane, die heute früh angekommen ist?«

»Leider, ja.«

Der Doktor überhörte das »leider«, oder er dachte an durchgemachte Strapazen.

»Die Karawane hat ihre Königlichen Hoheiten den Herzog von Asturien und die Prinzeß Eleonor von Bourbon hierher gebracht?«

»Leider, ja.«

»Weshalb denn leider?« horchte Tannert jetzt doch auf.

Da begann der Herr, ein älterer, aber beweglicher Mann mit glattrasiertem Schauspielergesicht, mit wütenden Blicken um sich zu werfen, als suche er ein Opfer, an dem er seinen Zorn auslassen könne.

»Die königlichen Hoheiten? Diese Tranlecker — diese Package — Krrrr...«

Das Männchen ballte die Fäuste und knirschte mit den Zähnen.

»Aber sprechen Sie denn nun von dem fürstlichen Geschwisterpaar?«

»Von wem denn sonst! Wissen Sie, ich bin französischer Kriminalbeamter — ich sitze in einem kühlen Bureau — ich habe ein schönes Heim und ein schönes Gärtchen — ich habe eine junge, hübsche Frau und neun Kinder — kann ich mir leisten — aber ich Unglückspilz kann arabisch und türkisch — da muß gerade ich es sein, der hinter diesen beiden hergeschickt wird — ich habe den Verhaftungsbefehl bei mir — ja Teufel noch einmal, die sind nicht zu fassen, in England nicht und auf der amerikanischen Jacht nicht und als Gäste des Sultans nicht und hier in Arabien nicht — zum Teufel, da kann man ja die Schwämmchen dabei kriegen.«

»Verhaften? Ja um Gottes Willen weshalb denn?«

»Um Gottes Willen nicht, sondern um der Schulden willen! Schulden, Schulden, Schulden!!«

»Schulden? Ich denke, die sind sehr vermögend?«

»Die vermögend? Die können ja vor Hunger nicht schlafen! Jetzt lecken sie den amerikanischen Tranonkel ab, der sie nun natürlich auch wie die Hunde behandelt. Das man solche Hochstapler nur noch frei herumlaufen läßt. Denn weiter sind sie doch nichts. Die Prinzessin hat vor ihrer Abreise erst wieder ein Halsband im Werte von zehntausend Francs ergaunert und es natürlich sofort... warte, jetzt habe ich dich!«

Das Männchen machte einen Satz wie ein Laubfrosch, um eine Eidechse zu erbeuten.

Wie betäubt schritt Tannert weiter. Er wagte gar nicht, die durch seinen Kopf schießenden Gedanken zu ordnen. Aber wie dem auch sei — wiedersehen mußte er Leonore doch. Und in Wirklichkeit war das ja auch ganz anders, als der um seine Bequemlichkeit gebrachte Kriminalist da in seinem Unmut erzählte.

Tannert mußte jetzt sogar lachen, als er sich seinem Ziel näherte. Da hörte er englische Worte, sah die Sprechenden.

In einem Tragstuhl saß vor dem Palaste Pharaos ein sehr dicker Herr, betrachtete die Skulpturenfassade, hinter sich zwei schwarze Diener in affigen Livree, von denen der eine einen roten Sonnenschirm über ihn hielt, der andere ihm alle Minuten ein Gläschen Selterswasser, von den Engländern und Amerikanern einfach »Soda« genannt, einschenken mußte. Seine kritischen Bemerkungen machte der Dicke zu einem ausgedorrten Herrn mit verlebten Gesicht, mit nervösem Zucken und augenblinzelnd, sich aller Minuten eine Zigarette anbrennend und sie gleich nach den ersten paar Zügen, den Rauch tief inhalierend, mit Abscheu fortschleudernd, sicher mit dem Schwure, nie in seinem ganzen Leben wieder solch eine verfluchte Zigarette zu rauchen — um sich sofort eine neue anzubrennen.

»Nein, das ist nichts, gar nichts. Da sollten Sie mal mein Haus in der fünften Avenue sehen. Soda!«

Nachdem er das Gläschen hinuntergestürzt hatte, fuhr er fort:

»Und was ist denn hier drin in der Schatzkammer Pharaos? Gar nichts. Nackte Wände und Skulpturen. Da sollten Sie mal in mein Haus in der fünften Avenue kommen. Was meinen Sie wohl, was da drinnen steckt? Soda!«

»Ja, wer so mit seinem Lebertran die ganze Welt beherrscht, der kann sich so etwas leisten«, dienerte der glatzköpfige Zigarettenraucher.

»Da haben Sie recht. Wenn der gute Pharao hier etwas von Lebertranhandel verstanden hätte, hätte er sich hier auch etwas anderes hingebaut. Soda! übrigens werden wir uns auch jetzt eine arabische Ruinenstadt hinlegen. Auf Long Island. Der Plan geht von mir aus. Deshalb bin ich ja noch einmal hierhergekommen, um den Ruinenbau zu studieren. Soda! Auch eine Schatzkammer Pharaos kommt hinein. Die werde ich stiften. Aber eine andere als die hier. Natürlich nicht wirklich in den Felsen hineingemeiselt, was gar nicht mehr modern ist. Nur so scheinbar, so mit Stuck an einer künstlichen Felswand, daß es so aussieht. Mit Gips und Eisenbeton läßt sich ja heute viel machen. Für meine Stiftung will ich natürlich auch etwas haben! Soda! Nun stellen Sie sich vor, wie das wirken muß: so ein angelatschter Prachtbau, aber noch viel höher und breiter als der da, noch eine ganz andere Skulpurenfassade als die da, alles noch viel altertümlicher und dort oben unter der vierten Etage mit ellenhohen Buchstaben, abends natürlich elektrisch beleuchtet: Trinkt — nur — Allan Weslys — Lebertran. Soda!«

Tannert machte schnell, daß er weiterkam. Vor den Eingangstoren zum verlassenen Palast lagerten Kamele, Araber stritten sich um jeden Tropfen Wasser.

»Befindet sich die Prinzeß im Palast?« wandte sich Tannert an einen europäisch gekleideten Araber oder Türken.. ,

»Ja, wenn Sie diesen steinerenen Rumpelkasten einen Palast nennen. Oben in der ersten Etage gleich in den ersten Kammern, da sucht sie sich gerade die weichste Steinplatte aus. Wer sind Sie denn? Ach, Sie sind wohl der Doktor?«

Tannert hinein und die breite Treppe hinauf.

O, das war ja gar herrlich hier! Diese Säulen, diese Skulpturen, diese Mosaik!

Über der Treppe fesselte eine Marmortafel mit goldenen arabischen Buchstaben seinen Blick.

»Saadi Gulistan der Weise aus Damaskus spricht«, lautete die erste Zeile, dann folgten sechs andere.

Mußlich eddin Saadi, gestorben ums Jahr 1300, war ein persischer Scheich und Dichter. Lebte lange Zeit in Damaskus, hat auch viel in arabischer Sprache gedichtet. Nach seinem Hauptwerk »Gulistan« = Rosengarten erhielt er diesen Beinamen. Die nachfolgenden Worte sind von Graf übersetzt.


Saadi Gulistan der Weise spricht:
Ist einer Welt Besitz für dich zeronnen,
Sei nicht in leid darüber, es ist nichts,
Und hast du einer Welt Besitz gewonnen,
Sei nicht erfreut darüber, es ist nichts.
Vorüber gehen die Leiden und die Wonnen
Geh an der Zeit vorüber, es ist nichts.


Der junge Orientalist kannte diese Perle einer ruhigen, ja fast heiteren Abwendung von der wetterwendischen Welt, Geschmack hatte er nie daran finden können, es ist doch ein zu krasser Pessimismus — jetzt in diesem Augenblicke, da diese Verse, die er im Urtext fließend lesen konnte, aus der Dämmerung mit leuchtenden Buchstaben vor ihm hintraten, machten sie einen gewaltigen Eindruck auf ihn.

_»Ist einer Welt Besitz für dich zerronnen,^

_Sei nicht in Leid darüber, es ist nichts«, ^

murmelte er, als er die Treppe weiter emporstieg.

Gleich in der ersten Halle schimpfte eine Dame in weißem, aber höchst kokettem Reisekostüm in sehr ungewählten französischen Ausdrücken auf eine junge Negerin, daß sie den Teppich nicht ausgeklopft habe, wo sich doch Schlangen hinein verkriechen konnten — ein Kunststück, das auch die magerste Schlange nicht fertiggebracht hätte, sich unter oder gar in das augebreitete dünne Deckchen zu verkriechen.

Jetzt wandte die Dame dem Kommenden das Gesicht zu — Himmel, war das eine alte, gelbe Schachtel! Wenn sie nur wenigstens künstliche Zähne getragen hätte!

Jedenfalls eine Kammerzofe oder gar Kammerdame der Prinzessin.

»Verzeihung — ist ihre königliche Hoheit die Prinzeß von Bourbon zu sprechen?«

»Die bin ich.«

Tannert starrte in das gelbe, verlebte Gesicht.

»Prinzeß Eleonor von Bourbon?«

»Die bin ich. Ah, Sie sind gewiß der Deutsche, der...«

Schritte kamen, es war der ausgemergelte Zigarettenraucher.

»Denke dir, Eleonor, was Mr. Wesly...«

»Hier ist der Deutsche, von dem die Zeitungen so viel erzählt haben, der der — Doktor Tannert. Mein Bruder Louis, Herzog von Asturien. Was haben Sie denn! Bleiben Sie doch hier. Oder es sind doch nicht etwa Schlangen...«


13. Kapitel.

"Wie Tannert wieder in seine Behausung gekommen war, wußte er nicht. Wußte nicht, wie lange er schon so saß, die Ellenbogen auf den Tisch gestemmt und den Kopf in den Händen. Wußte nicht, was er dachte und was er denken sollte. Manchmal lachte er rauh vor sich hin, und immer flimmerten vor seinen Augen goldene Buchstaben, Verse, die er immer und immer wieder lesen mußte, ob er wollte oder nicht, so wie einem auf der Eisenbahn im

Takte der ruckenden Räder beständig eine Melodie in den Ohren klingt, manchmal ein Engelsgesang, häufiger ein möglichst alberner Gassenhauer, den man nicht wieder aus den Ohren herausbringt, was man auch für Anstrengungen macht.

Mindestens zum hundertsten Male fing Tannert zu deklamieren an:

»Ist einer Welt Besitz für dich zerronnen ...«

»...Sei nicht leid darüber, es ist nichts«, ergänzte eine andere Stimme, die er nun schon gut kannte, die so metallisch hart war, manchmal aber auch so weich klang — so weich wie jetzt.

Zunächst wunderte er sich, daß auf dem Tische schon die Lampe brannte, dann erst sah er die Emira in ihrem einfachen, bauschigen Burnus, in dem sie sich durch nichts von den männlichen Beduinen unterschied.

Jetzt strich sie ihm mit der behandschuhten Rechten sanft über das Haar.

»Armer Franke, das war wohl eine recht große Enttäuschung. Aber solltest du sie dir nicht selbst bereitet haben?«

Er stieß wieder ein etwas rauh klingendes Lachen aus.

»Natürlich, natürlich — ach ich Narr! Was habe ich denn nur für Beweise gehabt, daß die beiden eine Prinzessin von Bourbon und der Herzog von Asturien gewesen sein sollen? Ein zufälliges Zusammentreffen von Zeitungsnotizen über diese beiden Fürstlichkeiten. Da muß ich mich in den Glauben verrennen, daß es diese beiden gewesen seien. Dann der englische Premierminister? Das habe ich auf Treu und Glauben von der Mrs. Haller hingenommen. Das ist natürlich von der ebenfalls ein Irrtum gewesen.«

»Ja, Franke, mir kam es immer so vor, als ob du dich da nur in einem von dir selbst zusammengezimmerten Hoffnungswahn befändest. Während deiner Erzählungen habe ich dich oft gefragt, wenigstens andeutungsweise, ob du denn nicht tatsächliche Beweise hättest, daß. die beiden wirklich jene Fürsten feien, aber du hast meine Fragen niemals verstanden. Für dich war das eben ganz selbstverständlich. Für mich nicht.«

Tannert wühlte in seinen Haaren.

»Ja, und doch, und doch! Hat sie mir nicht geschrieben, daß eine unüberbrückbare Kluft uns trennt?«

»Nun, das braucht nicht gerade eine Fürstenkrone zu sein.«

»Leonore schrieb von Tasso, was ich dir ja alles erläutert habe.«

»Ein poetisches Spiel.«

»Ja, wer war denn aber der alte Araber, der mich geradezu hierher gelockt hat? Das, Emira, mußt du doch am besten wissen.«

»Ja, ich weiß es. Aber hierüber ist mir die Zunge gebunden. Nun, einige Andeutungen kann ich dir ja doch machen. Der Bevollmächtigte der Wahabiten in England, der in gewisser Beziehung mehr Macht hat als ich. Denn ich bin eigentlich nur für den Krieg da, oder zur Repräsentation unserer Macht. Die Politik, unser Gedeihen leitet jener Alte, der sich jetzt in England aufhält, mit den Ministern in diplomatischen Verhandlungen steht. Worüber, das kann ich dir natürlich nicht sagen.«

»Weshalb nahm er denn solchen Anteil an unserer Expedition, dann speziell nur an mir?«

»Das weiß ich nicht. Vielleicht, um zuerst, als es sich um die große deutsche Expedition handelte, der deutschen Regierung einen Dienst zu erweisen, um der Türkei zuvorzukommen. Ja, wir sind darüber instruiert worden. Auch ich erkannte die Tesbhi. Mit Widerwillen mußte ich mich fügen. Bis ich dich näher kennenlernte, dich zu achten begann.«

»Und warum mußte ich dann allein nach Petra gehen?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht hoffte der Alte doch noch auf eine große deutsche Expedition, glaubte darüber etwas bestimmtes zu wissen.«

»Was sagte er da von meinem Glück, das ich in der Schatzkammer Pharaos finden sollte? Was wußte er von meiner Liebe?«

»O Franke, so darfst du mich nicht fragen! Was meinst Du wohl, wie schlau solch ein alter arabischer Diplomat ist. Den könnte man wirklich für einen Wahrsager halten, du sagst ihm ein einziges Wort, ein zweites lockt er aus dir heraus, er blickt dir in's Auge — und er weiß eine ganze Kette von Folgerungen zu ziehen, wußte alle die Worte, die du nicht gesprochen hast, nur gedacht hast. Ja, auch die Gefälligkeit, daß du die Bücher mit nach Hause nehmen konntest, wie du mir erzähltest, wird sicher er dir erwiesen haben. Auch das tat er eben so sicher nicht umsonst. Da wird er schon einmal kommen. Da wirst du vielleicht noch einmal von der deutschen Gesandtschaft gefragt, ob dem so gewesen sei.«

»Ja, wer waren denn dann aber die beiden! Wo sind sie jetzt?«

Eine kleine Pause entstand. Tannert erwartete ja auch gar keine Antwort.

»Frage sie selbst«, erklang es hinter dem Schleier.

»Wen soll ich fragen?«

»Deine Geliebte.«

Erst jetzt blickte Tannert erstaunt auf.

»Wen soll ich fragen? Leonore?«

»Ja.«

»Du scherzt wohl, Emira. Wie denn das?«

Wieder eine kleine Pause, die jetzt aber von Bedeutung war.

»Franke, glaubst du an Zauberei?« wurde dann wieder hinter dem Schleier gefragt.

»An Zauberei?« wiederholte Tannert erstaunt, alles andere erwartet habend.

»An Magie.«

»Das ist ziemlich dasselbe.«

»Die Gelegenheit ist gerade vorhanden. Heute ist in mein Lager ein Derwisch eingetroffen, der wunderbare magische Künste versteht. Er beschwört Tote und Lebende, die fern weilen, das sie sich...«

»Emira, an so etwas glaube ich nicht.«

»Ob du daran glaubst oder nicht, das ändert daran nichts. Es sind Tatsachen. Gewiß, es sind nur Visionen, indem der Magier ja auch fernweilende Personen die noch leben, erscheinen läßt. Er sagt es selbst, daß es nur Visionen sind. Aber von so greifbarer Wirklichkeit, daß du sie nicht von Wirklichkeit unterscheiden kannst. Sie antworten auch auf Fragen. Allerdings gewöhnlich nicht gleich beim ersten Male. Da muß meist noch eine zweite Beschwörung erfolgen. Beim ersten Male hört man sie aber oft schon sprechen. Und beim zweiten Male, wenn es gelingt, geben sie Antworten und Auskünfte.«

»Hast du das selbst schon versucht?«

»Schon mehrere Male. Mit wunderbaren Erfolgen.«

»Man wird dabei betäubt?«

»Durch einen Haschischtrank, wie es früher die Assassinen taten? Nein, du bleibst bei vollem Bewußtsein.«

»Es ist eine Suggestion durch Gedankenübertragung.«

»Gedankenübertragung? Ich weiß was du meinst. Nein, das ist es nicht. Die Gestalten erzählen dir Sachen, wovon du unmöglich etwas wissen kannst.«

»Dann ist das eine Erweckung des Unterbewußtseins im Menschen.«

»Was ist das, das Unterbewußtsein?«

Der junge Gelehrte wollte lieber keine Erklärung geben. Damit wird man nämlich nie fertig — und dann ist der andere genau so klug wie zuvor.

»Nun gut, ich kann es ja einmal probieren.«

»Ich werde den Derwisch bitten. Gleich heute Nacht noch.«

»Ja, weshalb es erst aufschieben.«

»Gut. So bereite dich vor.«

»Wie vorbereiten?«

»Nun, setz dich in die dazu nötige Stimmung. Denke lebhaft an deine Geliebte. Aber das tust du wohl immer. Am besten ist wohl, wenn die Beschwörung in Pharaos Schatzkammer ausgeführt wird. Mit diesen Räumen sind deine Gedanken nun einmal verbunden, dort hofftest und hoffst du doch deine Geliebte wiederzufinden, dort wird es am leichtesten gelingen.«

»Was machen eigentlich die fremden Herrschaften?«

»Die sind schon wieder fort.«

»Schon wieder?«

»Brachen schon vor Sonnenuntergang wieder auf. Länger als einen Tag konnten sie hier gar nicht verweilen, ihr Wasservorrat erlaubt es nicht. Von mir bekamen sie kein Wasser, übrigens erfuhren sie gar nichts über mich. Ich aber habe sie gesehen, habe mich unter die Diener gemischt. Ja, Franke, als ich diese Prinzessin erblickte — und ich hätte dein gezeichnetes Bild nicht erst zu sehen brauchen — da wußte ich, daß das deine Geliebte nicht war. Also bereite dich vor. Du wirst bald abgeholt, die Vorbereitungen bedürfen keiner langen Zeit.«

Tannert wollte kritiklos auf alles eingehen. Er aß etwas, ob ein voller Magen den Visionen förderlich war oder nicht, er war eben hungrig, stellte sich dauernd im Geiste das trauliche Zimmer vor, in dem er bei Wachskerzenschein mit den Geschwistern lesend und plaudernd zusammensaß, Äpfel und Nüsse essend — welches Bild der Erinnerung er überhaupt immer vor Augen hatte, wenn er sich einmal Träumereien hingab.

Schon nach einer halben Stunde kam ein Araber, der Effendi möge ihm folgen, leuchtete ihm mit einer Öllampe voran, denn es war Neumond, führte ihn in den Palast Pharaos hinein und hinauf und im ersten Stockwerk noch tiefer hinein. Von Spuren des heutigen Besuchs sah

Tannert nichts mehr, auch keinen anderen Menschen, bis er ganz hinten in eine Steinkammer kam, die von einer großen Lampe erleuchtet wurde.

Hier erwartete ihn ein alter Araber in dunkler Kutte, außer an einigen Abzeichen, wozu zum Beispiel der am Gürtel hängende Flaschenkürbis und, mit Verlaub zu sagen, die Läusekratze gehörte, wenn's juckt — außer diesen Ehrenabzeichen eines gottwohlfälligen Lebens also auch gleich an dem abgezehrten Gesicht erkenntlich. Denn es ist so immer ein und dieselbe Physiognomie.

Sonst war in der engen Kammer absolut nichts zu erblicken.

»Friede sei mit dir, Effendi«, begrüßte der fromme Mann den Franken mit tiefer Verbeugung, »die edle Emira Aische al Seba befielt mir, dein Diener zu sein, und ich gehorche. Du willst die sehen, die du liebst — wohl, du sollst sie sehen. Du kannst sie auch ansprechen, aber verlange nicht, daß sie dir gleich beim ersten Male antworten werde. Vielleicht gelingt dies bei der zweiten Räucherung. Glaubst du, daß die, welche du sehen willst, um diese Zeit wach sind?«

»Ja, das glaube ich bestimmt.«

»Um so deutlicher wirst du sie sehen. Sogleich, Effendi, mein Knabe zündet nur das Räucherwerk an.«

»Wo tut er das?«

»Nicht hier, in einen anderen Raum mußt du blicken. Ich lege dir nur die Hand auf die Schulter, dann werden deine Augen schauen.«

Also doch Gedankenübertragung, eine Art doppelte, durch Berührung erzeugt, dachte Tannert. Sonst aber wunderte er sich, daß so gar keine weiteren Vorbereitungen getroffen wurden, gar kein Hokuspokus dabei war. Oder das kam alles noch — in jenem anderen Zimmer.

Klopfende Töne erschollen.

»So, es ist soweit. Mein Knabe ruft. Nun blicke hier durch.«

Der Derwisch löste an der Wand in Kopfhöhe eine Steinplatte ab, ein viereckiges Loch zeigte sich, so eng, daß man kaum den Kopf durchbrachte.

»Was siehst du?« fragte der Magier, ihm die Hand auf die Schulter legend.

»Gar nichts. Eine graue Steinwand. Oder es mag auch Rauch sein. Es riecht etwas rauchig.«

»Warte noch ein wenig.«

»Muß ich lebhaft an die denken, die ich sehen will?«

»Es ist nicht nötig. Bist du glücklich hierher gekommen, so genügt das.«

Ja, es war ein dicker Rauch, der jetzt streifig wurde, und wenn dies bemerkt werden konnte, so mußte er einen beleuchteten Hintergrund haben.

Merkwürdig, daß dieser dicke Qualm fast geruchlos war, das Atmen gar nicht erschwerte. Denn er drang auch durch diese Öffnung durch, und Tannert nahm nur einen ganz schwachen Geruch wahr, er biß ihm auch nicht in die Augen und gar nicht.

Nun, derartige Räuchermittel, die einem ganz harmlosen Qualm erzeugen, gibt es viele. Einen passionierten Raucher belästigte der dickste Nebel des Tabaks auch nicht.

Der Raum wurde nebeliger, in dem Nebel tauchten glühende Fünkchen auf, daraus wurden Flämmchen. Immer mehr senkte oder verteilte sich der Nebel, Tannert begann Konturen von Gegenständen zu unterscheiden. Die Konturen wurden schärfer, und jetzt tauchten zwei menschliche Gestalten auf, vor allen Dingen Gesichter. Deutlicher und deutlicher wurden sie.

»Harris!« flüsterte Tannert außer sich. »Und Leonore!«

Ja, sie waren es. Der Nebel hatte sich gänzlich verzogen. Tannert blickte durch die Öffnung in das ihm wohlvertraute Wohnzimmer hinein, durch lange, dicke Wachskerzen erleuchtet, von denen er sieben zählen konnte. Die anderen, die zum Dutzend fehlten, entzogen sich dem beschränkten Durchblick..

In der linken Ecke des Zimmers das Buffet, in der rechten der Schreibsekretär, zwischen beiden das Sofa, vor diesem der Tisch, darauf drei brennende Kerzen, der silberne Teekessel, Fruchtschalen, Bücher. Auf dem Sofa saß in seiner Ecke Harris und las, Leonore auf ihrem gewöhnlichen Stuhle. Und sie lebten und bewegten sich. Harris blätterte die Seiten um, Leonore schälte einen Apfel.

Dies alles von handgreiflicher Deutlichkeit! Und jetzt begannen sie zu sprechen, und es waren wirklich ihre Stimmen!

»Harris.«

Der Bruder blickte auf.

»Was willst du Leonore?«

»Wo mag er jetzt wohl sein?«

»Er ist eben in Petra.«

«Ach, warum mußten wir ihn so verlassen!« erklang es klagend.

»Ja, Meine liebe Leonore, die Verhältnisse... es wird schon alles noch gut werden.«

Da konnte sich Tannert nicht länger mehr halten.

»Leonore!« schrie er mit aller Lungenkraft in das Loch hinein, wie jemand zum ersten Male ins Telephon brüllt, weil, der andere doch so weit entfernt ist. »Leonore, hörst du mich?«

Nein, sie hörte ihn nicht.

»Wir hätten nicht so ohne Abschied gehen sollen.«

»Das läßt sich nun nicht mehr ändern«, entgegnete der Bruder.

»Leonore, hier bin ich ja!« schrie wieder Tannert, seiner Gedanken gar nicht mehr mächtig. Denn das war doch alles handgreifliche Wirklichkeit!

Da stieg vor der Öffnung eine dichte Rauchwolke empor, alles verhüllend, und gleichzeitig legte der Derwisch, seine Hand von Tannerts Schulter nehmend, die Steinplatte wieder ein.

Der junge Gelehrte war außer sich.

»Mann, Mann, wer bist du! Ich möchte vor dir niederknien und dich anbeten.«

»Allah verhüte es!« rief der Alte schnell und wie erschrocken. »Gib Allah allein die Ehre! Was ich dir hier zeigte, war nur ein menschliches Gaukelspiel.«

»Kannst du mir dieses Gaukelspiel noch einmal vorführen?«

»So oft du willst.«

»Dann werde ich diesmal etwas hineinwerfen«, sagte sich Tannert, mein Taschentuch, meinen Bleistift, auf den Tisch, ob er auf dem visionären Tisch liegenbleibt. Natürlich tut er's nicht, er fällt ins Leere, auf den Boden. Daß ich nur nicht gleich daran dachte.

»So zeige mir die Vision noch einmal.«

»Willst du sie nicht auch sprechen?«

»Ja, das möchte ich. Sie hören mich ja nicht.«

»Aber du hast sie schon sprechen hören?«

»Ja, ganz deutlich.«

»So werden sie bei der nächsten Beschwörung auch dich sprechen hören. Dir Antwort geben. Nur vor eins warne ich dich: gebrauche keine Gewalt!«

»Gewalt?«

»Das du nicht etwa schießt.«

»Ich denke nicht daran.«

»Die Person, wenn sie auch in weiter Ferne weilt, könnte tot zu Boden sinken.«

»Ich denke nicht daran.«

»Lege zur Vorsicht lieber deine Waffen ab, du könntest dich vor Schreck hinreißen lassen, denn diesmal kommt alles ganz anders, du bist den Gestalten viel näher. Bitte, lege deine Waffen ab.«

Tannert tat ihm den Gefallen.

»Kann ich die Gestalten berühren, durch sie hindurchgehen?«

»Ja, wenn du es kannst. Bitte sprich jetzt nicht mehr.«

Nach einer Minute erscholl wieder das Pochen. »Komm«, winkte der Alte, sich nach der Tür wendend.

»Wohin?«

»Die zweite Erscheinung findet in einer anderen Kammer statt.«

Tannert folgte ihm, nur wenige Schritte durch einen Gang, der Derwisch schlug einen Vorhang zurück, schob den jungen deutschen Gelehrten etwas vor.


14. Kapitel.

Es war wiederum das Londoner Pensionszimmer, in dem er sich jetzt aber persönlich befand.

Harris klappte sein Buch zu, Leonore drehte sich um, stand auf und kam ihm entgegen.

»Nun mein lieber Herr Doktor, Sie kommen ja heute abend recht spät zu uns herüber?« lächelte sie.

Tannert hatte Lust, sich einmal an die Nasenspitze zu fassen. Er tat es nicht, tastete nur einmal an den Schreibsekretär — der war echt.

»Ich träume doch nicht?« murmelte er.

»Nein, und Sie können auch durch mich hindurchgreifen, wenn Sie es fertig bringen. Das war ein famoser Witz, den der alte Derwisch vorhin machte.«

»Ja, Leonore, ist es denn nur möglich?«

Sie legte ihm lächelnd die Hände auf die Schulter.

»Na, du alter Träumer, gehen denn dir nun endlich die Augen auf?«

»Leonore — Mademoiselle — Monsieur Lavoir — wie kommen denn Sie hierher nach Petra?«

»Du ahnst immer noch nichts. Erkennst den da immer noch nicht?«

Tannert starrte das markante, glattrasierte Gesicht mit der Adlernase an.

»Wenn ich mir noch einen kurzen, schwarzen Vollbart hinzudenke — Scheich Mustapha...«

»Na, endlich! Im Hause Habbak Hammids warst du wohl nahe daran, ihn zu erkennen. Nun und ich?«

»Und Sie? Und Sie?« stammelte Tannert fassungslos die Lächelnde anblickend. Er ahnte etwas, wagte es aber nicht als Tatsache zu denken.

»Du redest mich noch immer per Sie an? Wo du überhaupt schon mein Gatte bist? Habe ich dich nicht im Hause Habbak Hammids durch den Brautkuß erkürt?«

»Fatime! Mir bleibt der Verstand stehen!«

»Na und wer ist denn nun noch die Emira Aische al Seba?«

»Doch nicht...«

»Na wer denn sonst? Die Missis Haller? Nein. Ebenfalls ich.«

»Fatime, mache der Komödie ein Ende, gib ihm kurz Aufklärung«, erklang es vom Sofa her.

Leonore drückte den noch immer wie betäubt Dastehenden mit ihren unwiderstehlichen Armen in die andere Ecke des Sofas, setzte sich selbst.

»Bist du wenigstens fähig mich zu verstehen? So kompliziert die Geschichte auch scheint, ist sie im Grunde genommen ganz einfach.«

»Wir beide sind wirklich Bruder und Schwester, Mustapha und ich, Fatime. Ich bin zwei Jahre jünger. Unser Vater war der Scheich des großen Stammes der Beni Suefs, also in Ägypten, auch das Tal der Natronseen liegt in unserem Gebiet, eigentlich sogar noch Kairo, nur daß wir nichts mehr zu sagen haben. Nun denke aber nicht an so einen Beduinenhäuptling. Oder doch, das kannst du auch. Wir sind alle im Zelt geboren worden. Mein Vater wurde, wenn ihn der Bote fand, zu jeder Festlichkeit des Khediven eingeladen, rangierte mit den Prinzen in einer Reihe.

Bei solch einer Festlichkeit lernte er die Hofdame einer deutschen Fürstin kennen — die Namen will ich dir später sagen, das dauert jetzt zu lange — die dem ägyptischen Hofe einen Besuch abstattete, er verliebte sich in sie, oder die Deutsche wollte vielmehr den Scheich — er heiratete sie schlankweg. Sie wurde Mohammedanerin, obgleich das gar nicht nötig gewesen wäre.

»Wir sind die beiden Kinder aus dieser Ehe, die freilich nicht die erste des Scheichs war. Eine Stiefschwester von mir ist tatsächlich die Gemahlin des Khediven. Mein Vater stammte in direktester Linie vom Bruder der Aische ab, der ersten Gattin des Propheten, stand jener am nächsten. Ein Wahabite war er deshalb nicht. Aber er wäre es sofort geworden, wenn es nötig gewesen wäre. Das sind religiöse Verhältnisse, auf die ich mich jetzt nicht näher einlassen will. Später davon ausführlich.

»Als ich mich als ein sehr kräftiges, aufgewecktes Mädchen zeigte, wurde beschlossen, den Wahabiten wieder eine ersehnte Emira zu geben. Die Mutter hat dabei nichts zu sagen, nur der Vater. Meine Erziehung unterschied sich nur dadurch von der der anderen Mädchen, daß ich sorgfältiger in allen ritterlichen Beduinenkünsten ausgebildet wurde. Dann kam ich, wie es sowieso geschehen wäre, mit meinem Bruder in ein französisches Pensionat zu Kairo. Ach da sind noch viele Wüstenkinder drin! Stelle dir uns nur nicht etwa als Barbaren vor! Du weißt doch selbst am besten, was es unter den Arabern für Gelehrte gegeben hat. Woher habt ihr Abendländer denn eure Mathematik, Astronomie, Chemie? Und das waren meist echte Wüstensöhne, die erst eine gute Schule besuchten, dann ihre Stammespflichten erfüllten, dann sich wegen der Bibliotheken wieder in Städten ansiedelten.

Nach Absolvierung des vorzüglichen Pensionsunterrichts traten auch wir ins öffentliche Leben. Mein Bruder wurde bei einem Besuche der uns blutsverwandten Beni Busetas zu deren Scheich gewählt. Dadurch wurde er, indem er sich einer anderen Familie angliederte, zugleich mein Onkel. Er hat tatsächlich meine Schwester geheiratet, seine eigene, das heißt seine Stiefschwester, die zweitgebrachte Tochter einer Witwe, die dann unser Vater zum Weibe nahm. Du siehst Traugott, wir haben dir gar nicht soviel vorgeflunkert.

Ich kam nach Nedschd, wurde als Emira Aische anerkannt, bekam aber gleich eine Gegenpartei unter einen Emir. Der Plan des die Politik leitenden Scheich war, ich sollte die durch Luxus in ihrem fetten Land verweichlichten Wahabiten zur alten Einfachheit zurückführen Die meisten waren hiermit nicht einverstanden. Ich unterlag dem Gegenemir, ging ins Exil, gleich nach Frankreich. Mein Bruder, der ebenfalls unter Intrigen zu leiden hatte, begleitete mich.

Wir lebten ein halbes Jahr auf einem Landsitz bei Avignon, dann in Paris. Hier wurden wir von englischen Diplomaten aufgesucht, siedelten nach England, nach London über. Ich mache diese politische Geschichte so kurz als möglich. England hätte es gern gesehen, wenn sich die einst so mächtigen Wahabiten wieder aufschwangen, um natürlich zuerst ihren Erzfeind, den Türken, zum Lande hinauszujagen. Und das war ja auch bereits beschlossen. Zuerst mußten die Türken von der Grenze weg, aus Syrien hinaus. Das ging, ohne Blutvergießen zu machen. Durch eine einfache Sprengung konnte das Grundwasser in dieser ganzen Gegend in das Tote Meer abgelassen werden, dessen Niveau ja mehr als 300 Meter unter dem des Mittelmeeres liegt. Das ist dann auch geschehen. Nur einige nur uns bekannte Brunnen blieben gefüllt, hauptsächlich in und um Petra herum, welches nun gleich als uneinnehmbare Festung, als Zentralpunkt der nördlichen Operationen gegen die Türken dienen sollte.

Aber England konnte sich nicht mit meinem mächtigen Rivalen befreunden. Da kam ich wie gerufen. O, ich habe in London noch mit ganz anderen Männern verkehrt als nur mit dem Premierminister. Auch Mahul, der wahabitische Vertreter in England, jener alte Araber, war für den neuen Plan. Er war auch so einfach. Ich brauchte nur zurückzukehren und mich mit Pracht zu umgeben, dann hatte ich sofort alle Wahabiten auf meiner Seite.

Man machte mir die glänzendsten Versprechungen. Und mehr noch, man wußte meinen Patriotismus zu entflammen. In jener Silvesternacht kam es bei mir zur

Entscheidung. Ja, ich wollte mein Volk zum alten Glanz zurückführen. Da, mein Geliebter gab ich dir den ersten und letzten Kuß, da schrieb ich dir jene Abschiedsverse. Denn als wahabitische Emira muß ich unverheiratet bleiben, und überhaupt... wie hätte ich dich mit in diese Greuel hineinziehen sollen.

So reiste ich mit meinem Bruder nach Arabien zurück. Ja, mein prächtiger Einzug in Nedschd war ein Siegeszug. Ich selbst stürzte aus allen Himmeln. In den europäischen Hauptstädten waren mir die Augen aufgegangen, hier wurde ich vollends sehend. Nein, eine Emira der Wahabiten, das war nichts mehr für mich. Und außerdem... mein Herz war ja immer bei dir. Ach, was ich mir schon unterwegs für furchtbare Vorwürfe gemacht habe?

Nun also schnell alles ins alte Gleis gebracht. Aber mein Erbteil bei den Beni Suefs mußte ich mir doch erst sichern, was nur als Brautschatz möglich war. Ich setzte mich mit meinem Bruder in Verbindung. Gut, so heiratete ich dessen Neffen, den fanatischen Achmed, der mich natürlich zurückwies. Du siehst immer wieder, daß wir dir gar nichts vorgemacht haben.

Ehe wir unsere Reise nach Kairo antraten, schrieb ich über Jerusalem einen Brief nach London, an Mahul, er sollte Erkundigungen über dich einziehen. Die Mrs. Haller erzählt doch jedem, was er wissen will. Na, da bekamen wir Wochen später ja Schönes über dich zu hören. Wirklich Schönes. Du branntest meine Wachskerzen, unterhieltest dich mit mir.

Ich von Kairo aus wieder an Mahul geschrieben. Er sollte dich veranlassen, doch nach Petra zu gehen. Du hattest zu mir doch genauso weit wie ich zu dir. Und nach jener Gegend mußte ich sowieso zurück, auch mein Bruder, die Sache mit den Busetas mußte regelrecht erledigt werden, sonst wäre die Mitnahme meines Brautschatzes ein Diebstahl und mein Bruder ein feiger Flüchtling gewesen. Die Befestigung Petras als Operationsbasis war aufgegeben worden, aus dem ganzen Aufstande wird überhaupt nichts, das Sprengloch ist wieder verstopft worden, das Grundwasser wird in der nächsten Regenperiode wieder seine normale Höhe erreichen.

Und nun, da ich dich nach Petra haben wollte, begann meine Phantasie zu arbeiten. Ach, das sollte ja köstlich werden! Sobald du zugesagt hattest und abgereist warst, sollte Mahul die ganze Einrichtung unseres, deines Zimmers kaufen und alles per Schiff nach el Arisch senden, wo es von meinen Leuten dann abgeholt wurde. Mit dem, was du Mrs. Haller abgekauft, hatte Mahul nur geringe Schwierigkeiten, es zurückzubekommen. Sieh, das ist dasselbe Hauskleid, welches ich gewöhnlich trug. Das sind die selben Vorhänge und Portieren und Jalousien. Nur keine Fenster sind dahinter. Und die Tür dort ist auf weiße Leinwand gemalt.

Mahul hat alles sehr gut besorgt. Nur in einem hatte er sich ungeschickt benommen. Er war immer in der festen Überzeugung, du würdest denselben Weg wie die große Expedition nehmen, von Konstantinopel aus mit einem Jaffadampfer nach el Arisch gehen. Darauf war alles zugeschnitten.

Nun kamst du aber über Alexandrien. Und Mahuls Ungeschick und ein Zufall sollte alles noch viel, viel schöner arrangieren. Du fielst in Port Said in die Hände der Räuber. Aber jener Wirt war ein Wahabite. Er nahm dir auch die Tesbhi ab, erkannte sie nachträglich als das Abzeichen eines Führers. Ich werde dir später erklären, was daran noch für geheime Zeichen sind.

Über die Wahabiten will ich nur noch hinzufügen, daß sie jetzt weniger eine religiöse Sekte als viel mehr einen politischen Geheimbund bilden. Es sind die strenggläubigsten Mohammedaner darunter, die also nur Mohammed als einzigen Propheten anerkennen. Sunniten und Schiiten — aber ausschließlich Araber. Los von der Türkei, das ist das Schlagwort, das sie alle vereinigt. Auch viele Christen gehören diesem Geheimbund an, besonders Griechen. Die Kaufleute schließen sich ihm an, weil sie dereinst die größten Vorteile für ihren Handel davon erhoffen.

Das Oberhaupt des Geheimbundes in Port Said ist Habbak Hammid. Dem wurde sofort gemeldet, daß soeben ein Franke betäubt und ausgeraubt worden sei, der die Tesbhi eines Anführers trage. Das konntest nur du sein, denn ich befand mich ja bei Hammid.

Ach, das sollte ja herrlich werden! Und war es nicht gleich ein herrlicher Abend? Du mit deinem Schakal, der schon drei Stunden gekocht hatte und den du noch lebend verlangtest! Man ließ dich ausschlafen, Pachageorgy wurde instruiert, es gelang ihm leicht, dein Gepäck an Land zu bringen, wir hatten ja deinen Paß und alles in den Händen, dann bekamst du alles wieder zugestellt. Pachageorgy nahm dich weiter ins Schlepptau, führte dich zu uns.

Ach, war das ein köstlicher Abend! Ich sitze dir immer gegenüber, und du erzählst von deiner Braut, zeichnest meinen Kopf aus dem Gedächtnis ganz lebensgetreu! Du Duckmäuser! überhaupt, mein Herr Leutnant, wir haben einander keine Verstellungskunst vorzuwerfen.

Du sagtest deine Braut sei die Prinzessin Eleonor von Bourbon und zeigtest dabei mein Bild. Mahul hat mir nämlich geschrieben, daß du wohl in den Wahn befangen seiest, ich wäre diese Prinzessin, die inkognito bei Mrs. Haller gewohnt habe. Ich hatte es Hammid mitgeteilt, der liest alle Zeitungen und machte mich darauf aufmerksam, daß der Herzog und die Prinzessin gerade eine Orientreise angetreten hätten. Und sie hatten sich zuvor wegen ihrer Schulden auch in London inkognito aufgehalten. Und wir hatten zufällig in Avignon ihnen gegenüber gewohnt. Ich kannte die Prinzessin vom Ansehen. Na, wenn die jetzt auch nach Petra kam, dann wurde ja die Sache erst richtig köstlich! Und Hammid war dann auch gleich so schlau, zu bestätigen, daß dies die Prinzessin von Bourbon sei, er habe diesen Kopf erst neulich in einer Zeitung gesehen. Und um die Sache immer noch verwickelter zu machen, schlich ich mich als Fatime, die frei wählen durfte, in dein Schlafzimmer, gab dir den Brautkuß, ließ auf deiner Zeichnung mein Signum zurück, daß ich dich zum Gatten erwählt hatte.

Ich war es, der auf den Wüstenritt so trieb. Ich konnte es gar nicht erwarten, nach Petra zu kommen, wo die Komödie doch erst richtig beginnen sollte. Wir setzten dich ab, ritten nur um den Berg herum, hinter dem die Busetas lagerten, das wußten wir, ich schnell mein Emirakostüm übergeworfen, das ich mit mir führte, mich auf ein Pferd geworfen, einige Beduinen instruiert, darunter überhaupt unsere alten Begleiter, in das Tal hineingejagt.

Du kamst erst die Treppe herabspaziert, na, das andere weißt du ja. Habe ich dir nicht bange gemacht? Nun, du hast dich als Held gezeigt, und mir tut der Kehlkopf jetzt noch weh, so habe ich meine Stimme verstellt. Obgleich es bei dir ja gar nicht nötig gewesen wäre.

Ich hatte erst noch meine Heiratsgeschichte bei dem Stamme zu erledigen. Dann kam die Sache mit Fatime daran. Armer Geliebter, habe ich dich wirklich so gemartert? Das habe ich nicht gewollt. Ich wußte doch nicht, daß du dir die Geschichte gleich so zu Herzen nehmen würdest. Ich wollte diese Komödie noch viel weiter ausdehnen, wollte dir ein Mädchen zuführen, dieses für Fatime ausgebend — nicht etwa eine Prüfung, nur eine lustige Komödie, über die wir später lachen wollten... da sah ich deinen Schmerz, ich war furchtbar bestürzt über das, was ich angerichtet hatte — schnell hieb ich den gordischen Knoten mit dem Schwert durch. Verzeih mir, Geliebter.

Nun brauchten bloß noch die Möbel aus London zu kommen. Brieflich waren sie schon avisiert. Unterdessen widmete ich mich dir so viel ich konnte, wenigstens jeden Abend. Die steinerne Emira konnte dir doch nicht den ganzen Tag auf dem Schoße sitzen. Und wie du mir dein ganzes Traumleben mit dem süßen Glück des Liebesschmerzes schildertest — du bist ja ein einzig goldener Mann! Dafür sollst du hier auch mit einem Traum belohnt werden, der sich in Wirklichkeit verwandelt.

Die Möbel kamen auf Kamelen. Gleichzeitig wurde mir gemeldet, daß die Karawane des Amerikaners mit seinen fürstlichen Gästen unterwegs sei. Dieses Wiedersehen mußte ich natürlich erst noch genießen. Und dir schadete es auch nicht. Ich habe also beobachtet, wie du sie nach der Prinzessin Eleonor fragtest. Und da war sie es selbst. Ach, dein Gesicht! Und das arme Weib hatte beim Kamelritt auch noch das Gebiß verloren. Ich beschleunigte die Abreise noch dadurch, das ich eine Menge furchtbarer Aspisschlangen aussetzen ließ, natürlich mit ausgebrochenen Giftzähnen. Da zogen sie schnell wieder ab. Dann traf ich meine Vorbereitungen zum letzten Akt der Komödie.

So nun weißt du alles. Oder habe ich etwas vergessen? Hast du noch etwas zu fragen?«

Mit keinem Wort hatte der Zuhörer sie unterbrochen, hatte nur manchmal die Augen zur Decke aufgeschlagen, den Kopf geschüttelt, oder ihn vielmehr langsam hin und her bewegt. Dann hatte er sich im Geiste nochmals im Hause des arabischen Kaufmannes der Verschleierten gegenüber sitzen gesehen, noch viel weiter waren seine Gedanken zurückgeschweift.

»Da lassen die mich in London stunden- und tagelang gelehrte Vorträge über Petra und Arabien und über die Wahabiten halten«, sagte er jetzt, wieder mit nach oben gerichteten Augen und den Kopf langsam hin und her bewegend, »und derweil sind das selber hier geborene Wahabiten!«

Er hatte das in einer so kläglich-komischen Weise hervorgebracht, daß auch der ernste, phlegmatische Bruder herzlich lachen mußte.

Dann kehrte er zur Gegenwart zurück und. dachte an die Zukunft.

»Wo geht ihr nun hin?«

»Wir sind hier fertig.«

»Ja, wo gedenkt ihr aber hinzugehen?«

»Du fragst recht merkwürdig, Traugott.«

Ja, der Schluß dieses romantischen Wiedersehens wollte recht nüchtern, recht geschäftsmäßig werden. Aber es sollte gleich ganz anders kommen.

»Hm«, brummte der junge Gelehrte, »ich dachte schon einmal daran, in London zu bleiben. Ich möchte die ungehobenen Schätze Arabiens dort in der Bibliothek sichten, wozu ein Menschenalter nicht ausreichen dürste. Und da könnte ich wohl einen sachkundigen Mitarbeiter brauchen.«

»Könnte es nicht auch eine Mitarbeiterin sein?«

»Ach ja, das wäre mir egal. Sagen Sie mal, verehrte Mademoiselle Leonore — oder vielmehr Fatime heißen Sie wohl — Sie sind doch Mohammedanerin?«

»Gewiß. Aber ich kenne auch die christliche Bibel recht gut. Haben Sie verehrter Herr Doktor, das Buch Ruth gelesen?«

»Natürlich kenn ich das.«

»Wie lautet denn da im ersten Kapitel der 16. Vers?«

»So auswendig kann ich das Buch freilich nicht.«

»Ich auch nicht. Nur diese eine Stelle gefiel mir so gut, daß ich sie gleich im Kopf behielt. Sie äußerten sich doch kurz hintereinander: wo ich hinginge, daß Sie vielleicht in London blieben, ob ich Mohammedanerin sei. Fällt Ihnen da nun vielleicht die Stelle ein, hochweiser Herr Doktor?«

»Ich weiß nicht recht, was du meinst«, entgegnete der junge Gelehrte kopfschüttelnd.

Da kniete die stolze Emira die Steinerne vor dem nach mohammedanischer Sitte erwählten Manne nieder, legte ihre Arme auf seine Knie, blickte mit verklärten, feuchten Augen zu ihm empor, und in der Schatzkammer Pharaos in der arabischen Ruinenstadt erklang es zitternd und feierlich von ihren Lippen:

»Ruth aber antwortete: Rede mir nicht darein, daß ich dich verlassen sollte, und vor dir umkehren. Wo du hingehst, da will auch ich hingehen, wo du bleibest, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.


Schluß.

Das ansehnliche Haus mit großem Hintergarten in der stillen Square, eine friedliche Oase im brandenden Menschenmeer, in welchem Hause einst Mrs. Haller ihr Pensionat betrieb, ist jetzt Eigentum eines Doktor Tannert, beaufsichtigender Bibliothekar der arabischen Abteilung im Britischen Museum.

Die Stellung ist nur eine Sinekure, ein Passepartout, daß er in der Bibliothek frei schalten und walten kann.

Seine Hauptbeschäftigung hat er zu Hause, da überseht er die arabischen Manuskripte, hat dazu zwei tüchtige Mitarbeiter. Der eine heißt Mustapha, macht zwar nicht gerne etwas, hat aber ein feines Ohr für den Wohllaut der Sprache, ist darin unersetzlich, der andere ist auf den Namen Leonore getauft, ist ein lebendiges arabisches Nachschlagebuch und nebenbei die Frau des Arbeitgebers.

Als nächtliche Wahabiten wird nicht mehr gelebt. Aber die schönste Stunde kommt doch, wenn des Abends die vielen Wachskerzen angezündet werden, dazu Äpfel und Nüße — die haben jeden Abend Weihnachten. Nur das es nicht mehr so still zugeht. Zum Lesen und Schreiben kommt man nicht mehr. Dazu sind zu viele Kinder da, die besonders den Onkel Mustapha peinigen. Aber was wäre den Weihnachten ohne eine blühende Kinderschar!


ENDE


Roy Glashan's Library
Non sibi sed omnibus
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