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"Im Aeroplan um die Erde,"
Verlag Dieter von Reeken, 2014
"Im Aeroplan um die Erde" (Aus dem Archiv von Walter Mayrhofer)
In Robert Kraft: Gesammelte Reise- und Abenteuer-Romane. Siebente
Serie. Niedersedlitz-Dresden: H. G. Münchmeyer G.m.b.H. o.J. [1912]
Umschlag der Ausgabe von 1922,
Niedersedlitz-Dresden: H.G. Münchmeyer G.m.b.H.
Im Originaltext fehlten die Kapitelnummern 11 und 13.
Das Kapitel 23 wird dort als Kapitel 21 bezeichnet.
Die vorliegende Neuausgabe enthält den ungekürzten Text des von Robert Kraft (1869-1916) verfassten Romans, der erstmals 1910 in 18 Lieferungen erschienen ist, unter Verwendung folgender Ausgabe:
Im Aeroplan um die Erde. Roman von Robert Kraft. In: Robert Kraft: Gesammelte Reise-und Abenteuer-Romane. Siebente Serie. Niedersedlitz-Dresden: H.G. Münchmeyer G.m.b.H. o.J. [1912]. 461 S. mit 12 Illustrationen von Adolf Wald.
Zu Robert Krafts Leben und Werk verweise ich auf die umfassende reich farbig illustrierte Bibliografie von Thomas Braatz, die ebenfalls farbig illustrierte Biografie von Walter Henle und Peter Richter, ein umfangreiches Buch von Arnulf Meifert 4-6 und auf die Tagungsbände zu den Robert-Kraft-Symposien.
Der im Original in Fraktur gesetzte Text ist in Antiqua (Garamond Standard) umgewandelt und an die seit 1996 geltenden neuen Rechtschreibregeln angepasst worden. Offensichtliche Rechtschreibfehler und überholte Schreibweisen sind stillschweigend berichtigt worden.
(1) Thomas Braatz: Robert Kraft — Farbig illustrierte Bibliographie zum 100. Todestag. Leipzig, Wien: Edition Braatz & Mayrhofer, 3., erweiterte Aufl. 2016. — 1032 S. mit über 1000 farbigen Abb.
(2) Walter Henle, Peter Richter: Unter den Augen der Sphinx. Leben und Werk Robert Krafts zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Leipzig, Wien: Edition Braatz & Mayrhofer, 2005. — Das Buch ist vergriffen; eine Neuausgabe ist für 2025 geplant.
(3) Arnulf Meifert: Robert Kraft. Avanturier und Selbstsucher. Eine Annäherung. Leipzig, Wien: Edition Braatz & Mayrhofer 2018.
(4) Robert Kraft 1869-1916. 1. Robert-Kraft-Symposium. 15.—16.10.2016. Mit Beiträgen von Thomas Braatz, Arnulf Meifert, Achim Schnurrer sowie historischen Texten von Dr. S. Friedlaender und Robert Kraft. Leipzig: Thomas Braatz im Rahmen des Freundeskreises Science Fiction, Leipzig, 2016.
(5) Wenn ich König wäre! Robert Kraft zum 150. Geburtstag. 3. Robert-Kraft-Symposium, 12.-13.10.2018. Mit Beiträgen von Jakob Bleymehl, Gerhard W. Bleymehl, Thomas Braatz, Matthias Käther, Walter Mayrhofer, Arnulf Meifert, Karlheinz Steinmüller und Hans Wollschläger. A.a.O. 2019.
(6) Robert-Kraft-Symposium. 16.04.2022. Serienheld Nobody. 100 Jahre Kraft-Film von Thomas Braatz, u. a. mit Beiträgen von Michael Bauer, Aurel Lupastean und Franziska Meifert. A.a.O. 2022.
Fußnoten mit Sternchen (*) stehen so auch im Originaltext, solche mit Zahlen () sind vom Herausgeber eingefügt worden.
Die Wiedergabequalität der Abbildungen war abhängig von der jeweiligen Druckqualität der Vorlagen. Da die den Lagen vorangestellten ganzseitigen Abbildungen in der vorliegenden Neuausgabe dem Fließtext räumlich zugeordnet werden konnten, ist auf die fast textgleichen Bildunterschriften verzichtet worden. Angesichts des geringen Buchumfangs sind die neuen Illustrationen (durchgehend Strichzeichnungen, ebenfalls von Adolf Wald) aus der 1924 erschienenen Ausgabe (Dresden-Niedersedlitz: H. G. Münchmeyer G. m. b. H) im Anhang beigefügt.
Offenbar — das ergibt sich aus dem summarischen Schlusskapitel — hat Kraft den Roman freiwillig oder unfreiwillig früher als ursprünglich beabsichtigt beendet — oder besser gesagt: abgebrochen, was den Roman recht kurz geraten ließ. Zwar werden weitere Abenteuer der handelnden Personen in Aussicht gestellt, eine Fortsetzung hat es aber nicht gegeben.
Für freundliche Unterstützung durch den Originaltext, für Bilder und Hinweise bedanke ich mich bei Thomas Braatz, für die Korrektur bei Ellen Radszat.
Dschuf el Sarde, den Leib der Wüste, nennen die dort hausenden Beduinenstämme den Teil der Sahara, der noch von keiner Karawane durchquert worden ist. Denn in diesem Sandgebiete von mehr als 5000 geografischen Quadratmeilen findet sich keine Oase, kein Brunnen, kein Wassertropfen.
Und im Herzen dieser furchtbaren Öde wanderte unter der sengenden Sonne ein einzelner Mann, in zerfetztem Tropenanzuge, schleppte sich mit seinen letzten Kräften durch den glühenden Sand, ohne Wasserschlauch, ohne alles!
Es war der letzte der deutschen Expedition, die sich die Erforschung dieser Wüste zum Ziele gesetzt hatte.
Wir wollen nicht bei dieser Expedition selbst verweilen. Nur einige Zeitangaben, und wie es gekommen. Vor fünf Tagen hatte die stattliche, aufs Beste ausgerüstete Kamelkarawane die Oase Wadan verlassen, die letzte an der Westgrenze dieser Wüste. Bis an das Herz der Wüste war sie in östlicher Richtung gedrungen, und alles schien gut gehen zu wollen, nach weiteren fünf Tagen hätte sie die Oase Oman erreicht, an einer wieder vielbegangenen Karawanenstraße gelegen.
Da ein furchtbarer Sturm — der Samum hatte die vermessenen Menschlein begraben, die sich seinem geheimnisvollen Herde hatten nähern wollen.
Dr. Karl Breithaupt, der Vermessungsingenieur, ein noch junger Mann, hatte zu den wenigen gehört, die dem Erstickungstode, dem sie stundenlang ausgesetzt gewesen, entgangen waren.
Von den Kamelen, deren Leiber als Schutz hatten dienen müssen, war keines mehr fähig gewesen, sich zu erheben. Und alle Wasserschläuche waren durch die furchtbare Hitze geplatzt.
Was nun? Zurück nach Westen! Es war die nähere Richtung, und etwas Anderes gab es nicht.
Und die wenigen Männer marschierten ab. Ohne jede Hoffnung. Wer freiwillig zurückblieb, um gleich hier zu verschmachten, den konnte man klug nennen. Wir wollen nicht die Qualen derjenigen zu schildern suchen, welche so energisch oder in ihrer Hoffnung so naiv waren, den Rückweg anzutreten.
Einer nach dem anderen blieb zurück, legte sich hin und stand nicht wieder auf. Als sich heute früh wieder die Glut der afrikanischen Sonne bemerkbar machte, hatte der junge Ingenieur seinen letzten Begleiter niedersinken sehen.
Er konnte ihm nicht helfen. Er wusste nichts mehr von sich selbst.
Weiter, weiter nach Westen! Dorthin, wo die Palmen im Winde fächelten. Die Oase war ja so nahe — die Fata Morgana, welche die Verschmachtenden täglich hundertmal getäuscht hatte.
Jetzt aber verließen auch diesen jungen Deutschen die Kräfte, dessen athletischer Körperbau und seelische Energie bisher immer den sehnigsten, an solche Wüstenstrapazen gewohntesten Beduinen übertrumpft hatte.
Plötzlich sah er die Sonne mit blutigroten Strahlen zum Himmel emporschießen, gleichzeitig brachen seine zitternden Knie zusammen.
»Das ist der Tod — Gott sei mir gnädig!«
Mit diesen letzten Worten, von vertrockneten Lippen gemurmelt, sank er bewusstlos nieder.
Das Gefühl, als ob sich siedendes Blei durch die Speiseröhre ergösse, brachte ihn wieder zur Besinnung. »Schlucken Sie ruhig«, sagte da auf Deutsch eine sonore Männerstimme, »immer trinken Sie, so viel Sie wollen. Wir besitzen ein Mittel, um dem Wasser die für einen Verschmachteten so gefährliche Eigenschaft zu nehmen. Das Brennen macht sich nur im Anfange bemerkbar.«
Dr. Breithaupt ließ sich das nicht zweimal sagen, die gegebene Beruhigung war auch fast komisch zu nennen — denn das erste Brennen ließ gleich nach, dann wurde das Wasser kühl, und er hätte getrunken und getrunken, auch wenn er gewusst, dass es seinen sicheren, qualvollen Tod bedeutete.
Denn einen dem Verschmachtungstode Nahen beliebig viel Wasser trinken zu lassen, ist höchst gefährlich. Nur eine Pferdenatur verträgt es. Sonst treten nach dem anfänglichen Genusse immer die fürchterlichsten Magenkrämpfe ein, die meist mit dem Tode enden.
Bei Dr. Breithaupt blieb der köstliche Genuss ohne böse Folgen. Er trank mit geöffneten Augen, immer wieder, dann schaute er um sich, gleich bei völligem Bewusstsein.
Vor ihm stand ein Mann mittleren Alters, bekleidet mit einem weißen, eleganten Tropenanzug, der noch nichts von seiner Neuheit eingebüßt hatte; das freundliche, wenn auch sehr energische Gesicht war unverkennbar das eines Deutschen, wohl gebräunt, aber freilich nicht zu vergleichen mit dem schwarzbraunen Antlitz des jungen Ingenieurs, das gegen die blonden Locken so seltsam abstach.
Aber Breithaupt sah sich diesen Mann gar nicht an, er konstatierte nur, dass er in seiner zerfetzten Gewandung auf einem Sofa lag, das in einem kleinen, recht hübsch möblierten Zimmer stand. Zur Besichtigung der einzelnen Teile hatte er jetzt keine Zeit, und so wollen auch wir es nicht tun, nur immer mit den Augen dieses zu neuem Leben Erwachten sehen.
»Wo bin ich denn?«, war seine erste Frage, erstaunt hervorgebracht.
»In Sicherheit«, erklang es lakonisch zurück.
»Ja, aber wo denn da?!«
»Lassen Sie sich vorläufig genügen, dass Sie sich in Sicherheit befinden.«
»Wie lange bin ich denn bewusstlos gewesen?«
»Kaum eine Stunde.«
Dr. Breithaupt rieb sich zerstreut die Stirn.
»Ja, aber wie lange mag ich dort in der Wüste bewusstlos gelegen haben?«
»Sie waren sofort bewusstlos, als Sie zusammenbrachen?«
»Sofort.«
»Nun, wir sahen, wie Sie zusammenbrachen, und eben von jenem Augenblicke bis jetzt ist noch nicht ganz eine Stunde vergangen. In unserer Behandlung befinden Sie sich seit höchstens zehn Minuten.«
Ungläubig blickte Breithaupt den Sprecher an.
»Sie scherzen!«
»Scherz wäre hier wohl wenig angebracht.«
»Ja, wo befinde ich mich dann hier nur?«
»Sie ahnen nichts?«
»In einem Zelte? Nein, das ist doch kein Zelt!«
Es war ein Fenster vorhanden, nur sehr klein, es war geöffnet, Breithaupt erhob sich, der schmerzenden Glieder nicht achtend, ging hin, blickte hinaus, unter sich...
Da wusste er sofort, wo er sich befand.
Tief, tief unter ihm lag die Erde, und wenn auch der gelbe Sand gar keinen Anhaltspunkt bot, so bemerkte er dennoch, wie schnell das Zimmer, in dem er sich befand, dahinflog.
»Allmächtiger Gott! Ein Luftschiff!!«
»Sie sagen es.«
Breithaupt ließ sich schnell auf dem nächsten Stuhle nieder, die Glieder versagten ihm wieder den Dienst.
»Ein Luftschiff?!«, ächzte er. »Ist denn das nicht nur ein Traum?!«
Nein, bei voller Besinnung war und blieb er. So wusste er auch, dass ein der Menschheit bekanntes lenkbares Luftschiff noch nicht bis hierher in das Innere der Sahara gelangen konnte.
Der Luftschiffbau nach dem Zeppelin'schen und nach anderen Systemen hatte es schon weit gebracht — aber an solche Entfernungen war noch gar nicht zu denken. Es handelte sich doch immer um das Quantum, um das Gewicht des Benzins, das man mitnehmen kann. Und dieses Gewicht hat doch seine Grenzen, sogar seine theoretischen, von den praktischen gar nicht zu sprechen. Und da darf man noch gar nicht mit dem Gasverlust rechnen.
»Ein Luftschiff! Es — ist — nicht — möglich!«, konnte Breithaupt stöhnend nur wiederholen.
»Sie werden doch nicht mehr daran zweifeln.«
Nein, das konnte Breithaupt nicht. Und so nahm er jetzt die Sache, wie er sie fand.
»Dann muss dies doch eine ganz besondere Art von Luftschiff sein, wie die übrige Welt sie sonst noch gar nicht kennt?«
»So ist es.«
»Ihre eigene Erfindung?«
»Ja — obgleich ich mich durch diese Erklärung etwas mit fremden Federn schmücke.«
»Womit betreiben Sie die Motoren?«
»Nicht mit Benzin.«
»Womit sonst?«
»Ahnen Sie nichts?«
Nein, wie sollte der junge Ingenieur etwas ahnen?
»Kennen Sie mich nicht?«, lächelte der Fremde, der noch nicht seinen Namen genannt. »Ich bin gar oft fotografiert worden, alle Zeitungen brachten mein Konterfei — allerdings vor schon sieben Jahren, aber ich habe mich unterdessen gar nicht so sehr verändert.«
Sein Hirn marternd, starrte Breithaupt den Lächelnden an. Nein, er kannte ihn nicht.
Da öffnete sich die Tür, ein Mann trat ein, eine ganz, ganz seltsame, wunderliche Gestalt.
Es war ein kleines, dürres, ausgetrocknetes Männchen, das bartlose, immer schmunzelnde Gesicht von zahllosen Falten durchzogen, gekleidet in einen schwarzen Gehrockanzug, der einen noch ganz neuen Eindruck machte, dazu passend der tadellose Zylinder auf dem sonst wohl völlig nackten Schädel, nicht aber passend zu diesem schwarzen Zylinder das sich darum schlingende grüne, breite Band, ebenso wenig an den Füßen die grünen Filzbabuschen und der Schlips, und seine Liebhaberei für Grün drückte das Männchen dadurch aus, dass es grüne Handschuhe trug und soeben ein mächtiges Taschentuch von grüner Farbe in seine Hosentasche pfropfte.
So trat das schwarzgrüne Männlein ein, latschte in seinen Filzbabuschen auf den Gast zu, präsentierte ihm schmunzelnd eine mächtige Horndose.
»Na, Dokderchen, wieder uff de Beene? Das freit mich, freit mich sehr. Brischen gefällig? Echter Dobbelveilchen.«
Das heißt, er hatte dies auf Englisch gesagt. Aber in einem Dialekt, der sich nur auf sächsisch wiedergeben lässt. Und hiermit hatte auch das Männchen verraten, wo in England seine Wiege gestanden. In dem Fürstentume Wales, dessen jeweiliger Landesvater immer der englische Kronprinz ist.
Der Waliser spielt in England ganz die Rolle des Sachsen in Deutschland. Er spricht sein Englisch so unendlich weich aus, zieht immer in singendem Tone, ist auch sonst wegen seiner ›Gemietlichkeit‹ bekannt, trinkt ebenso lieber ›Gaffee‹ als ›Dee‹!
So wollen wir auch fernerhin dieses grüne Männchen im schwarzen Bratenrock im sächsischen Dialekt sprechen lassen.
Übrigens ward nun auch klar, was die grüne Farbe an dem sonst schwarzen Anzug zu bedeuten hatte. Er trauerte. Denn Grün ist die Trauerfarbe des Walisers, der überhaupt in England eine ganz selbständige Rasse vertritt, wie ja auch die Trauerfarbe der unter uns noch wohnenden Wenden die weiße ist.
Gleich beim Anblick dieser Gestalt war Dr. Breithaupt aufgeschnellt, er war vor Staunen zuerst nur keines Wortes fähig gewesen, sodass jener noch hatte sprechen können, dann brach es bei ihm hervor:
»Adam Green! Die Toten erwachen zu neuem Leben! Das ist kein anderer als Adam Green! Ja, nun erkenne ich auch Sie — dann sind Sie Georg Hartung, der Führer des mit Morrisit getriebenen Panzerautomobils, das vor sieben Jahren im Triebsande des Llano Estacado versank!!«
Das grüne Männchen war durch ein Klingelzeichen gleich wieder hinausgerufen worden, die beiden waren wieder allein. »Ja, wir sind es«, sagte dann der erkannte Georg Hartung. »Was wissen Sie sonst von uns?«
Furchtbar war die Erregung des jungen Ingenieurs. Dann, als er sich wieder gefasst, berichtete er, was vor sieben Jahren die ganze zivilisierte Welt in atemloser Spannung gehalten hatte.
Wir geben kurz wieder, was den Inhalt des Romans ›Im Panzerautomobil um die Erde‹(1) bildet.
(1) Im Panzerautomobil um die Erde. In: Robert Kraft: Die Augen der Sphinx. Gesammelte Erzählungen. Sechste Serie. Erster Band. Niedersedlitz-Dresden: H.G. Münchmeyer G.m.b.H. o.J. [1909; mehrere Nachausgaben]. — Neuausgabe in neuer deutscher Rechtschreibung: Lüneburg: Dieter von Reeken 2024.
Ein Amerikaner namens Maximus Morris erfindet eine metallartige Substanz, welche die Eigenschaft besitzt, Wasser bei der bloßen Berührung in seine Grundelemente zu zerlegen, in Wasser- und Sauerstoff, ohne dass sich die Substanz, Morrisit genannt, dabei selbst verzehrt oder verändert.
Nach seinem Tode bietet seine Tochter Leonor diese Erfindung, welche Kohle und Petroleum auf der Erde überflüssig macht, dem Direktor der vereinigten Kohlenminen und Petroleumquellen für hundert Millionen Dollar an. Oder eigentlich nicht die Erfindung selbst, nicht das Rezept dazu, sondern 2000 Zentner Morrisit, welches der Erfinder kurz vor seinem Tode ›angesetzt‹ hat. Denn diese wunderbare Substanz braucht zu seiner Entwicklung zwei Jahre. Diese 2000 Zentner entsprechen dann hundert Millionen Pferdekräften, einfach aus Wasser erzeugend, unerschöpflich bis in alle Ewigkeit.
Also erst in zwei Jahren kann sich die Sache entscheiden. Unterdessen will Leonor mit einigen wenigen Getreuen eine Reise um die Erde machen, in einem selbstgebauten Panzerautomobil, ausgestattet mit den wunderbarsten Erfindungen, getrieben von 400 Gramm Morrisit, das ihr Vater als Probe schon früher hergestellt hat.
Als wegekundiger Führer für die Automobilfahrt wird Georg Hartung engagiert, ein geborener Deutscher, auf einer amerikanischen Farm groß geworden, Philologie studiert habend, dann, verarmt, die Fibel mit der Büchse vertauschend, zuletzt als Jäger die ganze Erde umwandert habend.
Seine Führung ist umso nötiger, weil seine Büchse diesmal die ganze Automobilgesellschaft ernähren soll. Denn bei Antritt der Reise verfügt Leonor über keinen roten Cent mehr, das Automobil ist nicht verproviantiert, denn den letzten Hundertdollarschein, den sie Mister Adam Green, dem Meister der Quadratur, zur Beschaffung des allernötigsten Proviants gegeben, hat dieser in einen Zentner Schnupftabak umgewandelt, als das ihm unentbehrlichste Futtermittel.
Die tolle Fahrt geht los. Von New York aus quer durch Amerika nach Kalifornien, die Küste hinauf, durch die Beringstraße nach Asien hinüber, durch Sibirien, durch Hinter- und Vorderindien, durch Persien und Kleinasien, über den Suezkanal nach Afrika, dieses von Norden nach Süden bis nach Kapstadt durchquert.
Von hier aus geht das Panzerautomobil als Frachtgut auf einem Dampfer nach Buenos Aires. Zwar kann es auch schwimmen, aber solch eine lange Seereise verträgt es denn doch nicht.
Zahllos sind die Abenteuer gewesen, welche die fünf Automobilisten durchzumachen gehabt, alle Fährnisse haben sie glücklich überstanden, hauptsächlich haben sie auch immer die Fallen zu umgehen gewusst, die ihnen die Gegner stellen, denen es darauf ankommt, ohne Bezahlung jener hundert Millionen Dollar in den Besitz des Geheimnisses zu kommen oder wenigstens zu erfahren, wo der alte Morris die 2000 Zentner Metall verborgen hat.
Hier in Buenos Aires ziehen diese Gegner das letzte Register. Georg Hartung, von dem wohl jeder, der die Sachlage kennt, weiß, dass Leonor ihn liebt, wird entführt. Da droht Leonor, wenn er ihr nicht wieder ausgeliefert wird, Buenos Aires in Brand zu schießen.
Sie hat nicht nötig, ihre Drohung auszuführen, hätte es wohl auch schwerlich getan. Georg befreit sich selbst. Aber trotzdem geht ganz Buenos Aires in Flammen auf — und Leonor gilt als die Brandstifterin, von der ganzen Welt verflucht.
Sie kann sich nicht rechtfertigen. Es ist ihr auch gleichgültig. Nur Ruhe will sie haben. Nicht mehr wegen des elenden Geldes ständig verfolgt werden. Sie begibt sich zu Professor Martini, dem berühmten spanischen Chemiker, offenbart ihm, wo ihr Vater die Eisenrohre mit dem angesetzten Morrisit vergraben hat, gibt auch das Rezept dazu. Es ist einfach Natrium, wie gewöhnlich aus Soda oder Kochsalz hergestellt, nur nicht unter Petroleum, sondern unter Quecksilber aufgefangen. Und dass dieses Natrium dann zwei Jahre lang unter Luftabschluss lagern muss. Dann verwandelt es sich in Morrisit.
Nach Preisgabe dieses Geheimnisses geht die Fahrt weiter durch die Pampas nach Mexiko. Hier dringt das luftdicht abschließende Panzerautomobil, das seine eigene Atmosphäre erzeugen kann, in das von Bordämpfen geschwängerte Höllental des Monte Cerboli ein und... kommt nicht wieder zum Vorschein!
Es war einmal...
Die Zeit verging. Der Brandstifterin hatte man bald verziehen. Buenos Aires war aus den rauchenden Trümmern schöner denn zuvor hervorgegangen, Tausende von damals arbeitslosen Händen hatten Beschäftigung gefunden, und — die Hauptsache, man war dabei auf eine unerschöpfliche Wasserader gestoßen, die der ewigen Wasserkalamität ein Ende bereitete. Jetzt erst konnte sich die argentinische Hauptstadt wirklich entwickeln.
Und dann gab sich die ganze zivilisierte Welt schon dem vorzüglichen Gedanken hin, dass Heiz-, Beleuchtungs- und Betriebskraft bald so gut wie gar nichts mehr kosten würde. Überhaupt so ziemlich die ganze Arbeit würde aufhören. Dass dabei alles, was mit Kohle und Petroleum irgendwie zusammenhing, zugrunde ging, hatte nichts zu sagen. Das war nur ein Übergangspunkt, das ist der Lauf der Welt.
Denn in dem Klostergarten Newton hatte man die vergrabenen Eisenrohre wirklich gefunden. Nur die eine hatte man geöffnet, darin wirklich metallisches Natrium gefunden. Freilich ohne die Eigenschaften des wunderbaren Morrisits. Aber das musste eben zwei Jahre bei Luftabschluss lagern, jetzt hatte es erst ein halbes gelegen.
Die anderthalb Jahre vergingen. Die ganze Welt befand sich in fieberhafter Spannung. Und dann kam das Resultat: Es war und blieb metallisches Natrium, von den Eigenschaften des Morrisits gar keine Spur, man konnte mit einzelnen Röhren so lange warten, wie man wollte.
Außerdem gab es auf der ganzen Erde wohl kein einziges Laboratorium, das damals nicht gleich auf die beschriebene Weise Natrium hergestellt hätte — es war und blieb einfaches Natrium, wurde niemals Morrisit, welches, ohne sich selbst zu zersetzen, Wasser in seine Grundelemente zerlegte, die man dann getrennt oder als Knallgas auffangen konnte.
Nun war es ja ganz klar: jene Amerikanerin hatte den größten Schwindel in die Welt gesetzt, den diese je gesehen. Wozu? Na, sie hatte eben hundert Millionen Dollar ergaunern wollen. Ein Stück der wunderbaren Substanz hatte sie besessen, das stimmte — aber die Herstellung war ihr Geheimnis geblieben, das sie mit sich in den Tod, in die Hölle genommen.
Wieder vergingen drei Jahre, seit dem Verschwinden des Panzerautomobils waren es fünf, da ließ sich bei Professor Martini in La Magdalene bei Buenos Aires eine Dame melden.
Missis Leonor Hartung, geborene Morris.
Und sie rechtfertigte sich.
Sie selbst, die akademisch gebildete Chemikerin, die ihrem Vater bei der ersten Herstellung des Morrisits ständig assistiert hatte, konnte das Natrium jetzt nicht mehr verwandeln, dass es die wunderbaren Eigenschaften bekam. Wie das bei jenen Stückchen möglich gewesen — sie wusste es nicht. Dem dabei verwendeten Kochsalz oder Quecksilber musste zufällig irgendeine fremde Substanz beigemischt gewesen sein — sie wusste es nicht. Auch sie hatte die letzten fünf Jahre wegen dieser verlorengegangenen Erfindung ununterbrochen experimentiert — ohne jeden Erfolg.
Dann erst berichtete sie, wie das Panzerautomobil damals das Höllental auf der anderen Seite wieder verlassen habe, aber nur, um gleich darauf im Triebsande des Llano Estacado für immer zu verschwinden.
»Und wo halten Sie sich jetzt auf?«, hatte der Professor dann gefragt.
»An der Seite meines Gatten, im Kreise meiner Kinder und einiger guter Menschen«, war die Antwort der schönen jungen Frau gewesen.
»Ja, aber wo da, dass man gar nichts wieder von Ihnen zu hören bekommen hat?«
»An einem Orte, wo man mich niemals finden wird.«
Da hatte der feinfühlige Gelehrte gewusst, dass er deswegen nicht weiter fragen durfte.
»Aber es geht Ihnen gut?«
»Ich bin glücklich.«
Und so hatte sie auch ausgesehen.
Dann hatte sie sich erhoben, durch das Fenster nach dem Hafen von La Magdalena gedeutet, in dem seit kurzer Zeit eine fremde, kleine, schmucke Dampfyacht lag.
»Sehen Sie die kleine Yacht? Auf ihr erwartet mich mein Gatte, sie bringt uns wieder zurück nach unserem verborgenen Paradies. Nur Ihnen gegenüber wollte ich mich noch einmal rechtfertigen. Leben Sie wohl, Herr Professor, werden Sie glücklich, wie ich es jetzt bin.«
Das waren die letzten Worte gewesen. Gleich darauf war die Yacht davongedampft. — — —
Das war es, was Dr. Karl Breithaupt berichten konnte. Er brauchte nur wiederzugeben, was damals ständig alle Zeitungen beschäftigt hatte, und der spanische Professor hatte diese letzte Begegnung ganz ausführlich geschildert, den Bericht an Zeitungen gesendet, sich mächtig für die von Gott und aller Welt Verfluchte ins Zeug legend.
Georg Hartung hatte durch Fragen noch ermuntert, dass der junge Ingenieur alles berichtete, nichts vergaß, was er über diese ganze Sache wusste.
»O, Herr Hartung, Sie glauben gar nicht, wie ich mich damals für den Fall interessiert habe! Als die Automobilfahrt um die Erde stattfand, studierte ich gerade in Berlin auf dem Polytechnikum, welches auch Miss Leonor — Ihre Gattin meine ich — einige Semester besucht hatte, und es gab genug Studenten, die sie noch persönlich gekannt hatten, und ich habe die Wirtsleute besucht, bei denen sie gewohnt, ich hätte sonst etwas dafür gegeben, hätte ich dieses kleine Zimmerchen beziehen können, aber es war eben ein geheiligter Raum, um den sich alles auf der Universität stritt...«
»Also, Sie wollen damit wohl sagen«, unterbrach Hartung den immer mehr in Begeisterung Geratenden, »dass Sie nicht glauben, meine Frau, oder damals Miss Leonor Morris, sei zur Mordbrennerin geworden oder habe die ganze Welt betrügen und sich hundert Millionen Dollar ergaunern wollen...«
»O, wie können Sie nur so sprechen!!«, rief der junge Ingenieur, förmlich außer sich. »Wenn Sie uns junge Studenten damals hätten reden hören können — nur schade, dass wir ja so gar keinen Einfluss auf die öffentliche Meinung hatten...«
»Schon gut, schon gut, ich glaube Ihnen«, unterbrach Hartung nochmals den Aufgeregten, anfangs lächelnd, dann aber wurde er sehr ernst, als er jenem die Hand hinhielt.
»So wollen Sie meine Hand als die des Gatten jener ehemaligen Miss Morris nehmen?«
Mit freudiger Hast wurde die Hand ergriffen und mit ehrlicher Herzlichkeit geschüttelt. Ein Wort war dabei nicht nötig, hätte nur gestört.
»Ich danke Ihnen«, sagte Hartung, als er seine Hand zurückzog. »Nun aber erfahren Sie etwas anderes: Wir sind dennoch wieder in den Besitz des Morrisits gekommen.«
In Anbetracht des zuvor Besprochenen war die Bestürzung des jungen Ingenieurs gerechtfertigt. Doch er hatte gleich seinen besonderen Gedanken. Die erste Bestürzung verwandelte sich gleich in ein freudiges Staunen.
»Sie haben das versunkene Automobil wiedergefunden?«
»Nein, das dürfte für immer verschwunden sein, innerhalb dieser sieben Jahre ist es nicht wieder zum Vorschein gekommen, wir haben dort immer Wächter stationiert gehabt. Nein, sondern ich meine: Wir haben die Herstellung des Morrisits mit all seinen wunderbaren Eigenschaften doch wieder entdeckt.«
Der geneigte Leser braucht wohl keine besondere Erklärung, weshalb des jungen Ingenieurs Blick plötzlich so starr auf dem Sprecher ruhte. Da lag eben die Vermutung sehr nahe, dass Leonor Morris dennoch die ganze Welt betrogen hatte, zu allererst den spanischen Professor. Und es waren zwei echte Germanen, die sich hier gegenüberstanden, und im unverfälschten Germanentum sind Treue und Ehrlichkeit immer die Haupttugenden gewesen.
Aber wiederum verwandelte sich gleich der starre, erschrockene Blick.
»Dann haben Sie die Nacherfindung in den letzten zwei Jahren gemacht, nach jener Besprechung mit dem spanischen Professor?«
»So ist es. Vor noch nicht einem Jahre.
»Ich wusste es.«
Und nach dieser Bestätigung, die seinem eigenen Charakter zur höchsten Ehre gereichte, brach bei dem jungen Ingenieur ein Jubel hervor, wie ihn nur der echte Gelehrte kennt, dessen wissenschaftliches Streben frei von jedem Neide ist.
»Das Morrisit wiedererfunden! Genau dasselbe, das Wasser bei der bloßen Berührung in seine Elemente zerlegt?«
»Genau dasselbe Morrisit. Jetzt wissen wir, woran der Misserfolg gelegen hat. Es handelt sich tatsächlich um eine kleine Beimischung, die man dem Quecksilber zufügen muss. Wiederum war die Wiederentdeckung nur ein Zufall — allerdings haben wir dazu sechs Jahre lang ununterbrochen experimentiert und geforscht.«
Der Ingenieur fragte jetzt nicht nach dem Rezept, jetzt beherrschte ihn immer noch nur die Freude des neidlosen Jüngers der Wissenschaft. Er sah im Geiste die Revolution, welche diese nun definitive Entdeckung nach sich ziehen musste — wohl eine furchtbare Revolution, welche die ganze Welt mit Klage und Schmerz erfüllen würde — in der letzten Konsequenz aber doch von unendlichem Segen.
»Und wo ist denn nun dieser paradiesische Ort, an dem Sie sich verborgen hielten, und aus dem nun diese gloriose Erfindung endgültig hervorgegangen ist?«, war Breithaupts nächste Frage.
»Ehe ich Ihnen hierauf antworte, soweit ich kann und darf — fühlen Sie jetzt nicht Hunger?«
Nein, Breihaupt wollte von keiner Mahlzeit etwas wissen. Wohl hatte er seit achtundvierzig Stunden so gut wie nichts gegessen, der furchtbare Durst hatte ja gar keinen Hunger aufkommen lassen — aber jetzt war er viel zu erregt, um etwas essen zu können. Dem Limonadenkruge aber sprach er noch häufig zu, und das genügte, um seine Kräfte immer mehr herzustellen.
Dagegen dachte er jetzt an die verunglückte Expedition, die er ja nur eine ganz kleine Tagereise hinter sich gelassen, an seine anderen Gefährten, die nach und nach verschmachtet im Sande zurückgeblieben waren.
Hartung konnte ihn darüber beruhigen — wenn seine Erklärung eine Beruhigung war.
Das von Osten kommende Luftschiff hatte heute früh die in der sonst völlig ebenen Wüste auffälligen Sandhügel aus großer Höhe gesichtet, beim Herablassen hatte man tierische und menschliche Gliedmaßen erkannt.
Sie waren gelandet, hatten ausgegraben. Lebendig war natürlich nichts mehr gewesen. Was mitzunehmen war, hatte man mitgenommen. Dann galt es ja auch, schnellstens die aufzusuchen, welche sich zu Fuß nach Westen gewandt hatten, wie die noch nicht verwehten Spuren verrieten.
Man fand hin und wieder eine Leiche, die man auf mitnehmenswerte Sachen und besondere Papiere untersuchte.
Bis man dann den einsamen Wanderer erblickte, gerade als er zusammenbrach. Breithaupt hatte Schriftstücke bei sich, die wissenschaftliche Ausbeute der Expedition, hatte das Tagebuch geführt, seine letzte Eintragung vor wenigen Stunden war gewesen, dass er nun seinen letzten Begleiter verloren habe.
Das hatte genügt, so hatte das Luftschiff seine Fahrt fortsetzen können, man hatte nicht erst das Erwachen des Bewusstlosen wegen mündlicher Mitteilungen abzuwarten brauchen.
Als wir unser Panzerautomobil im Triebsande der mexikanischen Wüste versinken sahen«, begann Georg Hartung seine Erklärungen, die freilich, wie wir gleich sehen werden, viel zu wünschen übrig ließen, »hatten wir unsere Heimat, den einzig sicheren Hort verloren, den wir noch besaßen. Wir waren ja vogelfreie Mordbrenner, jeder Bube hätte uns niederschießen können, und er wäre belohnt worden.
Wo jetzt Zuflucht suchen? Nun, ich wusste einen Ort, wo man uns niemals finden würde, wo wir auch die ganze übrige Welt nicht brauchten.
Aber, geehrter Herr Doktor, fragen Sie mich niemals, wo sich dieser Ort befindet. Ich gebe nicht die geringste Andeutung. Nicht dass ich Ihnen misstraue. Aber mir ist die Zunge gebunden. Denn auch wir haben unsere Gesetze. Von mir erst gemacht, vorgeschlagen — so muss ich ihnen auch als erster gehorchen. Sollten Sie, was ich bestimmt hoffe, einer der Unsrigen werden, so werden Sie es ja erfahren, nachdem Sie die vorschriftsmäßigen Prüfungen bestanden haben.
Mich nach jenem Orte durchzuschlagen, meine Begleiter dorthin zu bringen — wir waren nur noch drei, zwei hatten wir in jenem Höllentale durch den Tod verloren — sollte mir ein Leichtes sein. Sie wissen ja, was für ein verwegener Gesell ich früher gewesen bin. Ein internationaler Globetrotter, mit allen Hunden gehetzt. Außerdem waren wir reichlich, überreichlich mit Geldmitteln versehen.
Ehe wir uns auf den Weg nach der Westküste machten, traf ich noch einen alten Jäger, einen Trapper, der hier an dem Wüstensaume zu Hause war, mir von meiner früheren Weltwanderung her eng befreundet. Ihn stellte ich an, immer ein Auge auf jenen Ort zu haben, wo unserer Berechnung nach das davongeflohene Panzerautomobil im Triebsande versunken war. Wenn es einmal bloßgelegt werden würde, sollte der erfahrene Wüstenläufer versuchen, es zu erreichen, bekam von mir seine Instruktionen, was er dann zu tun habe: nur die 400 Gramm Morrisit daraus entnehmen, einige Kleinigkeiten, alles andere durch Sprengung zu vernichten.
Wir drei erreichten die Westküste Mexikos, stießen gerade auf eine Dampfyacht, deren Besitzer der Miss Leonor gut bekannt war... ich will mich kurz fassen: Die Yacht wurde unser Eigentum, wir fanden darauf eine auserlesene Besatzung von mehr als zwanzig Menschen, welche unsere ständigen, vertrauten Gefährten werden sollten. Ein wunderbarer Zufall ist uns da zu Hilfe gekommen, dass alles so schnell ging.
Wir begaben uns hin nach jenem verborgenen, nur mir bekannten Orte. Unser Entschluss war, nie wieder dieses weltentrückte Paradies zu verlassen, wir wollten nichts mehr mit der anderen Menschheit zu tun haben. Wir drei hatten ja unsere bösen Erfahrungen gemacht. Und seltsam war es, dass sich die ganze Mannschaft der Yacht in einer ähnlichen Lege befand. Eine weltflüchtige Gesellschaft, die in letzter Zeit nur immer nach einer noch unentdeckten Insel gesucht hatte.
Nun, ich konnte sie führen. Und ich tat es. Wir kolonisierten. Leonor war meine Frau geworden. Sogar mit regelrechtem, priesterlichem Segen. Sie ist eine gute Hausfrau und liebevolle Mutter — aber die rastlos experimentierende Physikerin und Chemikerin ist sie dabei noch heute. Und nun dazu Mister Adam Green, dieser Ausbund von einem Genie, der alles in den Fingerspitzen hat, was andere sich mühsam im Gehirn ansammeln müssen — was sollten diese beiden Unzertrennlichen denn tun? Ehe wir zwei Dutzend Männer uns noch eine Hütte gebaut, um in diesem Paradiese nicht nassgeregnet zu werden, hatten die sich in einem hohlen Baumstamme schon ein Laboratorium eingerichtet.
Und so ist es bis heute weitergegangen. Nur dass sich das physikalische und chemische Laboratorium dort nicht mehr in einem hohlen Baumstamme befindet, sondern in einem regelrechten Gebäude, in Räumen mit wissenschaftlichen Einrichtungen, die jeder Universität zur Zierde gereichen würden.
Natürlich wurde das nicht alles selbst gefertigt. Das wäre in solch kurzer Zeit nicht möglich gewesen — ach, diese Instrumente und Apparate — das hatten wir auch nicht nötig. So ganz und gar von der Welt zurückziehen wollten wir uns gar nicht. Was uns in der anderen Welt gefiel, und was wir gebrauchen konnten, holten wir heraus in unsere Einsamkeit. Freilich in aller Heimlichkeit. Sogar Menschen. Wenn wir ab und zu einen fanden, der zu uns passte, der was leisten konnte, der kam mit.
Meiner Frau und Adam Greens unablässige Bestrebung war, das Morrisit wiederzuerfinden. Als Leonor fünf Jahre später, von dem Verlust des Automobils an gerechnet, einmal nach Buenos Aires kam, berichtete sie dem Professor Martini die Wahrheit, woran Sie, Herr Doktor, ja auch nicht gezweifelt haben: Es war ihr noch nicht gelungen, aus Natrium Morrisit herzustellen, sie hatte noch keine Spur dazu gefunden.
Und dennoch machten die beiden die Wiederentdeckung. Ein Jahr später, jetzt vor einem Jahre. Ja, das Morrisit war wiedererfunden, konnte in jeder Quantität hergestellt werden, und man braucht es nicht erst zwei Jahre lagern zu lassen.
Und noch eine andere kolossale Entdeckung hatten die beiden dabei gemacht. Bei der Herstellung des Morrisits auf unsere ganz neue Weise entwickelt sich gleichzeitig ein Gas, eine neue, bisher ganz unbekannte, sonst in der Natur auch nicht vorkommende Gasart, welche achtmal leichter als Wasserstoff ist...«
Es war begreiflich, dass Dr. Breitkopf emporschnellte.
»Was?!«
»Achtmal leichter als Wasserstoffgas.«
»Es — ist — nicht — möglich!!!«
»Na, dann nicht«, wurde Georg Hartung humoristisch. »Sie werden die Eigenschaft dieses Gases bald kennen lernen, das soll Ihnen kein Geheimnis bleiben, selbst wenn wir uns wieder trennen müssten, ich hoffe aber, dass Sie noch einer der Unsrigen werden, wonach Sie alles, alles erfahren. Jetzt kann ich Ihnen wenigstens die Andeutung machen, dass die Erzeugung dieses merkwürdigen Gases mit Radium verknüpft ist. Denn Sie werden den Namen Radiumgas hier oft genug zu hören bekommen, woraus Sie so etwas wohl gleich von selbst schließen würden.
Diese Entdeckung des Radiumgases führte nun gleich eine zweite herbei. Ich schicke voraus, dass sich unsere... Tüftler, meine Frau und Adam Green, auch ständig mit Aluminium beschäftigt haben, als mit dem leichtesten Metall. Nämlich wegen einer Flugmaschine, die sie ebenfalls immer im Auge hatten. Ach, mit was allem beschäftigen die sich überhaupt!
Und so ist es ihnen gelungen, ein Aluminium herzustellen, welches fast dreimal so leicht ist als das gewöhnliche...«
»Was? Dreimal so leicht?!«, musste Dr. Breithaupt wiederum unterbrechen, außer sich vor Staunen, wohl seinen Ohren nicht trauend.
»Fast dreimal so leicht. So leicht wie Holz. Es schwimmt auf dem Wasser. Und dabei härter und elastischer als der beste Stahl.«
»Es — ist — nicht — möglich!!«, echote Breithaupt nochmals.
»Sie wollen sich überzeugen. Dieser Aluminiumradiumstahl wird so hergestellt, dass durch das flüssigheiße Aluminium jenes Radiumgas geblasen wird, ähnlich wie in den sogenannten Bessemer-Birnen, nur dass hier nicht Eisen durch atmosphärische Luft seiner Kohle beraubt werden soll, sondern im Gegenteil, das Gas soll sich mit dem Aluminium verbinden, und das tut es auch. Nach dem Erkalten ist es eine ganz poröse Masse, aber, wie gesagt, von immenser Härte und Elastizität. Diese Herstellungsweise kann ich Ihnen ganz ruhig sagen, Sie können ein Stückchen mitnehmen, das erfindet doch niemand nach. Ich selbst bin ja kein Ingenieur, aber... mit den beiden, mit meiner Frau und Adam Green, ist eben etwas ganz Besonderes los. Der erste Maschinist auf jener Yacht war und ist kein so gewöhnlicher Maschinenmann, der ist auch so ein Weltflüchtling, hat früher an einer technischen Hochschule als Professor gelehrt, ein gottbegnadetes Genie ersten Ranges... aber, wenn die beiden anfangen, meine Frau und Adam Green, ihre wissenschaftlichen Theorien zu erörtern, mit Zahlen um sich werfen — dann nimmt auch dieser Mathematikus immer schnell Reißaus.
Nun können Sie sich wohl vorstellen, was wir mit den beiden Erfindungen zusammen, mit dem Radiumgas und dem Radiumaluminium, alles anfangen können. Nämlich oder doch hauptsächlich in Bezug auf die Luftschifffahrt. Nun muss ich noch erwähnen, dass wir uns in den letzten Jahren überhaupt sehr viel mit dem Luftschiffwesen befasst haben. Wir hatten einen ganz besonderen Grund dazu. Wir waren nämlich mit unserem Paradiese zuletzt gar nicht mehr so zufrieden. Es gibt dort einen sehr großen Übelstand. Kurz und gut, wir hätten uns gern ein anderes Paradies gesucht. Und wir wussten ein solches. Auch ganz verborgen, unerreichbar von aller übrigen Welt. Wissen Sie, was ich meine?«
Nein, wie sollte Breithaupt etwas wissen? Er wunderte sich nur, dass Hartung erst so fragte.
»Entweder nur zu erreichen durch ein Fahrzeug, wie durch jenes Panzerautomobil, oder nur durch ein Luftschiff. Sie ahnen noch immer nicht, welchen Ort ich meine?«
Nein, der junge Ingenieur ahnte nicht das Geringste, wie er seinen Kopf auch marterte. Dann später freilich sah er ein, dass er nur nicht auf den naheliegenden Gedanken gekommen war.
»Nun, Sie werden es ja erfahren. Bis dorthin begleiten Sie uns wohl. Solch ein Panzerautomobil hätten wir uns ja bald wieder bauen können. Aber da wäre eine gar weite Reise nötig, um dorthin zu gelangen, und... wir wollen mit dem Lande, auf dem andere Menschen herumspazieren, lieber gar nicht mehr in Berührung kommen. Wir haben unsere Gründe dazu. Wenn auch keine polizeilichen. Wir sind eben Weltflüchtlinge.
So hatten wir schon immer an ein Luftschiff gedacht, mit dem Bau eines solchen schon vor Jahren begonnen. Freilich wären wir auf Benzin angewiesen gewesen.
Da wurde das Morrisit wieder entdeckt, dazu das Radiumgas und das Radiumaluminium — nun konnten wir ein ganz anderes Luftschiff bauen. Das schon ziemlich weit vorgeschrittene Gerippe war nutzlos. Schadete nichts, wir hatten dabei unsere Erfahrungen gemacht. Innerhalb eines Jahres war dieses Luftschiff hier fertig, auf dem wir uns jetzt auf dem Wege nach unserer neuen Heimat befinden, ebenfalls ein Paradies, aber mitten in der Hölle gelegen.«
Überrascht blickte Breithaupt auf. Jetzt allerdings kam ihm die Erkenntnis.
»Doch nicht... nach dem Monte Cerboli?«
»So ist es. Dorthin wollen wir unsere neue Niederlassung verlegen, unerreichbar von aller anderen Welt.«
Dr. Breithaupt wusste von dem mexikanischen Monte Cerboli so viel, wie davon im Konversationslexikon, mehr noch in wissenschaftlichen Büchern zu lesen ist. Was die Automobilisten in dem Höllentale und auf dem Teufelsberge, aus dem sie jetzt ein Paradies machen wollten, Wundersames erlebt hatten, davon wusste er freilich nichts.
Wir werden uns später noch genug damit zu beschäftigen haben, wir bleiben bei dem jungen Ingenieur, durch dessen Kopf jetzt ebenfalls andere Gedanken gingen.
»Da muss dieses Luftschiff für seine Größe doch eine ungeheure Tragkraft besitzen.«
»Das ist sicher. Ich selbst bin kein Ingenieur, die technischen Erklärungen müssen Sie sich dann von Sachverständigen geben lassen, einiges kann ich Ihnen ja aber doch schon sagen. Das Radiumgas achtmal leichter als Wasserstoff, unser Metall dreimal leichter als das gewöhnliche bei Luftschiffen angewandte Aluminium — wenn man nicht Aluminiumbronze vorzieht, die wieder bedeutend schwerer ist — dreimal acht ist vierundzwanzig — ich will nur zwanzig sagen... unser Ballon hat eine zwanzigfach größere Tragkraft als ein anderer von gleicher Größe. Und was da nun alles in Betracht kommt, was man da ersparen kann! Denken Sie nur an die gewichtigen Motore! Die sind bei uns achtmal so leicht wie jeder andere, und wenn man es wirklich wagte, reines Aluminium anzuwenden, mehr als zehnmal so leicht. Und wir brauchen keinen Benzinballast mit uns zu schleppen, wir brauchen ja nur Wasser, das wir doch überall ergänzen können. Mit Ausnahme auf einigen langen, wasserlosen Strecken. Aber sonst gibt es doch überall Wasser. Und dann die vielen, vielen Zentner, die wir schon allein durch Weglassung der Kautschukhülle ersparen.«
»Der Kautschukhülle? Ja, mit was ist denn Ihr Ballon bezogen?!«
»Ach so, habe ich Ihnen das noch nicht gesagt? Ei, das ist ja mit die Hauptsache. Das Radiumaluminium lässt sich wunderbar dünn auswalzen, fast so wie Gold, trotz seiner Porosität, und nun besitzen wir ein Verfahren, um diese dünnen Plättchen absolut luftundurchlässig zu machen. Da können Sie sich denken, was für eine Gewichtsersparnis wir haben. Dieses Radiummetall ist an sich schon viel, viel leichter als Gummi und Kautschuk, und dabei sind die Platten, welche also die Umhüllung bilden, nur zwei Millimeter stark. Und dabei fast wie Panzerplatten. Wenigstens muss Ty... unser Luftschiff schon einen tüchtigen Puff bekommen, ehe die Umhüllung nur den geringsten Riss erhält.«
Hartung hatte wohl den Namen des Luftschiffes aussprechen wollen, hatte es aus irgendeinem Grunde noch rechtzeitig unterdrückt. Doch der junge Ingenieur hatte dies gar nicht beachtet. Er war außer sich vor Staunen.
»Wunderbar, wunderbar!! Und wie sind die Dimensionen des Schiffes?«
»Ganz beträchtlich. Wir haben gleich ins Große gebaut. Es handelt sich ja um einen Frachtwagen. 180 Meter Länge bei 16 Meter Durchmesser in der Mitte. Kommen Sie, besichtigen Sie es doch.«
»Ist denn das gestattet?«, fragte Dr. Breithaupt zögernd.
»Warum nicht? In dieser Beziehung wollen wir keine Heimlichkeiten mehr haben. Sonst allerdings gibt es noch genug. Wollen Sie denn nicht erst etwas Kompakteres zu sich nehmen?«
Nein, der junge Ingenieur wäre zu keinem Bissen fähig gewesen.
»Dann, bitte, folgen Sie mir. Die erste Erklärung zur allgemeinen Übersicht will ich übernehmen, das Weitere wird Ihnen dann einer der Ingenieure erklären, soweit er es darf.«
Immer mehr musste Dr. Breithaupt staunen über alles das, was er hier zu sehen bekam. Die zigarrenähnliche Form des Ballons war das einzige, was dieses Luftschiff mit den üblichen gemeinsam hatte, sonst war alles originell, eigene Erfindung.
Das Bemerkenswerteste war, dass die Gondeln fehlten. Alles was zur Bedienung des Luftschiffes gehörte, befand sich im Innern des Ballons.
Dieser bestand nämlich aus zwei Teilen, dem vorderen und dem hinteren, jeder 80 Meter lang, und in der Mitte nun war der Raum für die Menschen und für alles, was zum Betriebe nötig war, eingebaut, ein ganzes Haus, 16 Meter hoch und 20 Meter breit.
Aus solch einem Kubus lässt sich ja nun etwas machen. Wenn jedes Zimmer fünf Meter breit, acht Meter lang und drei Meter hoch war, so hätte dieser ganze Raum für nicht weniger als vierzig solcher doch recht beträchtlicher, nur etwas niedriger Zimmer gelangt.
Und vierzig Räume in diesem fliegenden Hause von fünf Etagen waren es in der Tat, nur nicht so regelrecht eingeteilt.
Die Schlafräume, soweit sie nicht mehrere Menschen beherbergten, waren ja eng wie Schiffskabinen, umso geräumiger waren die Zimmer, welche zum gemeinsamen Aufenthalte dienten.
Überflüssige Möbel waren nicht vorhanden, aber Breithaupt vermisste auch nichts, in dem großen Salon nicht einmal ein Pianino.
Alles war aus jenem Metall gefertigt, leicht wie Bambusholz und dennoch widerstandsfähig wie der beste Stahl.
Ferner lief durch den ganzen Ballon von vorn bis nach hinten ein viereckiger Tunnel von zwei Meter Höhe und einem Meter Breite, sodass man eine Promenade von 180 Meter Länge hatte. Hauptsächlich aber diente dieser Tunnel als Zugang zu den mehr als hundert Gaskammern, aus denen der ganze Ballon bestand. Jede konnte für sich gefüllt und entleert werden, und in jede Kammer konnte man von diesem Tunnel aus gelangen, etwa zu Reparaturzwecken.
»Wir können gar viele durchlöchernde Schüsse vertragen«, meinte Hartung. »Das Schiff ist jetzt voll bemannt, hat auch noch viel überflüssige Passagiere an Bord, ist noch für eine Woche mit Wasser und allem versehen, und dennoch sind nur drei Viertel aller Kammern mit Gas gefüllt. Dreißig Gaskammern können undicht werden, es ist Ersatz für sie vorhanden, und jede einzelne kann für sich gefüllt werden, hier sehen Sie überall die Röhren laufen, in noch nicht fünf Minuten ist es geschehen, und auch wegen der sofortigen Ausbalancierung haben wir unser besonderes System.«
»Wunderbar, wunderbar!!«, konnte der junge Ingenieur nur immer staunen.
Dann ging es in die Maschinenräume. Die Motore waren gar nicht so groß, welche dem Riesenschiffe eine Schnelligkeit bis zu 80 Kilometer in der Stunde gaben. Es handelte sich eben um eine ganz besondere Art von Knallgas. Dabei gingen die Motore vollkommen geräuschlos.
Eine Dynamomaschine sorgte für elektrisches Licht, mit dem das ganze Schiff versehen war.
»Ja, wo sind denn die Propeller?!«, rief Breithaupt, als er einen freien Überblick nach hinten gewann und dort nur verschiedene Steuervorrichtungen sah.
Propeller, Schraubenflügel, das ewige Leid der Aeronauten, gab es nicht. Eine ganz neue Art der Fortbewegungskraft. Durch ein Röhrensystem wurde vorn die Luft eingesaugt und mit furchtbarer Kraft nach hinten ausgestoßen oder, wenn sich das Schiff heben sollte, nach unten oder seitwärts, ganz wie man wollte.
»Wunderbar, wunderbar!!«
So etwas ganz Neues war es gar nicht. Es hat schon Seeschiffe gegeben, bei welchen die Fortbewegung durch Ausstoßen von Wasser aus Röhren erzeugt wurde, für Luftschiffe ist dieses System wenigstens schon versucht worden, und wenn das Resultat auch noch kein sehr günstiges war, so dürfte dieser Triebkraft doch die Zukunft gehören. Der größte Vorteil dabei ist, dass Wasser oder Luft dem Fahrzeug ja direkt entgegenkommt, sich schon selbst komprimiert, und durch ein verschiebbares Röhrensystem ist dann die Lenkbarkeit eine unbegrenzte, Steuer wären fast gar nicht mehr nötig.
»Was für ein seltsamer Apparat ist denn das?«
Er stand in der untersten Etage mitten im Schiff, die Hauptsache war eine Röhre, die durch den Boden ging, oben noch eine Unmasse von Hebeln und Ventilen und auch einige Spiegel.
»Das Tiefgeschütz. Man braucht ja Granaten nur fallen zu lassen, aber man befindet sich doch nicht immer direkt über dem feindlichen Objekt. Durch dieses Tiefgeschütz können die Geschosse auch seitwärts geschleudert werden. Hier sehen Sie ferner eins der Seitengeschütze, von denen wir sechs an Bord haben.«
Etwas scheu betrachtete der junge Ingenieur den Apparat, der so wenig Ähnlichkeit mit einer Kanone hatte.
»Dieses Geschütz ist pneumatisch?«
»Alles pneumatisch.«
»Solch ein pneumatisches Geschütz, mit dem auch das Panzerautomobil versehen war?«
»Dem Prinzip nach dasselbe. Die geniale Erfindung von Maximus Morris ist unterdessen freilich bedeutend verbessert worden.«
»Sie schießt Granaten?«
»Ja, wenn man will. Und zwar gefüllt mit einem Sprengmittel, gegen welches Dynamit eine harmlose Substanz ist.«
Da fiel dem jungen Ingenieur zum ersten Male eine Frage ein, die doch so nahe lag.
»Werden Sie dann das wiedergefundene Morrisit der Öffentlichkeit übergeben?«
»Nein, diese Erfindung nicht und keine andere.«
»Nicht?! Aber warum denn nicht?«
»Wir sind Weltflüchtige. Die Welt hat uns ausgestoßen, ganz ungerechtfertigterweise, so haben wir uns eine eigene Welt gegründet — mit der anderen haben wir nichts mehr zu tun. Nein, alles was wir von Maximus Morris an Erfindungen geerbt und dann selbst noch erfunden haben, bleibt unser ausschließliches Eigentum.«
»Aber das ist doch der höhere Egoismus!«
Es war dem jungen Ingenieur eigentlich nur so als Redensart entfahren.
Da plötzlich richtete sich der sonst so gelassene Hartung mit einem fast wilden Blicke empor.
»Egoismus? Hahahaha!!«
Erschrocken war Dr. Breithaupt vor diesem Blicke und ebenso vor diesem furchtbar höhnischen Lachen zurückgeprallt.
Doch im nächsten Augenblick war Georg Hartung wieder der alte, ganz gelassen, so klang auch seine Stimme, als er wieder das Wort nahm:
»Geehrter Herr Doktor. Unsere Ansichten haben sich im Laufe der Zeit sehr geändert. Wir haben die verschiedensten Gründe, unsere Erfindungen der Welt vorzuenthalten. Der eine Grund ist der, dass durch Preisgabe unserer beiden größten Erfindungen, des Morrisits und des Radiumaluminiums, in der Welt eine furchtbare Revolution auf wirtschaftlichem Gebiete entstände, welche auf lange Zeit Hunderttausende, nein, Millionen von Menschen brotlos machen, dem Hungertode ausliefern würde. Denn alles, was jetzt mit Kohle, Petroleum und Eisen zu tun hat, würde für lange Zeit beschäftigungslos werden. Das geht bis zum Lampenputzer und Essenkehrer.
Doch dieser Grund, unsere Erfindungen für uns zu behalten, ist nicht stichhaltig, das weiß ich wohl. Das wäre alles nur der Lauf der Welt, und einmal kommt es doch dazu, so oder so. Hoffentlich nur nicht so schnell.
Nein, unser triftigster Grund ist ein anderer. Nehmen Sie die Entwicklung der Luftschifffahrt an. Nachdem das Problem des lenkbaren Luftballons schon lange die fähigsten Köpfe in der Theorie und auch etwas in der Praxis beschäftigt hatte, war der Brasilianer Santos Dumont — natürlich hat man diesen armen Kerl, der sein Leben hundertmal riskierte, bereits wieder vergessen, das ist eben der Dank der Welt — war dieser der erste, der ein wirklich lenkbares Luftschiff konstruierte. Alle anderen Experimente waren nur Fortsetzungen derjenigen dieses Brasilianers, und ihren Höhepunkt haben sie jetzt in dem starren Luftschiffe des Grafen Zeppelin erreicht.
Kaum hatte man erkannt, dass Graf Zeppelin nicht der wahnsinnige Narr war, als der er viele Jahre lang von aller Welt verspottet und verhöhnt worden ist — mit welchen hauptsächlichen Gedanken wurde dieses erste wirklich brauchbare Luftschiff aufgefasst? Ha, was für ein vortreffliches Kriegsmittel war da wieder geschaffen worden! Um die Stellung des Feindes auszukundschaften, um auf den Feind aus unerreichbarer Höhe Bomben und Granaten fallen zu lassen!
Das ist der Mensch, das schrecklichste Raubtier der Erde! Immer nur Krieg, Mord, Raub, Plünderung! Am besten spiegeln den Charakter der Menschheit doch immer die Dichter wider, das heißt, die sogenannten Dichter, die sich nicht weit über das jeweilige Niveau der Menschheit erheben können. Kaum hatte das Zeppelin'sche Luftschiff seine erste Prüfungsfahrt so glänzend bestanden — auf welche Weise hat dieses Ereignis die Phantasie all dieser Schriftsteller, die davon erfasst wurden, in Bewegung gesetzt? Vergebens habe ich damals die ganze neu entstandene Literatur in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern durchgemustert, ob denn das lenkbare Luftschiff nicht einmal in einen wirklich nützlichen, segensreichen Dienst der Menschheit gestellt würde, zunächst also in der Phantasie. Nun ja, als Beförderungsmittel von Passagieren. Das war aber auch alles. Und ist das etwa so segensreich zu nennen? Liegt denn nicht der Gedanke nahe, dass diese Luftschiffe, wenn sie sich noch weiter vervollkommnet haben, nach jedem Sturme über dem Meere, zunächst nur über der Nord- und Ostsee, kreuzen, um wrackgeschlagenen Segelschiffen die erste Hilfe zu bringen, die mit dem Tode Ringenden an Bord zu nehmen oder ihnen doch wenigstens erst Trost zu spenden und dann schnellstens ein anderes Seeschiff zur Hilfe herbeizuholen? Lag dieser Gedanke nicht ganz nahe? Nein, nicht für diese Menschen! Vergebens habe ich daraufhin alle Zeitungen und sonstige Literatur durchgemustert. Krieg, Krieg — Mord, Mord!! Deutschland voran! Deutschland muss zuerst eine ganze Luftschiffflotte haben. Wozu? Um die Nachbarn, die wir nicht einmal Feinde nennen dürfen, von oben aus der sicheren Höhe herab mit Bomben und Granaten zu bewerfen, um alles zusammenzukartätschen. Erst geht's nach Paris, dann wird London in einen Trümmerhaufen verwandelt, dann weiter nach Russland, nach Indien... Mord, Mord — nur immer rauben, rauben!! Und so ist es mit allem und jedem. So ist es auch mit der Flugmaschine. Kaum zeigen die ersten Luftkünstler, dass sie nicht bei jedem Fluge abstürzen, da schlägt auch schon ein wahnwitziger Geheimrat in seiner patriotischen Blutgier seiner Regierung, die er also beraten soll, ein Mensch, der sich ein Christ nennt, manchmal zur Kirche geht, ganz sicher seine Kinder taufen lässt — schlägt seiner Regierung allen Ernstes vor, sie solle hunderttausend oder gar noch mehr solcher Flugmaschinen bauen, um auf ihnen eine deutsche Armee nach England zu werfen... o, Menschheit, was für eine Canaille bist du, und deine höchsten Repräsentanten sind die Dichter, welche mit ihrer göttlichen Phantasie nichts anderes anzufangen wissen, als jede Erfindung nur dem Kriege dienstbar zu machen, dem Morden, dem Rauben, dem Plündern! Oder ist es nicht so?«
Der junge Ingenieur blieb die Antwort schuldig, und das war ja auch eine Bejahung — eine Bejahung der furchtbaren Wahrheit, die Georg Hartung ausgesprochen hatte!
»Nein«, fuhr dieser dann fort, »mag die andere Welt doch unsere Sachen nacherfinden, von uns bekommt sie kein Rezept. Was würde man mit dem holzleichten und stahlharten Radiumaluminium zuerst beginnen? Außer Kriegsluftschiffen vor allen Dingen Kriegsseeschiffe bauen, welche man mit noch mehr Kanonen spicken kann, und zwar mit unseren mörderischen Pneumageschützen, welche fürchterliche Sprenggeschosse schleudern. Nein, hierzu wollen wir nicht die Hand reichen. Wie gesagt: mag die andere Menschheit alles dies doch aus eigener Kraft erfinden. Wir haben uns eine eigene Welt geschaffen, und aus dieser soll nichts herauskommen. Wissen Sie, wie dieses Luftschiff getauft worden ist? Habe ich schon einmal seinen Namen ausgesprochen?«
»Nein, das haben Sie noch nicht getan!«
»Der Tyrann.«
Hoch horchte der junge Ingenieur auf, und sein Gesicht nahm einen scheuen Ausdruck an, als sein Blick von dem Sprecher zu den pneumatischen Geschützen wanderte.
»Der... Tyrann?!«, wiederholte er mit fast bebender Stimme.
Aber Georg Hartung lächelte heiter, als er seine Hand wie liebkosend über das Tiefgeschütz gleiten ließ.
»Stoßen Sie sich nicht an diesem Namen. Sie selbst werden wohl wissen, dass das Wort ›Tyrann‹ ursprünglich eine ganz andere Bedeutung gehabt hat, als die wir ihm heute geben. Unter einem Tyrannen verstand man einen Mann, der sich gegen die bisherige Ordnung die Alleinherrschaft über einen Staat anmaßte, und zwar mit dem Einverständnis des Volkes, nicht aber mit dem der Nachbarstaaten als König regierte.
Es hat ganz vortreffliche Tyrannen gegeben, sie sind die edelsten Herrscher geworden. Freilich häufig auch das Gegenteil, es hat unter den Tyrannen, die man heute wohl als Präsidenten einer Republik bezeichnen würde, zufällig sehr viele Wüteriche gegeben, und so ist die heutige Bedeutung des Wortes entstanden. In alten Zeiten aber hatte es nicht den geringsten schlimmen Beigeschmack.
Unsere kleine Gemeinschaft bildet eine Welt, mindestens ein selbstständiges Reich für sich. Als ich zum Oberhaupt dieser Gemeinschaft gewählt wurde, schlug jemand im Scherze vor, mir den Titel ›Tyrann‹ zu geben. Dieser Name ist dann wenigstens auf dieses Luftschiff hier übertragen worden. Ich weiß selbst nicht, wie es gekommen ist. Die Arbeiter sprachen immer vom Tyrann, an dem sie bauten, und schließlich blieb es bei diesem Namen. Und ganz gut so, dass der Zufall es so gefügt hat. Ja, wir wären fähig, mit diesem Luftschiff hier über die ganze Erde eine Tyrannenherrschaft auszuüben — wenn auch im guten Sinne des Wortes ›Tyrann‹. Aber fürchten Sie nichts, Sie brauchen nicht gleich so ein erschrockenes Gesicht zu machen. Wir sind Männer des Friedens, wollen es bleiben. Wir siedeln jetzt nach dem Monte Cerboli um, werden uns dort häuslich einrichten, werden wohl auch in Luftschiff und Flugmaschine Reisen unternehmen, uns sonst aber gar nicht um die andere Welt kümmern. Diese mag für sich bleiben, wir bleiben für uns. So werden wir ganz einträchtig nebeneinander leben. Sollte aber die andere Welt versuchen, unseren Frieden stören zu wollen, dann allerdings werden wir zeigen, was für furchtbare Zähne zum Beißen wir haben — erst die Zähne nur einmal zeigen — und genügt das noch nicht, dann allerdings würden wir von diesen furchtbaren Zähnen auch Gebrauch machen. Denn unseren Frieden lassen wir nicht stören! Und deshalb ist es auch ganz gut, dass wir unser Luftschiff gleich den Tyrannen nennen, besser als Friedensengel — die Menschheit mag sich dadurch schon warnen lassen. In Wirklichkeit aber wird unser Tyrann, wenn man ihn in Ruhe lässt, ein Friedensengel sein.«
Nur zuletzt hatte Hartung in etwas drohendem oder doch sehr ernstem Tone gesprochen.
»Jetzt haben Sie uns kennen gelernt, zunächst wenigstens unsere Gesinnung. Würden Sie, Herr Doktor, unter solchen Umständen einer der Unsrigen werden wollen?«
Der Entschluss des jungen Ingenieurs war schon längst gefasst gewesen.
»Mit tausend Freuden!«
»Dass Sie es können, ganz unabhängig sind, wissen wir bereits...«
»Sie kennen mich näher?«
»Nein, das nicht. Sie verzeihen — als wir Sie ohnmächtig fanden, suchten wir natürlich nach Papieren, fanden Ihr Tagebuch, und da las ich eine Ihrer letzten Niederschriften, die Sie gemacht hatten, bevor Sie die Wüstenwanderung zu Fuß antraten, ohne jede Hoffnung, und Sie schrieben, dass kein Mensch um Sie weinen würde...«
»Ja, ich stehe ganz, ganz allein in der Welt.«
»Haben Sie sonst Verpflichtungen in Deutschland oder anderswo?«
»Ich bin Reserve-Offizier...«
»Sie sollen allen Ihren Verpflichtungen nachkommen. Wir wollen mit aller Welt in Freundschaft leben, und dazu ist es nötig, dass unsere kleine Gemeinschaft auch hochgeachtet wird.«
»Nun, diese Angelegenheit lässt sich bald regeln, auch brieflich.«
»Tun Sie das, wie Sie es für gut befinden. Ihre Zusage, dass Sie sich uns anschließen wollen, habe ich?«
»Sie haben sie.«
»Dadurch sind Sie allerdings noch nicht aufgenommen. Seit wir beschlossen haben, uns wieder in der Welt zu zeigen, sind die weiteren Aufnahmen neuer Bürger in unserer Republik mit sehr strengen Bedingungen verknüpft. Sie haben sich einer Prüfungszeit von einem ganzen Jahre zu unterwerfen.«
»Ich bin bereit dazu.«
»Nun gut. Zeremonien gibt es vorläufig gar nicht, ich nehme Ihnen kein Versprechen ab. Sie bleiben bei uns, sind vollkommen frei, können uns jederzeit verlassen. Allerdings auch verabschiedet werden. Aber darüber brauchen wir wohl nicht zu sprechen. Also, Sie können sich frei im Schiffe bewegen, jede unverschlossene Tür öffnen, alles besichtigen, an jeden Fragen stellen, die Ihnen beantwortet werden, soweit es gestattet ist. An Bord des Luftschiffes sind achtzehn Mann. Sie sind der neunzehnte. Zu der Mannschaft gehört auch eine Dame. Sie werden sie kennen lernen...«
»Und Ihre Gattin, wenn ich fragen darf?«
»Ist mit den Kindern vorläufig noch zurückgeblieben, die kommen wie die anderen später nach.«
»Wie viele Mitglieder zählt eigentlich diese Gemeinschaft, die Sie selbst schon eine Republik genannt haben?«
»Das, geehrter Herr Doktor, ist eine jener Fragen, welche nicht beantwortet werden. Auf solche Fragen werde ich und wird jeder andere immer nur ,geheim' entgegnen. Nicht wahr?«
Der junge Ingenieur verbeugte sich zustimmend.
»Sie sehen mit einem Male recht abgespannt aus, Herr Doktor.«
Ja, plötzlich begann es den jungen Mann zu packen. Aber immer noch keine Speise, sondern nur Schlaf brauchte er.
Der Kapitän, wie Georg Hartung allgemein genannt wurde, auch als Oberhaupt der kleinen Republik, und Kapitän heißt ja nichts anderes als Hauptmann, führte ihn selbst in eine kleine Kabine.
»Abschließen kann man sich bei uns nicht. Ich erwähne dies nur, weil wir schon einmal eine Dame als Gast an Bord hatten, welche dies höchst unangenehm empfand. Auf einem Luftschiff kann man eben in noch viel plötzlichere Gefahren kommen, als auf einem Seeschiffe, da muss immer alles offen sein. Na, Sie brauche ich ja deswegen nicht zu beruhigen. Hier ist der Knopf der elektrischen Klingel, der jederzeit einen Diener herbeiruft. Tag oder Nacht macht bei uns keinen Unterschied. Wenn Sie erwachen, werden Sie vor der Tür Wäsche und Kleidung finden. Oder wollen Sie erst ein Bad nehmen?«
»Wie? Auch eine Badeeinrichtung haben Sie an Bord?«
»Gewiss. Alles, was man in jedem komfortablen Hotel findet. Wohl nur Zeitungen und ein Billard ausgenommen.«
»Nein, ich breche jetzt vor Müdigkeit wirklich fast zusammen.«
»Ich dachte es mir. Wünsche wohl zu ruhen.
Als Breithaupt nach erquickendem Schlafe erwachte, zeigte die kleine Wanduhr auf vier, es war noch heller Tag, und zwar sicher noch derselbe, sodass er nur sieben Stunden geschlafen haben konnte.
Das aber hatte vollkommen genügt, er fühlte sich wie neugeboren, nur dass ihn ein riesiger Hunger peinigte, der ihn sich wenig dafür interessieren ließ, dass das Luftschiff, wie ihn ein Blick aus dem Fenster belehrte, jetzt über eine mit grüner Vegetation bedeckten Gegend dahinschwebte. Mehr war mit bloßen Augen auch nicht zu unterscheiden, dazu war das Luftschiff viel zu hoch.
Breithaupt drückte am Klingelknopf. Fast sofort erschien ein Neger im weißen Dienerkostüm, fragte nach des Herrn Wünschen.
Ein Bad, und dann schnellstens etwas zu essen.
Er brauchte sich nicht erst anzukleiden, das Bad war gleich nebenan, eine vollständige Einrichtung, die nichts zu wünschen übrig ließ, die Hähne spendeten kaltes und heißes Wasser.
Die frische Kleidung und Wäsche, wie für ihn gefertigt, waren ihm nachgebracht worden, und eine Viertelstunde später saß er wieder in einem anderen Zimmer, ließ sich von dem Schwarzen einen Gang nach dem anderen servieren.
Der intelligente Neger, der ebenso gut Deutsch wie Englisch und Französisch und Spanisch sprach, war ganz mitteilsam, hatte auf Befragen eben erklärt, dass dies alles Konserven seien.
»Aber dieses Beefsteak hier ist doch von ganz frischem Fleische.«
»Nein, ich weiß sogar zufällig, dass dieses Ochsenfleisch schon vor einem Vierteljahre konserviert wurde.«
»Ja, wie wird denn das gemacht?«
»Wir haben dafür eine besondere Methode.«
»Wie denn?«
»Das ist... geheim.«
Nun, Breithaupt hatte schon von der wunderbaren Räucherkammer gehört, die sich in dem Panzerautomobil befunden hatte. Gezeigt war das Innere des Automobils ja vielen worden. Die letzte Erklärung freilich hatte niemand erhalten. Nur das war bekannt, dass der geniale Maximus Morris auch ein wunderbares Konservierungsmittel besaß.
»Es wird elektrisch gekocht und gebraten?«
»Alles elektrisch, Sir.«
Die Mahlzeit war beendet, der junge Ingenieur hatte in einer halben Stunde fast Übermenschliches geleistet. Nur ein Hottentotte hätte mit ihm konkurrieren können.
»Wo ist der Herr Kapitän?«
»In seiner Arbeitskabine.«
»Da darf er wohl nicht gestört werden?«
»Ich weiß nicht, was an dem Schilde steht, ich werde gleich nachsehen, wenn der Herr Doktor...«
»O nein, es ist nicht nötig, ich fragte nur so. Wo befindet sich... Mr. Green?«
Dr. Breithaupt hatte sich bereits gewundert. Er war doch heute früh durch das ganze Schiff gekommen, achtzehn Personen sollten sich darauf befinden, und er hatte doch nur zwei Mann gesehen: einen am Steuer, und einen im Maschinenraum. Freilich war das ja hier ein gar stattliches Haus, wozu noch die Promenade von 180 Meter Länge kam, und schließlich erscheinen auch Seeschiffe von bedeutend kleineren Dimensionen und mit viel mehr Mannschaft oftmals wie ausgestorben.
»Mr. Green wird sich an Deck befinden, noch vor fünf Minuten war er oben«, lautete die Antwort des Negers.
»An Deck? Wo ist denn das?«
»Nun, oben auf dem Ballon.«
»Dieser obere Teil ist aber doch nicht etwa als Aufenthalt eingerichtet?«
»Gewiss doch! Warum denn nicht? Es geht ein Geländer herum.«
Breithaupt bekam wieder etwas zu hören, was er noch nicht gewusst, obgleich er dann bei der ersten Andeutung gleich etwas geahnt hatte.
»Gleich hier geht eine Wendeltreppe hinauf, wenn Sie sich hinaufbegeben wollen.«
Breithaupt ließ sich dies nicht zweimal sagen. Er hatte sich in der zweiten Etage befunden — wenn man bei diesem Luftschiff von einem Kellergeschoss und Parterre absah — so hatte es noch durch drei Etagen zu steigen, sah eine offene Luke und befand sich oben auf dem Ballon.
180 Meter lang und 16 Meter breit — fürwahr, das Deck eines gar stattlichen Dampfers!! Und nun hier ohne Kommandobrücke und andere Hindernisse, die den Blick versperrten! Nur gegen die Enden spitzte sich die Riesenzigarre zu, und außerdem war sie in der Form der Länge nach durchgeschnitten. Denn sonst hätte dieses Deck ja stark gewölbt sein müssen, was aber nicht der Fall war.
Der Boden, aus Metallplatten bestehend, war hier gekörnt, überall zogen sich Querleisten hin und her, damit der Fuß noch festeren Halt fand, falls sich das Schiff plötzlich einmal stark neigte, ringsherum war ein durchbrochenes Geländer, hier und da erhob sich aus dem Deck eine kurze Stange mit Lederschlingen, auch aufgerollte Seile waren daran befestigt, alles dazu, um auch in den schrägsten Stellungen des Ballons arbeiten oder doch sich darauf aufhalten zu können. Einfach Sicherheitsmaßregeln.
Dies übersah Breithaupt beim ersten Blick, im zweiten Moment kam ihm zum Bewusstsein, dass völlige Windstille herrschte, obgleich sich das Schiff doch offenbar in schneller Fahrt befand, also es fuhr mit dem Winde — dann sah er nur dort das grüne Männchen stehen, sah es eifrig gestikulieren, in recht seltsamer Weise, fand aber auch gleich heraus, was es da treibe.
Mr. Adam Green rechnete. Rechnete im Kopfe, malte aber dabei die Zahlen mit den Fingern in die Luft, addierte und multiplizierte und subtrahierte, und dabei war etwas nicht in Ordnung, denn immer wieder schüttelte er den bezylinderten Kopf, und dann leckte er schnell an seine Finger, mit denen es soeben noch geschrieben, wischte die in die Luft gemalten Zahlen aus und schrieb dafür neue hin — und das immer wieder.
Es war ein köstlicher, für Breithaupt unvergesslicher Anblick, wie das grüne Männchen so emsig in die Luft schrieb und mit den angeleckten Fingern kopfschüttelnd das falsche Exempel immer wieder auswischte.
»Nu ja, wer sagt's denne, es schtimmt doch — hier schtak der Fehler — null Gomma viere null sieme — das is doch ganz eefach...,«
Jetzt hatte er den Beobachter bemerkt, nahm schnell eine Prise und marschierte in seinen Filzlatschen auf ihn zu, ihm die große Horndose präsentierend.
»Na, ausgeschlafen, Dokterchen?«, schmunzelte er. »Das machen Se recht. Brischen gefällig? Echter Dobbelveilchen.«
»Ich danke, ich schnupfe nicht«, wehrte Breithaupt lächelnd ab.
»Nich? Heern Se, das machen Se nu widder nich recht. Dabak is ä Gehirnfudder — das heeßt, wenn mer'n in de Nase schteckt, Schnubbdabak meene ich — wenn's nach mir ginge, dann misste schon den gleinen Seiglingen Schnubbdabak in de Nase geblasen wärn...«
Und er erging sich noch eine Weile über die Vorteile und wunderbaren Folgen des Schnupfens.
»Haben Sie dem Schnupftabak auch Ihr erstaunliches Gedächtnis zu verdanken?«, lächelte Breithaupt, als jener endlich fertig war.
»Erschtaunliches Gedächtnis? Was meenen Se denn damit?«
»Nun, Sie sollen doch zum Beispiel die zehnstelligen Logarithmen von eins bis tausend im Kopfe haben.«
»Ä, wenn's weiter nischt is! Das geheert ähm mit zu mein' Handwerk. Nee, heern Se, mei Gedächtnis is gar nich so erschtaunlich, isses nie gewesen. Errscht neilich, wie'ch zuletzt in Gabschtadt war, is mir so was Dummes bassiert — ich gehe in ä Gaffee — wie'ch mei Dässchen ausgenutscht hawe, schtehe ich uff, bezahlt hatt'ch schon, ich bin schon in der Diere, da gommt mir der Gellner nach, feixt so recht heemdiecksch... ›Entschulgen Se gietigst, Se ham wohl was vergessen?‹ Ich bin iewerhaubt iewer was ärgerlich, un nun das dumme Feixen von den Gerl, un ich hawe ooch gar nischt liegen zu lassen... ›Nee, ich vergesse iewerhaubt nischt!‹ schnauze ich den Gerl an. ›Nu, is denn das nich Ihr Bein, was Se da auf dem Schtuhle liegen gelassen ham?‹... Wess Gnebbchen, hat der mein rechtes Been in der Hand, trägt mir's nach! Ich hatte es wirklich vorhin beim Gaffeedrinken abgeschnallt, 's war am Mechanismus was nich in Ordnung — un ich lass' es liegen und merke nich, dass ich nur uff'm linken Beene zum Logale naushubbe. Na, is das etwa ä golossales Gedächtnis?«
Der junge Ingenieur hatte seine Lachmuskeln gut in der Gewalt.
Denn wie das nun auch sonst vorgetragen war! Immer dazwischen eine Fütterung der Nase.
»Ich habe Sie doch schon gehen sehen — man sollte kaum glauben, dass Sie ein künstliches Bein besitzen!«
»Jaaaa, das is auch meine eigene Erfindung un alles selwer gemacht! Ei ja, ich hubbe noch mit jedem Jinglinge um die Wette.«
»Ich hörte auch, dass Sie eine künstliche Hand hätten, aber das ist doch wohl nicht möglich!«
In der Tat, das Männchen fingerte beim Prisenehmen mit beiden Händen in einer Weise herum, dass man schwer glauben konnte, die eine davon sei eine künstliche. Grüne Handschuhe schien er ständig zu tragen, in der Nähe erwiesen sie sich als aus Gummi bestehend.
»Jawohl, de linke hier, die hawwe ich mir selwer gemacht. Ich bin doch ämal ins Gedriewe gegomm. Nu, das war enne scheene Geschichte! Als'ch widder rausgam, war'ch gar kee Mensch mehr. Ä ganzer wenigstens nich, 's rechte Been ab, de linke Hand ab, 's linke Ohr futsch, alle Zähne aus'm Maule rausgehaun und ooch so ziemlich de ganze Schädeldecke abgeschlahn... was wolln Se?«
Dem jungen Ingenieur ging es so, wie fast allen anderen, wenn sie dies zu hören bekamen, sofort entstand da ein Gedanke, von einer erschrockenen Bewegung begleitet.
»Ja, um Gottes willen, was war denn da eigentlich noch an Ihnen dran?!«
»Nu — nu, da war noch enne ganze Menge da, was'ch mir nich ginstlich widder zu machen brauchte. Errschtens mal de Nase — un un un — 's linke Been — un un un — 's rechte Ohr — un un un — de rechte Hand un un un 's linke Ooge — na un dann doch der ganze Bauch un was dazugeheert — un de Lunge un 's Härze un so — na, un dann, 's Gehärne — ei ja, 's Gehärne! Das hätt'ch mir freilich nich ginstlich widder machen genn, das geschteh'ch offen — awwer sonst, 's Fudderal hier, das is enne Elfenbeinbladde, die hält besser als die nadierliche Schädeldecke, da gann mich enner schon dicht'g druffbochen.«
Und Mister Green hatte seinen Zylinder abgenommen, zeigte seinen nackten Schädel, klopfte mit dem Knöchel darauf, dass es klang, als würde ein Nagel eingeschlagen.
Mit geheimem Grauen starrte Breithaupt auf das dürre Männchen, welches mit seinem Leibe Gott den Schöpfer betrogen hatte.
»Sie trauern noch immer um den Tod des Mister Morris?«, fragte Breithaupt dann, nur um etwas zu sagen.
»Um den? Neeee. Das is doch schon siem Jahre her, dass mir den in die Ärde gebuddelt ham, un ee Jahr Drauer geniegt vollgomm. Nee, jetzt draure ich widder um meine Braut.«
Und schon hatte Mister Green sein grünes Taschentuch hervorgezogen, welches man recht gut als Kinderbettuch hätte verwenden können, wischte sich die Augen und putzte sich die Nase, trompetete wie ein Elefant.
»Ihre... Braut?«, musste Breithaupt wiederholen, jetzt erst mit geheimen Grausen an alle die ›ginstlichen‹ Gliedmaßen denkend.
Jener hatte sich austrompetet, begann aber dafür zu schluchzen.
»Mei — mei — meine liewe Derese, was mei — mei — mei meine liewe Braut war — zu Weihnachten sollte de Hochzeit sein — un un un — da legt se sich hin un schtirbt.«
»Aaaaach!«, bedauerte Breithaupt.
»Ja — schtirbt im — im — im — Gindbette.«
Das hätte nun freilich nicht kommen dürfen.
»Sooooo?«, konnte sich Breithaupt noch bezähmen.
»Ja, schtirbt die im Gindbett — un — un — un das Gind war nich emmal von mir — denn errschtens hatt'ch iewerhaubt gar gee Techtelmechtl mit meiner Braut gehabt, dazu bin'ch ä viel zu anschtändger Mann — un — un — un zweetens war das Gind ä gleener Neger.«
Jetzt aber musste sich der junge Ingenieur doch schnell herumdrehen, um dem Männchen nicht ins Gesicht zu platzen.
Auch er handhabte energisch das frischgewaschene, ihm zur Verfügung gestellte Taschentuch. Dann hatte er sich wieder in der Gewalt.
»Das ist allerdings sehr bedauerlich«, konnte er dann ruhig in teilnahmsvollem Tone sagen.
»Nu freilich. Schtellen Se sich nur emmal vor, wenn Sie enne Braut ham, ä hibsches, blietenweises Mädchen, nur ä bisschen därre, un Se frein sich, dass se durch ihre gute Fläge nach un nach so hibsch voll un rund wärd — un mit emmal gommt's heraus, dass da ä ganz anderer Grund dahinterschteckt als das gute Essen — un Se sin sich ooch nich der geringsten Schuld bewusst — un wie's nu vollends rausgommt, da isses ooch noch ä gleener Gameruner. Is das nich gemeene? Soll ma da nich drauern? Na, ich hawe ihr uff'n Dodenbette verziehen, un se gonnte ooch wärklich nischt dafier — der Bedro war'sch, der schwarze Lumich — ä Elektrotechniker, ä ganz gescheidter Gerl un scheen wie ä Abollo, wenn ooch so schwarz wie enne Gohle, die in de Dinde gefalln is, er hatte ihr Gewalt angedan, und sie hatte sich scheniert, 's mir oder enn andern Menschen zu sagen — na, der Bedro is denn ooch dafier beschtraft worden, un das ganz grindlich — wir hatten ä Schwein geschlacht, gonnten's awwer nich verschbeisen, 's wimmelte von Drichinen, das hatte der Bedro wohl nich gewusst, dass das Fleisch unbrauchbar war, hatte ä Schticke davon gemaust un roh gefressen — na, da isser nadierlich an dr Drichinose geschtorm. Gott hab'n selig, ich hab'm verziehn. Der war beschtraft genug. Alles mecht'ch — zehn Bandwärmer, nur nich an dr Drichinose schtärm.«
Der junge Ingenieur brauchte nicht mehr mit Lachlust zu kämpfen. Mit aufrichtiger Teilnahme, der sich auch ein gutes Teil hochachtungsvoller Bewunderung beimischte, blickte er jetzt auf das schwarzgrüne Männchen herab.
»Wissen Se«, fuhr dieses fort, »ich hawe iewerhaubt Unglick in der Liewe. Das is nu schon de zweete Braut, die mir futsch ging. De errschte heiratete mir der Mister Hartung weg...«
»Was? Doch nicht Mr. Georg Hartung?!«
»Jawohl, was unser Kapitän is. De Miss Leonor Morris. Sie wissen doch, dass er uns damals in dem Banzerautomobil begleitet hat.«
»Wie? Sie waren mit Miss Leonor Morris verlobt?!«, fragte Breithaupt in gerechtem Schreck, denn er wusste ja, dass schon damals vor sieben Jahren dieses grüne Männchen so ausgedörrt gewesen war und zur Hälfte aus Gummi, Holz, Stahl und Elfenbein bestanden hatte.
»Nu, verlobt gerade nich. Oder doch ganz eeseitg. Ich liebte doch de Leonor. 's gonnte ja ooch gar nich andersch gegomm sin. Gennen Se de Geschichte nich? De Leonor, 's eenzge Gind, hatte de Mutter glei im erschten Jahre verlorn, un der alte Morris war ä butzjer Sonderling, fortgäm wollte er sei eenzjes Gind nich, enne Amme durfte awwer ooch nich ins Haus gomm — na, un ich war doch sozusagen de zweete Mutter von dem armen Wärmchen — wenn'ch Millich gehabbt hätte, dann hätt'ch ihr de Brust gegäm — awwer ich hatte geene Brust — oder enne Brust wohl, awwer doch geene Milch — na, und da hawe ich de arme Leonor so mit'r Milchbulle uffgebäbbelt — hawe se drockengelegt und de Windeln gewaschen un so — schbäter war das ja nich mehr neetj, awer de Freindschaft blieb doch — und wie dann der alte Morris uff'n Schtärbebette schtärben dat, da musst'ch 'n hoch un heilig schweern, seine Dochter nie zu verlassen un se wie mein Augabbel zu behieten — na, un da war doch das eefachste, wenn ich se glei heiraten dat — un wie wir beede nu iewerhaubt zusamm schtanden — un ich war doch gar gee unrechter Gerl, ich war damals errscht neinundvärzg Jahre, un das is doch noch gar gee Alter — un liem dat ich se ooch... na gurz un gut, grade wie ich dr Leonor meine Liewe erglärn wollte, da heiratete sie mir der Georg Hartung uff der Schtelle vor der Nase weg. Ich gennte se ihm ganz gerne, er basste ooch wärklich viel besser zu dem jungen Mädel als ich, awwer die Dadsache bleibt beschtehn, dass ich damals hinuntergerutscht bin.«
Adam schnupfte mächtig.
»Ja, un nu, nach siem Jahren, verlobte ich mich zum zweeten Male, diesmal sogar schon ganz effentlich — un da schenkt mir meine Braut eenen gleenen Neger, der nich emmal von mir is, un schtirbt ooch noch. Un de Lumich, der dran schuld is, griegt de Drichinose, legt sich hin un schtirbt ähmfalls, un nu muss ich mich ooch noch um das gleene schwarze Luder gimmern. Na ja, 's bleibt mir ja nischt andres iewrig. Un ich tu's doch ooch ganz gerne. De Derese war sonst ä ganz gutes Mädchen, und ich hatte se lieb, un ihr Dod is mir sehre, sehre zu Herzen gegangen. Awwer de Dadsache bleibt doch beschtehn, dass'ch in der Liewe ähm gee Glick hawe. Un nu trotzdem, nu grade dem dickschen Schicksale zum Schure — nu hawe ich mich zum dritten Male verlobt. Da hawe ich gar nich errscht widder siem Jahre gewartet. Sonst wäre ich am Ende doch noch zu alt zum heiraten. Jetzt awwer bin ich errscht sechsunfuffzg das is doch fier ä Mann wie mich noch gar gee Alter. Denn wärklich, ich nehm's noch mit jedem Jinglinge uff, ich hubbe noch allen iewer de Kebbe — nadierlich darf'ch mei rechtes Bein nich im Gaffee liegen lassen ham.«
Es war erstaunlich, wie sich der junge Mann, Dr. Breithaupt, der doch ein ganz heiteres Wesen hatte, beherrschen konnte! Wie er seine Lachmuskeln in der Gewalt hatte!
»Und wer ist diesmal die Glückliche, der Sie Ihre Gunst geschenkt haben?«, konnte er ganz ernsthaft fragen.
Meister Adam schnupfte und schielte dabei nach dem Frager.
»Das wissen Se noch nich?«
»Nein, wie soll ich...«
»Nu, Sie genn's hier doch schon geheert ham.«
»Ich habe bisher nur mit dem Herrn Kapitän über das Luftschiff gesprochen...«
»Weil se doch hier mit an Bord is.«
»Aaah! Dass sich unter der Besatzung auch eine Dame befindet, das sagte mir der Kapitän allerdings.«
»Nu freilich. Un zwar enne Hauptberson. Die hat de ganze Fliegerei unter sich.«
»Die Fliegerei?«
»Nu ja, alles was mit'n Flugmaschinen zusammenhängt, mit dem sogenannten Aeroblanen. Ei, meine Braut is sogar enne beriehmte Berseenlichkeet, sogar enne weltberiehmte.«
»Was Sie nicht sagen!«
»Sie ham doch sicher schon von der Luftlady Lilly geheert?«
Der junge Ingenieur schämte sich wirklich, diesen Namen noch gar nicht gehört zu haben.
»Na ja, ich weeß schon. Wenn ma da von ›weltberiehmt‹ schbricht, muss man ä Ameriganer sein, denn für den heeßt de Welt nur Ameriga. Awwer in Ameriga is se wärklich beriehmt. Sie war'n noch nich in Ameriga?«
»Ich bedauere...«
»Dann verschteht sich's, dann verschteht sich's. Sehen Se, was dr Bleriot und der Farman und de Gebrieder Wright fier Eiroba sin — denn die Ameriganer Wrights scheinen ja ooch fier immer nach Eiroba gegangen zu sin — das is meine Braut fier Ameriga. Wenigstens gewesen. Mindestens awwer war se's errschte Frauenzimmer mit Unterrecken, die uff dr Flugmaschine in dr Luft herumgegondelt is. De Luftlady Lilly Leley. Zuletzt trat se im Zirgus Barnum auf. Immer mit'r Flugmaschine, so'n ganz gleenen Dinge, das se sich selwer gonschtruiert hatte. Damit flog se im Zirgus rum. Se' is awwer iewerhaubt ä Zirgusmädchen. Awwer ä ganz anschtändjes. Se schtammt aus so enner Ginstlerfamilie. Schon ihr Urgroßvater hatte den errschten Flohzirgus. Ihr Großvater war ä beriehmter Glaun, und seine Frau, also ihre Großmutter, redete mit'n Bauche. Un ihr Vater war ä Esgamondeer, so ä Daschenschbieler, awwer ä ganz beriehmter, und seine Frau, de Mutter von meiner Braut hier, redete ähmfalls mit'n Bauche. Se gonnte awwer ooch uff'n ungesattelten Färde rumhubben, sogar durch brennende Reifen durch. Ob se daderbei ooch mit'n Bauche redete, das weeß ich nich.
Sehn Se, un aus diesem Ginstlergeschlechte is nu meine neie Braut hervorgegangen, de Lilly, un se is von gleinen Gindesbeinen an zur Ginstlerin ausgebildet worden. Awwer nich etwa, dass se glei mit'r Flugmaschine herumflog. Das gonnte se nich, weil's damals doch noch gar geene Flugmaschine gab. Der ihre Ausbildung war iewerhaubt enne sehr vielseitje, weil's nämlich damals ihren Eltern gar nicht so gut ging, die waren grade in so ennen gleenen Wanderzirgus, wo man eefach alles gennen muss, uff'n Färde danzen un uff'n Seile, am Drabez durnen un Gegelbärze in dr Luft schlagen un mit'n Fießen in dr Luft Buttermilch quirlen un dabei eine brennende Bedroleumlampe uff'n Gobb balancieren, un Daschenkunststickchen un mit'n Bauche reden un so. Das hat nu die gleine Lilly alles von zartesten Gindesbeinen an gelernt, und das alles aus'n ff. Un dann, wie se selbschtändg wurde, immer originell, immer originell. Die erfand immer neie Dricks. Ä ganz geniales Weibsbild, sage ich Ihnen. So war'sch mit ner Freindin zusamm de errschte Hand-in-Hand-Ginstlerin, dann war'sche in Ameriga der errschte weibliche Glaun, un Witze kann die reißen, sage ich Ihnen — färchterlich! Na, un was die dann verdient hat! Jeden Abend fier die Viertelstunde hundert Dollarsch mindestens — unter dem gab's nischt bei ihr. Geschpart hat se sich freilich nischt dabei. Alles verludert.
Bis dann de Flugmaschine erfunden wurde. Da warf se sich ganz uff de Fliegerei, konstruierte sich selwer ä Aeroblanchen, schenial wie immer, un nu gings los. Gewehnlich im geschlossenen Zirgus. Awwer ooch oft genug im Freien. Dreihundert Meter hoch. Na, wie oft die geschtärzt is. Errscht brach se den linken Arm, dann's rechte Been, und das glei zweemal, dann blieb se mal an enner Dachrinne gläm, die Dachrinne brach, un meine gute Lilly zwanzj Etagen hoch runtergesaust — 's war so ä Wolkenkratzer — an enn elektrischen Telegrafendraht widder gläm gebliem un widder runtergesaust — na, da war'sch gar gee Wunder, wenn se glei alle beede Beene brach, also das rechte nu glicklich das drittemal — un außerdem de Schädeldecke gabutt. Gurz un gleen geschlagen. Awwer immer alles hibsch widder geheilt. Die is heite noch schlank wie enne Babbel, ä Baar Beene hat se wie ä Baar Schbargelschtang. Un dass se uff'n Gobb gefallen is, davon is ooch nischt zu märken.
Wie se nu zu uns gegomm is, das gann ich Ihnen nisch erzählen, das is... geheim. Se wissen wohl. Sie werden's ja schbäter erfahren. Übrigens gar nischt weiter dabei. Eefach ä Zufall. Na, un wie mir beede nu eens geworden sin', das gann ich Ihnen ooch nich erzähln. Wie das ähm so gommte. Uns sehn un liem war bei uns eens. Wie die Liewe ähm so is. Na, un da is se ähm meine Braut geworden. Wann wir uns heiraten, wissen wir noch nich. 's hat ja geene Eile. Mir sin ä glickliches Brautbaar. Un mir bassen ooch so hibsch zusamm. Ich mit mein ginstlichen Gliedmaßen, un die mit ihren gebrochenen Armen un Beenen, alle beede eene geflickte Schädeldecke — greßer gann de gärberliche Iewereinstimmung doch gar nich sin, da muss doch ooch de Seelenharmonie von ganz alleene gomm. Oder meenen Se nich?«
So hatte das grüne Männchen in einem Englisch, wie es so ungefähr der unverfälschte Sachse aussprechen würde, vorgetragen, bei jedem Satze eine Prise in die Nase pfropfend.
Unterdessen war dem jungen Ingenieur die Erinnerung gekommen. Ja, er kannte diese Miss Lilly Leley doch wohl schon, hatte schon einmal von ihr gehört, wenn auch ohne Namensnennung, und auch noch keine ›Luftlady‹ war sie damals gewesen.
Vor etwa drei Jahren war ein Freund von ihm in Amerika gewesen, nur in New York, nur kurze Zeit, und als er bei seiner Rückkehr am Stammtisch erzählt hatte, was er in New York erlebt und gesehen, da verweilte er am liebsten bei seinem Besuche des Zirkus Barnum. Am allermeisten von seiner ganzen Amerikareise hatte ihm ein weiblicher Clown imponiert, der da aufgetreten. Er hatte Witze, die dieser riss, worüber immer der ganze überfüllte Zirkus vor Lachen brüllte, gar nicht verstehen können, dazu beherrschte er das Englische zu wenig, noch weniger verstand er den Jargon — aber schon die Kapriolen, nur die Bewegungen dieses weiblichen Clowns hatten genügt.
»Vor- oder Nachmachen kann man so etwas nicht, ich kann nur sagen, dass ich drei Tage lang krank gewesen bin, so habe ich gelacht. Ich dachte jeden Augenblick, mein Kopf würde platzen, getraute mich gar nicht mehr hin, wenn's mich auch jeden Abend wieder hinzog.«
Und der Zurückgekehrte lachte noch immer aus vollem Halse. Die zuhörenden Freunde konnten nicht recht begreifen, wie ein weiblicher Clown fast die einzige Erinnerung war, die der sonst ernst veranlagte Mann von seiner Amerikareise zurückgebracht hatte. Sie fanden ihn etwas läppisch geworden.
Kein Zweifel, das war diese Miss Lilly gewesen. Wenn sich Breithaupt recht erinnerte, hatte jener erzählt, die Hauptnummer sei eine Szene gewesen, wie sich der weibliche Clown aus einer Kanone schießen ließ, das heißt eine Parodie auf diesen bekannten Trick. Der Erzählende hatte die Einzelheiten vor nachträglichem Lachen gar nicht schildern können.
»Ließ sich Ihre Braut als Clown im Zirkus Barnum unter anderem aus der Kanone schießen?«
»Jawohl, jawohl, da trat se als Ganonkeenigin auf, oder machte das doch so nach, deshalb nenne ich sie ja auch immer meine Ganonkeenigin. Also Sie kennen se... da gommt se ja selwer.«
Aus der Luke tauchte langsam etwas auf. Was das eigentlich war, das hätte ein Mensch zunächst schwer bestimmen können. Etwas Schwarzes, Buschiges... wir wollen es gleich verraten: ein mächtiger Berg pechschwarzer Haare. Diesem folgte ein kleiner Kopf, in dem das Bemerkenswerteste, da man ja doch gleich ein Frauengesicht erkannte, sogar ein recht hübsches, das die Oberlippe schmückende Bärtchen war, auf welches mancher Dragonerleutnant stolz gewesen wäre. Dazu gehörten dann natürlich auch ein Paar mächtiger, buschiger Brauen, welche über der Wurzel des feinen Näschens fast zusammenstießen, ein Paar große, wie glühende Kohlen funkelnde Augen überschattend. Dann auch noch auf der linken Wange ein Haarbüschel, der aber trotz seiner Ansehnlichkeit, gegen die Brauen und gegen das Dragonerbärtchen gar nicht in Betracht kam.
Nein, so etwas von Haarigkeit bei einem Weibe hatte der junge Ingenieur noch nicht gesehen! Ausgenommen bei Abnormitäten, schon mehr Missgeburten, die sich für Geld zeigen. Aber von so etwas war hier gar keine Rede. Und das Merkwürdigste war nun, dass es keine Tiefbrünette war, sondern ein blütenweißes Gesicht, was sich dann auch weder als gepudert noch geschminkt erwies.
Also ein wirklich hübsches, höchst pikantes Gesicht, welches durch die gewaltige Schmarre an der rechten Wange, vom Ohr bis zum Kinn gehend, durchaus nicht entstellt wurde, sondern wodurch es nur einen verwegenen, etwas trotzigen Ausdruck bekam, was der ganzen Erscheinung um so besser stand.
Diesem Kopfe folgte langsam die ganze Gestalt mit ihren sämtlichen gebrochenen Gliedmaßen nach.
Nun, Dr. Breithaupt bekam nichts von Schienen und Bandagen zu sehen, die er sich im Geiste vielleicht schon vorgestellt hatte. Es war eine prachtvolle Weibergestalt, obgleich unter Mittelgröße, schlank, zierlich und dabei dennoch üppig, und nun vor allen Dingen graziös bis in die Fingerspitzen! Sie trug ein weißes, einfaches Kleid, ein Tropenkostüm — aber darauf musterte man diese Erscheinung gar nicht, man sah und fühlte nur die Kraft und Sicherheit und Grazie, die diese Frauengestalt förmlich wie mit jeder Bewegung ausatmete.
Und im Augenblick empfand der junge Ingenieur noch eins ganz seltsam und wie wohltuend auf sich wirkend, ohne dass er sich über das Warum Rechenschaft geben konnte: in der rechten Hand hatte sie einen Elfenbeinfächer, den sie fleißig gebrauchte, und an dieser kleinen, zierlichen, wohlgepflegten Hand, die aber von Muskeln förmlich starrte — auch wieder solch ein staunenswerter Kontrast — trug sie am Finger als einzigen Schmuck einen schmalen Goldreifen, in dem sich ein roter Stein befand — kein kostbarer Rubin, sondern ein schlichter Granat, wohl der billigste Edelstein.
Dr. Breithaupt wusste jetzt und später nicht, warum dieser einfache Ring an dieser wunderbaren Hand im Augenblick einen so mächtigen Eindruck auf ihn machte. Vielleicht war es auch nur diese Hand, die er so anstaunte.
»Nu, da is se ja, meine Ganonkeenigin — Doktor Breithaupt — meine Braut, de Luftlady Lilly Leley. Ich hawe de Ehre.«
So hatte Mr. Green vorgestellt, den Zylinder vom nackten Schädel ziehend.
Sie hatten nur wenige Schritte zu tun brauchen, die beiden standen ziemlich nahe der Luke. Es war ja selbstverständlich, dass sie sich zuerst dem vom Tode Erretteten näherte.
»Ah, Doktor Breithaupt! Ich schätze mich glücklich, zu denen zu gehören, durch deren Dazwischenkunft Sie dem sicheren Tode entrissen werden konnten.«
Mit einer schmelzenden Altstimme hatte sie es gesagt, lächelnd, was aber nicht den tiefen Ernst beeinträchtigen konnte, der in ihren Zügen lag. Ja, sie machte einen ernsten, sehr ernsten Eindruck.
Der junge Ingenieur hatte sich viel in den besten Kreisen bewegt, viel auf glattem Salonparkett, war noch vor keiner Dame verlegen geworden, mochte sie auch gesellschaftlich noch so hoch über ihm gestanden haben — jetzt mit einem Male verlor er gänzlich seine Fassung.
Ein blödes Lächeln, eine linkische Verbeugung, ein Murmeln — mehr brachte er nicht mehr fertig.
»Himmel, das soll ein weiblicher Clown sein, der mit Possenreißerei das Publikum unterhält?!!«
Das war der einzige Gedanke, der ihn beherrschte.
Glücklicherweise übernahmen die beiden anderen gleich die Unterhaltung.
»Na, wie gefällt Ihnen denn meine Braut?«, schmunzelte Meister Adam. »Bei der will ich awwer uffpassen, dass nich widder ä anderer se mir wegschnappt.«
Ernster konnten die schwarzen Augen nicht mehr werden, die jetzt auf ihn gerichtet wurden.
»Bitte, Mr. Green, unterlassen Sie doch Ihre Späße.«
Das grüne Männchen machte ein ganz erstauntes Gesicht.
»Schbäße? Nu, awwer Lilly, was is denn mit dir...«
»Nein, ich verbitte mir das. So etwas macht man wohl einmal unter sich im Scherz, aber nicht in Gegenwart fremder Personen. Ich verbitte mir das.«
Immer erstaunter wurde das faltige Gesicht.
»Nu, awwer Lilly, mir sin doch...«
Er verstummte, weil sie, die runden Schultern zuckend, den beiden einfach den Rücken kehrte und davonging.
Dem fremden Gaste gegenüber war es etwas rücksichtslos gewesen.
Sie ging eine gute Strecke davon — Breithaupt bewunderte nur diesen elastischen, graziösen Schritt der zierlichen Stiefelchen — schwang sich, ohne die Hände zu benutzen, auf das Geländer, zog ein Büchelchen aus der Tasche und begann zu lesen.
Zunächst hatte Dr. Breithaupt einen Schrei des Schreckens ausgestoßen. Denn, wie die sich auf das dünne Geländer geschwungen hatte, im ersten Sitznehmen die Füße hochwerfend und den Oberkörper weit zurück, unmittelbar am Rande des Ballons — Breithaupt sah sie im Geiste doch schon etliche tausend Meter durch die Luft hinabsausen.
»Was ham Se denn?«
»Um Gottes willen, ich dachte doch...«
»Sie dachten wohl, die schtärzt? Nee, die schtärzt nich. Da muss die Situation schon ganz andersch beschaffen sein, eh die schtärzt. Na, wie gefällt Ihnen denn meine Braut?«
Dr. Breithaupt hatte sich wieder beruhigt, auch sonst seine Fassung wieder.
»Hören Sie«, musste er leise lachen, und er durfte es, die Entfernung war groß genug, »die Dame scheint von der Verlobung mit Ihnen nicht viel wissen zu wollen.«
»Meen Se? Ä, das deischt nur. So is se immer. Eemal so un eemal so. Ähm ä Fraunzimmer. Manchmal gnutscht se mich ab, dass ich fast erschticke, un dann widder is se so eefach gemeene gegen mich. Awwer das geheert nu eemal zur scheenen Brautzeit. Eemal so un eemal so. Un jetzt is se iewerhaubt öftersch iewler Laune, se hat was mit'n Gabidän, ich weeß nich recht was. Na, die Launen will'ch ihr schon austreim, wenn se nur errscht meine Frau is. Awwer sonst, wie gefällt se Ihnen denn?«
»Nun — ein prachtvolles Weib!«
»Nich wahr? Awwer nu missen Se se errscht mal in Drigos sehn.«
»So, hm. Ich kann nur gar nicht begreifen — die als alberner Zirkusclown — das kann ich mir doch gar nicht vorstellen...«
»Nich? Na, se wird schon eemal enne Vorschstellung gäm.«
»Tut sie das?«
»O ja, wenn se gerade de Laune dazu hat. Dort in — in... wo wir bisher wohnten, da hat se's oft genug gedan. Un da hat sich unser Dierarzt, eegentlich ä ganz drauriger Gerl, ä Hybochonder, datsächlich eemal een Bruch gelacht. Tatsächlich enn Unterleibsbruch. Schteeren Sie de vielen Haare?«
»O, das ist...«
»Mich schteeren se nich, im Gegendeil. Ich liewe Haare. Ich gann gar nicht Haare genug begomm. Un was die fier Haare hat! Nich nur im Gesichte un uff'n Gobbe. Die hat nich nur Haare unter der Nase, sondern ooch in dr Nase. Un ooch Haare uff'n Zähn hat se. Das sin ooch die eenzgen, die ich ihr dann, wenn wir errscht verheiratet sin, abrasieren werde. Sonst liewe ich Haare. Nur nich uff'n Zähnen. Nich bei meiner Frau.«
Meister Adam nahm eine außergewöhnlich große Prise und schielte dabei nach der Lesenden.
»Jaa, jaa«, schmunzelte er dann mit seinem vergnügtesten Lächeln, »un mit'n Bauche reden gann se ooch. Die gann iewerhaubt alles. Ich will se doch mal fragen, ob...«
Er latschte auf seinen Filzschuhen hin zu ihr.
»Du, Lilly, der Herr Doktor Breithaupt lässt heeflichst fragen, ob du ihm nich ä bisschen was mit dein Bauche vor...«
»Der Herr Kapitän lässt Miss Lilly zu sich bitten!«, rief in diesem Augenblick ein aus der Luke auftauchender Mann.
Lilly sprang sofort herab, legte im Sprunge noch ihre Hand auf ihres Bräutigams Zylinder, ein Druck, und Meister Adams Kopf war verschwunden — im Zylinder, dessen Krempe jetzt auf seinen Schultern ruhte.
Dann war sie in der Luke untergetaucht, und das kopflose Männchen stand da, den hohen Zylinder auf den Schultern, die Finger der herabhängenden Hände gespreizt — ein unbeschreibliches Bild bietend!
»Nee awwer so' ne Gemeenheet«, erklang es im Grabestone aus dem Zylinder heraus. »Awwer ich glauwe, solche Schbäßchen geheern mit zur glicklichen Breitjamszeit. Meen Se nich?«
Breithaupt musste doch aus vollem Halse lachen. Nicht allein dieses Bild wirkte so urkomisch, sondern es war auch so merkwürdig gewesen, mit welcher wortlosen Schnelligkeit die Dame ihm den Zylinder über die Ohren getrieben hatte, so im Sprunge, so nur nebenbei mit einem Handgriffe — nicht zu beschreiben.
Breithaupt hatte mit geholfen, den Schädel des Männchens von seiner Umhüllung zu befreien. Der Zylinder hatte nicht gelitten.
Hiermit war diese Sache erledigt. Denn das Luftschiff senkte sich, man befand sich wieder über einer Wüste, erkannte in der Ferne eine Oase, welche das Luftschiff anscheinend aufsuchen wollte, doch besann sich der Lenker anders, ließ es wieder steigen.
Bei der Beobachtung dieses Manövers waren technische Fragen aufgeworfen und beantwortet worden.
»Sie ham noch nich unsere Bibliothek gesehen? Ei, enne ganz ansehnliche. Im großen Salon. Gomm Se, ich zeig se Ihnen.«
Sie begaben sich hinab.
Ganz in der Mitte des Schiffes befand sich der größte Raum, der gemeinschaftliche Salon, der bei entsprechenden Dimensionen auch eine Höhe von mindestens fünf Metern hatte.
Wie schon erwähnt, befand sich in diesem auch ein Pianino. Gerade, als die beiden eintreten wollten, ging die Tür auf, Hartung kam heraus, offenbar etwas erregt.
»Es bleibt dabei, es ist mein letztes Wort!«, rief er noch zurück und ging an den beiden schnell vorbei.
»Was die beeden nur hamm«, meinte Adam, als er eintrat.
In diesem Augenblick begann das Klavier zu spielen, eine ganz merkwürdige Weise, Miss Lilly war es, die davor saß und auf die Tasten losdrosch, dem Instrumente ganz unglaubliche Töne entlockend.
Lange dauerte dieser musikalische Genuss nicht, sie sprang gleich wieder auf, schien die beiden gar nicht zu bemerken, so aufgeregt war sie, über irgend etwas empört.
»Nein, da könnte man doch gleich aus der Haut fahren!!!«
So rief sie, und diese Dame hier ließ es nicht bei dem so häufig ausgestoßenen Wunsche, sie fuhr wirklich aus der Haut, wenigstens aus ihrer zweiten Haut, wenn man die Kleidung des modernen Menschen als solche bezeichnen kann.
Wie sie aus ihrem Kleide schlüpfte, ob sie es abriss oder es sich über den Kopf zog oder herunterzog, das konnte Breithaupt nicht unterscheiden, so fix ging es. Ein Griff, ein Ruck, und das weiße Kleid flog durch das Zimmer, blieb in einer Ecke liegen, die Transmutation war geschehen, Lilly stand in einem kleidsamen Sportkostüm von brauner Farbe da, das sich ihrer prächtigen Gestalt aber schon mehr trikotartig anschloss.
»Nein, die Wände könnte man da ja hinauflaufen!!!«
Und wieder wurde diese Redensart in die Tat umgesetzt.
Sie rannte durch das Zimmer und... lief einfach die Wand hinauf, bis zur Decke empor auf allen vieren. Und es war eine ganz richtige, glatte Wand, bestand wohl ebenfalls aus jenem Aluminiumstahl, war aber hübsch tapeziert. Und diese mindestens fünf Meter hohe Wand, die nicht den geringsten Anhaltepunkt bot, lief die junge Dame auf allen vieren bis zur Decke hinauf.
Dr. Breithaupt sperrte, mit Respekt zu sagen, Maul und Nase auf. Er hatte im Zirkus und Variete schon manches Kunststückchen gesehen, aber dass ein Mensch im buchstäblichen Sinne des Wortes eine Wand hinauflaufen kann — nein, das war ihm denn doch etwas ganz Neues!
Nun allerdings muss man das richtig verstehen. Die ehemalige Clownesse, wie wir das Wort Clown verweiblichen wollen, hatte an Sprungkraft und Kautschukhaftigkeit noch nichts eingebüßt, und sie benutzte den mächtigen Anlauf, den Schwung, in den sie sich gebracht, um scheinbar auf Händen und Füßen an der Wand hinaufzulaufen. In Wirklichkeit also war es ja nur ein Sprung, freilich ein ganz riesenhafter. So läuft ja auch eine Katze die Bretterwand empor, die sie überspringen will.
Oben an der Decke blieb Lilly nun freilich nicht kleben, sondern rutschte gleich wieder herab. Aber hiermit hatte sie ihrem Unmut noch nicht genügend Luft gemacht.
»Nein, den Kopf möchte man sich einrennen!!«
Ein Ducken, und Miss Lilly sauste in horizontaler Lage durch die Luft, durch das ganze, etwas acht Meter lange Zimmer, über den Tisch hinweg gegen die andere Wand, gerade dorthin, wo ein großer Wandspiegel hing — und in diesen Wandspiegel mit dem Kopfe hinein, mit voller Wucht, es knallte und knatterte und prasselte... und dann stand Miss Lilly wieder mitten im Zimmer — der Wandspiegel aber war ganz unversehrt!
»Nein, zum Fenster hinausspringen möchte man!«
Und sie tat es, aber das Fenster, hier in diesem Salon war ein sehr großes, war geschlossen, und so sprang sie mit mächtigem Satze gegen die Glasscheibe, Breithaupt sah diese schon in Trümmer gehen, aber nur im Geiste, in Wirklichkeit wurde nichts daraus, die behoste Dame blieb vielmehr wie ein Laubfrosch an dem glatten Glase kleben, freilich nicht lange, dann fiel sie wieder ab, aber immerhin, wenigstens drei Sekunden war sie dennoch daran kleben geblieben, und das hat für solch eine Situation doch etwas zu bedeuten, dem jungen Ingenieur war es jetzt und späterhin unbegreiflich, wie sie das fertig gebracht, drei Sekunden so an der glatten Glasscheibe kleben zu bleiben, eben genau wie ein Frosch, auch mit der gespreizten Gliederstellung, und dann später musste er sich auch noch überzeugen, dass es durchaus kein besonderes, unzerbrechliches Material war, sondern eine ganz gewöhnliche Glasscheibe, gar nicht einmal so sehr stark, schon am nächsten Tage sollte Breithaupt diese selbe Fensterscheibe durch eine Unvorsichtigkeit eines fensterputzenden Arbeiters in Trümmern gehen sehen, und doch war Miss Lilly mit ganz bedeutender Wucht dagegengesprungen.
»Ach, das Fenster ist zu, na, man wird doch durch so eine Fensterscheibe kommen...«
Wieder ein Anlauf, wieder durch die Luft gesaust, jetzt aber in horizontaler Lage, mit dem Kopf gegen diese Fensterscheibe geprallt, und nun wie! — Wieder knallte und knatterte und prasselte es — vergebens, sie kam nicht mit dem Kopfe durch die Fensterscheibe.
»Ist es denn gar nicht möglich, hier einen Selbstmord zu begehen?«
Nun, da gab es auf derselben Wandseite noch ein anderes Fenster, und dieses war geöffnet, die Glasscheibe wie in einem Eisenbahnwagen herabgelassen — und nun mit einem neuen Anlaufe, den Kopf voran, sauste die behoste Dame zu dem Fenster hinaus, war verschwunden.
Diese vier oder fünf Manöver hatten viel, viel weniger Zeit in Anspruch genommen, als wir zu ihrer Wiedergabe gebraucht haben. Der junge Ingenieur hatte also schon bei dem ersten Trick, wie sie die Wand hinaufgelaufen war, vor Staunen den Mund aufgesperrt, seinen Augen nicht trauend, und er hatte den Mund noch immer auf, als sie auch schon gegen den Spiegel und dann zweimal gegen die Fensterscheibe geschmettert war, um zuletzt durch das offene Fenster zu verschwinden. Mehr als zehn Sekunden hatte dies alles sicher nicht in Anspruch genommen, und drei Sekunden davon hatte sie an der Fensterscheibe geklebt.
Und nun war sie fort, zum Fenster hinausgesprungen!
»Ja, träume ich denn nicht nur?«, murmelte Dr. Breithaupt.
»Um Gottes willen!!«, schrie er im nächsten Moment, nach dem offenen Fenster springend.
Tief, tief unter ihm lag die Wüste, hier von weißer Farbe, also offenbar ganz steiniger Grund, das Luftschiff befand sich in einer Höhe von mindestens tausend Metern...
»I, Sie denken wohl, die is da nuntergeschtärzt?«, ließ sich da Adam Green mit seinem gewöhnlichen Schmunzeln vernehmen. »Nee, da ham Se mal geene Bange, die is schon irgendwo am Luftballon gläm gebliem.«
Breithaupt wollte, konnte es nicht glauben. Von diesem Fenster aus ging es direkt hinab in die Tiefe, da gab es keinen Vorsprung...
»Neenee, beruhigen Se sich nur, die hubbt doch nich zum errschten Male aus'm Fenster, un da isse ja iewerhaubt schon wieder.«
Der junge Ingenieur fuhr herum — ja, da stand sie schon wieder mitten im Zimmer, es konnte nicht anders sein, als dass sie auf der anderen Seite zum anderen Fenster wieder hereingekommen war und... sie hatte auch schon wieder ihr weißes Kleid an — wie sie zu dem gekommen, wie sie das fertig gebracht hatte, das freilich konnte Breithaupt nicht begreifen — und da stürzte sie auch schon auf das grüne Männchen zu, umarmte es leidenschaftlich.
»Ach du mein Adam, du mein einzigst Geliebter, wenn ich dich nicht hätte...«
So und anders jauchzte sie, sich dabei wie ein Kreisel herumdrehend und das grünschwarze Männchen mitschlenkernd, dass dessen Rockfittiche und Beine wie ein Paar Windmühlenflügel durch die Luft sausten, und so tanzte sie mit ihm zur Türe hinaus.
Dr. Breithaupt hatte eine Probe von dem Charakter dieses Weibes bekommen, und es war nur eine kleine gewesen.
Im Übrigen hatte er jetzt keine Zeit, über das, was er gesehen und erlebt, nachzugrübeln, denn ein schrilles Klingeln, das ganze Schiff durchtönend, machte ihn darauf aufmerksam, dass etwas Besonderes im Gange sei.
Es war das Signal zum Landungsmanöver, wobei jeder auf seiner Station zu sein hatte. Auch die etwaigen Schläfer mussten schnell geweckt werden.
Man befand sich nur noch wenige Stunden Fahrt von der Küste entfernt, jetzt war es fünf Uhr, in einer Stunde wurde es Nacht, und so wollte man noch die Tageshelligkeit benutzen, um in der vor ihnen liegenden Oase Trinkwasser einzunehmen.
Denn die Fahrt über den atlantischen Ozean würde unter den günstigsten Verhältnissen vier Tage und Nächte währen, und wenn man das Knallgas auch aus Meerwasser entwickeln konnte, das unterwegs einfach geschöpft oder aufgepumpt wurde, so hätte es doch an Trinkwasser gefehlt.
Die Oase war nur eine Brunnenstation, die aus dem Wasserloche ausgehauchte Feuchtigkeit, oder vielleicht auch den umgebenden Boden durchsickernd, hatte nur in ganz engem Umkreise einigen Graswuchs erzeugen können, an das Ernähren auch nur eines einzigen Menschen war nicht zu denken.
Aber schon aus weiter Ferne konnte man durch das Fernrohr die zahlreichen Spuren einer großen Karawane erkennen, die erst jüngst hier gelagert haben musste, und hatte diese genügend Wasser gefunden, so war auch jetzt noch solches vorhanden, denn diese Wüstenbrunnen haben das Gute, dass sie alle unerschöpflich sind. Der ›Tyrann‹ senkte sich herab. Jetzt erst konnte Dr. Breithaupt bewundern, wie man dieses Luftschiff in der Gewalt hatte. Er hatte schon manches Luftschiff landen sehen, aber mit solch graziöser Sicherheit wie dieses war auch unter den günstigsten Verhältnissen noch keins vor Anker gegangen.
Dazu kam ja nun allerdings auch das Fehlen der Gondel. Jedenfalls wurde eine Gaskammer nach der anderen entleert, und die Riesenzigarre lag ruhig auf dem Grase und Sande dicht neben dem Brunnen.
Es war ein mit großen Steinen eingefasstes Loch von etwa einem Meter Durchmesser. Woher stammten diese Steine? Nun, in tieferem Grunde stößt man ja in der Wüste überall auf festes Gestein. Wer aber hat zuerst solch einen Wüstenbrunnen entdeckt, wer diese Steine herausgegraben und das Wasserloch eingemauert, zugänglich gemacht?
Das entzieht sich jeder Kenntnis, das ist wahrscheinlich schon vor vielen, vielen Jahrtausenden geschehen.
Neben dem Brunnen lag, zum Teil über den Mauerrand hängend, ein geteerter Lederriemen, an ihm eine Steinflasche befestigt, noch einige Kürbisflaschen und andere Riemen und Seile lagen herum.
Denn wer keine Schöpfapparate besaß, hätte wohl schwerlich zu der Wasserfläche kommen können, die sich drei Meter unter dem Brunnenrande befand. Das Zurücklassen von Seilen und Flaschen an jedem Brunnen ist mohammedanische Pflicht jeder Karawane, eben an solche Wanderer denkend, die keine derartigen Schöpfmittel besitzen.
Das Wasser wurde für trinkbar, sogar für ganz ausgezeichnet befunden. Ein Schlauch ward hinabgelassen, und die Trinkwassertanks wurden vollgepumpt. Ein Abnehmen des Wasserniveaus war dabei nicht zu bemerken.
Nur dies sollte konstatiert werden, sonst hätte man sich mit der Wassereinnahme Zeit lassen können. Dr. Breithaupt erfuhr, dass bei dieser Gelegenheit auch einige Reparaturen vorgenommen werden sollten, die hier während der Ruhe am besten ausgeführt werden konnten.
Alles war im Innern des Schiffes und zum Teil auch außen emsig beschäftigt. Die Hast, mit der gearbeitet wurde, war auffallend. Man wollte die letzte halbe Stunde Tageslicht ausnutzen. Dann aber ging doch der Mond auf, außerdem hatte man ja auch elektrisches Licht, sogar einen Scheinwerfer.
»Kommen Sie, Herr Doktor, wollen Sie mir nicht etwas helfen?«
Miss Lilly hatte es gesagt, außer Breithaupt die einzige Person, welche das Schiff verlassen hatte, um auf festem Boden in aller Gemütsruhe Umschau zu halten. Alle anderen waren vollständig mit ihrer Arbeit beschäftigt, da bekam man kein unnützes Wort zu hören.
»Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung, gnädigste Miss.«
Sie trug jetzt wiederum ein Sportkostüm, aber mehr einem Weibe entsprechend, wenigstens ein bis an die Knie reichendes Röckchen.
»Aber ich brauche einen sehr starken Mann«, lächelte sie, wie Breithaupt es von ihr noch nicht gesehen, denn das damals bei der Vorstellung war ja gar keins gewesen.
»Sehe ich denn etwa aus wie ein Schwächling?«, lächelte er ebenfalls.
»Ich meine mehr einen Mann, der auch praktisch tüchtig zugreifen kann.«
»Nun, ich habe, ehe ich Ingenieur wurde, eine gar lange praktische Lehrzeit durchgemacht, und ich nehme es noch heute am Schraubstock und Amboss mit jedem auf.«
»Dann kommen Sie. Wir müssen uns die Winde und alles selber aufbauen, denn von den anderen kommt jetzt keine Hand ab.«
Sie begaben sich durch ein Türchen in das Luftschiff zurück, stiegen die Treppen hinauf bis in die oberste Etage, Lilly betrat einen Raum, in den Breithaupt noch nicht gekommen war.
Es sah darin recht bunt aus. Wie bei einem Alteisenhändler.
»Wissen Sie, was das ist?«
Nein, Breithaupt hatte keine Ahnung.
»Und Sie wollen Ingenieur sein?«, lachte sie. »Das ist eine Flugmaschine — eine auseinandergenommene.«
Ja, jetzt begann Breithaupt die einzelnen Teile zu erkennen.
»Das Beste ist wohl, wir bauen zuerst die Winde auf, das nimmt noch immer kürzere Zeit in Anspruch, als wenn wir alles einzeln nach oben tragen. Das Zusammenstellen geht dann ganz fix, Sie sollen staunen.«
»Ja, die Gelegenheit ist gerade günstig.«
»Haben wir denn so lange Zeit?«
»Ach, vor Mitternacht werden wir hier nicht fertig. An dem Luftschiff — ich kann es Ihnen anvertrauen — ist nämlich etwas nicht in Ordnung. Was, weiß ich selber nicht. Ich verstehe nichts vom Luftschiff, habe mich ausschließlich auf den Aeroplan geworfen. Der ›Tyrann‹ hat gar keine Probefahrt gemacht, das hier ist seine erste, wir sind eigentlich auch noch gar nicht gelandet, wenigstens nicht für längere Zeit vor Anker gegangen, wobei der Fehler nur repariert werden kann. Es muss ein sehr, sehr großer Fehler sein. Deshalb auch immer die schlechte Laune des Kapitäns, deshalb sein ständiges Wachen schon seit vielen Wochen, dadurch ist er ganz nervös geworden, sodass er sogar schon mit mir Streit angefangen hat.«
Bei diesen Worten hatte sie einen Flaschenzug zusammengesetzt, der junge Ingenieur erkannte sofort ihre Absicht, war ihr dabei mit gewandten Händen behilflich.
»Wäre es denn nicht angebracht«, meinte er bei dieser Arbeit, »dass die Flugmaschine in einem größeren Raume immer vollständig montiert stände, sodass man sie jederzeit, wenn man sie braucht, an Deck winden kann...«
»Das ist es ja eben!«, unterbrach sie ihn lebhaft. »Der Bau dieses Luftschiffes ist ja äußerst schnell betrieben worden, da hat man solch einen Raum vergessen, dann war er durch Herausnahme einiger Wände nicht so leicht herzustellen. Der Kapitän wünschte, dass meine eigene Flugmaschine oben an Deck befestigt würde, aber ich hatte meine Gründe, hiergegen Bedenken zu erheben. Von diesem, meinem eigenen System war nämlich nur ein einziges Exemplar vorhanden. So wurde ein anderer Aeroplan oben an Deck festgemacht. Aber richtig, bei dem ersten steilen Aufstieg kam das Ding ins Rutschen, ging über Bord, zerschmetterte unten auf der Erde. Das ist auch der Anfang unseres Streites gewesen. Dann ist noch eine andere Differenz dazugekommen. Übrigens haben wir uns soeben in Güte geeinigt, die alte Freundschaft ist wieder hergestellt. Jetzt wird auch gleich ein größerer Raum geschaffen, jetzt ist es möglich. Wie viel wiegen Sie, Herr Doktor?«
»Als ich mich zuletzt in Neapel wog, vor Einschiffung unsrer Expedition, wog ich 170 Pfund, dürfte aber bedeutend abgenommen haben. Wozu denn das?«
»Weil ich Sie als Ballast mitnehmen möchte.«
»Ich soll mitfliegen?«
»Ich bitte Sie sehr. Meine ›Libelle‹ ist speziell zur Aufnahme von zwei Personen eingerichtet, kann sogar drei tragen, und bei nur einer Person müsste ich noch besondere Gegengewichte anbringen, was jetzt seine Umstände haben würde.«
»Aber ich bin noch nie auf einem Aeroplan geflogen.«
»O, Sie haben nichts weiter zu tun als stillzusitzen. Oder Sie fürchten sich doch nicht?«
»Nein, das gibt's nicht. Wenn Sie wünschen, werde ich Sie begleiten.«
Mit leichter Mühe wurde das ganz auseinandergerissene Gerippe auf einmal in die Höhe gewunden, durch eine große Luke an Deck gebracht, wo Miss Lilly mit erstaunlicher Schnelligkeit die einzelnen Teile zusammensetzte.
Hierbei erklärte sie den von ihr selbst konstruierten Aeroplan, dieses Exemplar hier auf den Namen ›Libelle‹ getauft.
Wir wollen nicht technisch werden, keine Maße und Gewichte angeben, nur die Hauptsachen anführen.
Es war ein Eindecker, ein ungemein zierliches Ding, von dem man, wenigstens wenn man die anderen Systeme kannte, nur gesehen hatte, kaum hätte glauben sollen, dass es drei Personen tragen konnte, abgesehen von alledem, was sonst noch zum längeren Fluge mitgenommen werden musste.
Aber da kam eben das Aluminiumradium in Betracht, dreimal so leicht wie das reinste Aluminium, aus dem das ganze Gerippe und alles andere hergestellt war, sogar die großen Gleitflächen, welche bei den Aeroplanen sonst doch aus starker Leinwand bestehen. Diese war hier ebenfalls durch Blech aus diesem Metalle ersetzt, an sich schon leichter als Leinwand, welche im Grunde genommen gar nicht so leicht ist, und dann brauchte dieses Blech nur wenige Millimeter dick zu sein, um eine ganz andere Widerstandsfähigkeit zu haben.
»Wir können schon gut anecken, ehe da einmal etwas zerbricht. Dieses dünne Blech entspricht Panzerstahlplatten von zehn Millimeter Stärke. Und bricht einmal etwas, so ist es mit Leichtigkeit wieder gelötet. Kleinere Schäden lassen sich sogar im Fluge reparieren. Hier ist das ganze Reparaturwerkzeug drin.«
Lilly öffnete den Kasten, Breithaupt erblickte auch drei Gewehre von eigentümlicher Konstruktion.
»Sind das solche pneumatische Gewehre?«
»Jawohl, Luftbüchsen, wie sie schon in jenem Panzerautomobil vorhanden gewesen, die Erfindung des alten Morris, aber jetzt noch ganz bedeutend verbessert. Und hier auch drei entsprechende Revolver, hier die Munition, hier sind sogar drei Entersäbel vorgesehen. Das alles gehört zum unumgänglich notwendigen Ballast.«
»Ich habe einmal gehört — wenn man solch ein Gewehr oder eine Pistole aufschrauben will, um den inneren Mechanismus zu untersuchen, dann...«
»Dann erfolgt eine furchtbare Explosion, Waffe und den Neugierigen verschwinden lassend«, ergänzte Lilly. »Ja, so ist es auch noch heute. Die Erben des alten Morris wollen noch heute partout, dass diese Erfindung keinem anderen Menschen in die Hände fallen kann. Freilich muss man da auch vorsichtig sein, dass man solch eine Waffe nicht verliert. Im Übrigen muss man eben immer warnen. Aber eine Gewalt gibt es da jedenfalls nicht.«
»Wie viel Pferdekräfte entwickelt dieser Motor?«
»Achtzig.«
»Was? Dieser kleine Motor liefert achtzig Pferdekräfte?!«
»Sie vergessen wohl, dass es Knallgas ist, aus Wasser entwickelt, das ihn treibt, und zwar ist das durch Morrisit nach unserer jetzigen Weise erzeugte Wasserstoffgas ein ganz besonderes, eigentlich überhaupt ein ganz anderes Gas. Aber die Mischung zusammen ergibt doch ein Knallgas.«
»Welche Schnelligkeit wird dadurch dem Aeroplan gegeben?«
»Rund hundert Kilometer in der Stunde. Bei günstigem Winde habe ich aber auch schon 120 Kilometer gemacht.«
»Fabelhaft, fabelhaft!«, murmelte Breithaupt. »Und wo ist der Propeller?«
Gab es nicht. Auch hier wurde die Bewegung dadurch erzeugt, dass ein Röhrensystem die Luft aufsaugte, komprimierte und wieder ausstieß — nicht näher zu erklären.
»Hier ist ein Wasserbehälter, in dem auch gleich das Knallgas durch Morrisit entwickelt wird. Diese ganze Einrichtung ist geschlossen, bedarf wohl auch niemals einer Reparatur. Doch die könnte auch ich ausführen.«
»Wie viel Wasser fasst der Behälter?«
»Fünfzig Liter.«
»Und wie weit kommt man damit?«
»Fünfzig Stunden weit. Bei voller Kraftentwicklung des Motors wird in der Stunde genau ein Liter verbraucht. Sie staunen, weil das so wenig ist? Ja, das ist eben etwas ganz anderes als Benzin, und immer noch etwas ganz anderes als einfaches Wasserstoffgas, was da herauskommt!«
»Zunächst staune ich über etwas anderes!«, rief Breithaupt. »Da käme man mit diesen fünfzig Litern Wasser ja 5000 Kilometer weit!«
»Gewiss.«
»Das sind... rund 650 geografische Meilen! Ich rechne es mir deshalb gleich um, weil ich zufällig weiß, dass der atlantische Ozean an seiner breitesten Stelle tausend geografische Meilen breit ist. Da käme man ja mit dieser Flugmaschine über den halben Ozean hinweg, weiter noch!«
»Nun, wenn wir nur zur Hälfte darüber hinweg könnten, so hätte das wenig Zweck, zuletzt würden wir ja doch ersaufen. Nein, wir kommen sogar über den ganzen Ozean hinweg.«
»Was?«
»Nun, Sie sehen hier doch noch einen anderen Kasten, der hier an dieser Stelle aufgeschraubt werden muss, wobei Sie mir behilflich sein wollen. Dieser Kasten fasst gleichfalls 50 Liter Wasser, und er muss unbedingt gefüllt sein, wenn wir keine dritte Person mitnehmen.«
»Über den ganzen Atlantischen Ozean mit einer Flugmaschine, schwerer als die Luft — o Wunder, o Wunder!!«, konnte der Ingenieur nur staunen.
»Ja, und das, wenn alles klappt, in noch nicht ganz drei Tagen und Nächten, in noch nicht 70 Stunden. Aber ich wüsste nichts, was da einmal nicht klappen sollte. Für die absolute Betriebssicherheit meiner ›Libelle‹ garantiere ich mit meinem Kopfe.«
»Ja, aber der Proviant?«
»Der kann noch extra mitgenommen werden und auch noch manches Pfund.«
»Auch besonderes Trinkwasser?«
»Nicht besonderes, das wird einfach aus diesem oder jenem Behälter genommen.«
»Ich denke, dieser hier entwickelt das Knallgas direkt.«
»Jener ebenfalls.«
»Da ist das Morrisit gleich drin?«
»Gewiss, und ebenso die Substanz, welche das einfache Wasserstoffgas in das achtmal leichtere Radiumgas verwandelt.«
»Und trotzdem kann man gleich dasselbe Wasser trinken?«
»Ja, warum denn nicht? Ach«, lachte Lilly, »Sie dachten wohl, dass sich dann in ihrem Magen ebenfalls Radiumgas entwickelt, welches Sie dann als einen Luftballon in die Höhe gehen lässt? Nein, die Radiumsubstanz ist sonst völlig wirkungslos, da brauchen Sie keine Sorge zu haben. Ein Stück Morrisit dürften Sie freilich nicht mit im Magen haben, sonst würde wirklich dieser Fall eintreten. Ich möchte überhaupt wissen, was für einen Erfolg das hat, wenn jemand so ein Stückchen Morrisit verschluckt und dann Wasser drauf trinkt, und womöglich noch gar ein Stückchen Radiumsubstanz dazu.«
»Ja, und dann ä brennendes Streichelhelzchen vorsch Maul halten«, sagte der in diesem Augenblick vorübergehende Adam.
Aber er hielt sich nicht auf, auch er hatte mit etwas anderem alle Hände voll zu tun oder die Arbeit zu leiten.
Der Aeroplan war fertig montiert. Keine halbe Stunde hatte es gedauert. Er ruhte auf sechs Rädern, welche solid genug waren, um ihn auch als wirklichen Wagen brauchbar zu machen.
Keine Fallmaschine, wie die Gebrüder Wright sie zum ersten Antrieb verwenden, keine andere Vorrichtung war nötig, um den Flugdrachen in Schwung zu bringen. Allerdings befanden sie sich ja hier auf dem Verdeck 16 Meter hoch über dem Boden, das war zum Absprung sehr günstig. Aber auch das wäre nicht nötig gewesen, die ›Libelle‹ konnte sich nur durch die Motorkraft sofort vom Boden erheben, selbst mit dem Winde.
Die Nacht war angebrochen, der halbe Mond am Horizont emporgestiegen, die gelbe Wüste mit prachtvollem Lichte übergießend. Ein herrliches Bild!
Nun bloß noch die beiden Wassertanks gefüllt, was durch eine Pumpe geschah, und alles war zum Abflug bereit.
Es war doch ein etwas banges Gefühl, welches den jungen Ingenieur beschlich, als er auf dem Reitersitz neben der Aeronautin Platz nahm.
Lieber wäre es ihm gewesen, wenn, da es ja möglich, der Abflug vom Erdboden aus geschehen wäre. So also sollte sich die Flugmaschine gleich von dem 16 Meter hohen Verdeck herabstürzen, ohne erst die geringste Probe gemacht zu haben.
»Seien Sie ohne Sorge«, entgegnete Lilly auf eine diesbezügliche Bemerkung, »ich garantiere, dass alles glatt geht.«
»Diese Garantie ist ja gut, aber...«
Da begann schon der Motor zu arbeiten, im nächsten Moment war er schon in rasender Tätigkeit, ohne jedes Geräusch, nur ein leises Zischen der ausgestoßenen Luft, und da rollte der Riesendrachen auf seinen Rädern auch schon vorwärts, erreichte den Rand des Decks, wo die Barriere niedergelegt worden, offenbar früher, als die Aeronautin gewollt, denn sie stieß einen kleinen Schrei aus und machte einige hastige Hebelgriffe, freilich mit zusammengepressten Lippen, die reizvollen Züge eisern — und da stürzte die Flugmaschine schon hinab — aber da erhob sie sich auch schon wieder... und das tote Metall hatte sich in einen ungeheuren Vogel verwandelt, lebendig gemacht durch Menschengeist und Menschenenergie.
O, wie wird dem zumute, der zum ersten Male solch einem Fluge beiwohnt, nur als Zuschauer, und er gehört zu jenen auserwählten Menschen, die immer so ihre eigenen Gedanken haben, die in einer alltäglichen Lokomotive nicht nur einen Dampfwagen mit Kurbeln und Stangen und Rädern erblicken!
O Menschengeist, wie hast du es herrlich weit gebracht, und wie weit kannst du es noch bringen! Wenn Gott der Jupiter wäre, wie die Alten ihn sich vorstellten, ihm könnte bange vor dir werden! Doch haben die heidnischen Götter nicht auch schon den Prometheus gefürchtet? Aber was half's, dass sie den Räuber des göttlichen Feuers an einen Felsen schmiedeten und ihm täglich die Leber von einem Geier ausfressen ließen?
Wohl wird alles, was Prometheus' irdische Söhne schon geschaffen haben und noch schaffen werden, wieder zugrunde gehen, aber mag die Erde nun in Eis erstarren oder in die Sonne stürzen — was jemals irgendwie gewesen, das besteht für immer und ewig, denn der Geist ist unsterblich, durch nichts zu vernichten, und dieser Geist wird immer und immer wieder die tote Materie, die doch ebenso unzerstörbar ist, in genau die selben Formen bringen, und das immer besser und schöner...
Genug!!
Der junge Ingenieur gehörte zu jenen Menschen, die solche Gedanken haben, und er empfand sie, als der Riesendrache jetzt im Mondschein über der Wüste schwebte, sich in großen Bogen höher und höher schraubend.
»Na, haben Sie Angst?«
»O, wie soll man da an so etwas denken!«
»Ja, ich verstehe, was Sie meinen, wenn dies Ihr erster Flug ist. Ich weiß, was Sie denken — mir ging's genau so, als ich den ersten Flug machte, freilich nicht im Zirkus. Aber in der Tat, solch ein herrliches Bild habe auch ich noch nie unter mir erblickt. Diese einsame Wüste im Mondenschein — herrlich!!«
Noch einige Wendungen im Manöver.
»So, jetzt weiß ich, woran der Fehler liegt«, nahm Lilly wieder das Wort. »Meine ›Libelle‹ hat nämlich schon immer nach Backbord gegiert — welchen Seemannsausdruck wir Aeronauten übernommen haben. Die Maschine will immer nach links hinüber. Noch beim letzten Fluge konnte ich den Fehler nicht finden. Während dieser letzten Tage aber ist mir der Fehler wenigstens theoretisch klar geworden, und jetzt erkenne ich, dass meine Theorie richtig war. Nun, das wollen wir gleich beseitigen, da brauchen nur ein paar Schrauben versetzt zu werden. Dazu aber müssen wir landen.«
Es geschah. In eleganten Bogen senkte sich der Aeroplan herab, legte sich auf der anderen Seite des Brunnens nieder. Sicherer hätte sich kein Adler niederlassen können.
Lilly nahm die Umänderung sofort in Angriff. Der Mondschein genügte dazu, nur manchmal musste ihr dabei Breithaupt mit einer Lampe leuchten. Es war eine kleine elektrische, nicht viel anders als die gewöhnlichen elektrischen Taschenlampen, konnte aber auch immer wieder gespeist werden, wozu sie nur durch Drähte mit einem Kästchen verbunden zu werden brauchte, das nicht nur Akkumulatoren, sondern auch eine ganz kleine Dynamomaschine enthielt, die eingeschaltet, nebenbei von dem Motor getrieben wurde. Waren die Akkumulatoren voll geladen, so schaltete sich das Dynamomaschinchen von selbst wieder aus. Obgleich dies alles von der Zierlichkeit einer Kinderspielerei war, konnte die kleine Lampe doch auch als recht intensiver Scheinwerfer benutzt werden.
So weihte Lilly ihren Partner immer mehr in die weiteren Eigenschaften ihrer ›Libelle‹ ein, während sie mit geschickter Hand eine Schraube nach der anderen löste und einige Stangen und Platten abnahm.
»So, nun braucht das bloß umgesetzt zu werden, in zehn Minuten sind wir wieder flugfähig, dann können wir noch in der Luft herumkutschieren. Denn wie gesagt, vor Mitternacht kann der ›Tyrann‹ nicht aufsteigen.«
»Da da da — da steigt er ja schon wieder auf!«
Gelassen blickte Lilly nach der Riesenzigarre.
Wirklich, diese stieg auf, mit allen Mann an Bord.
»Das ist nur einmal ein Versuchsmanöver, oder dachten Sie, die würden uns hier zurücklassen, uns versetzen, wie man das nennt?«, lachte Lilly.
Mit einem Male aber stutzte sie.
Das Luftschiff hatte sich zuerst nur langsam erhoben, wohl nur durch die Gaskraft, die entleerten Kammern waren wieder gefüllt worden. Denn wäre die komprimierte Luft nach unten ausgestoßen worden, so wäre der leichte Sand furchtbar davongestoben.
Dann begannen die hinteren Röhren Luft auszustoßen, so bewegte sich das Schiff vorwärts, nur langsam, man hörte leise Klingelzeichen, Kommandos — plötzlich aber richtete sich die vordere Spitze nach oben, höher und immer höher, jetzt spritzte der Sand von der eigentlich hinten herauskommenden Luft getroffen — und was für Luftströme mussten das sein! — und immer noch höher ging die Spitze vorn, und da sauste auch schon das Luftschiff wie ein Pfeil in die Höhe!
»Gas aus, Gas aus — um Gottes willen, vorn die Hähne geöffnet, das hintere Ventil ist gebrochen!!!«
So hatte man einmal noch rufen, brüllen hören — die Stimme des Kapitäns!
Da aber war auch schon das graufarbige Luftschiff in dem unsichern Lichte des Mondes verschwunden, war fast kerzengerade nach oben gestoßen!
»Alle Heiligen, da ist ein Unglück geschehen!!«, schrie Lilly.
Dr. Breithaupt wagte nicht, seine Meinung zu äußern, die Dame musste besser wissen, was hier vorlag.
Außerdem war er vor Schreck ganz erstarrt. In diesem Manöver, wie das Luftschiff, dessen normale Stellung doch eine horizontale war, plötzlich mit nach oben gerichteter Spitze fast senkrecht hinaufgestoßen war, hatte etwas Fürchterliches gelegen, was schriftlich nicht zu schildern ist. Es handelte sich eben um ein Luftschiff von 180 Meter Länge!
»Mr. Green hat ja immer gesagt, dass ein großer Konstruktionsfehler vorliegt«, begann Lilly zu erklären, schon viel ruhiger, wenn auch noch immer aufgeregt. »Die Balance kann zu leicht verschoben werden, die vorderen Kammern brauchen sich nur einmal zu schnell zu füllen, und in einer vertikalen Lage müsse unbedingt ein Ventil brechen, sodass die im Gange befindlichen Motoren nicht schnell genug abgestellt werden können. So hat Mr. Green immer behauptet, aber Mr. Winkler, der eigentliche Fachmann und Erbauer des Luftschiffes, hat ihm nie Recht gegeben. Und nun ist es doch geschehen.«
»Sie glauben, das Luftschiff ist jetzt verloren, wurde oder wird noch das Opfer einer Katastrophe?«, flüsterte Breithaupt.
»O nein«, wurde jetzt Lilly vollends ruhig, »das halte ich für ganz ausgeschlossen. Die werden den ›Tyrann‹ schnell genug wieder in der Gewalt haben.«
»Aber das sah doch fast aus, als wenn es kieloberst gehen wollte?«
»Nein, das ist wirklich gar nicht möglich, dazu ist der Kiel viel zu schwer. So vollständig senkrecht aufsteigen kann es, dazu ist alles eingerichtet, und gleich beim Antritt unserer Fahrt hat Mr. Winkler dieses Manöver mehrmals ausgeführt, um zu beweisen, dass Mr. Green unrecht habe, dass dabei keine Unordnung vorkommen könne. Trotzdem blieb Green bei seiner Behauptung. Es brauchte nicht immer zu geschehen, aber die Möglichkeit wäre vorhanden. Und nun ist es wirklich so gekommen. Wir haben es ja den Kapitän rufen hören: das Ventil ist gebrochen.«
»Und was ist die Folge davon?«
»Das Luftschiff saust so lange senkrecht in die Höhe, bis entweder die vorderen Gaskammern entleert sind, oder bis man die Motoren abstellen kann. Das ist ja eben der große Konstruktionsfehler, dass dies bei Bruch des Hauptventils nicht so schnell möglich ist.«
»Und wie lange wird es dauern, bis das möglich ist?«
»Ja, was weiß ich?«
»Wie hoch kann sich das Luftschiff erheben?«
»Wir sind schon 700 Meter hoch gekommen, dann war die Luft nicht mehr atembar.«
»Und wenn es nun jetzt höher schösse?«
»Lieber Herr Doktor, halten wir uns doch nicht bei Wenn und Aber auf. Ich bin über die technischen Einrichtungen des Luftschiffes überhaupt sehr wenig orientiert. Aber der festen Überzeugung bin ich, dass die das Luftschiff wieder schnell genug in der Gewalt haben und dann wieder zurückkehren werden, um und abzuholen. Also machen wir bis dahin unsere ›Libelle‹ wieder gebrauchsfähig.«
Es geschah. In zehn Minuten war die Veränderung geschehen, die beiden machten wieder einige Flüge, die diesmal zu der Aeronautin vollsten Zufriedenheit ausfielen. Darüber war eine Stunde vergangen. Und das Luftschiff hatte sich noch nicht wieder eingestellt, an dem sternenübersäten, mondhellen Himmel war nichts von ihm zu bemerken.
»Die werden diesen Oasenbrunnen doch auch wiederfinden können?«, fragte Breithaupt einmal nach langem, drückendem Schweigen.
»Natürlich, die haben doch ganz sicher sofort eine geografische Ortsbestimmung gemacht. Der Kapitän führt ein genaues Logbuch, in das alles und jedes eingetragen wird.«
Wieder verging eine Stunde, Das Luftschiff zeigte sich noch nicht.
»Ja, was nun?«, fragte Breithaupt.
»Warten. Wenigstens diese Nacht noch.«
Die Nacht war vergangen, die Sonne eines neuen Tages rollte am Firmament empor. Und das Luftschiff war noch nicht zurück.
Die beiden waren nur klug gewesen, dass sie sich nicht weiter in zwecklosen Vermutungen ergangen hatten. Sie hatten im Wüstensande geschlafen — oder hatten sich schlafend gestellt.
Lilly musterte durch ein Fernrohr, das sie dem Kasten entnahm, rundum den Horizont.
»Nichts.«
»Was nun?«, durfte jetzt Breithaupt wieder einmal fragen.
»Nun wollen wir erst einmal frühstücken.«
Der Proviantkasten enthielt, wie Lilly erklärte, für zwei Personen sechs reichliche Mahlzeiten, für zwei Tage, unter Umständen auch drei Tage ausreichend. Schnürte man den Hungerriemen, konnte man auch noch länger aushalten. Der Proviant bestand aus Hartbrot und Büchsenkonserven, die man schließlich auch unaufgewärmt hätte verzehren können. Aber das war nicht nötig, man hatte ja Knallgas, so viel man wollte.
»Nun wollen wir aber doch über die Zukunft sprechen«, sagte Lilly als sie den Tee bereitete, der wie gemahlener Kaffee zum Frühstückskorbe gehörte. »Nur nicht über das Luftschiff selbst — ich meine, keine Erwägungen darüber anstellen, ob es verunglückt sein könnte oder nicht. Das hat gar keinen Zweck, hemmt nur unsere Überlegungskraft, die wir besser verwenden können. Wir müssen als bestimmt voraussetzen, dass sie das Luftschiff wieder in ihre Gewalt bekommen haben, aber bisher noch nicht imstande waren, uns wieder aufzusuchen. Nicht wahr, Herr Doktor?«
»Ganz meine Meinung.«
»Was schlagen Sie vor, jetzt zu tun?«
»Nein, gehen Sie ganz Ihren eigenen Weg.«
»Dann brechen wir nach dem Frühstück sofort auf. Denn wenn wir hier warten und warten und warten, so können wir das nur drei, höchstens vier Tage aushalten, und ist das Luftschiff bis dahin noch nicht zurück, so sind wir dem Hungertode ausgeliefert, haben nicht mehr die Kraft, die Flugmaschine zu bedienen, von hier fortzukommen. Also brechen wir lieber sofort auf.«
»Ganz meine Meinung«, stimmte Breithaupt bei. »Und wohin wenden wir uns da?«
»Nach Mexiko, nach dem Monte Cerboli. Über den Meeresflug sprechen wir dann. Eins nach dem anderen. Das Ziel des Kapitäns war der Monte Cerboli. Dorthin wenden wir uns. Natürlich lassen wir das hier an diesem Brunnen schriftlich zurück. Glauben Sie, der Sie ja schon in Afrika gewandert sind, dass eine Karawane ein Stück Papier, einen Fetzen Leinwand, den wir mit Schriftzeichen bedeckt hier zurücklassen, respektiert?«
»Unbedingt. Da kenne ich diese Wüstenbeduinen. Und ich kann Arabisch, auch schreiben, werde etwas Diesbezügliches noch in arabischer Sprache hinzuschreiben. Selbst Wüstenräuber würden dies respektieren.«
»Vortrefflich. Nun, dann ist die Sache ja ganz einfach. Kommt der ›Tyrann‹ wieder hierher, so wissen die, wo sie uns zu suchen haben. Auf dem Monte Cerboli, der sowieso ihr Ziel war. Und nun die Meeresreise!«
Der Utensilienkasten enthielt auch eine große Weltkarte, selbst ein Zirkel war vorhanden.
Wie weit sie von der Küste entfernt waren, das konnten sie nicht bestimmen, denn sie wussten ja nicht, wo sie sich befanden. Wohl verstand der Vermessungsingenieur geografische Ortsbestimmungen zu machen, aber ein Sextant und was sonst noch dazu gehört, war nicht vorhanden, so weit ging die fürsorgliche Ausrüstung denn doch nicht.
Nun, der ›Tyrann‹ war, wie sie zuletzt gehört hatten, noch zwei Stunden von der Küste entfernt gewesen. Und dann, wenn man über das Meer hinweg eine mit dem Äquator parallele Linie zog, stieß man gerade auf Florida, welches ja mit Mexiko in gleicher Höhe liegt, das war hier so ziemlich die breiteste Stelle des Atlantischen Ozeans, und diese Entfernung betrug richtig, wie Breithaupt aus der Erinnerung gesagt, tausend geografische Meilen.
»Ja, die würden wir in noch nicht einmal ganz drei Tagen und drei Nächten durchfliegen können, und die Nahrungsmittel würden dazu auch langen«, sagte Lilly. »Aber daraus kann natürlich nichts werden. Das ist nur eine Theorie, eine ausgerechnete Möglichkeit, die sehr, sehr leicht trügen kann. Ich habe mehrmals gesagt, ich übernehme für die Betriebssicherheit meiner ›Libelle‹ jede Garantie. Das war natürlich auch nur so gesprochen. Ein Mensch sollte eigentlich überhaupt niemals für irgend etwas garantieren. Da habe ich doch auch nicht an solch einen kolossalen Dauerflug gedacht. Meine höchste Leistung war früher drei Stunden; seitdem ich das Morrisit und das Radiumgas habe, bin ich sogar nur einmal eine Stunde lang geflogen. Ich hatte keine Gelegenheit dazu. Das Schiff war eher fertig als meine ›Libelle‹, dann waren wir ja immer unterwegs in voller Fahrt.
»Nein, das Risiko einer dreitägigen Meeresfahrt würde ich ohne zwingende Gründe nimmermehr wagen. An dem Motor kann doch einmal etwas zerbrechen. Über Land hat das nicht viel zu sagen. Die metallenen Drachenflächen sind unverwüstlich, und selbst wenn ein großes Loch hineinkäme, etwa hineingeschossen, so würde das gar nicht schaden. Ich kann mich noch immer sanft zu Boden gleiten lassen, und das aus jeder Höhe, aus jeder! Aber über dem Wasser hört das auf. Oder da kommt man eben aus dem Regen nur in die Traufe. Wenn nun etwas passiert und es ist nicht zufällig ein Schiff in der Nähe, dann müssen wir ganz einfach... ersaufen. Nein, diesen Meeresflug dürfen wir nicht wagen, solange es eine andere Möglichkeit gibt.«
»Was für eine andere Möglichkeit?«, fragte Breithaupt, nur um jene weiter sprechen zu lassen.
»Nun, wir könnten doch ein Schiff benutzen, um nach Amerika hinüberzukommen. Wir fliegen nach dem nächsten Hafen, von dem aus eine Dampferlinie nach — nach Westindien geht, nach Florida, nach New York. Wenn wir überhaupt nur das Festland von Amerika unter uns haben, dann können wir uns ja per Aeroplan allein weiterhelfen.«
»Ja, wenn es nicht anders geht.«
»Haben Sie Geld?«
»Ich habe keine rote Kupfermünze bei mir.«
»Kein Scheckbuch?«
»Habe nie eins besessen.«
»Mir geht es genau so. Na, Geld könnten wir uns ja schließlich in jedem größeren Hafen verschaffen. Aber... lieber nicht. Wissen Sie... Sie wissen ja... wir haben Erfindungen geheim zu halten. Ja, wenn wir bares Geld oder ein Bankkonto hätten! Nein, dann können wir nicht so einfach als Passagiere einen Dampfer benutzen. Wohl, machen wir es anders. Wir fliegen nach dem nächsten Hafen, von dem aus also solche Dampfer abgehen, die sich unserem Ziele, Mexiko, möglichst nähern. Vielleicht nach Marseille. Dort spekulieren wir eben solch einen Dampfer aus. Dem folgen wir einfach.«
»Immer in der Luft?«, begann Breithaupt jetzt etwas zu staunen.
»Immer in der Luft«, bestätigte Lilly. »Wir begleiten ihn so wie eine Möwe. Nur dass wir nicht fortwährend solche Bogen machen, das wäre für uns viel zu viel Kraftverschwendung. Passiert uns einmal etwas, bricht etwas, nun, dann gleiten wir eben herab, lassen uns auf Deck nieder. Den Landungsplatz kann ich auch im Gleitflug bis zum Pünktchen bestimmen, da irritiert mich kein Sturm und gar nichts. Wenn der Defekt geflickt ist, gehen wir wieder in die Höhe. Nehmen natürlich gleich Proviant mit, falls uns dieser mangelt. Doch über dem Meere brauchen wir ja immer nur den einen Kasten mit Wasser gefüllt zu haben, den andern können wir mit Nahrungsmitteln vollpfropfen.«
»Ja, da verstehe ich nur eins nicht recht.«
»Was nicht?«
»Dann können wir uns doch gleich auf dem Dampfer niederlassen, den wir einmal ausspekuliert haben, brauchen ihn nicht immer in der Luft zu begleiten. Die Besatzung und vor allen Dingen auch die Passagiere werden es sich doch zur höchsten Ehre anrechnen, uns mitzunehmen, wenn wir von den Wolken herab auf Deck gefallen sind, da brauchen wir auch kein Geld.«
»Ich verstehe. Aber nein, geehrter Herr, so etwas mache ich nicht. Selbst wenn unter den Passagieren und Maschinisten kein einziger reeller Ingenieur wäre — an meiner Flugmaschine findet jeder doch sofort heraus, dass da etwas ganz Besonderes dran sein muss. Und ich habe schon von dem, was ich über das Panzerautomobil gehört habe, genug. Nein, ich mag mich nicht solchen Verfolgungen aussetzen.«
»Kennen Sie das Rezept zu dem Morrisit?«
»Keine Ahnung davon.«
»Oder zu dem Radiumaluminium?«
Ebenfalls nicht die geringste Ahnung davon.«
»Auf...«
Breithaupt brach etwas verlegen ab, wusste nicht gleich, wie er die Frage stellen sollte.
»Auf Ehre nicht, wollten Sie sagen?«, kam ihm das aufgeweckte Weib zu Hilfe, »Nein, auf Ehre nicht. Sie brauchen sich gar nicht zu genieren. Ich bin doch kein solches dummes Frauenzimmer, von denen zwölfe auf ein Dutzend gehen. Erstens bin ich in solchen technischen Sachen total ungebildet, da weiß eine Gans ebensoviel wie ich, ich habe gelernt, auf dem Pferde und auf dem Seile zu tanzen und Schwerter zu verschlucken und dergleichen schöne Künste mehr, dann habe ich mich auf die Flugmaschine geworfen, und was dazu gehört, von der kleinsten Motorschraube an bis zur vollständigen Ausbalancierung, das habe ich im kleinen Finger, ich kann mir solch einen Aeroplan von Grund auf vollständig selbst bauen, am Amboß und Schraubstock und an der Drehbank... aber hiermit hört es auf. Was in technischer Beziehung nicht durchaus mit einem Aeroplan zusammenhängt, darin bin ich völlig unerfahren. Nein, ich habe von der Herstellung des Morrisits und des Radiumaluminiums und des Radiumgases nicht die geringste Ahnung. Man hat mich auch gar nicht eingeweiht, es hätte wenig Zweck gehabt, ich würde es gar nicht verstanden haben.«
»Ja, dann kann man Ihnen doch gar nichts anhaben, Ihnen kein Geheimnis entreißen.«
»In Wirklichkeit nicht, nein. Aber meinen Sie, damit sei es abgetan? Denken Sie denn, einer, der es auf diese Erfindungen abgesehen hat, würde mir glauben, dass ich nichts davon weiß? Kennen Sie denn nicht die ganze Geschichte mit dem Panzerautomobil, was man da alles versucht hat, hinter das Geheimnis des Morrisits zu kommen? Georg Hartung wusste doch auch nichts davon, wie man das Morrisit herstellt, das musste doch auch den anderen bekannt sein, und trotzdem hat man auch ihn entführt, um durch ihn wieder Druck auf Miss Leonor Morris auszuüben.«
Lilly hatte Recht, vollständig Recht.
»Wir können aber trotzdem gezwungen sein, an Deck des Dampfers zu landen«, hatte Breithaupt noch immer einzuwenden.
»Das ist dann eben eine zwingende Notwendigkeit. Aber sonst... ich mag dadurch nicht in Berührung mit anderen Menschen kommen, und das am wenigsten, wenn ich im Besitze dieser Flugmaschine bin, die aber gar nicht mein Eigentum ist. Die ist Gemeingut unserer Republik. Und was ich nun sonst für Geheimnisse zu hüten habe! Denken Sie nur an die pneumatischen Gewehre und Pistolen.«
»Weiß man denn, dass so etwas existiert?«
»Man wusste doch, dass jenes Panzerautomobil solche wunderbare Erfindungen barg, man ist doch vor nichts zurückgescheut, nicht einmal vor Gift, um in den Besitz derselben zu kommen.«
»Ja, ist es denn bekannt, dass dies alles mit jenem Luftschiff wieder aufgelebt ist?«
Lilly zuckte die runden Schultern.
»Fünf Jahre nach dem Verschwinden des Panzerautomobils, jetzt vor zwei Jahren, verkündete Miss Leonor Morris als Missis Hartung, dass sie sich noch unter den Lebenden befände. Seitdem hörte man nichts wieder von der ganzen Gesellschaft. Mr. Hartung und seine Getreuen haben manche Reise gemacht, sich unter Menschen bewegt, aber immer ihr Inkognito zu wahren gewusst. So behauptet er wenigstens. Ich aber glaube, dass er einmal erkannt wurde, dass man wegen der Erfindungen noch immer hinter ihm her ist.«
»Woraus schließen Sie das?«,
»Es ist erst ein halbes Jahr her, dass ich zu dieser kleinen Gemeinschaft kam. Ich produzierte mich in New York oder auf Long Island, hatte die von mir benutzte Flugmaschine bedeutend verbessert, eine eigene Erfindung gemacht, die ich mir aber nicht patentieren ließ. Das mit dem Patent ist ja alles nur so eine halbe Sicherheit, oder eigentlich gar keine. Ich hielt meinen Aeroplan immer hinter Schloss und Riegel; wenn ich aufstieg und landete, durfte sich mir niemand auf zehn Meter nähern, dafür wusste ich zu sorgen, ich hatte ein paar bissige Hunde dressiert, das Publikum war gewarnt — und durch meine Leistungen, die alles bisher Dagewesene übertrafen, dank meiner Verbesserungen, verdiente ich weit mehr Geld als durch den Verkauf des Patentes. Ach, was für Summen sind mir da geboten worden! Und was man nicht alles versucht hat, um meine Flugmaschine einmal gründlich zu besichtigen, mir mein Geheimnis abzulauschen! Auch bei mir ist man deswegen vor keinem Schurkenstreiche zurückgeschreckt. Aber ich war auf der Hut, wusste mich zu schützen.
Da kam eines Tages ein Herr zu mir. So und so. Ich kann das lange Gespräch nicht wiedergeben. Kurz und gut, es war der Mr. Georg Hartung, machte mir den Vorschlag, mit in seine paradiesische Republik zu kommen.
Er verstand auszumalen. Und überhaupt... ja, das war etwas für mich. Also ich entließ meinen Manager. Einen Kontrakt hatte ich nicht mit ihm gemacht. Sie wissen doch, was ein Manager ist? Aber er hatte nicht mich, sondern ich ihn engagiert. Ich brauchte einen Geschäftsführer. Denn ich bin alles andere als ein Geschäftsweib. Hatte auch genug zu tun, um meine Maschine zu überwachen.
So kündigte ich ihn, entließ ihn einfach. Weshalb, was ich vorhatte, das brauchte ich ihm nicht zu sagen. Dabei verplapperte ich mich. Der Name Hartung entfuhr mir, sogar Georg Hartung. Und da fuhr er plötzlich so auf und sah mich so merkwürdig an. ›Doch nicht der Georg Hartung von dem Panzerautomobil?!‹ Ich tat erstaunt, wollte von solch einem Panzerautomobil und von Morrisit gar nichts wissen. Aber ich habe die niederträchtige Tugend, nicht lügen zu können. Werde immer ganz schamrot dabei. Und dass der Kerl, Monsieur Frappart, gleich von etwas anderem anfing, konnte mich nicht täuschen. Er war ein tüchtiger Geschäftsmann, hat mich wohl nie um einen Cent betrogen, aber... ein gerissener Fuchs war er doch, das sah man ihm gleich an, ich wenigstens. Der ließ sich nur nicht mit Kleinigkeiten ein. Wenn der einmal mauste, musste es gleich in die Vollen gehen.
Ich habe dann bei meiner Abreise auch gemerkt, was für Anstrengungen er gemacht hat, um mein Ziel zu erfahren, um mir zu folgen. Offenbar hatte er mir auch eine Falle gestellt, an der ich wohl nur durch Zufall schadlos vorübergegangen bin.
Also etwas ist doch wohl schon bekannt geworden. Ich habe es Mr. Hartung gleich gesagt, der aber machte sich nichts daraus. Das ist die Sache.«
»Sonst hat die Welt von dem Radiumaluminium und dem Radiumgas noch nichts erfahren?«, fragte Breithaupt.
»Noch gar nichts. Bisher ist noch kein Stückchen des Stahles aus unserem Lande herausgekommen.«
»Sie sagten doch, eine an Deck befestigte Flugmaschine sei über Bord gerutscht und am Boden zerschmettert.«
»Allerdings.«
»Sind die Trümmer zusammengelesen und wieder mitgenommen worden?«
»Ja. Aber da mag allerdings mancher Splitter zurückgeblieben sein. Doch das hat gar nichts zu sagen. Einmal ist das erst vor drei Tagen passiert, und dann auch noch in — in... ich darf die Gegend nicht nennen. Eine vollständig wüste Gegend, in die kein Mensch kommt. — Nun also, wohin wollen wir uns wenden, um ein Schiff zu bekommen, das uns in die möglichste Nähe von Mexiko bringt, oder vielmehr führt?«
Wieder wurde die Karte befragt.
Da war der nächste Hafen wohl Lissabon, 250 geografische Meilen von hier entfernt. Marseille war noch 100 Meilen weiter, Lissabon war auch sonst sehr günstig. Fast alle Passagierdampfer, die aus der Nordsee heraus nach Süd- und Mittelamerika gehen, laufen erst Lissabon an. Es ist die Poststation von ganz Mittel- und Südeuropa.
»Also nach Lissabon«, sagte Lilly, die Klinge ihres Taschennickfängers abwischend. »Die 250 Meilen macht meine ›Libelle‹ bequem in 24 Stunden, da kann uns unterwegs auch etwas passieren, was eine Reparatur notwendig macht.«
»Wie denken Sie sich nun das, wie wir den Dampfer ausfindig machen wollen?«
»Das... weiß ich noch nicht recht. Kennen Sie Lissabon?«
»Nein.«
»Ich auch nicht. In einem Hotel können wir natürlich nicht absteigen, uns auch nicht auf dem Marktplatze niederlassen. Wir müssen eine einsame Gegend aufsuchen, wo sich die ›Libelle‹ verstecken kann, dann schleicht sich einer von uns in die Stadt...«
»O, wenn Sie sich durchaus reservieren wollen, dann wüsste ich einen besseren Rat.«
»Welchen?«
»Dann gehen wir, wenn wir es nicht brauchen, gar nicht erst auf Land nieder, wir kreuzen vor dem Hafen von Lissabon in der Luft hin und her, weit draußen über dem Meere, den Kurs kann man sich doch ungefähr berechnen, den nach Süd- und Mittelamerika gehende Schiffe nehmen müssen, dann fragen wir einen großen Dampfer nach dem anderen aus der Luft, wohin er fährt, bis wir den richtigen haben...«
»Bravo, bravo«, rief Lilly, aufspringend. »Jawohl, so wird es gemacht! Nur nicht mit anderen Menschen in nähere Berührung kommen! Wohlauf, dann können wir die Reise gleich antreten!! Nur noch die schriftliche Mitteilung aufsetzen, die wir hier hinterlassen wollen.«
Zweiundzwanzig Stunden später und achtzehn Breitengrade höher. Noch vor Sonnenaufgang hatte der stattliche Dampfer Lissabon verlassen, der jetzt, als sich die Sonne über den Horizont erhob, schon die Küste außer Sicht hatte, einen südwestlichen Kurs steuernd.
Wer die Verhältnisse nicht kannte, hätte nicht geglaubt, dass zur Bedienung des großen Dampfers fast hundert Männer notwendig waren, und dass er in seinem Innern mehr als 500 Passagiere beherbergte.
Er machte einen wie ausgestorbenen Eindruck. Aber so ist es immer, ehe das Tagesleben richtig beginnt. Die Passagiere schlafen oder wagen sich noch nicht an Deck, der steuernde Matrose steht in einem Ruderhause, die zwei oder drei wachhabenden Offiziere stecken nur die Nasenspitze über die Schutzleinwand, welche die Kommandobrücke umgibt, und wenn die Matrosen nicht Arbeit an Deck haben, so ist eben alles wie ausgestorben.
Die beiden, mächtige Rauchwolken ausstoßenden Schornsteine wussten freilich etwas anderes zu erzählen.
Aus dem Kartenhaus trat der Kapitän, der diese Nacht noch nicht aus den Stiefeln gekommen war.
»Was liegt an?«, war die stereotype Frage.
»Südwest zu West dreiviertel West«, meldete der steuernde Matrose in singendem Tone.
»Zwei Strich Steuerbord.«
»Zwei Strich Steuerbord«, wurde wiederholt und die Lage des Kompasses danach geändert, unter Kontrolle der Wachoffiziere.
»Recht so.«
»Hallo, was für ein Dampfer ist das?!«
Der grauhaarige Kapitän mit dem Feuergesichte blickte seine Offiziere an, und die ihn.
»Was sagten Sie da?«
»Wir sagten nichts, Herr Kapitän.«
»Na, wer hat denn da...«
»Hallo, hallo, Schiff ahoi!!!«
Jetzt freilich hatte man etwas gemerkt. Aller Blicke richteten sich nach oben. Sogar der steuernde Matrose beging das Kapitalverbrechen, einmal den Kompass aus den Augen zu lassen.
Ja, da konnte man nur starren!
Da stand über dem Schiffe, direkt über der Kommandobrücke, in der Höhe der Mastspitzen, ein riesenhafter Vogel, ein großer Drachen, ein Aeroplan. Durch das Gerippe konnte man zwei Menschen erblicken, die auf Reitsitzen nebeneinander hockten.
»Nun wird's aber gut«, sagte der alte Kapitän.
»Was für ein Dampfer ist das?«, erklang es nochmals von oben herab, auf Englisch, und diesmal war es eine helle Frauenstimme.
Der alte Kapitän wurde wieder nichts weiter als Seemann, der dies alles, was er sah und hörte und antwortete, dann ins Logbuch einzutragen hatte.
»Der ›Pelikan‹ von Liverpool, Kapitän Rux!«, rief er hinauf, ohne in dem klaren, schönen Morgen seine Stimme besonders zu erheben.
»Danke. Wohin fahren Sie?«
»Nach Havanna.«
»Auf Kuba? Ah, das ist ja famos! Direkt?«
»Ganz direkt.«
»Das ist ja noch famoser. Wie lange brauchen Sie dazu?«
»Mit 16 Knoten 11 Tage.«
»Sie erlauben doch, dass wir Sie begleiten?«
»Was heißt begleiten?«, fragte der über alles Erstaunen erhabene Seebär. »Wer sind Sie denn?«
»Mein Name ist Miss Lilly Leley und...«
»Was?!«, riefen da beide Offiziere gleichzeitig. »Doch nicht die verschwundene Luftlady Lilly?!!«
»Ihr gottverfluchten Schweinepriester!!«, wurden da die beiden Offiziere erst von ihrem Kapitän angeschnauzt, und sie bekamen noch anderes zu hören.
Denn das Schiff war durch die Unachtsamkeit des Matrosen um einen Strich abgefallen. Aber der Kapitän hält sich nur an den Offizier, und bei so etwas hört die Gemütlichkeit und auch die Bildung auf.
»Sie sind die Luftlady Lilly, die früher im Zirkus Barnum in New York auftrat?«, nahm dann der Kapitän, als die Sache wieder in Ordnung war, das Gespräch von Neuem auf.
»Bin ich.«
»Sie sind ja ein ganz verrücktes Frauenzimmerchen«, begann jetzt der alte Seebär nach dem Himmel zu schmunzeln.
»Danke für das Kompliment«, wurde heiter herabgelacht.
»Na, Sie waren doch früher auch der Clown in den Pumphosen.«
»Auch das.«
»Und was machen Sie denn dort oben in der Luft? Was wollen Sie denn eigentlich?«
»Sie bis nach Havanna begleiten.«
»Sie scherzen.«
»Ich scherze nicht. Ich habe gewettet, mit meinem Aeroplan über den Atlantischen Ozean zu fliegen...«
»Ach, gehen Sie doch weg, so etwas gibt's ja gar nicht, so weit sind die Flugdinger noch nicht, und ich bin schon ganz baff, wie Sie sich so weit von der Küste entfernen können.«
»Sie werden es erleben. Herr Kapitän, gestatten Sie, dass ich mich einmal an Deck Ihres Schiffes niederlasse?«
»Ach so, Sie wollen, wenn Ihnen die Puste ausgeht, sich immer einmal an Deck eines Schiffes niederlassen?«
»So ist es«, wurde aus der Luft bestätigt, »und ich hoffe doch, dass Sie mir mit einigem Proviant aushelfen werden, mir mit einigen Pfund Hartbrot und abgelegten Schinkenknochen unter die Arme greifen.«
»Proviant, so viel Sie wollen, das Beste, was in der Vorratskammer ist, wenn Sie nicht vorziehen, die Mahlzeiten immer bei mir in der Kajüte einzunehmen. Aber ob ich Ihnen auch immer mit so viel Benzin aushelfen kann...«
»Benzin führe ich als Ballast bei mir, nur mit dem Proviant hapert es, Also darf ich jetzt an Deck kommen?«
»Gewiss, gewiss.«
»Das Achterdeck ist wohl der günstigste Landungsplatz.«
»Das müssen Sie besser bestimmen können als ich.«
»Sie haben Passagiere an Bord?«
»Fünfhundert Stück.«
»Würden Sie dafür sorgen, dass wir von diesen nicht belästigt werden?«
»Kein Fuß darf das Achterdeck betreten. Was für Maßregeln müssen für Ihre Landung getroffen werden?«
»Keine einzige. Ich bitte Sie, auch alle Matrosen fernzuhalten.«
»Aber Sie brauchen doch Hilfe!«
»Keine einzige Hand. Gerade, damit alles glatt vonstatten geht, dass nicht jemand ungeschickt zugreift und alles verdirbt, bitte ich, jeden Menschen fernzuhalten.«
»Wie Sie bestimmen. Doch gestatten Sie wohl, dass wenigstens ich mich Ihnen nähere, um sie einmal zu begrüßen?«
»Selbstverständlich. Ist dann alles so weit? Kann ich herabkommen?«
Der Kapitän brauchte nur entsprechende Befehle zu geben, dass niemand das hintere Deck betreten dürfe, und die ›Libelle‹ senkte sich in eleganten Bogen herab.
Es war alles besser gegangen, als die beiden zu hoffen gewagt hatten.
Innerhalb 20 Stunden hatten sie programmmäßig die Sahara, Marokko und die Straße von Gibraltar überflogen, ohne irgend etwas zu erleben, ohne einen Menschen oder ein Schiff um Hilfe bitten oder etwas fragen zu müssen.
Wegen der Richtung hatten sie sich nach dem Kompass nur immer direkt nördlich halten müssen, wozu der leichte Gegenwind auch noch sehr günstig gewesen war, obgleich diese Flugmaschine hier von jedem Winde so gut wie gänzlich unabhängig war. Nur der heftigste Sturm konnte den Willen des Lenkers etwas beeinträchtigen.
Ein Zufall war es allerdings gewesen, dass sie gerade die Straße von Gibraltar erreicht hatten. Aber eine Abweichung hätte auch nichts geschadet. An der Küste gab es hier ja überall Leuchtfeuer, im Mittelmeer und noch vor der Wasserstraße schwammen genug Schiffe, welche sie hätten befragen können.
Es war gar nicht nötig gewesen. Als sie in der vierten Nachtstunde die Meeresküste erreichten, lag der Weg, den sie zu nehmen hatten, wie eine hellerleuchtete Straße vor ihnen, und von hier oben aus konnte man sich da auch ganz anders orientieren als es einem Schiffe möglich war. Überhaupt ein wunderbarer Anblick, diese von Leuchtfeuern eingesäumte Wasserstraße, belebt von weißen, roten und grünen Schiffslichtern!
Dann brauchten sie nur der ebenso erleuchteten Küste von Spanien und Portugal zu folgen, sie hatten Lissabon gar nicht mehr verfehlen können, bei Morgengrauen hatten sie es vor sich liegen sehen, und der erste große Dampfer, den sie befragt, hatte auch gerade ein für sie sehr günstiges Ziel, der Kapitän war ein sehr freundlicher Mann, alles und jedes klappte.
Während des gestrigen Tages hatte Dr. Breihaupt den Steuerbetrieb handhaben und während der Nacht im Reitsattel, die Füße in einer Art von Steigbügeln und mit den Armen in Schlingen hängend, schlafen gelernt. Als er bei Tagesanbruch von seiner Begleiterin geweckt wurde, war er ja sehr steif, sogar wie zerschlagen gewesen, aber das würde die Gewohnheit bald beseitigen.
Der Kapitän war also der Meinung, die Flugmaschine wolle sich ab und zu auf dem Dampfer niederlassen. Gut, mochte er es glauben. Da zeigte es sich überhaupt wieder einmal, dass es besser ist, sich nicht viel über die Zukunft zu beraten, sondern es immer kommen zu lassen, wie es kommt, und dann jede Gelegenheit so gut wie möglich auszunützen. Die beiden hatten sich nämlich beraten, was für eine Erklärung sie dem Kapitän des betreffenden Schiffes geben wollten. Nun ja, eine Wette. Sonst aber nichts weiter. Die Hauptsache war, dass Lilly auf den Gedankengang des Kapitäns gleich eingegangen war.
»Die müssen also glauben, dass wir in diesem Behälter Benzin haben, das für die ganzen elf Tage aushält«, sagte sie jetzt zu ihrem Gefährten, als sie den Aeroplan sich hinabsenken ließ.
Auf dieser Fahrt hatten sie die Hälfte des einen Wassertanks verbraucht, inklusive des Trinkwassers gegen 25 Liter. Das Beste war, wenn dieser Tank gleich ganz geleert wurde, was man aber lieber erst an Deck geschehen ließ. Dieser Tank wurde dann mit Proviant gefüllt. Den anderen Tank konnte man während des Fluges mit Meerwasser vollpumpen, ein kleiner Behälter voll Trinkwasser genügte schon, der Mensch gebraucht ja gar nicht sehr viel, zwei Liter täglich, wenn man von Wasch- und Badewasser absieht, oder noch lieber, um dem beobachtenden Publikum gar keine Überraschungen zu bieten, füllte man diesen Haupttank eben gleichfalls ab und zu an Deck mit Frischwasser.
So wurde jetzt schnell noch verabredet, dann teilte Lilly ihrem Begleiter auch jetzt erst mit, dass sie dort vorn einige Schrauben klappern höre, und zu deren Anziehung hätte man allerdings unbedingt niedergehen müssen, während des Fluges konnte man dorthin nicht gelangen, obgleich Breithaupt noch erleben sollte, wie diese Aviatikerin auch während des schnellsten Fluges auf ihrer ›Libelle‹ herumklettern konnte.
Die Landung erfolgte auf dem Hinterdeck. So glatt, es ging alles so einfach vor sich, dass ein Unkundiger, der eine Flugmaschine noch nie hatte Manövrieren sehen, ein ganz falsches Urteil über die Leistungsfähigkeit dieses modernsten alle Vehikel bekommen hätte. Der Riesendrachen ließ sich, von hinten kommend, auf dem freien Deck einfach nieder, die sechs Räder waren bereits hochgezogen, wozu ein Hebeldruck genügte, und da stand er eben fest.
Allerdings war jetzt das schönste Wetter, die See fast spiegelglatt, der Dampfer stampfte und schlingerte nicht im mindesten.
»Wenn der Dampfer nun aber heftig stampft und schlingert?«, fragte Breithaupt, als dieses Manöver geschehen war.
»O, das hat für meine ›Libelle‹ nicht viel zu bedeuten«, entgegnete Lilly ganz ruhig im letzten Augenblick des Manövers, denn bei dieser beispiellosen Betriebssicherheit fehlte eben jeder Grund zu einer Aufregung. »Dann gehe ich dicht an der Bordwand nieder, ich kann ja, wie schon gesagt, den Landungsort bis zum Pünktchen bestimmen, und dann schlinge ich hier einfach dieses Seil um den nächsten Poller, den ich mir schon ausgewählt habe, und die Sache ist all right. Etwa nötige Handgriffe, die auch Sie zu verrichten haben, lernen Sie nach und nach. Das bringt alles die Übung. Meine ›Libelle‹ ist doch kein so zartbeflügeltes Insekt, sondern ein stahlgepanzertes, das verträgt schon einen tüchtigen Puff.«
Eilig kam der Kapitän heran. Es war schneller gegangen, als er es sich hatte träumen lassen.
»Na, wenn die Geschichte so einfach ist, dann gebe ich noch in meinen alten Tagen die ganze christliche Seefahrt auf und lasse mich auf die Luft vereidigen«, staunte er in seiner Weise. »Also Sie sind die Luftlady Lilly? Natürlich, was für ein Frauenzimmer soll denn sonst so etwas riskieren, und ich habe Sie in New York auch schon als Clown auftreten sehen. Hahahaha!!!«
Und der Kapitän schüttelte sich noch nachträglich vor Lachen, konnte sich gar nicht wieder beruhigen.
Leichtfüßig war Lilly von ihrem Reitersitz herab auf Deck gesprungen, während Breithaupt erst jetzt richtig merkte, wie furchtbar steif seine Glieder geworden waren.
»Mein Assistent, Dr. Breithaupt«, stellte Lilly flüchtig vor, sich sofort an die Untersuchung der Stelle machend, wo es zuletzt bei der Fahrt geklappert hatte, dabei aber auch das andere nicht vergessend und durch ihre Fragen so den Kapitän nicht viel zu eigenen Gedanken kommen lassend.
»Also Sie würden die Güte haben, uns mit einigem Proviant auszuhelfen?«
»Soviel Sie wollen. Ja, was für ein komisches Ding ist denn das eigentlich nur, wo haben Sie denn den Benz...«
»Herr Kapitän, ich mache Sie darauf aufmerksam dass ich für jede Minute, die ich auf festem Boden zubringe, also an Deck eines Schiffes, zehn Dollar zu zahlen habe, die gehen von der Prämie ab, die ich durch meine Wette zu gewinnen hoffe. Verstehen Sie?«
»Ja ja, ich verstehe schon. Ja dann freilich heißt's fix sein. Na, mit was kann ich Ihnen denn nun dienen?«
»Schiffszwieback haben Sie doch sicher genug abzugeben.«
»Zentnerweise.«
»Ein Viertelzentner genügt.«
»Sonst nichts als Hartbrot?«
»Sie haben doch auch geräucherte Fleischsachen.«
»Würste und Schinken und Konserven und alles.«
»Na, dann lassen Sie doch einmal anfahren.«
»Von wem? Soll ich selbst...«
»Von den Matrosen.«
»Es soll doch niemand herankommen.«
»So penibel ist das nicht gemeint. Beordern Sie nur ein paar zuverlässige Leute.«
Der Kapitän pfiff dem Bootsmann, bald brachten einige Matrosen Säcke und Kisten und große Blechdosen angeschleppt.
Unterdessen hatte Lilly schon den halbgeleerten Tank völlig auslaufen lassen, Breithaupt hatte ihn schnell möglichst trocken wischen müssen.
»Packen Sie ein. Die Auswahl überlasse ich Ihnen. Aber es muss alles gewogen werden, hier ist die Federwaage. Das Gewicht notieren Sie sich. Ob es ein Zentner oder zwei Zentner werden, darauf kommt es nicht an. Nur das eingenommene Gewicht muss ich wissen, wegen der Stellung des Höhensteuers. Fernerhin muss auch alles gewogen werden, was wir verzehren.«
Lilly schraubte eifrigst, Breithaupt wog und packte ein.
»Hier ist eine Kiste mit Eiern. Auch die?«
»Eier, jawohl, Eier. Die lutschen wir aus und werfen die Schalen dem Herrn Kapitän auf den Kopf.«
»Auch Butter?«
»Butter, jawohl, Butter. Denken Sie denn, ich will den Zwieback immer trocken essen? Jawohl, gleich drei Kilogramm Butter. Was wir nicht aufs Brot schmieren, das schmieren wir... apropos, Kapitän, kann ich nicht etwas gutes Schmieröl bekommen? Etwa ein Kilogramm?«
»Wird besorgt, Miss.«
»Sie kreditieren mir doch?«
»Ach, Miss, deswegen... wie hoch ist denn die Wette?«
»Es geht um 50 000 Pfund Sterling, die ich aber nur gewinnen, nicht verlieren kann.«
»Gut, dass ich es weiß«, lachte der Kapitän, »danach werde ich dann die Preise pfeffern, wenn ich die Rechnung präsentiere. Seepreise — Sie wissen doch.«
So ging es unter humoristischen Gesprächen weiter.
Die Matrosen, welche dazu angestellt waren, Neugierige vom Achterdeck fernzuhalten, bekamen zu tun.
Denn einige Passagiere waren doch schon auf gewesen, schnell erfuhren sie, dass an Bord eine Flugmaschine gelandet war, welche den ›Pelikan‹ in der Luft nach Amerika hinüber begleiten wollte, die noch schlafenden Passagiere wurden deswegen geweckt, alles wollte dieses Wunder von Aeroplan sehen.
Aber die dazu angestellten Matrosen hatten es sehr leicht. Wer von den Passagieren nach hinten wollte, musste unter der Kommandobrücke hindurch, und diese beiden schmalen Gänge hüben und drüben waren leicht abzusperren. Und für die Mannschaft genügte der Befehl, fernzubleiben. Auch keiner der Offiziere nahte.
Da aber kam doch einer, der erste Maschinist.
Auf jedem Dampfer herrscht zwischen dem Kapitän und dem ersten Maschinisten, wenn sie nicht gerade persönliche Freunde sind, immer ein eigentümliches Verhältnis, von dem zwischen Hund und Katze wenig verschieden. Mindestens gehen sich beide immer ängstlich aus dem Wege, und ist ein Zusammentreffen, eine Besprechung unvermeidlich, so verkehren sie als gebildete oder kluge Menschen nun gerade mit ausgesuchtester Höflichkeit. Freilich bedarf es nur eines kleinen Funkens, dann explodiert die Bombe.
Die Sache ist nämlich die, dass der Kapitän der Vorgesetzte des ersten Maschinisten ist, ihm aber gar nichts zu befehlen hat, während der erste Ingenieur den Kapitän auf alle mögliche Weise schikanieren und kujonieren kann. Er kann die Maschine doch jederzeit stillstehen lassen, ist wegen eines Grundes nicht zu kontrollieren, kann dadurch den Kapitän um seine Fahrtprämie und um den ganzen Seemannsruf und um alles bringen.
Der schmierig gekleidete Mann mit dem wohl schon grauen oder schwarzgefärbten Knebelbarte passte gar nicht als erster Ingenieur auf dieses englische Schiff. Es war ein Portugiese, hatte aber schon viel auf englischen Schiffen gefahren, war erst in Lissabon an Bord gekommen, weil der erste englische Maschinist erkrankt gewesen war, ein anderer aus der erwählten Seefahrtsnation war nicht aufzutreiben gewesen, so hatte man eben den ersten besten nehmen müssen.
Eiligst kam er heran. Die Matrosen hatten ihn zurückhalten wollen, aber einige barsche Worte hatten genügt, um jeden Widerstand zu beseitigen. Der erste Maschinist ist eben der erste Maschinist, das weiß jeder Matrose.
»Es ist doch erlaubt, Herr Kapitän, hier näher zu treten?«
»O, gewiss, Mister Modena«, entgegnete der Kapitän, dabei sein sonst so gutmütiges Gesicht in die Falten einer Bulldoggenphysiognomie legend.
»Die Leute wollten mich zurückhalten, niemand dürfe das Achterdeck betreten.«
»O, das gilt doch nicht für Sie, Mister Modena. Oder ja — da müssen Sie allerdings erst die Erlaubnis dieser jungen Dame einholen.«
Das tat der Portugiese aber nicht erst.
»Was für ein Aeroplan ist denn das?!«, rief er im Tone des höchsten Staunens.
Er schien in Flugmaschinen recht gute Erfahrung zu haben, alle seine Fragen bewiesen das, er erhielt aber weder von Breithaupt noch von Miss Lilly eine Auskunft.
»Ja, wie kann denn dieser kleine Motor den großen Eindecker treiben? Wie viel Pferdekräfte hat er denn? Und was für merkwürdiges Metall ist denn das eigentlich?«
Und so fort. Aber er fragte eben vergebens. Breithaupt vertiefte sich ganz in seine Arbeit und brummte etwas Unverständliches, Lilly würdigte ihn überhaupt keines Blickes.
Nur vom Kapitän erfuhr er, dass dies die berühmte Luftlady Lilly sei, die mit ihrem Flugdrachen den Dampfer bis nach Amerika begleiten wolle, was die staunende Neugier des Ingenieurs natürlich erst recht erwecken musste.
Jetzt nahm er den verstellbaren Schraubenschlüssel zur Hand, den Lilly soeben einmal beiseite gelegt hatte.
»Himmel, dieser Deutsche(*), was für ein wunderbar leichtes Gestell ist denn das?!!«
(*) Bekanntlich misst der Deutsche die Temperatur nach Réaumur, einem Franzosen, der Franzose nach dem Engländer Celsius; der Engländer nach dem Deutschen Fahrenheit. Ein ganz merkwürdiges Pendant hierzu ist, dass der deutsche Handwerker den verstellbaren Schraubenschlüssel Franzosen nennt, der französische nennt ihn Engländer, der englische bezeichnet das gleiche Instrument als Deutschen!
Lilly nahm nicht nur, sondern riss ihm den Schraubenschlüssel ganz energisch aus der Hand.
»Die Finger von allem weg, was uns gehört!«, gebot sie in demselben energischen Tone. »Herr Kapitän, ich ließ mich hier nur nieder, weil ich glaubte, dass Sie jede zudringliche Neugier von mir fernhalten würden.«
»In der Tat, Mr. Modena, ich muss Sie bitten, der Flugmaschine nicht so nahe zu treten«, raffte sich der Kapitän jetzt gegen seinen Rivalen auf.
Es war nicht mehr nötig gewesen, schon bei Lillys Worten war der Portugiese von allein zurückgetreten, freilich mit einem ganz bösen Blicke. Auch Fragen stellte er nicht weiter.
Breithaupt hatte den Kasten mit Proviant gefüllt, jedes Stück wiegend und das Gewicht notierend. Lilly zog die letzte Schraube an.
Da sprang diese Schraubenmutter entzwei. Obgleich das Material noch härter als Stahl sein sollte. Schließlich aber kann eben auch Diamant springen.
Die beiden Hälften waren heruntergefallen, man hatte nicht gesehen, wohin.
Doch der portugiesische Ingenieur hatte wohl schärfer beobachtet, bückte sich schnell, überreichte die eine Hälfte der Dame.
»Danke. Und das andere Stück?«, fragte diese, die Hand noch hinhaltend.
»Es ist nur das eine Stück.«
»Sie haben auch das andere aufgehoben.«
»Ich?«
»Ja, gewiss.«
»Sie irren. Wo ist denn die andere Hälfte hingerollt?«
Er wollte an Deck suchen, kam aber nicht weit, die faszinierenden Augen des Weibes hielten ihn in Schach.
»Na, hören Sie mal!«, sagte sie nur, aber es genügte.
»Wie meinen Sie?«, fragte er ohne zu erröten, doch begannen seine Augen unruhig zu flackern.
»Sie haben die andere Hälfte doch in Ihrem rechten Jackenärmel verschwinden lassen.«
Auch der sonst auf den Kopf gefallenste Matrose wusste sofort, was hier vorlag. Es war eine furchtbar peinliche Situation. Und die beiden standen sich gegenüber, als wollten sie sich im nächsten Augenblick in die Haare fahren.
Freilich wussten sich beide zu beherrschen, und die staunende Entrüstung des Ingenieurs war ja auch ganz angebracht.
»Was? Ich — hätte das andere Stück im Ärmel verschwinden lassen? Das ist ja das Unerhörteste, was mir je passiert ist!! Miss, für wen halten Sie mich eigentlich?! Ich bin hier der erste Ingenieur! Oder sehe ich denn etwa aus wie so ein Taschenspieler?!«
»Ja, ganz genau so sehen Sie aus, wie so ein Jahrmarktstaschenspieler von der verkommensten Sorte«, erklang es ganz ruhig zurück.
Alles erstarrte noch mehr, die Katastrophe erwartend, nur der Portugiese nicht, und dessen Benehmen war ja auch ganz richtig.
»Un — er — hört!!!«, keuchte er dementsprechend. »Wenn Sie kein Weib wären, ich würde... Auf mein Ehrenwort, ich habe die andere Hälfte der Schraubenmutter nicht aufgehoben, visitieren Sie mich doch...«
Er schüttelte den rechten Jackenärmel, tat, als wolle er seine Jacke ausziehen, kam freilich nicht dazu.
»Ihr Ehrenwort geben Sie daraufhin? Gut, nun weiß ich, mit wem ich's zu tun habe. Das war mein letztes Wort zu Ihnen.«
Und hiermit wandte ihm Lilly den Rücken, nahm aus dem Werkzeugkasten eine andere Schraubenmutter, beschäftigte sich wieder mit ihrer Arbeit.
Der Portugiese hielt also mitten in der Bewegung, seine Jacke ausziehen zu wollen, inne, stierte noch ein paar Sekunden nach der Dame, dann wandte er sich achselzuckend um, ging kopfschüttelnd von dannen, verschwand.
Die Erstarrung bei den Umstehenden begann sich zu lösen, zuerst bei dem Kapitän.
»Fatal, das ist mir höchst fatal!«, atmete er auf. »Sie irren sich, Miss!«
»Nein, ich irre mich nicht«, ging Lilly dem Kapitän gegenüber doch noch einmal auf die Sache ein.
»Ich habe selbst gerade hingesehen, wie er das Stück aufhob, es war nur eine Hälfte.«
»Nein, er hob beide Hälften auf, welche zufällig dicht nebeneinander kollerten, denn auch ich habe gerade hingesehen, und ich habe ein gar scharfes Auge. Ja, ich habe sogar ganz deutlich gesehen, wie er im Augenblick, da er die Hand hob, um mir das eine Stück zu geben, das andere im Jackenärmel verschwinden ließ. Ich bin nämlich selbst viele Jahre Taschenspielerin gewesen, von Kindheit an, deshalb weiß ich das am besten zu beurteilen.«
»Ja, wozu in aller Welt soll er nur dieses Manöver gemacht haben!?«
»Weil er gleich erkannte, dass das ein ganz fremdes Metall ist, er wunderte sich schon über die Leichtigkeit des Schraubenschlüssels, und weil ich ihm den gleich wieder aus der Hand nahm, ward nun erst recht in ihm der Wunsch rege, ein Stückchen von diesem Metall zu besitzen, um es näher zu untersuchen.«
»Miss, Miss, wenn Sie sich nur nicht irren!!«, konnte der alte, biedere Kapitän bloß wiederholen.
»Irrtum meinerseits ganz ausgeschlossen.«
»Er hat sein Ehrenwort gegeben, das Stück nicht aufgehoben zu haben.«
»Ja eben, desto schlimmer.«
»Als er sich mir vorstellte, machte er ja keinen sehr sympathischen Eindruck auf mich, aber gleich in der ersten Stunde gab er mir zufällig einen großartigen Beweis seiner tadellosen Ehrenhaftigkeit.«
»Tat er? Ja, ja, das sind die allergefährlichsten Schufte, die sich so als Ehrenmänner aufzuspielen wissen, Proben davon geben, immer so ganz zufällig. Nun haben Sie mir den Charakter dieses Menschen erst recht offenbart.«
Der Kapitän war viel zu bieder, als dass er diese Logik hätte verstehen können.
»Miss, Sie irren sich!!«, vermochte er nur zu wiederholen. »Leute, sucht das vermaledeite Teufelsstückchen Eisen, es muss doch noch irgendwo hierherum liegen.«
»Ja, suchen Sie es im Jackenärmel dieses Herrn oder in seinen Taschen oder in seiner Kabine. Ich fürchte nur, Sie werden es nicht finden. Denn das ist ja selbst ein ganz routinierter Taschenspieler, der brachte diesen Trick fast noch viel besser als ich, und das will viel sagen. In Erkenntnis dessen, verzichtete ich auch gleich auf eine Leibesvisitation, dieser Kerl ist doch mit allen Hunden gehetzt, man sieht ihm die Fuchsnatur doch auch gleich in den Augen an. — Doch nun genug, ich überlasse ihm hiermit die halbe Mutter, mag er sich an ihr den Kopf zerbrechen. Nur das, Herr Kapitän, wollen Sie ihm sagen: Wenn dieser Schuft mir noch einmal den Weg vertritt, sich mir auf eine Elle nähert, so weit mein Arm reicht, dann ist eine fürchterliche Maulschelle noch das Harmloseste, was er von mir bekommt. Bitte teilen Sie ihm das wörtlich mit. Und nun besten Dank einstweilen. Ich begebe mich in mein Element zurück, in eine Region, in der ich mich schon wie ein Fisch im Wasser zu Hause fühle, besonders weil ich da nicht mit jedem x-beliebigen Menschen in Berührung komme. Aufgesessen, Doktor! Platz da, Leute!«
Sie hatte sich in den Reitsattel geschwungen, eiligst folgte Breihaupt nach, durch einen Hebeldruck hob sich die ganze Maschine, dass sie auf den sechs Rädern ruhte, da setzten sich auch diese schon in Bewegung, ein leises Zischen, der Riesendrachen fuhr gegen die andere Bordwand, setzte mit einem wunderbaren Sprunge darüber hinweg, senkte sich wie im Sturz, hob sich aber gleich wieder, schraubte sich in graziösen Windungen empor.
Kreischend flüchteten die entsetzten Möwen vor dem riesenhaften, von Menschengeist und Menschenhänden erbauten Kollegen davon; die sonst so treuen Begleiter jedes Schiffes stellten sich auch nie wieder ein, so lange der Drachen hinter diesem schwebte.
Der Aufenthalt an Deck hatte noch keine Viertelstunde gewährt.
»Miss, Sie haben sich wirklich nicht geirrt?«, fing jetzt, da alles wieder in Ordnung war, auch noch Breithaupt an.
»Irrtum ganz ausgeschlossen. Ich habe es deutlich gesehen, und damit basta.«
»Aber warum soll der nur...«
»Jawohl, und nun fragen Sie auch noch so. Einfach weil's ein Ingenieur ist. Das sagt doch schon genug. Sie natürlich, der Sie doch auch ein Ingenieur sind, würden nicht gleich so ein Stückchen mausen. Sie haben auch nicht so ein Fuchsgesicht mit grünschillernden Augen. Wenn ich diesen... da da da da!! Himmel, nun muss auch der Kerl gerade noch an Bord dieses Schiffes sein.«
Das vor ihnen befindliche Instrument, ein besonderes Manometer, gab eine Höhe von etwa 200 Metern an, als Lilly dies gerufen hatte.
Unter ihnen das Vorderdeck wimmelte von kleinen Menschlein, alle Gesichter nach oben gerichtet, Hüte und Taschentücher schwingend, ein wimmelndes Durcheinander.
»Was gab es denn? Wen meinen Sie?«
»Monsieur Frappart!! Mein früherer Manager! Muss der auch hier an Bord sein! Na, nun wird's ja gut! Und die Sache ist um so schlimmer, weil er sein falsches Judasgesicht, von dem er sich den Bart abgenommen, vor mir zu verbergen sucht.«
Bei dieser Erklärung musste Breithaupt zunächst auf eine andere Frage kommen, wie es wohl bei jedem Menschen der Fall gewesen wäre, der sich hier in dieser Lage befand. Es handelte sich eben um eine Höhe von 200 Metern, und dort unten wimmelte es von Menschen, Hüten, Tüchern, Schirmen und anderen Sachen, und das ging immer rastlos hin und her.
»Sie wollen ihren früheren Manager dort unten erkannt haben?«
»Ganz sicher. Dass er sich den Vollbart hat abnehmen lassen, hat bei mir nichts zu bedeuten. Ich brauche jedes Gesicht nur einmal zu sehen, dann ist es meinem Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt.«
»Er befindet sich dort mitten drin in der Menge?«
»Mitten drin. Da, da — jetzt erliegt er dem bösen Gewissen, er taucht unter, will verschwinden.«
»Sie können aber doch nicht aus dieser Entfernung so genau einen Menschen unterscheiden!«
»O, was das anbetrifft, das lassen Sie meine Sorge sein. Ich bin doch nicht umsonst die Luftlady Lilly. Was ich damit sagen will? Ich habe in den letzten zwei Jahren fast mehr Zeit hoch oben in der Luft zugebracht als auf Gottes fester Erde. Es ist eine Tatsache — ein sehr gutes Auge habe ich allerdings schon immer besessen, aber durch die ewige Fliegerei habe ich wirklich einen Falkenblick bekommen, der aus tausend Meter Höhe jedes über den gleichfarbigen Erdboden huschende Mäuschen erblickt. Na, so schlimm ist es ja bei mir grade nicht. Und dennoch, ich habe früher selbst darüber gestaunt, wie sich meine Sehschärfe entwickelte, wollte es selbst manchmal nicht glauben, dass ich da wirklich etwas erblickt hätte, bis ich mich immer überzeugte, dass ich richtig gesehen. Ja, wenn dort unten über Deck eine Maus huscht, das kann ich sehen. Ich werde Ihnen schon noch Proben geben. Bisher war nur noch keine Gelegenheit vorhanden.«
Gelegenheit wäre wohl schon gewesen. Während des vorigen Tagesfluges über Land, über die Wüste und andere Gegenden hatte sich doch manches unter ihnen bewegt. Eine Probe ihrer vorgeblich kolossalen Sehschärfe hatte Lilly aber noch nicht gegeben.
»Da, da«, fuhr sie fort, nach unten spähend, »er hat schleichend den Kajütengang erreicht — sapristi, und da tritt gerade der portugiesische Fuchs heraus — natürlich, der Judas, Monsieur Frappart, redet ihn an — die beiden verschwinden zusammen... na, nun wird's gut, jetzt weiß ich genug!!«
»Sie meinen, die beiden wollen gegen Sie etwas unternehmen?«
»Und das ganz sicher!«
»Woraus schließen Sie das?«
»Na, bedenken Sie doch, was ich Ihnen von meinem Manager erzählte, wie wir uns trennten, wie er mich wegen des Georg Hartung aushorchen wollte und mir dann nachspionierte — und wie jetzt der Ingenieur das Stück Aluminiumstahl entwendete, und wie nun die beiden zusammenkommen. Natürlich hecken die beiden jetzt gemeinschaftlich einen Plan gegen mich aus. Vor allen Dingen steckt doch jedem, der Interesse dafür hat, noch immer das Morrisit in der Nase.«
Breithaupt konnte dem nicht widersprechen, hatte vorhin auch nur die Frage, woraus sie so etwas schließe, gestellt, weil er glaube, sie wisse schon etwas mehr davon, habe noch etwas anderes beobachtet.
»Ich will Ihnen etwas sagen«, nahm Lilly wieder das Wort, »etwas sehr, sehr Ernstes. Ich hoffe, dass Sie nicht erschrecken.«
»Erschrecken?«
»Ja, es ist auch etwas Schreckhaftes dabei. Diesen beiden Schuften da unten traue ich alles zu, und wer weiß, was für teuflische Pläne die jetzt schon ausspinnen, um unser und unserer Geheimnisse habhaft zu werden. Diese beiden schrecken doch vor gar nichts zurück. Den einen, den Monsieur Frappart, kenne ich ja ganz genau, und wenn er auch der tüchtigste Geschäftsführer war, mich nie um einen Cent betrogen hat — ich habe seinen Charakter zur Genüge kennen gelernt. Und den anderen, diesen Mister Modena, wie er genannt wurde, brauchte ich doch bloß anzusehen, um zu wissen, was von dem zu erwarten ist.
Wenn ich irgendwie die Möglichkeit erkennen würde, in drei Tagen und Nächten mit meiner ›Libelle‹ über den Atlantik zu fliegen, würde ich den Flug unter allen Umständen aus eigener Kraft ausführen. Nur um aus dem Gesichtskreis der beiden dort unten zu kommen. Aber ich muss immer mehr gestehen, damals ganz tüchtig renommiert zu haben, als ich für die Betriebssicherheit meines Aeroplans jede Garantie übernehmen wollte. Freilich habe ich da nicht an solche Dauerflüge gedacht. Nein, so weit ist meine Maschine noch nicht, trotz des Radiumstahles und Morrisits und alles anderen. Und nun erfahren Sie gleich die Wahrheit: Wir sind nur durch einen Zufall von der Katastrophe verschont geblieben, auf der Erde zu zerschmettern oder jetzt im Meere zu ersaufen. Nur durch einen Zufall habe ich rechtzeitig noch nachgesehen und überhaupt nachsehen können, was dort vorn so klapperte. Dass da immer etwas klapperte, hörte ich schon in der Nacht. Gegen Mitternacht fing es an, als wir über Marokko flogen. Aber dass es etwas Derartiges wäre, das ahnte ich nicht. Ich dachte nur an ein paar gelockerte Schrauben. Selbst deren Verlust hätte ich gar nicht so gefürchtet. Die ganze Bauart des Aeroplans ist danach eingerichtet, dass man die Hälfte aller Schrauben und Bolzen und Nieten verlieren kann, ohne dass deswegen gleich das ganze Gerippe aus den Fugen geht. Hier aber lag etwas ganz anderes vor. Was, kann ich Ihnen nicht erklären. Etwas, woran ich nie im Leben gedacht hätte, wenn's mir jetzt nicht passiert wäre. Kurz und gut, es war gerade die höchste Zeit, dass ich niederging, in den nächsten fünf Minuten wäre bedingungslos die ganze Geschichte aus dem Leime gegangen, da hätte es keinen Gleitflug mehr gegeben, wir wären rettungslos jäh hinabgestürzt. Und das hätte uns auch schon über der Erde passieren können. In fünf Minuten aber ganz, ganz bestimmt.«
Das war allerdings eine böse Erklärung gewesen!
»Aber das kann sich nun, nachdem Sie die Schrauben angezogen haben, doch nicht wiederholen?«
»Doch, leider. Ich weiß nicht, welche Schrauben noch anzuziehen sind, und ein allgemeines Nachziehen wäre ganz zwecklos. Ich kann Ihnen nicht erklären, worum es sich handelt. Die Sache ist eben die, dass ich meine ›Libelle‹ doch noch nicht so genau kenne. Wenigstens nicht in Bezug auf solche Dauerflüge. Das war doch erst mit Radiumstahl und dem Morrisit möglich gemacht. Ich werde Erfahrungen sammeln, ich werde meine ›Libelle‹ noch so weit bringen, dass sie drei Tage und Nächte fliegen kann, ohne einer Reparatur oder sonst etwas zu bedürfen — aber jetzt bin ich noch nicht so weit.«
»Also wir müssen diesen Dampfer begleiten?«
»Das ist es. Ein Flug über den Atlantik auf eigene Faust wäre nach dieser Erfahrung heller Wahnsinn.«
»Na, das war doch von vornherein beschlossen, da ändert sich ja gar nichts an der Disposition.«
»Ja, aber dass dieser Ingenieur dazwischenkommt, der hier auch noch mit meinem Manager zusammentrifft, das hat nicht im Programm gestanden.«
»Ja, was hat das aber weiter zu bedeuten?«
»Genug. Wie gesagt, ich bin gezwungen, ab und zu niederzugehen und meine Maschine zu untersuchen, auch wenn noch nichts Auffälliges an ihr zu bemerken ist.«
»Und da fürchten Sie die beiden?«
»Ja, ich gestehe es offen. Wenn ich auch sonst so etwas wie Furcht nicht kenne.«
»Bah, was wollen denn die beiden gegen uns unternehmen?«
»Hören Sie, den Monsieur Frappart kenne ich doch. Als ich einmal eine Konkurrentin bekam — es dauerte nicht lange, sie brach sich beim dritten Aufstieg das Genick — die mir aber zuerst wirklich schwere Konkurrenz zu machen drohte, ich kam gleich ins Hintertreffen — da schlug mir dieser Monsieur Frappart vor, ihr eine Torte zu schicken, mit Arsenik und Zyankali gezuckert. Er lachte zwar, als ich ihn groß ansah, wollte seinen Vorschlag ins Lächerliche ziehen, aber... ich hatte genug gehört. Sonst hätte er doch nicht auch mit seinem Vorschlage so von hintenherum zu kommen brauchen. Dem ist alles zuzutrauen, alles!«
»Ja, wie soll der uns aber Gift beibringen können, da wir doch jetzt für die ganze Reise verproviantiert sind?«
»Was weiß ich? Und muss es denn gerade Gift sein? Oder wenn nur unser Trinkwassertank ein Leck bekommt, wir müssen frisches Wasser an Bord nehmen, was überhaupt der Fall sein wird, wenn wir nicht fernerhin Meerwasser konsumieren?«
»Wir müssen möglichst auf unserer Hut sein.«
»Ja, das müssen wir. Vielleicht ist es möglich, einen anderen Dampfer zu bekommen, der ebenfalls nach Amerika fährt, ungefähr nach unserem Ziele. Diese Möglichkeit wird aber immer geringer, je weiter wir kommen. Denn diese steuern doch immer einen direkten Kurs, von Lissabon aus gehen viele Linien ab, erst ganz zusammen, die sich aber doch immer weiter voneinander entfernen. So könnte nur noch ein Dampfer in Betracht kommen, der diesen hier überholt. Aber der ›Pelikan‹ macht 16 Knoten, das hat schon etwas zu bedeuten. Nein, ich habe einen besseren Plan. Wissen Sie, woran ich denke?«
»Wenn wir ab und zu niedergehen müssen, oder wenn wir etwas bedürfen, so suchen wir uns ein anderes Schiff aus, Dampfer oder Segler, dem wir doch ab und zu begegnen werden, der noch besser gleichen Kurs mit dem ›Pelikan‹ fährt. Einholen werden wir diesen dann ja bald wieder.«
»Das ist's, das ist auch mein Plan! Ich habe dem nichts mehr hinzuzufügen. Nur noch, dass wir dies dann noch beizeiten tun müssen, nicht erst, wenn die Notwendigkeit dazu eintritt. Dann dürfte doch nicht immer ein anderes Schiff in Sicht sein. Im Notfalle natürlich müssen wir als Zufluchtsort das Deck des ›Pelikan‹ benutzen, und dann heißt's natürlich Vorsicht. — Da, da meldet sich ja schon mein alter Freund! Jetzt sucht er schon Anknüpfungen, tut aber, als erführe er erst jetzt von uns, hätte uns noch gar nicht gesehen.«
Jetzt erkannte Breithaupt die Luchsaugen seiner Begleiterin. Sie musste ihm erst ganz genau die Stelle an Deck bezeichnen, wo ein Mann stand, der sich durch alle möglichen Gestikulationen dem Aeroplan bemerkbar zu machen suchte.
Wahrscheinlich rief er auch, aber der Aeroplan, den die Lenkerin fortwährend fallen und steigen ließ, um auf diese Weise die verschiedene Geschwindigkeit der beiden Fahrzeuge auszugleichen, befand sich gerade in einer Höhe von 400 Metern, und das hat für die menschliche Stimme doch schon etwas zu bedeuten.
Breithaupt zog ein kleines Taschenfernrohr, suchte, was seine Schwierigkeiten hatte, obgleich die Flugmaschine trotz aller Schnelligkeit ganz glatt und sanft ging, auch jede Vibration fehlte.
»Nehmen Sie das hier, das hat einen Sucher«, sagte Lilly, ihm ein anderes, nicht viel größeres Fernrohr reichend.
Breithaupt setzte es an, schraubte, und...
»Himmel, was für ein Instrument ist denn das?!«, rief er fast erschrocken.
Er glaubte, den gefundenen Mann plötzlich dicht vor seinen Augen zu sehen — wie man so sagt. Denn die Wirkung des Fernrohrs ist nicht zu beschreiben, da spielt der sogenannte Gesichtswinkel die Hauptrolle. Jedenfalls ein ganz wunderbares Instrument, wie es der Vermessungsingenieur mit seiner Erfahrung von solcher Vollkommenheit gar nicht für möglich gehalten hätte.
»Auch eine Erfindung des alten Morris. Was der alles zusammenerfunden hat, möchte ich selber wissen. Auch ein Distanzschätzer ist dran, bestimmt bis auf zwei Meter ganz genau die Entfernung.«
»Wird nicht wenigstens dieses Fernrohr der anderen Menschheit zugänglich gemacht?«
»Damit sie Kanonen besser einstellen können, nicht wahr? Im Übrigen ist das auch nicht meine Sache, ich habe dieses Fernrohr als ein Geheimnis unbedingt zu bewahren.«
Lilly hatte etwas kurz gesprochen, der junge Doktor hielt es für besser, dieses Thema abzubrechen.
»Jetzt geht er auf die Kommandobrücke, wozu er wohl erst die Erlaubnis des Kapitäns eingeholt haben muss, jetzt setzt er ein Sprachrohr an den Mund«, berichtete er weiter.
»Nun, können Sie durch das Fernrohr das falsche Judasgesicht unterscheiden?«
»Ja, einen angenehmen Eindruck macht seine Physiognomie nicht. Wunderbar, dieses Fernrohr! Ich erkenne auf seiner Nasenwurzel ganz deutlich eine kleine Warze.«
»Dass sie zur kürbisgroßen Beule werden möchte, damit er gekennzeichnet ist!«, wünschte die mehr frisch und freie als fromme junge Dame.
»Gegenwärtig sieht er übrigens mehr wie ein Posaunenengel aus als wie ein Judas, mit der Sprachtute vorm Munde.«
»Hallo, Aeroplan, Miss Lilly Leley!!!«, erklang es jetzt dumpf herauf.
»Ich will ihm die Sache etwas leichter machen, damit er nicht etwa seine edle Seele durch die Tute in die Ewigkeit hinüberbläst«, sagte Lilly.
Wie ein Vogel stürzte die Flugmaschine hinab, und vom Vogel wählt man ja wieder das Beispiel vom fallenden Steine.
Erst 30 Meter über Deck blieb der Drachen mit einem Rucke plötzlich schwebend, natürlich immer das Schiff begleitend.
Dieser künstliche Sturz war das erste derartige Manöver gewesen, und Breithaupts Schreck war nicht gering, er hatte unbedingt an einen Todessturz geglaubt.
»Sie wünschen, Monsieur Frappart?«
»Was, Sie erkennen mich?!«, erklang es unten im Tone des größten Erstaunens.
»Ja, warum denn nicht?«
»Ich habe mich doch total verändert.«
»In dem halben Jahre? Weil Sie sich den Vollbart abrasiert haben? Von hier oben erkennt man übrigens ganz deutlich, dass Sie nicht schwarzes, sondern rotes Haar haben. Der rote Untergrund leuchtet durch.«
Wie der dort unten das auffasste, war der hier oben ganz gleichgültig. Es beeinträchtigte seine Liebenswürdigkeit aber gar nicht.
»Nein, Miss Lilly Leley! Wie ich mich unaussprechlich freue!«
»Worüber denn?«
»Dass ich Sie endlich einmal wiedersehe! Ach, dürfte ich Ihnen die Hand drücken!«
»Bitte, langen Sie doch herauf.«
»Ja, wenn ich das könnte! Würden Sie nicht noch einmal an Deck landen?«
»Nur, damit Sie mir die Hand drücken können?«
»Ja, es ist viel verlangt. Nun, Sie werden doch noch öfters an Deck landen, dann werde ich ja das Vergnügen haben.«
»Weshalb glauben Sie, dass ich noch öfters an Deck landen werde?«, suchte Lilly auszuhorchen.
»Nun, Sie müssen doch zum Beispiel Ihr Benzin ergänzen.«
Aha, jetzt versuchte erst der auszuhorchen! Dr. Breithaupt brauchte von seiner Gefährtin nicht erst darauf aufmerksam gemacht zu werden, wo hinaus der wollte.
»Das wäre das Wenigste, ich habe genug Benzin bei mir.«
»Für die elf Tage, die Sie uns begleiten wollen? Das ist ja gar nicht möglich!«
»Und warum denn nicht?«
»Na, ich verstehe doch auch schon was von der Aeroplanerei, das wissen Sie ja selbst. Es ist doch ganz ausgeschlossen, dass eine Flugmaschine auch nur das Gewicht Benzin für fünf Stunden tragen kann.«
»Meine Flugmaschine hier kann es.«
»Das ist ja gar nicht möglich. Oder Sie verwenden eben etwas anderes als Benzin.«
Richtig, da war es schon, so suchte er näher zu kommen!
»Doch, es ist Benzin, das aber ganz anders vergast wird, auch ein ganz anderer Motor, auch ein ganz anderes, viel, viel leichteres Metall zum ganzen Bau. Daher der wunderbare Effekt.«
So, das mochte er wissen. Das eine war ja schon durch die entwendete Mutterschraube verraten worden. Wenn er nur von dem Morrisit nichts erfuhr. Freilich würde er es schon ahnen.
»So so. Ein anderer Motor mit anderer Benzinvergasung und auch ein ganz anderes Metall! Darf man da nicht etwas Näheres erfahren?«
»Ich kann doch hier nicht aus der Luft herab stundenlang dozieren.«
»So lassen Sie sich doch herab, bitte.«
»Fällt mir gar nicht ein. Ich will meine Wette gewinnen, und jede verlorene Minute kostet mich zehn Dollar.«
»Ist die Vergasung und so weiter Ihre eigene Erfindung?«
»Meine eigene.«
»Haben Sie sich das schon patentieren lassen?«
»Noch nicht.«
»Werden Sie diese Erfindung überhaupt der Öffentlichkeit übergeben?«
»Weiß ich noch nicht. Sonst noch was?«
»Ach, dass ich Ihnen einmal die Hand drücken dürfte!«, fing der unten wieder zu himmeln an.
»Diese Gelegenheit werden Sie schon bekommen, ich muss mich ja doch manchmal an Deck niederlassen. Bis dahin gehaben Sie sich wohl.«
Und die ›Libelle‹ stieg wieder in höhere Regionen, blieb auch etwas hinter dem Schiffe zurück, was aber nur günstig war, um bei einer Betriebsstörung im letzten Gleitfluge noch das rettende Deck zu gewinnen.
»Haben Sie gehört, Herr Doktor?«
»Ja, und ich brauche keinen Kommentar. Der weiß, dass wir etwas anderes als Benzin benutzen, und wie Sie die Sache erklärten, glaubt er nicht. Das fühlte ich ganz deutlich heraus, konnte es noch deutlicher in seinem Gesicht erkennen, das ich im Fernglas behielt. Sehr leicht möglich, dass er schon etwas von dem Morrisit ahnt, und dann kommt ja auch noch das wunderbare Metall hinzu, von dem ihn der Ingenieur ganz sicher in Kenntnis gesetzt hat. Unterdessen aber habe ich mir etwas anderes überlegt. Was wollen die uns denn anhaben, wenn wir uns auf Deck niederlassen? Der Kapitän steht doch ganz auf unserer Seite, und der ist doch ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle, oder es gibt keine Ehrlichkeit mehr. Auf unseren Wunsch wird er doch auch wieder dafür sorgen, dass sich niemand uns nähert. Und überhaupt, was wollen die uns denn anhaben, was sollten sie denn gegen uns im Schilde führen?«
»Sie haben Recht«, stimmte Lilly bei, »ich verstehe selbst nicht, weshalb uns der Kerl so gern an Deck haben möchte. Denn dass das sein heißester Wunsch ist, das ist doch ganz offenbar. Aber gerade, weil wir den Kriegsplan so ganz und gar nicht durchschauen, nicht die geringste Ahnung haben, was die eigentlich beabsichtigen, deshalb müssen wir doppelt vorsichtig sein. Nein, nur unter den zwingendsten Umständen lasse ich mich an Deck des ›Pelikan‹ nieder, wenn ich ihn auch immer begleiten werde.«
Die Stunden vergingen. Andere Schiffe wurden in diesem vielbefahrenen Gewässer ja oft genug gesichtet, aber sie wurden immer spärlicher.
Es war in der Mittagsstunde, als die Passagiere, für welche die begleitende Flugmaschine natürlich noch lange die Sensation bildete, sahen, wie der Aeroplan abschwenkte, einem Segelschiffe zustrebte, das in geringer Entfernung mit geschwellter Leinwand nach Westen steuerte, sich an Deck desselben niederließ.
Durch das Fernrohr konnte man beobachten, wie die beiden Aviatiker oben auf dem Riesendrachen herumkletterten. Dann schüttelten sie dem Kapitän die Hand, stiegen wieder auf, fünf Minuten später hatte die ›Libelle‹ den ›Pelikan‹ wieder eingeholt.
Den größten Eindruck hatte dieses Manöver bei drei Männern hervorgerufen, von denen wir zwei schon kennen: den ersten Ingenieur Mister Modena und Monsieur Frappart. Der dritte im Bunde war ein noch sehr jugendlich aussehender Mensch mit einem glattrasierten Yankeegesicht, in dem alles Energie und Rücksichtslosigkeit ausdrückte.
Schon seit einiger Zeit trafen sich diese drei bei jeder Gelegenheit in der Kabine des ersten Maschinisten, der auf einem großen Passagierdampfer nicht selbst Wache ging, sondern nur kontrollierte, also immer Herr seiner Zeit war.
Wie sich die drei zusammengefunden hatten, brauchen wir nicht zu wissen. Jedenfalls gehörten Monsieur Frappart und Mister Coldewan, wie der junge Yankee angeredet wurde, überhaupt schon zusammen.
Sie hatten das Manöver des Aeroplans, wie er sich auf dem Segler niedergelassen und wieder fortgeflogen war — der Aufenthalt dort hatte ebenfalls nur fünf Minuten in Anspruch genommen — einzeln beobachtet, jeder für sich an Deck oder sonst wo stehend, dann schlenderte jeder möglichst unauffällig der im ersten Zwischendeck gelegenen Kabine des ersten Ingenieurs zu, hier trafen alle drei gleichzeitig zusammen.
Zuerst ein allgemeines gegenseitiges Anstarren, die verschiedenen Gesichter drückten teils Erstaunen, teils Enttäuschung, teils verhaltene Wut aus.
»Caramba!!«, stieß dann zuerst der Portugiese oder Spanier hervor. »Haben Sie's gesehen?«
»Ja, natürlich.«
»Die hatte an dem Aeroplan etwas zu fixen.«
»Ja, und warum hat sie das Segelschiff aufgesucht, ist nicht an Deck unseres Dampfers niedergegangen?«
»Die hat schon etwas gewittert!!!«
Alle drei hatten das zuletzt geflüstert, und immer enttäuschter und grimmiger waren ihre Gesichter dabei geworden, hier, wo sie sich gehen lassen durften.
»Mister Frappart, Sie haben das vorhin mit Ihrer Fragerei auch ganz ungeschickt angestellt«, wurde dann Lillys ehemaliger Manager von den beiden anderen beschuldigt.
Er verteidigte sich mit Geschick, und er hatte ja auch nur als Sündenbock dienen sollen.
»Wir müssen Sie befragen, weshalb sie nicht an Deck des ›Pelikan‹ gelandet ist.«
»Ja, den Grund müssen wir unbedingt wissen.«
»Und nur Mister Frappart kann sie befragen«, entschied der Yankee.
»Wenn es jetzt nicht schon der Kapitän tut.«
»Ja, freilich, schnell, schnell an Deck!!«
»Halt!«, rief der Ingenieur die beiden anderen zurück. »Mir ist etwas eingefallen, was mir die größte Besorgnis erregt, und es ist auch wichtiger als alles andere. Mister Coldewan, steht in dem Haftbefehl die Beschreibung des Frauenzimmers, das Sie verhaften sollen?«
Der junge Yankee war also ein Kriminalbeamter, ein Detektiv, und zwar ein internationaler, denn er stand in Diensten derjenigen Abteilung, die sich ausschließlich mit der Überwachung von Anarchisten beschäftigt, und diese besondere Kriminalpolizei ist durch Vereinbarung aller Staaten eine internationale, ist, da das Ganze doch einen Leiter braucht, in die Hände des ehemaligen Privatdetektivs Arrow gegeben worden, der von London aus alles dirigiert. Es ist dies eine Tatsache. Dieser Arrow erhält von jeder Regierung eine ganz beträchtliche Pauschalsumme, von Deutschland z. B. jährlich 20 000 Mark, von Spanien merkwürdigerweise die dreifache Summe, wofür er das Treiben der Anarchisten zu überwachen und darüber regelmäßig zu berichten hat, desgleichen sind bei jeder Monarchenbegegnung Arrows Geheimpolizisten, wofür extra bezahlt wird. In England versteuert er ein Einkommen von über einer Million Mark.
Das ist bekannt geworden, ist manchmal in Zeitungen zu lesen. Sonst weiß man über den ganzen Betrieb sehr wenig oder so gut wie gar nichts. Das wird in den geheimsten Geheimkabinetts geregelt. Jedenfalls sind es kolossale Vollmachten, die dieser Mann besitzt und seinen Leuten erteilen kann. Von einem Missbrauch dieser Macht ist wohl noch nie was in die Öffentlichkeit gedrungen.
Auch Lillys früherer Manager stand jetzt in Arrows Diensten, sowie der Mann, der sich hier Coldewan nannte. Die beiden pirschten auf eine junge spanische Anarchistin, die sich wohl von Lissabon nach Südamerika hatte begeben wollen. Man hatte sie in irgendeiner Verkleidung unter den Passagieren des ›Pelikan‹ vermutet. Dass das nicht der Fall war, davon hatten sich die beiden schon überzeugt. Nun mussten sie aber doch mit nach Havanna.
Jetzt also wollte der Detektiv den Verhaftungsbefehl, den er in der Tasche hatte, auf die Luftlady dort oben anwenden. Was die drei sonst beabsichtigten, werden wir später sehen. Die Luftlady nur erst einmal an Deck haben!
Wegen seiner Besorgnis konnte der Detektiv den Ingenieur beruhigen. Nein, eine Personalbeschreibung stand nicht in dem Haftbefehl, und die Vollmacht war überhaupt eine universelle. Ganz gleichgültig wie ein Weib aussah — wenn dieser junge Mensch die Hand auf ihre Schulter legte und die Formel aussprach, so war sie verhaftet, und nachdem er sich vor dem Kapitän legitimiert hatte, musste ihm dieser beistehen, musste die Frau in Eisen legen lassen oder wie es der Detektiv sonst wünschte, ganz gleichgültig, unter welcher Flagge das Schiff fuhr. Und ebenso musste dann an Land jedes Gefängnis die Verhaftete aufnehmen. Wie der Detektiv dann sein Vorgehen rechtfertigte, ob es überhaupt konnte, das war seine Sache. Jedenfalls aber standen, so lange er nicht seines Dienstes enthoben, alle Polizeigewalten der ganzen zivilisierten Erde zu seiner Verfügung, alles musste ihm bedingungslos gehorchen. Es handelt sich hierbei eben um internationale Anarchisten und Nihilisten, um menschliche Raubtiere, die vernichtet werden müssen.
Die drei eilten an Deck. Aber jeder immer einzeln für sich.
Der Aeroplan konnte soeben wieder eingetroffen sein, sich hinten in 50 Meter Höhe des Schiffes heftend, und der sich auf der Kommandobrücke befindliche Kapitän wünschte denn auch richtig Aufklärung, weshalb ihm die Aviatiker, die sich unter seinen Schutz gestellt hatten, untreu geworden wären.
Er winkte, rief durch das Sprachrohr, gehorsam näherte sich der Riesenvogel der Kommandobrücke.
»Sie haben wohl einmal einem anderen Schiffe einen Besuch abgestattet?«
»Ich wäre sowieso sofort herangekommen, um Ihnen zu berichten«, klang Lillys Stimme herab, »möchte dies aber nur schriftlich tun. Passen Sie auf, ich werfe Ihnen ein Papier zu, nur für Sie bestimmt.«
Da kam es schon geflogen, ein weißer Ballen, so geschickt geworfen, dass ihn der Kapitän hätte auffangen können, wäre er darauf vorbereitet gewesen.
Er hob es auf. Es war ein in Papier gewickelter eiserner Bolzen, wohl von jenem Segelschiff stammend. Die Hauptsache war natürlich das Papier, mit Bleistift beschrieben.
Lieber Herr Kapitän. Ich habe einen triftigen Grund, eine Landung auf Ihrem
Dampfer zu vermeiden. Ich habe dort einen Feind, dem ich alles zutraue. Deshalb verzeihen Sie mir, wenn ich alles, was ich brauche, von anderen uns begeg—
nenden Schiffen hole. Sonst aber werde ich Sie begleiten, das gestatten Sie doch.
Vorsicht! Vernichten! Ihre ergebene Lilly Leley, deren Dankbarkeit Sie später ken—
nenlernen sollen.
»Was schreibt sie denn?«, fragte da eine Stimme, als der Kapitän das Papier schon in ganz kleine Stückchen zerriss und über Bord flattern ließ.
Es war der erste Ingenieur.
So wenig sich der Kapitän auch sonst zusammenreimen konnte, das wusste er doch sofort, dass mit dem Feinde nur dieser Ingenieur gemeint sein konnte, der die Schraubenmutter entwendet haben sollte — gerade Frauen gebrauchen das Wort ›Feind‹ ja bei jeder Gelegenheit, ebenso wie sie mit der ›Freundin‹ schnell bei der Hand sind — und in richtiger Erkenntnis des Sachverhaltes beging der sonst so besonnene Kapitän, von einer gewissen Erregung erfasst, einen argen Fehler.
»Herr Ingenieur, verlassen Sie die Kommandobrücke!«
Es ist wahr, auch der erste Maschinist hat auf der Kommandobrücke so wenig zu suchen, wie irgendein anderer fremder Mensch, darf sie ohne Erlaubnis gar nicht betreten. Tut er es aber doch einmal, dann... darf er es eben. Ja, er kann heruntergewiesen werden, aber... es ist doch eben der erste Maschinist.
Dieser hier hatte die große Torheit begangen, die Kommandobrücke zu betreten, von seiner Neugier getrieben, denn wer wusste, worum es sich handelte — der Kapitän beging die zweite Torheit.
Es genügte. Ein Blick, und der Ingenieur drehte sich um und stieg die Treppe wieder hinab.
Aber was für ein Blick war das gewesen!!
Wäre der Kapitän allein gewesen, so hätte er sich wohl vor die Stirn geschlagen.
»Was habe ich getan!«
Na, schließlich hatte er mit gutem Rechte gehandelt, und dieser erste Maschinist war doch schließlich kein Gott oder allmächtiger Teufel, und dieser Kapitän war ein ganzer Mann.
Fünf Tage waren vergangen, der ›Pelikan‹ hatte beim besten Wetter schon die Hälfte der Strecke zurückgelegt, immer treu begleitet von dem von Menschenhänden erbauten Riesenvogel.
Die Passagiere hatten sich schon ganz an diesen Begleiter gewöhnt, viele blickten gar nicht mehr hin — ›jetzt sucht er wieder einen anderen Dampfer auf.‹ — ›Ach, was geht das mich an, lassen Sie mich lesen!‹ — und Dr. Breithaupt fand gar nichts Besonderes dabei, so Tag und Nacht im Reitsattel seiner Flugmaschine zu sitzen, wachenweise die Steuerung bedienend und dann, mit den Armen in Schlingen, zu schlafen, unter und vor sich immer einen großen Dampfer, des Nachts mit vielen Lichtern gespickt, ab und zu einem anderen Schiff, Dampfer oder Segler, einen Besuch abstattend, um an der auf Deck ruhenden Flugmaschine die Schrauben anzuziehen, besondere Teile zu schmieren und Wasser einzunehmen.
Auf Schwierigkeiten stieß man bei solchen Besuchen fremder Schiffe niemals. Nur Passagierdampfer wurden vermieden. Die Besatzungen der übrigen Schiffe waren bei der Ankunft des Riesenvogels immer so frappiert, dass sie nur daran dachten, den kühnen Aviatikern behilflich zu sein, und ehe Fragen gestellt werden konnten, flog der Aeroplan schon wieder davon, um sich dem ›Pelikan‹ anzuschließen, seinem Schrittmacher.
Von solch einem Dampfer hatte Breithaupt auch einen Sextanten mit allem Zubehör bekommen, um geografische Ortsbestimmungen machen zu können, wovon er so oft gesprochen hatte.
Der ›Pelikan‹ hatte beim besten Willen keinen abgeben können. Nur die vorschriftsmäßigen Gebrauchs- und Reserve-Instrumente waren vorhanden, und dringende Not, welche das Gebot aufhebt, lag nicht vor.
Die Frage wurde auf jedem Dampfer wiederholt, und auf einem deutschen fand sich einmal ein Steuermann, der nur als Passagier mitging, sein Handwerkszeug bei sich hatte. Jawohl, er war gern bereit, seinen Sextanten zu verkaufen. So ein kleines Ding kostet neu bei schlichtester Ausführung 200 bis 300 Mark.
Die Luftschiffer hatten kein Geld? Nun, der junge deutsche Steuermann fühlte sich hochgeehrt, ihnen seinen Sextanten und seine Logarithmentafeln und was sonst noch dazu gehört, wie die Quecksilberdose, die an Land das Meer vertritt, schenken zu dürfen.
»Schenken? O nein, Sie können doch nicht das kostbare Instrument...«
»O, was das anbetrifft, was meinen Sie denn — ich bin von einem Novascotiaman abgemustert, mit Heuer für zwei Jahre Fahrt, habe 600 Dollar in der Tasche.«
»Soooo?? Hören Sie, mein bester Freund, könnten Sie mir nicht einmal mit hundert Dollar aushelfen?«
Und da schlugen die beiden Aviatiker den ersten Pump an — den ersten Geldpump. Sonst hatten sie ja schon genug geborgt. Denn eigentlich ist ja an Bord das Frischwasser noch weniger umsonst zu haben als im Hafen. Wenn ein Schiff dem anderen mit Trinkwasser aushilft — muss alles bezahlt werden. Diese beiden Aviatiker hier freilich hatten nur beim ersten Male, dem Kapitän des ›Pelikan‹ gegenüber, von einem späteren Bezahlen gesprochen dann waren sie durch das allgemeine Entgegenkommen schon so verwöhnt worden, dass sie an so etwas gar nicht mehr dachten. Sie waren in den fünf Tagen schon richtige Luftzigeuner geworden, bettelnde Luftstreicher. Diese neue Bezeichnung sollte Lilly dann auch noch erfinden.
Jetzt also, beim elften Schiffe, dem sie ihren Besuch abstatteten, schlugen sie den ersten Geldpump an. Und der junge Steuermann wurde ganz rot ob der Ehre, der famosen Dame im kurzen Röckchen mit dem Schnurrbärtchen, die als erste über den Atlantik fliegen wollte, etwas borgen zu dürfen, und er ließ nicht eher locker, als bis er ihr 200 Dollar aufgedrängt hatte. Lieber hätte er die Hälfte seines Vermögens und mehr noch gegeben, vielleicht in der ganz richtigen Erkenntnis, dass es ja ziemlich dasselbe war, ob er nach Hamburg mit hundert oder mit tausend Dollar kam. Es wurde ja doch verludert, womöglich gleich in der ersten Nacht, am Morgen wurde er ja doch ohne einen roten Cent aus irgendeinem Tempel, der Venus vulgivaga geheiligt, hinausgefeuert, und je weniger Geld er gehabt, desto kleiner dann die Reue oder doch der Kater.
Auch von einem Schuldscheine wollte er nichts wissen.
»Wenn Sie wollen, dass ich den Fetzen gleich hier zerreiße, dann geben Sie mir ihn. Meinen Namen wissen Sie ja, Gustav Niemann, schicken Sie nur das Geld an den Heuerbaas Klekam, Hamburg, große Vorsetzen. Und wenn Sie's nicht tun, dann ist's auch gut.«
Dann vorläufig ein herzliches Händeschütteln, und die ›Libelle‹ flog wieder davon, dem ›Pelikan‹ nach.
Lilly war in der ausgelassensten Laune.
»Hören Sie, Doktorchen, wir schenken der Welt einen neuen Beruf, eine neue Kategorie von Menschen, oder wie man es nun sonst nennen mag. Wir begründen den Berufszweig der Luftstreicher, der Luftzigeuner — wir sind die ersten Luftpumper, Pumpgenies der Luft. Gepumpt haben wir ja schon genug, nur noch kein Geld. Wie kommt es, dass wir noch gar nicht daran gedacht haben? Von jetzt an wird jedes Schiff auch um bares Geld angesprochen, die ganze Besatzung, Kapitän wie Matrose bis zum Schiffsjungen herab. Ja, ich werde deswegen auch Passagierdampfer anlaufen. Ich will in der aviatischen Pumperei gleich einen Rekord schaffen, den man nicht so leicht brechen soll.«
»Und wie steht es mit dem Zurückbezahlen?«, lachte Breithaupt.
Ohne ersichtlichen Grund wurde Lilly plötzlich sehr ernst.
»Kapitän Hartung hat doch zu Ihnen über sein Ziel, über den Monte Cerboli gesprochen«, sagte sie, scheinbar ganz aus dem Stegreife.
»Gewiss.«
»Was hat er Ihnen darüber erzählt?«
»Nun, wie er mit dem Panzerautomobil in das Höllental eingedrungen ist und wegen der Flucht des Automobils auf dem Berge einen unfreiwilligen Aufenthalt von sechs Wochen nehmen musste, bis sie das Automobil wiederfanden.«
»Sonst hat er Ihnen nichts weiter davon erzählt?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Was er auf dem Berge erlebt hat?«
»Das, sagte er, wollte er mir später erzählen, wohl an Ort und Stelle.«
»Was er auf dem Berge und in dem Tale gefunden hat?«
»Nein, das wollte er mir, wie schon gesagt, alles später erzählen.«
»An Ort und Stelle?«
»Wenn ich mich recht entsinne, drückte er sich so aus.«
»Können Sie sich darauf nicht mehr genau entsinnen, was der Kapitän damals zu Ihnen sagte?«
Breithaupt gab die damalige Unterhaltung mit Georg Hartung möglichst getreu wieder.
Es war das erste Mal, dass die beiden vom Schicksal Zusammengeführten über so etwas sprachen. Wohl hatte Breithaupt schon öfter wegen ihres Zieles, des Monte Cerboli, angefangen, aber Lilly hatte immer geschickt auszuweichen gewusst. Sie selbst habe über diesen Teufelsberg und dieses Höllental noch so gut wie gar nichts erfahren, man habe sie überraschen wollen — oder so ähnlich.
»Gut, dass ich das jetzt von Ihnen erfahre«, sagte sie als jener geendet. »Ich wollte schon immer fragen, wusste aber nicht wie anfangen. Denn... es war mir äußerst peinlich.«
»Weshalb denn?«
»Ich fürchtete immer, Ihnen die Offenbarung machen zu müssen, dass ich Sie nicht nach dem Monte Cerboli nehmen darf, Sie schon vorher abzusetzen gezwungen wäre.«
»Ja, warum denn nur?«
»Sie verstehen noch nicht? Weil ich nicht wusste, wie weit der Kapitän Sie eingeweiht, was er mit Ihnen ausgemacht hat. Also, Sie müssen eine Prüfungszeit von einem Jahre durchmachen, ehe Sie definitiv einer der Unsrigen werden?«
»So sagte der Kapitän.«
»Was für Prüfungen sind das?«
»Darüber sprach er nicht.«
»Keine Andeutung?«
»Gar keine.«
»Nun gut, das geht mich gar nichts an. Die Hauptsache ist, dass ich nun weiß, dass ich Sie mit bis an unser Ziel nehmen kann, bis mit auf den Monte Cerboli.«
Lilly veränderte, um die ›Libelle‹ einen Bogen beschreiben zu lassen, durch einen Hebelgriff die Balance, und setzte dann mit ganz anderem, ganz verklärtem Gesicht hinzu:
»Ach, bin ich glücklich, dass ich das nun weiß, dass ich endlich, endlich diese Frage gestellt habe!!«
Betroffen blickte Breithaupt sie an, die das mit jubelndem Munde gerufen hatte.
»Ja, geehrtes Fräulein, weshalb haben Sie denn diese Frage, wenn Sie Ihnen so am Herzen lag, nicht schon früher gestellt?«
»Weshalb nicht? Weil ich fürchtete, Sie könnten — könnten — — — ich müsste erfahren, ich dürfe Sie nicht mitnehmen, nur über den Ozean hinüber, müsse Sie absetzen — und — und — das wäre doch so...«
Es war, als ob sie die Worte nicht mehr herausbringe, und plötzlich färbte sich ihr an sich schon brünettes Gesicht dunkelrot.
»Dort vorn muss die...«
Mit einer Hast, die auf dem Flugdrachen nicht erlaubt war, höchst gefährlich werden konnte, hatte sie sich aus ihrem Reitsitz geschwungen und eilte nach vorn.
Auch des jungen Ingenieurs Gesicht, erst erstaunt, hatte sich plötzlich mit einer dunklen Blutwelle übergossen.
Im nächsten Augenblick aber sah er etwas, was ihm das Blut schnell wieder aus den Wangen jagte.
»Um Gottes willen, Lilly!!«, schrie er entsetzt auf.
Die ›Libelle‹ war also ein Monoplan, ein Eindecker. Die großen Gleitflächen, hier aus Metallblech bestehend, den Vogelflügeln entsprechend, befanden sich oben — nicht natürlich, es gibt auch ganz anders konstruierte Aeroplane — die Passagiere saßen also darunter, hatten aber nicht genügend freien Ausblick nach oben, Ihre Reitsitze befanden sich ganz hinten auf einer Plattform, auf der auch alles andere angebracht war, was zum Betriebe gehörte. Alles Übrige nach vorn war ein durchsichtiges Gerippe von Metallstangen, an denen unten hier und da ein Blechkasten angebracht war, zur Aufnahme des Proviants usw. bestimmt, dann noch Gleichgewichte zum Ausbalancieren, die sechs Räder und anderes.
Im Großen und Ganzen aber war es doch ein leerer Raum, nur von wenigen Stangen durchzogen. Schon oft hatte Breithaupt seine Begleiterin zwischen diesen Stangen mit affenartiger Behändigkeit herumturnen sehen, oder eben, wie nur so eine Zirkusartistin es kann. Die ersten Male hatte ihm dabei immer das Herz stillgestanden, wenn sie sich so von Stange zu
Stange schwang, doch bald hatte er sich daran gewöhnt, und er musste es, denn wenn sie an gewisse, seitliche Punkte wollte, und sie wollte nicht erst die Laufgewichte verschieben, so musste er selbst durch Veränderungen seines Platzes die Balance ausgleichen.
Da hieß es aufpassen! Obgleich die ›Libelle‹ gar nicht so leicht aus der Balance kommen konnte, dass sie etwa einmal kopfüber ging! Das sei bei dieser ihrer eigenen Konstruktion hier ganz ausgeschlossen, hatte Lilly ihm erklärt, und er musste es auf guten Glauben hinnehmen.
Aber das Kunststückchen, das sie jetzt zum Besten gab, hatte er denn doch noch nicht gesehen!
Gerade vor ihnen zog sich bis vorn zur Spitze eine isolierte Stange hin, von den anderen nach jeder Seite mindestens zwei Meter entfernt, und auf dieser kaum fingerstarken Stange lief sie jetzt, 150 Meter hoch in der Luft, flüchtigen Fußes dahin.
»Um Gottes willen, Lilly!!!«
Da blieb sie auch noch stehen, wandte sich um, blickte mit noch immer dunkelrotem Gesicht zurück, jetzt aber lächelnd.
»Was haben Sie denn?«
»Lilly, Lilly, um Gottes willen!!«, stöhnte er nach wie vor, jetzt nur nicht mehr so schreiend.
»Ach, Sie dachten wohl, ich könnte stürzen? Nein, ich bin nicht umsonst Seiltänzerin gewesen, sogar auf dem Telefondrahte. Nur bis zur drahtlosen Telefontänzerin habe ich es noch nicht gebracht. Aber sonst — ich stehe hier wie auf festem Boden, ob nun einen oder tausend Meter über der Erde, das bleibt sich doch ganz gleich...«
»Aber ich — ich kann es nicht sehen!!«
Sie gab denn auch ihren fürchterlichen Standpunkt auf, sprang hinüber nach dem eigentlichen Gerippe von Querstangen, ordnete etwas an den Gewichten, kehrte auf ihrem gewöhnlichen Kletterwege zurück, nahm ihren Reitsitz wieder ein.
»Sie haben Recht«, sagte sie ernst. »Wenn es nicht unbedingt nötig ist, vermeide ich solche Kunststückchen, gehe hübsch Hand über Hand. Man soll Gott nicht versuchen. Ich bin in meiner Seiltänzerei doch nicht etwa unfehlbar. Wo waren wir vorhin stehen geblieben? Ja, bei dem Monte Cerboli, und auf diesen kamen wir durch die Pumperei, wegen der Zurückzahlung. Hat Kapitän Hartung Sie verpflichtet, über das, was Sie in dem Luftschiff und sonst wo gesehen haben und noch zu sehen bekommen werden, Stillschweigen zu beobachten?«
»Nein.«
»Kein Ehrenwort, kein Handschlag?«
»Gar nichts. Jede Tür, die ich öffnen könnte...«
»Gut, ich weiß schon. Dasselbe wurde auch mir damals gesagt. Nur, dass es da noch keine so lange Prüfungszeit gab. Aber ich möchte Ihr Versprechen haben, dass Sie über das, was ich Ihnen jetzt und später offenbare, absolutes Stillschweigen beobachten werden.«
»Sie haben mein Ehrenwort.«
»Gut, das genügt mir. Jenes Höllental enthielt ein großes Goldfeld.«
»Was Sie sagen!!«, staunte Breithaupt. Denn eben schon das einfache Wort ›Gold‹ hat einen ganz besonderen Klang.
»Das Gold liegt in großen Körnern schichtenweise, man braucht es nur einzuschaufeln — wenn man sich der Borsäure-Atmosphäre zu entziehen weiß.«
»Die Automobilisten haben dieses Goldfeld damals zufällig entdeckt?«
»Nein, sie sind deswegen erst in das Höllental eingedrungen. Der Kapitän wusste allerdings schon darum. Bei seiner früheren Fußwanderung um die Erde fand er in der Prärie Mexikos die Trümmer eines Luftballons, eben erst gestürzt, ein Sterbender berichtete ihm, wie sie über das Höllental des Monte Cerboli geflogen seien, wie dort unten alles von Gold gegleißt habe.«
»Ja, dann freilich!«, meinte Breithaupt zunächst nur.
»Und außerdem haben die Automobilisten dann auf dem Berge auch noch Diamanten gefunden, die schönsten und edelsten, massenhaft, offen zutage liegend.«
»Ja dann freilich!«, wiederholte der junge Ingenieur mit Recht.
»Ja, Kapitän Hartung kann unsere Schulden schon bezahlen. Der greift bloß einmal zur Schippe. Und sollten wir das Luftschiff dort nicht vorfinden, na, dann gehen wir einstweilen auf die Diamantensuche. Denn hinab in die giftige Atmosphäre dürfen wir uns nicht wagen...«
»Sie glauben, es könnte doch sein, dass das Luftschiff noch nicht...«
»Lassen wir das«, fiel Lilly ihm bittend ins Wort. »Ergehen wir uns nicht in solche Erwägungen. Ach, wenn Sie wüssten, was für Anstrengungen es mir kostet, mir alle grübelnden Gedanken aus dem Kopfe zu schlagen! Und doch, sprechen muss ich jetzt darüber. Mit einem Wort: ich halte diese langsame Fahrerei nicht mehr aus, wo meine ›Libelle‹ dreimal so schnell wie jener ›Pelikan‹ dort ist, wo ich nach meiner Berechnung in 30 Stunden mein Ziel erreicht haben kann, wenigstens Amerika. In zweimal vierundzwanzig Stunden aber kann ich Gewissheit haben oder auch nicht.«
»Sie wollen also den Flug auf eigene Faust fortsetzen?«
»Ja, und jetzt kann ich schon eher garantieren, dass es uns gelingen wird, soweit ein Mensch hier irgend etwas überhaupt garantieren kann. Leichtsinnig soll mich auch die spannendste Erwartung nicht machen, dass ich deswegen etwa Ihr... unser Leben aufs Spiel setze. Aber ich wüsste wirklich nicht, was an meinem Aeroplan nun noch havarieren könnte, nachdem ich ihn fünf Tage und fünf Nächte ununterbrochen in Betrieb gehabt und alles geprüft habe. Dass ich bei den letzten Landungen niemals mehr zu schrauben hatte, haben Sie ja wohl gemerkt. Ja, ich darf nach bestem Gewissen jetzt den Flug auf eigene Hand wagen.«
»Nun, dann mal los«, konnte Breithaupt nur beistimmen.
»Wir haben ja täglich mehrere Schiffe gesehen«, suchte Lilly ihr Vorhaben weiter zu rechtfertigen, »so wird es doch auch weiter sein, und wir können uns ja ab und zu auf einem Schiffe niederlassen, um nach dem Rechten zu sehen.«
»Jawohl, warum nicht.«
»Es ist aber doch etwas Anderes, als wenn wir stets in der Nähe eines Schiffes sind. Es kann doch einmal etwas brechen, und dann, wenn nicht ein Schiff nahe genug ist, dann... sind wir dem Tode des Ertrinkens verfallen.«
»Ja, ist man denn das nicht eigentlich auf jedem Schiffe? Kann das nicht auch jeden Augenblick aus dem Leime gehen?«, lächelte Breithaupt.
»Sie haben Recht, aber... ich unternehme diesen Flug nicht ohne Ihre bestimmte Einwilligung.«
»Die haben Sie, die haben Sie!!«, rief der junge Ingenieur aus vollem Herzen.
»Nun gut, dann wollen wir dem Kapitän des ›Pelikan‹ unseren Entschluss gleich mitteilen.«
Schon seit längerer Zeit schwebten sie wieder hinter dem ›Pelikan‹, wie die Möwe abwechselnd steigend und fallend, wenn sie nicht immer Kreise ziehen will, um ihre viel größere Schnelligkeit dem Schiffe, das sie begleitet, anzupassen. Ja, dieses Steigen und Fallen des Aeroplans war dem Vogelfluge ganz entsprechend. Sonst hätte der von einem Motor getriebene Drachen Kreise ziehen müssen, um sich bei dieser geringen Geschwindigkeit, die 16 Knoten in der Stunde für ihn bedeuteten, in der Schwebe halten zu können.
Jetzt ging die ›Libelle‹ vor, bis sie über der Kommandobrücke schwebte, auf der der Kapitän stand. Für eine geraume Zeit konnte dieser Aeroplan in solcher gewissen Höhe auch bei dieser langsamen Fahrt schweben, so wie jeder große Vogel es kann, aber nicht für immer.
Lilly teilte dem Kapitän ihren Entschluss mit, nicht wieder schriftlich, sondern mit lauter Stimme.
Seitens des Kapitäns natürlich Verwunderung und Abraten.
»Na, wenn Sie glauben — ich kann Sie nicht zurückhalten. Darf ich Sie aber nicht wenigstens noch einmal an Bord meines Schiffes als Gast bewirten?«
»Herr Kapitän, Sie wissen doch — jede Minute zehn Dollar!«
»Die Zeit bezahle ich gern, und wenn's eine ganze Stunde ist.«
»Ich danke Ihnen, Herr Kapitän, aber Sie wissen doch auch das andere, was ich Ihnen damals schriftlich mitgeteilt habe.«
»Ach, an Bord meines...«
Da krachte ein Schuss. Verwundert blickte sich der Kapitän um, über Deck hin. An Bord eines Schiffes ist das Schießen ebenso wenig erlaubt wie in den Straßen einer Stadt. Das Manöverschießen bedarf der Genehmigung des Kapitäns.
»Da da da — was ist denn das?!«, schrieen die Offiziere und noch viele andere.
Ja, jetzt sah es auch der Kapitän, er brauchte nur wieder in die Höhe nach dem Aeroplan zu blicken, oder jetzt sah er es ja auch hinten auf Deck plätschern.
Unten auf der Plattform, auf der sie saßen, dort, wo sich der eine der beiden größeren Kasten befand, sprudelte nämlich ein dicker Wasserstrahl hervor.
Merkwürdig war es, dass, wie man es wohl auch hier unten beurteilen konnte, die Luftschiffer dort oben von diesem Wasserverluste gar nichts merkten.
Die Sache war eben die, dass sie den Wasserstrahl ja hinter sich ließen.
»Was wollten Sie sagen, Herr Kapitän? Was haben die denn dort unten, was zeigen die denn alle herauf?«
Lange dauerte es freilich nicht, nicht so lange, um ihr eine Erklärung zu geben, da merkte Lilly selbst den Wasserverlust — und noch etwas anderes.
»Himmel, was ist denn das?! Die Knallgasentwicklung hört ja auf!!«
»Hier unten strömt ja das Wasser in dickem Strahle aus!!«, ergänzte Breithaupt.
Da war die Erklärung nun vollends gegeben.
»Der Schuss galt uns, die Kugel hat den Wassertank unten durchbohrt und den Knallgasentwickler lädiert!!«
Lilly hatte das Richtige getroffen.
Wenn der Betreffende, der den Schuss abgegeben, den Aeroplan dadurch betriebsunfähig machen wollte, dass er in den Wassertank ein Loch schoss, so wäre er nicht zum Ziele gekommen. Das Loch hätte ja noch rechtzeitig gestopft werden können, man hätte einfach wieder Wasser aus dem Meere geschöpft.
So aber hatte die Kugel, die den Deckelteil nicht mehr durchdringen konnte, zufällig auch den innen befindlichen Gasentwickler getroffen, ihn beschädigt. Der Motor arbeitete nicht mehr, und das war nicht so bald wieder zu reparieren.
»Das war die teuflische List unseres Feindes!!«, rief Lilly, weiter nichts.
Jetzt galt es, das Deck dieses Dampfers im Drachengleitflug zu erreichen, wenn sie nicht erst ein nasses Bad nehmen, dabei vielleicht den ganzen Aeroplan verlieren wollten. Denn zum Schwimmen war dieser nicht eingerichtet. Und weit und breit kein anderes Schiff, welches mit solchem Hilfsgleitfluge natürlich auch gar nicht zu erreichen gewesen wäre.
»Stoppen Sie, Kapitän, stoppen Sie das Schiff!«, war Lillys nächster Ruf, jetzt aber ein Kommando.
Es geschah sofort, der Signalapparat klingelte, die Schraube ging etwas rückwärts, der Dampfer stand auf der Stelle.
Schon im nächsten Augenblick hatte der Aeroplan, von hinten kommend, das Achterdeck erreicht. Aber diesmal war der fliegende Drachen nicht mehr in der Gewalt der menschlichen Hand, nur ganz ungefähr konnte diese das Herabgleiten dirigieren, und so kam es, dass er erst in der Takelage des Besanmastes hängen blieb und dann, wieder freigekommen, mit großer Wucht gegen den Mittelbau stieß, auf dem die Kommandobrücke ruhte.
Und hierbei zeigte sich, was diese Flugmaschine, doch nur aus Blech und einem Stangengerippe bestehend, ertragen konnte. Die Wanten, starke Taue und zum Teil auch Drahtseile, waren einfach zerrissen worden, an der Mittelbauwand war durch den Anprall alles zerbrochen, was nur zu zerbrechen war, das starke Geländer der Brücke vollständig eingedrückt worden — der ganze Aeroplan hingegen hatte, wie später konstatiert wurde, auch nicht die geringste Verbiegung davongetragen.
Dieses Manöver war ein anderes gewesen, man hatte es kommen sehen, Matrosen und auch Passagiere waren hilfreich herbeigeeilt. Ihre Hilfe war nicht nötig, der Aeroplan stand fest, schlingern konnte das Schiff bei der noch immer ruhigen See nicht.
Das brünette Gesicht aschgrau, aber mit flammenden Augen war Lilly von ihrem Sitz hinab auf Deck gesprungen.
»Wer hat den Schuss auf uns abgegeben!?«
Niemand hätte es sagen können. Nur einige der Umstehenden meinten, dort aus jener offenen Luke heraus müsse er gekommen sein, sie hätten dort gleich nach dem Knalle Rauch aufsteigen sehen.
Die definitive Antwort auf die Frage sollte aber nicht lange ausbleiben.
Ein junger, bartloser Mensch war auf Lilly zugetreten, legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Ich! Im Namen des Königs, Sie sind verhaftet! Und das Gleiche gilt für Sie, als den Begleiter dieser Dame«, wandte er sich an den danebenstehenden Breithaupt, »auch Sie sind verhaftet. Keinen Widerstand!!!«
Nur Lilly hatte eine verdächtige Bewegung gemacht, Breithaupt war viel zu verblüfft von dieser Verhaftung.
Da sahen die beiden hinter dem jungen Menschen den Monsieur Frappart stehen, in jeder Hand einen Revolver auf sie angeschlagen, und jetzt drehten die beiden ihre Rollen um — Breithaupt wollte aufbrausen, wurde aber schnell von Lilly beruhigt, die ganz eisern wurde.
»Lassen Sie mich sprechen! Im Namen welches Königs verhaften Sie mich denn?«
»Im Namen des englischen Königs, unter dessen Flagge dieses Schiff fährt.«
»Wer sind Sie denn?«
»Ein englischer Kriminalbeamter.«
»Und weswegen verhaften Sie mich?«
»Darüber habe ich Ihnen keine Auskunft zu geben.«
»Ich bitte Sie darum«, versuchte Lilly es sogar mit Höflichkeit.
»Nicht jetzt — dann, wenn Sie im festen Gewahrsam sind.«
»Wissen Sie denn, wer ich bin?«
»Miss Lilly Leley nennen Sie sich.«
»Das ist auch mein wirklicher Name, wie ich durch Papiere beweisen kann.«
»Möglich.«
»Und mich, diese Lilly Leley, sollen Sie wegen eines Vergehens verhaften? Zeigen Sie doch erst einmal den Verhaftungsbefehl. Legitimieren Sie sich überhaupt erst einmal.«
»Herr Kapitän!«
Ganz niedergeschmettert kam der alte Seebär näher.
»Was gibt's?«
»Habe ich das Recht, diese Dame zu verhaften, oder habe ich es nicht?«
Der Kapitän müsste es bestätigen, es blieb ihm nichts anderes übrig.
Dem hatten sich die englischen Detektivs ja schon in Lissabon legitimiert, er war deswegen von seinem Konsul benachrichtigt worden, hatte Order bekommen, diesem ersten Beamten ganz zu Diensten zu sein.
Worum es sich eigentlich handelte, wusste er nicht genau. Nun ja, es galt ein Weib zu verhaften, eine Anarchistin.
»Aber um Gottes willen, diese Dame ist doch keine Anarchistin!«, konnte er jetzt nur rufen.
»Was soll ich sein?!«, fragte Lilly denn auch gleich ganz erstaunt. »Eine Anarchistin?!«
»Jawohl, Sie stehen im Verdachte, einer anarchistischen Verbrüderung anzugehören!«, entgegnete der Detektiv.
Im Augenblick ahnte Lilly noch nichts.
»Mir ist ja niemals so etwas eingefallen!«
»Ihre Schuld oder Unschuld wird sich ja vor dem Untersuchungsrichter im englischen Konsulat erweisen.«
»Ich komme gar nicht aus Lissabon, aus keiner europäischen Stadt.«
Da mochte auch diesem Manne erst einfallen, was für einen Vorteil er durch dieses Geständnis in die Hand bekam.
»Jawohl, das sollen Sie eben berichten, wo Sie sich während des halben Jahres, da Sie verschwunden waren, aufgehalten haben.«
Jetzt freilich begann Lilly jenen zu durchschauen. O weh!
Nun, es blieb ihr vorläufig gar nichts anderes übrig, als sich in die Lage zu fügen.
»Und deshalb schießen Sie mich gleich aus der Luft herab?«, fragte sie nur noch.
»Nicht Sie, sondern nur Ihren Aeroplan wollte ich zur Landung zwingen, um Sie hier an Deck zu bekommen und unter englischer Flagge verhaften zu können.«
»Und deshalb schießen Sie gleich auf den Aeroplan, auf die Gefahr hin, einen von uns zu töten?!«
»Jawohl«, wurde ganz kaltblütig bestätigt. »Um Ihrer gefährlichen Person habhaft zu werden, hätte ich auch noch zu einem ganz anderen Mittel gegriffen. Meiner Einladung, sich an Deck niederzulassen, wären Sie doch nicht gefolgt...«
»Da haben Sie allerdings Recht! Ihr sauberer Kumpan gab sich vergebliche Mühe, mich herabzulocken.«
»Miss, beleidigen Sie einen englischen Staatsbeamten nicht! Glücklicherweise waren Sie so gütig, uns rechtzeitig davon zu benachrichtigen, dass Sie uns nun verlassen wollten, und da machte ich Ihnen eben mit meinem unfehlbaren Revolver einen Strich durch Ihre Rechnung. Jetzt lassen Sie sich in Gewahrsam abführen, ebenso Ihr Begleiter.«
»Herr Kapitän, hat dieser Mann ein Recht, mich zu verhaften und gefangen zu setzen?«, versuchte es Lilly erst noch einmal.
Der alte Kapitän hatte sich aufgerafft. Eine tröstliche Antwort konnte er freilich nicht geben.
»Ja, ich muss mich dem Machtspruche dieses englischen Detektivs und Staatsbeamten, der sich mir als solcher legitimiert hat, in dieser Hinsicht unbedingt fügen, muss Sie in eine Haftzelle einschließen, muss Matrosen als Wächter davor stellen, habe mit Dienst und Ehren dafür zu haften, dass Sie nicht entkommen können...«
»Aber dass dieser Gentleman und kein anderer meinen Aeroplan, meine eigene noch nicht patentierte Erfindung untersucht, das können Sie doch wohl verhindern?«
»Jawohl, das eben wollte ich sagen!«, rief der Kapitän. Ich wollte erst noch fragen, ob Sie sonst noch Wünsche haben, die ich Ihnen vielleicht erfüllen kann.«
»Dann bitte ich Sie, meinen Aeroplan unter Ihren persönlichen Schutz zu nehmen, dass keine fremde Hand ihn auch nur betasten kann, am allerwenigsten die Hände dieser beiden Gentlemen.«
Noch ehe der Kapitän eine Antwort geben konnte, fuhr Mister Coldewan empor, und zwar hatte dies ziemlich lange gedauert; so bestürzt war er nämlich über die Wendung gewesen, welche die Dinge plötzlich nahmen.
»O nein, das gibt es nicht!!«
»Was gibt es nicht?«, fragte der Kapitän kalt zurück.
»Ich muss alle die Behälter, die Kisten und Kasten des Aeroplans untersuchen!«
»Nein, Sie werden keinen Teil dieser Maschine auch nur mit einem Finger berühren! Und wenn Ihr Kollege dort hinten nicht sofort den Revolver senkt, den er jetzt auf mich richtet, so lasse ich ihn niederschlagen, und er macht die Reise bis nach Havanna in Eisen mit!!«
Hochaufgerichtet standen sich die beiden Männer, der alte Seebär und der fast knabenhafte Gentleman, gegenüber und blitzten einander an.
Aber das Auge des jungen Detektivs ward immer unsicherer. Beide wussten ja ganz genau, wie weit ihre Macht ging, und die des Kapitäns war schließlich doch viel größer.
»Ich muss nach Papieren suchen«, probierte es der Detektiv doch noch einmal.
»Das können Sie auch in Havanna tun. Nicht hier an Bord meines Schiffes. Sie werden die Flugmaschine mit keinem Finger berühren.«
»Warum nicht...«
»Weil mich die Dame darum gebeten hat, weil ich nicht will!! Basta!«
»Die belastenden Papiere können entwendet werden...«
»Von wem denn? Wenn ich die Maschine unter meine Obhut nehme? Herr beleidigen Sie mich und meine Leute nicht!!«
Immer erleichterter atmete Lilly auf. Nun wollte sie auch gleich heraus mit der Sprache.
»Die Sache ist nämlich die«, rief sie, »dass diese beiden Detektivs, die sie sein wollen, es gar nicht auf meine Verhaftung abgesehen haben, die kennen mich ja gar nicht, sondern die wollen nur die Geheimnisse meines so wunderbaren, leistungsfähigen Aeroplans ausspionieren.«
»Na, natürlich, weiter ist es nichts«, stimmte der Mann im öligen Monteurkittel bei; es war der dritte Maschinist. »Ich habe doch selbst gehört, wie der erste Ingenieur mit dem Revolvermann dort darüber sprach, mit was die Flugmaschine wohl getrieben würde, Benzin käme doch da nicht in Betracht, das könne nur Morrisit sein...«
»Wie? Das haben Sie gehört?«, fuhr Lilly empor.
»Jawohl, gestern Nacht — die beiden ahnten freilich nicht, dass ich sie belauschte...«
»Und was sprachen sie weiter?«
»Wie man diese Teufelsmaschine wohl einmal an Deck bekommen könnte...«
»Hören Sie, Herr Kapitän?!«, triumphierte Lilly. »Es ist diesen beiden nur darum zu tun...«
»Ach, das ist ja alles bloß Faselei«, rief Coldewan, »für mich handelt es sich nur um diese Dame, die jedenfalls eine ganz gefährliche Anarchistin ist, und ferner muss ich auch ihren Begleiter...«
»Dann ist es ja gut«, unterbrach wiederum der Kapitän, welcher wohl selbst schon etwas wusste, aber, wie es seine Pflicht war, ganz unparteiisch sein wollte. »Sie wollen diese Dame und ihren Begleiter verhaften, Sie haben es getan, und nun muss ich Ihnen auch noch abkömmliche Leute von mir zur Verfügung stellen, um die Verhafteten abführen und eventuell bewachen zu lassen. Mehr können Sie von mir nicht verlangen. Die Flugmaschine werden Sie mit keinem Finger berühren!«
»Aber dass ich sie ansiegele, jeden zu öffnenden Kasten mit einem Siegel verklebe, das können Sie doch nicht hindern.«
»Nein, da haben Sie Recht, das muss ich Ihnen noch erlauben.«
»Und dass ich den Aeroplan auch sonst betriebsunfähig mache.«
»Wozu denn das?«
»Damit... ich habe meine Gründe dazu.«
»Damit die Verhafteten nicht wieder mit der Maschine fliehen können? Herr, das ist für mich eigentlich wiederum eine Beleidigung! Außerdem haben Sie das Ding ja schon durch Ihren Schuss betriebsunfähig gemacht. Oder ist es nicht so, Miss Leley?«
Die Wendung der Sachlage war für Lilly doch nicht so günstig gewesen, wie sie zuerst gehofft hatte. Dann hatte sie jetzt noch einen Wunsch: Gewissheit über etwas zu bekommen.
»Ich weiß noch gar nicht, was an der Maschine eigentlich gebrochen ist. Darf ich nicht einmal nachsehen?«
»Gewiss«, bestätigte der Kapitän, »das dürfen Sie erst noch, dieser Detektiv wird dagegen nichts einzuwenden haben.«
Der Kapitän meinte, der Detektiv habe da überhaupt gar nichts zu verbieten, aber dieser wünschte überhaupt selbst zu erfahren, was für Schaden sein Schuss angerichtet habe.
»Aber kein Fluchtversuch! Bei dem geringsten Verdachte müsste ich nochmals Gebrauch von meinem Revolver machen, und diesmal gälte die Kugel direkt Ihnen! Das Recht habe ich dazu.«
»Ach, wie soll ich denn so ohne Weiteres fliehen können auf dem großen Dinge?«
Also, Lilly schraubte den Deckel des großen Wasserreservoirs auf, der zugleich auch den Gasentwickler enthielt. Dass dieser verletzt worden, war ihr von vornherein klar gewesen.
Sie wurde bei ihrer Arbeit von den beiden Detektiven scharf beobachtet — aus guten Gründen.
»Ist dabei eine Vorsichtsmaßregel nötig?«, fragte da Monsieur Frappart, sich nicht bezähmen könnend.
Lilly durchschaute ihn sofort, stellte sich aber unwissend.
»Was für eine Vorsichtsmaßregel?«, fragte sie unschuldig.
»Dass, wenn das Öffnen von unkundiger Hand vorgenommen wird, eine Explosion erfolgt?«
»Was für eine Explosion?«, stellte sich Lilly noch immer harmlos.
»Nun, so war es doch auch bei dem Panzerautomobil, das wurde doch allgemein bekannt.«
»Was denn nur?«
»Wenn ein Unkundiger die Behälter öffnen wollte, welche die Geheimnisse bargen, so erfolgte eine Explosion, das ganze Geheimnis wie auch den Neugierigen vernichtend.«
Nun war es heraus, was die beiden eigentlich wollten. Doch das war ja von vornherein ganz klar gewesen.
»Jawohl, so ist es auch hier!«, bestätigte jetzt Lilly mit Hohn, den sie nicht mehr unterdrücken konnte. »Sobald Sie hier irgend etwas aufschrauben, würden Sie wie der ganze Aeroplan in Atome zersplittern!!«
Dem war gar nicht der Fall. Solche Sicherheitsmaßregeln waren an diesem Aeroplan gar nicht getroffen worden, nur die pneumatischen Schusswaffen besaßen noch diese gefährliche Vorrichtung, um ein Geheimnis vor fremden Händen und Augen zu schützen.
Aber Lilly glaubte den ihr gebotenen Vorteil ausnützen zu müssen. Sehr zu ihrem Schaden, wie sie gleich merken sollte.
»Sooo?!«, ließ sich da Mr. Coldewan vernehmen. »Mit solchen Mitteln arbeiten Sie, und da wollen Sie noch immer behaupten, Sie seien keine Anarchistin der schlimmsten Sorte?!«
Zu spät erkannte Lilly, was sie da gemacht hatte.
Doch schließlich hatte das nun auch nichts mehr zu sagen. Dass dem nicht so war, konnte sie ja später leicht beweisen.
Der Deckel war abgeschraubt. Viele neugierige Augenpaare blickten in den Kasten.
Da drinnen sah es böse aus. Ein unkontrollierbares Gewirr von dünnen Metallröhren, die meisten verbogen und gebrochen.
Lilly machte ein furchtbar bestürztes Gesicht.
»O weh, das ist unheilbar für immer beschädigt, da gibt es keine Reparatur mehr!«
Gleichzeitig stießen die beiden Detektive ein und denselben Fluch aus.
»Haben Sie von dem Zeuge nichts zur Reserve mit?«, fragte dann der eine.
»Nein, so weit geht die Fürsorge nicht.«
»Desto besser«, hieß es dann trotz der ersten schweren Enttäuschung, über die sie sich jetzt wahrscheinlich sehr ärgerten, »dann kann das Ding ja auch hier ruhig stehen bleiben. Aber alles versiegeln werde ich dennoch.«
Lilly schraubte den Deckel wieder fest.
»Fertig?«
»Ja.«
»Dann folgen Sie mir. Und Sie bitte auch. Breithaupt heißen Sie?«
»Doktor Karl Breithaupt«, entgegnete der Gefragte, der bisher eine ganz passive Rolle gespielt, immer nur scharf beobachtet hatte, und es war auch das Klügste gewesen.
»Ja, mein Freund«, wendete sich Lilly jetzt an ihn, »schicken wir uns in das Unvermeidliche. In Havanna vor dem englischen Gerichtshofe wird unsere Unschuld ja sofort bewiesen werden. Wir kommen in eine Zelle zusammen?«
»Oho, weiter fehlte nichts! Wohl ein Liebespärchen, was?«
»Sie vergessen, dass wir auch auf der Flugmaschine immer zusammen gewesen sind. Und im Übrigen verbitte ich mir jede Beleidigung! Herr Kapitän, ich rufe Sie an...«
»Jawohl, ich verbiete Ihnen, die Dame oder ihren Begleiter irgendwie zu beleidigen!«, sagte der Kapitän sofort. »Ihre Macht ist hier eine ziemlich beschränkte!«
»Pardon, so war das nicht gemeint«, entschuldigte sich der Detektiv wohl-weislich schnell.
»Und«, fügte Lilly noch hinzu, »ich werde doch nicht etwa auch visitiert.«
»Nicht daran zu denken!«, lachte der Kapitän. »Die Zellen der Arrestanten dürfen von keinem betreten werden, ohne dass ich oder ein Stellvertreter von mir dabei ist.«
»Ich danke Ihnen, Herr Kapitän.«
Es war eine ganz komfortabel eingerichtete Kabine, in die Lilly gebracht worden — aber eben eine Arrestzelle, wie jeder amtlich anerkannte Passagierdampfer deren mehrere für Staatszwecke an Bord haben muss.
Tür und Schloss waren besonders stark, das Bullauge, das runde Fensterchen, konnte noch auf ganz andere Weise geschlossen werden, einige in die Eisenwand eingelassene Ringe verrieten, dass hier gegen Arrestanten manchmal auch anders vorgegangen wurde.
Nun, diese Arrestantin hier hatte über nichts zu klagen als über ihre Freiheitsentziehung. Sie hätte sich auch täglich zwei Stunden an Deck ergehen dürfen, was sie aber verschmähte.
Zwei Tage und Nächte waren nun schon vergangen. Wir wollen nicht versuchen, alle die Gedanken wiederzugeben, die damals durch Lillys Kopf gingen.
Täglich bekam sie mehrmals Besuch. Stets waren es zwei Mann: einer der beiden Detektivs zusammen mit dem Kapitän oder einem Schiffsoffizier als des letzteren Stellvertreters.
Woher dieser Doppelbesuch kam, war ja ganz klar. Es waren gewissermaßen zwei Parteien, und eine misstraute der anderen.
Die Kriminalbeamten hatten das Recht, jederzeit die Arrestzelle zu betreten, mussten sich aber die Begleitung des Kapitäns oder dessen Stellvertreters gefallen lassen — und so war es umgekehrt.
Jedenfalls standen die beiden Detektivs selbst abwechselnd Wache vor der Zelle.
So kam es, dass die Arrestantin weder von einem Detektiven allein vorgenommen werden noch dass sie sich einmal gegen den Kapitän offen aussprechen konnte. Denn da wäre natürlich etwas ganz Anderes besprochen worden. So wurden an sie nur immer ganz allgemeine Fragen gestellt.
Bedient wurde sie immer von zwei Stewards, die sich gegenseitig ablösten. Mit allen beiden versuchte Lilly anzuknüpfen, in der Hoffnung, durch sie an Breithaupt eine schriftliche Nachricht gelangen zu lassen. Aber beide Stewards machten sie bei der ersten Andeutung ernsthaft darauf aufmerksam, dass sie unbestechlich seien, dass sie mit ihnen so etwas nicht erst probieren solle.
»Was meinen Sie denn wohl, Miss, das geht hier um die Ehre unseres Kapitäns! Wir verraten nicht, dass Sie es probiert haben, aber bitte, versuchen Sie so etwas nie wieder.«
So ungefähr hatten sie beide gesprochen. Und sie hatten Recht, Lilly sah es ein.
Der Kapitän war doch offenbar ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle, er hatte für sie Partei ergriffen, hatte für sie getan, was er tun konnte. Aber seine Pflicht durfte er nicht verletzen. Und sie waren auf gesetzlichem Wege Verhaftete und Inhaftierte, da konnte er nichts weiter tun, hatte selbst für sie zu haften.
Übrigens wusste Lilly auch gar nicht, was sie ihrem Leidensgenossen hätte schreiben sollen. Was sie wissen wollte, brauchte sie ja nur den Besuch zu fragen, der Kapitän oder sein Stellvertreter gaben ihr bereitwilligst Antwort, doch sicher der Wahrheit gemäß.
»Herr Doktor Breithaupt befindet sich ganz wohl.«
»Darf ich ihn nicht einmal sprechen?«
»Haben Sie ihm etwas Wichtiges mitzuteilen?«
»Ja. Aber unter vier Augen möchte ich ihn sprechen.«
Nein, das war natürlich nicht angängig. Und da verzichtete Lilly gleich ganz.
»Was macht meine ›Libelle‹?«
»Der Aeroplan ist fest angelascht.«
Das war auch nötig, denn seit gestern herrschte starker Seegang, der Dampfer schlingerte und stampfte heftig.
»Wollen Sie ihn besichtigen? Es steht Ihnen frei, sich für kurze Zeit an Deck zu ergehen.«
Lilly verzichtete.
»Ist alles gegen fremde Untersuchung geschützt?«, fragte sie in Gegenwart des Detektivs den Kapitän.
»Von den Herren Kriminalbeamten ist alles versiegelt worden, und ich selbst lasse ständig Wache neben der Maschine stehen.«
»Sind die Leute auch zuverlässig?«
»Ich habe sie schon danach ausgesucht. Es ist so gut, als wenn ich selbst danebenstände.«
Das alles wurde also alles in Gegenwart des Mister Coldewan gesagt, den das auch nicht weiter rührte, ebenso wenig, wie sich Monsieur Frappart genierte, seine ehemalige Prinzipalin zu besuchen und sich von ihr mit der größten Verachtung strafen zu lassen.
»Gehen Sie hinaus, Sie verpesten meine Kabine!«, hatte Lilly sich bei seinem ersten Besuche zur Heftigkeit hinreißen lassen.
»Ich werde Ihnen gleich Räucherkerzchen und eine Flasche Eau de Cologne zuschicken«, war seine unverfrorene Antwort gewesen.
Einmal hatte sie dem Kapitän wie dann auch dem ihn vertretenden Offizier vertraulich zugeblinzelt, in der Hoffnung, wenigstens ein ebensolches Blinzeln zurückzubekommen, aber beide hatten, obgleich der Detektiv gerade ganz anderswo hinsah, gleich eine so abweisende Miene aufgesetzt, dass Lilly diesen Versuch nie wieder gewagt hatte.
Nein, da war nichts zu machen. Wenn Lilly noch nicht gewusst, dass etwas noch über jede mitleidsvolle Teilnahme geht — die Pflicht! — so erfuhr sie es jetzt.
Als für die Gefangene der dritte Abend anbrach, stoppte plötzlich die Maschine.
Lilly hätte klingeln können, um nach dem Grunde zu fragen — es ist für jeden Menschen ein höchst beängstigendes Gefühl, wenn das Zittern der Schiffsplanken plötzlich aufhört — sie tat es nicht.
Einmal wusste die vielgereiste Artistin, dass wohl jeder Dampfer die Fahrt mindestens einmal unterbricht, um die Maschine an Stellen nachzusehen und zu schmieren, denen sonst im Gange nicht beizukommen ist, bei einer vorhandenen Gefahr wäre an Bord doch gleich ein anderes Leben gewesen, und dann war sie auch schon zu sehr in eine gewisse Apathie gefallen, die ja aber nicht gerade von vollkommener Mutlosigkeit herzurühren brauchte.
Eine Stunde später brachte ihr der Steward das Abendessen. Er hatte wie immer zuvor angeklopft, auf ihre Erlaubnis drehte er im Hereintreten das elektrische Licht an.
»Was gibt es? Warum steht die Maschine?«
»Es ist etwas in Unordnung.«
»Etwas gebrochen?«
»Nein, das nicht. Es haut etwas, wie die Ingenieure sagen. Irgendein Fehler, nach dem jetzt alle Mann suchen. Sie wissen noch gar nicht, wo es ist.«
»So, ich danke Ihnen.«
Weitere drei Stunden vergingen. Lilly las in den Büchern, die sie sich aus der Schiffsbibliothek hatte geben lassen, in der Koje liegend, wie immer völlig angezogen.
Mit den Toilettenverhältnissen der beiden Aviatiker war es ja überhaupt etwas eigentümlich beschaffen. Das sind Sachen, die man überhaupt gar nicht berühren dürfte, und man wird auch immer finden, dass in Reisebeschreibungen auch der sachlichsten Art derartiges immer umgangen wird. Da muss man sich einmal persönlich erzählen lassen. Etwa von Mitgliedern einer Polarexpedition, es brauchen ja nur gewöhnliche Leute zu sein — wenn die wochenlang durch die Eiswüsten marschieren, als Eskimos in Pelze eingenäht, nicht einmal die ziemlich unempfindliche Nasenspitze darf auch nur eine Minute entblößt werden, so grimmig ist die Kälte. Na, da kann man Geschichten hören, nun kann sich's wohl auch jeder selbst ausmalen.
Doch was tut's? Das Ziel, das Ziel!! Und kaum hat man sich aus dem Pelze herausgeschält, so wird man vielleicht von einem König mit höchsten Ehren empfangen, das ist ja alles ganz ›never mind‹.
Gar so schlimm war es bei unseren beiden Aviatikern nicht, aber immerhin — sie waren von vornherein drauf eingerichtet gewesen, einen mehrtägigen Flug auszuführen, ohne sich waschen zu können, ohne ein Hemd wechseln zu müssen, einfach weil sie gar keins anhatten, und hiervon waren sie auch während ihrer Gefangenschaft noch nicht abgewichen. Baden hätten sie sich ja deswegen täglich, ihr für die Ewigkeit berechnetes Lodenkostüm auch gleich in der Badewanne waschen können.
Da klopfte es an der eisenbeschlagenen Tür, und diesmal wartete man nicht erst höflicherweise ihr ›come in‹ ab, ehe man nur den Schlüssel rasseln ließ, das geschah sofort, die Tür öffnete sich auch gleich, ein Mann trat ein.
»Miss Leley, wie Sie auch sind — ich muss Sie sofort sprechen!«
Der Falkenblick der Flugkünstlerin hatte in dem Manne gleich jenen erkannt, der ihr damals beigestimmt, die beiden Detektivs unlauterer Absichten bezichtigt hatte, und mit gleichen Füßen sprang sie aus der Koje.
»Was gibt es? Wer sind Sie?«
»Shocklin heiße ich, ich bin hier dritter Maschinist«, flüsterte der junge Mann im Ölkittel hastig. »Miss, wollen Sie entfliehen?«
»Und ob ich will!«, sagte Lilly einfach, ein Jauchzen unterdrückend.
»Ich habe«, fuhr der Mann hastig fort, »diesem portugiesischen Schufte, dem ersten Ingenieur, gestern eine heruntergehauen, und die ganze Maschinen- und Heizwache stand auf meiner Seite, nahm wenigstens eine drohende Haltung ein, wollte den Portugiesen, hätte er noch einen Mucks gesagt, nur noch mehr vertobacken. Kaltgestellt kann ich nicht werden, ich bin hier unentbehrlich, es ist kein Ersatzmann für mich da, weil der zweite Maschinist krank ist. In Havanna geht's uns natürlich dreckig, uns allen zusammen, und mir natürlich am allermeisten. Wir müssen von Bord, den Schwanz zwischen die Beine nehmen. Aber nicht während der Fahrt, da gibt's kein Ausreißen, dazu sind wir alle zu viel Mann. Den Dampfer bringen wir erst in den Hafen. Nur in Havanna müssen wir schleunigst verduften, ehe die Polizei an Bord kommt. Ich für meinen Teil kann mich auf mindestens drei Jährchen gefasst machen. Na, und wenn's so steht, dann machen wir auch noch etwas Anderes. Wollen Sie fliehen?«
»Na und ob ich fliehen will!«, konnte Lilly nur wiederholen.
Sie war und blieb ganz ruhig, und jetzt wurde auch der Maschinist ruhiger, flüsterte nicht mehr so hastig.
»Wir haben Zeit. Wenn jemand kommt, werde ich rechtzeitig durch das Klingelzeichen gewarnt. Der Mr. Frappart, der jetzt Wache im Korridor hat, hat in seinen Abendtee einen Schlaftrunk bekommen, liegt draußen und schnarcht wie ein Bär, der andere Spitzel liegt in seiner Kabine, und wenn der herauskommt, werde ich eben sofort gewarnt, der Kapitän kann von der Brücke nicht herunter, der erste Ingenieur wird von meinen Leuten festgehalten, die beiden Matrosen, die jetzt Wache stehen, habe ich auf meine Seite gebracht. Also, wir können uns ganz ruhig unterhalten, bis hier die Klingel schrillt.
Wie denken Sie sich nun Ihr Fortkommen von hier? Es gibt wohl nur eins. Diese Nacht muss es noch geschehen. So lange liegen wir hier noch fest. Dieser Schuft von Portugiesen spielt dem Kapitän mit dem Versagen ganz offenbar nur einen Streich. Das passt aber gerade recht für uns. Wir sind hier in einem Wasser, wo alle fünf Minuten ein Dampfer in Sicht kommt. Wenn unser Schiff mit seinen 16 Knoten in voller Fahrt ist, lässt sich so ohne weiteres ja nicht leicht ein Boot aussetzen. Aber so, wenn wir still liegen, ist das eine Kleinigkeit. Es kann ganz unbemerkt geschehen. Wir haben eine stockfinstere Nacht, auch die ganze Deckmannschaft hat sich schon mit uns verschworen. Nur vom Kapitän können Sie natürlich nicht verlangen, dass er Sie auskneifen lässt...«
»Aber erlauben Sie mal«, fiel ihm Lilly ins Wort. »Wozu denn ein Boot aussetzen?«
»Nur dass Sie von Bord kommen und auf ein anderes Schiff. Zwei Matrosen, die etwas auf dem Kerbholz haben, sind bereit...«
»Kann ich denn nicht mit meiner Flugmaschine davongehen? Die lasse ich auf keinen Fall in Stich.«
»Mit Ihrer Flugmaschine?«, wiederholte der andere erstaunt. »Ja, ich denke, die ist unheilbar kaputt.«
»Nein. Das habe ich damals nur so gesagt. Für den lädierten Teil ist Ersatz vorhanden, mit einem einzigen Handgriffe ist alles ausgewechselt.«
So war es. Lilly hatte damals eine falsche Angebe gemacht, ihre Bestürzung war eine erkünstelte gewesen. Sie hatte das getan, ohne noch an einen bestimmten Zweck zu denken. Es war gewissermaßen eine instinktive List gewesen.
»Dann ist die Maschine wieder betriebsfähig?«, zweifelte der junge Mann noch.
»Sofort. Wie gesagt, mit einem einzigen Handgriff ist die ganze Geschichte ausgewechselt. Um das zu erkennen, hat der erste Blick genügt. Da gibt es keinen Irrtum. Ist sonst nichts an der Maschine beschädigt worden?«
»Gar nichts. Sie steht noch so da, wie Sie sie verlassen haben. Aber das in den Kessel von unten geschossene Loch?«
»Das habe ich innerhalb von fünf Minuten zugelötet.«
»Ja dann ist es etwas Anderes, das ändert die ganze Sache!«, flüsterte der junge Mann mit einer Freudigkeit, als höre er seine eigene Erlösung von einem großen Übel. »Dann ist natürlich kein Boot nötig, was mir die größte Sorge machte. Dann ist aber doch keine Minute zu verlieren, gerade jetzt würde alles klappen...«
»Ich bin sofort bereit. Natürlich nehme ich meinen Begleiter mit.«
»Selbstverständlich!«
»Ist der schon benachrichtigt?«
»Noch nicht, aber das kann sofort geschehen. Dann aber auch fort, fort!!«
Jetzt hatte es der Maschinist mit einem Male ungemein eilig.
Nun, Lilly brauchte ja nur auf den Korridor zu treten, auf dem sie den Monsieur Frappart und zwei Matrosen liegen sah. Die beiden Matrosen als Wächter hatten sich wohl mit Absicht einen Schlaftrunk beibringen lassen.
Einige Türen weiter war Breithaupts Arrestzelle, er lag ebenfalls angekleidet in der Koje, mit zwei Worten war er verständigt, beide wurden von dem Maschinisten auf Umwegen an Deck geführt.
Draußen herrschte finsterste Nacht, ganz finster lag auch das Deck da, wo Lilly es erreichte.
»Wissen Sie, wo Sie sind?«, flüsterte der Maschinist. »Hier — hier ist Ihr Aeroplan. Lassen Sie die Stricke noch, die schneide ich durch, wenn es so weit ist. Machen Sie nur Ihre Reparatur. Ein klein wenig kann ich Ihnen dabei leuchten. Oder tun sie es selbst, hier sind zwei Heizer, denen Sie vertrauen können, ich gehe wieder hinunter und halte die anderen in Schach, falls doch etwas laut wird. Jetzt oder nie — der Detektiv bekommt eins auf den Kopf, falls er doch seine Kabine verlässt. Der Kapitän kann nicht abkommen. Vorwärts, los!!«
In der Hand einer schwarzen Gestalt leuchtete ein schwaches Flämmchen auf, in dessen Scheine Lilly mit fliegender Hast zunächst den Werkzeugkasten öffnete, wobei sie natürlich die reichlich angeklebten Siegel zerriss, dann schraubte sie den Wassertank mit dem Gasentwickler auf, legte zurecht, was sie brauchte.
Zur Auswechslung des defekten Röhrensystems hatten wirklich nur wenige Handgriffe gehört, in noch einer Minute war es geschehen.
»Wasser — ich brauche einen Eimer, nur einen Topf mit Wasser, um Knallgas zu entwickeln, um den Lötkolben heiß zu machen, eine Stichflamme zu erzeugen«, hatte sie schon vorher geflüstert.
Ein Eimer mit Wasser war sofort zur Stelle, und die gleich erscheinende Stichflamme bewies, dass der neue Knallgasentwickler tadellos funktionierte.
»Nun noch mehrere Eimer mit Wasser, so viel wie möglich, wenn es unauffällig geschehen kann«, sagte Lilly, als sie auf das geschlossene Loch am Boden ein Stück Blech zu löten begann.
Nach fünf Minuten war auch dies geschehen, der zuschauende Breithaupt, der als Mann der Praxis doch auch etwas davon verstand, musste nur immer über die Schnelligkeit und Handfertigkeit dieses Weibes staunen.
Zehn Eimer Wasser, unterdessen schon bereitgestellt, genügten, um diesen Tank und auch den für das spezielle Trinkwasser zu füllen, alles war wieder verschlossen.
»Wie weit sind Sie?«, flüsterte da die nun schon bekannte Stimme des dritten Maschinisten in der Stockfinsternis.
»Fertig!«
»Sie können losfahren?«
»Sofort!«
»Gott sei Dank. Der Detektiv, der Mr. Coldewan, hat richtig eins auf den Kopf bekommen müssen.«
»Um Gottes willen! Doch nicht tot?!«
»Ohne Sorge. Ned versteht das mit dem Gummischlauche. Nun aber fort! Soll ich die Stricke durchschneiden? Geht das so ohne Weiteres?«
Lilly zögerte. Der Dampfer schlingerte und stampfte ganz mächtig, gerade weil er mit bewegungsloser Schraube dalag. Und einen Anlauf musste der Aeroplan unbedingt nehmen, um sich in die Lüfte erheben zu können, was nur auf Rädern möglich war. Aber auf diesem schaukelnden Deck war das nicht so leicht zu dirigieren, darauf war die Aviatikerin doch noch nicht eingeübt, und nun vor allen Dingen herrschte die schwärzeste Nacht, die auch ihr Adlerblick nicht auf Armlänge zu durchdringen vermochte.
»Brauchen Sie Licht?«, erriet der intelligente junge Mann gleich ihre Gedanken.
»Warten Sie, ich lasse gleich eine elektrische Bogenlampe strahlen.«
»Da wird man uns aber doch sehen, alles ist verraten.«
»Verraten ist dann sowieso alles. Ihre Sache ist nur, dafür zu sorgen, dass Sie rechtzeitig davonkommen. Machen Sie sich bereit.«
Die beiden setzten sich in den Sätteln zurecht, die haltenden Stricke wurden bis auf zwei durchgeschnitten.
»Fertig?«
»All right. Aber erst geben Sie mir noch einmal Ihre Hand. Wem verdanken wir unsere Freiheit und wahrscheinlich mehr noch? Shocklin war Ihr Name, nicht wahr?«
»James Shocklin.«
»Ich hoffe, mich Ihnen noch einmal dankbar erweisen zu können, obgleich man so etwas gar nicht wünschen sollte. Ja, aber was wird nun aus Ihnen?«
»Das lassen Sie meine Sache sein. Mein Fett würde ich ja sowieso bekommen, wenn ich in Havanna nicht rechtzeitig auskniffe. Nun machen Sie's aber kurz, ich höre da unten jemand brüllen, der Spitzel scheint schon wieder zu sich gekommen zu sein. Los!!«
Die beiden letzten Stricke wurden durchgeschnitten, gleichzeitig flammte ein intensiv weißes Licht auf, von einer Bogenlampe ausgehend, die am Mittelmast hing.
Dieses Manöver war nicht gerade glücklich arrangiert. Das plötzliche, so intensive Licht hätte die Steuernde vollständig blenden können. Aber dies war eben nicht der Fall, das Manöver gelang.
Der Neigung des Deckes folgend, rollte der Aeroplan auf die Bordwand zu, und ehe das Schiff sich auf die andere Seite legte, war der Riesendrachen durch Motorkraft schon mit einem mächtigen Sprunge darüber hinweggesetzt, schwebte als Beherrscher der Lüfte in seinem Elemente, rasch in weiten Kreisen sich emporschraubend.
»Der Aeroplan, die Gefangenen sind geflohen!!«, heulte unter ihnen eine Stimme, dem Mister Coldewan angehörend, begleitet von einem fürchterlichen Fluche.
Schnell war der immer allgemeiner werdende Lärm unter ihnen verklungen, auch kein Schuss hätte sie mehr erreichen können, wenn sie in der Nacht überhaupt zu sehen gewesen wären.
»Frei!!«, jauchzte Lilly aus voller Brust. »Wieder frei!!! Und dass ich nicht nochmals in solch eine Situation komme, dafür will ich wohl sorgen!!«
Miss Leley, ich muss Sie wecken.« Nur ein leises Berühren der Schulter war nötig, und Lilly, die fest geschlafen hatte, ohne sich in ihrem luftigen Reitersitz festgehangen zu haben, schaute mit klaren Augen unter und um sich.
Was unter ihr lag, interessierte sie wenig, sie sah nur, wie sich die Strahlen der Sonne, die soeben ziemlich direkt im Osten über dem Horizont aufgetaucht war, in den Schneegipfeln der Berge reflektierten, die sich riesenhaft vor ihnen erhoben.
»Ich habe soeben eine geografische Aufnahme gemacht«, sagte Breithaupt, den ausgeschalteten Motor wieder in Tätigkeit setzend, »wir befinden uns auf dem 25. Breiten- und dem 106. Längengrade — danach muss das dort die Sierra Madre sein, in welchem Gebirge der Monte Cerboli liegt. Ich hielt das für wichtig genug, Sie eine halbe Stunde vor Ablauf Ihrer Freiwache zu wecken.«
Lilly strich sich aus der Stirn die Haare, die sich von der sonst so festgesteckten Frisur gelöst hatten.
»Der Monte Cerboli — endlich, endlich werde ich über das Schicksal meiner Freunde Gewissheit erhalten!«, flüsterte sie erregt.
In 24 Stunden hatte die ›Libelle‹ die letzte Strecke des Atlantischen Ozeans überflogen. Es war etwas mehr nördlich gehalten worden, sodass man den amerikanischen Kontinent über der Halbinsel Florida erreicht hatte.
Von hier aus war es direkt westlich gegangen, in 30 Stunden hatte man die etwas mehr als 300 geografische Meilen lange Landroute durchflogen, für die ›Libelle‹ eine ganz normale Leistung.
Nur ein einziges Mal war gelandet worden, gleich in Florida, um Wasser zu schöpfen, an einem Bache in einsamer Gegend.
Für die Luftschiffer lag doch eigentlich etwas sehr nahe: hier und da zu landen und Menschen zu befragen, ob in den letzten Tagen Zeitungen von einem merkwürdigen Luftschiffe berichtet hätten, das man etwa gar über den Atlantischen Ozean hätte fliegen — oder in ihn hineinstürzen sehen!
Jedes Mal, wenn sie ein Schiff angelaufen, hatten sie denn auch solche Fragen gestellt, so harmlos und vorsichtig wie möglich.
Nein, niemand wusste sich solche Anspielungen auf ein rätselhaftes Luftschiff zu deuten.
Jetzt an Land hätte man das wiederholen sollen, vielleicht mit besserem Erfolge.
Aber... Lilly hatte, wie man vulgär zu sagen pflegt, die Nase voll bekommen. Sie begann sich immer mehr als ein freier Vogel zu fühlen, der die Bekanntschaft des Menschen doch möglichst meidet.
Und schließlich, was hätte man ihnen denn auch berichten können? Dass man hier oder dort ein rätselhaftes Luftschiff erblickt habe, das mit ungeheuerer Geschwindigkeit geflogen war. Und ganz, ganz sicher würden dann die Zeitungen, wie es stets und immer ist, sich gegenseitig widersprochen haben, die eine hätte eine westliche, die andere eine östliche gemeldet usw.
Nein, Lilly wollte sich selbst überzeugen. Es waren ja nur 50 Stunden, dann musste sie unbedingt Gewissheit haben. Wenigstens, ob sich der ›Tyrann‹ an seinem geplantem Ziele eingefunden habe.
»Und wenn er noch nicht dort gewesen ist?«
»So lassen wir auch dort wieder eine auffallende Mitteilung zurück, wohin wir uns wenden, wie auch der ›Tyrann‹ es getan haben wird, falls er schon dort gewesen ist, aber wieder fort musste, aus irgendeinem Grunde, ohne Menschen zurücklassen zu können.«
»Und wohin gehen wir dann?«
»Zunächst wieder nach dem Wüstenbrunnen, um zu sehen, was aus unserer Mitteilung geworden ist. Auf diese Weise müssen wir uns doch einmal wiederfinden.«
»Oder schließlich können wir es auch einmal mit einer Zeitungsannonce versuchen — kehre zurück, Theobald, es ist alles verziehen!«, meinte Breithaupt scherzhaft.
»O ja, warum nicht? Einfacher ist aber, wir fahren nach Utopia, nach unserem paradiesischen Versteck, dorthin kommt das Luftschiff, wenn es nicht einer Katastrophe erlegen ist, doch auf alle Fälle.«
»Ja, warum haben wir da nicht eigentlich gleich dieses Ziel gewählt?«
»Weil das eigentliche Ziel des ›Tyrann‹ doch der Monte Cerboli war, und außerdem... dorthin hätte ich Sie auch nicht mitnehmen dürfen.«
So hatten sich die beiden damals unterhalten.
Ja, es war ganz richtig gewesen, dass sie sich zunächst hierher gewendet hatten, hier bekamen sie zuerst eine Gewissheit, ob oder ob nicht.
»Dann müssen wir doch schon den 60 Meilen breiten Llano Estacado überflogen haben!«, rief sie jetzt.
»Gewiss, die haben wir schon seit einer Stunde hinter uns.«
»Und da haben Sie mich nicht geweckt, als wir über der Triebsandwüste schwebten, in der das Panzerautomobil damals versunken ist?«
»Es hätte wenig Zweck gehabt, Sie hätten so wenig gesehen wie ich, es war wieder eine stockfinstere Nacht.«
»Sie haben Recht, wir wollen uns durch nichts, auch durch gar nichts aufhalten lassen.«
»Wo ist denn der alte Trapper mit seinem Genossen stationiert, der die Stelle im Auge behalten soll, wo damals das Panzerautomobil versunken ist, falls es durch einen Sturm doch einmal wieder freigegeben wird?«
»Am Westrande dieser Wüste.«
»Näheres wissen Sie nicht?«
Nein gar nicht. Das war es eben. Lilly hatte sich für alles, was nicht ihre Flugmaschine anbetraf, so wenig interessiert. Auch sonst war diese Tochter Evas über alle Neugier erhaben.
So kannte sie nicht einmal den Namen dieses Trappers, wusste nicht, nach welcher Stadt oder Station oder nach welchem Fort er sich begab, wenn er mit Mister Hartung im fernen Utopia auf vielen Umwegen in telegrafischen Verkehr getreten war, immer nur berichtend, dass hier ein Sturm gewütet, sich aber nichts gezeigt habe.
Diese Depeschen mussten natürlich sehr geheim gehalten, der Inhalt nur angedeutet werden. Und im Übrigen wusste Lilly eben von alledem nichts.
»Schade«, sagte Breithaupt. »Wenn das Luftschiff hierher gekommen, so hat Mister Hartung doch sicher zuerst diesen Trapper aufgesucht, von dem müssten wir also alles erfahren...«
»Ja, dazu brauchen wir aber doch nur nach dem Monte Cerboli zu gehen, dort erfahren wir es ebenfalls. Denn ist das Luftschiff einmal bis hierher gedrungen, dann geht es doch natürlich auch sofort weiter nach dem Monte Cerboli.«
Lilly hatte Recht. Im schnellsten Fluge wurde die Reise nach dem Gebirgskamme fortgesetzt.
»Unterdrücken wir alle aufregenden Gedanken«, nahm Lilly wieder das Wort, »unterhalten wir uns über irgend etwas, um solche unnütze Gedanken erst gar nicht aufkommen zu lassen. Also Mister Hartung hat Ihnen damals gar nichts von dem Monte Cerboli erzählt?«
»Gar nichts.«
»Auch Mister Green nicht?«
»Der hat darüber erst recht kein Wort verloren.«
»Dann haben Sie also auch nichts von den Urmenschen gehört?«
»Was, Urmenschen?!«
»Jawohl. Behaarte Menschen von riesenhaften Dimensionen, wohl fast zweiundeinhalb Meter groß. Auf diesem völlig isolierten Berge, von der anderen Menschheit unerreichbarer als jede einsame Insel im Ozean, haben sich eben Exemplare der vorsintflutlichen Welt oder der einer sonstigen früheren Schöpfungsperiode erhalten. Die Natur selbst respektierte diese Weltabgeschlossenheit. So kommt dort auch noch der Elch vor, der ja allerdings einst Mexiko bevölkert hat, aber doch ebenfalls in prähistorischer Zeit, jetzt sich bis in den höchsten Norden Amerikas und Asiens zurückgezogen hat.«
Staunend vernahm Breithaupt diesen Bericht.
»Auf welcher Stufe stehen diese Urmenschen?«
»So ziemlich auf der der Tiere, wie wohl schon der Name sagt. Keine Kleidung, keine Hütte, gar nichts. Nicht einmal Feuer kannten sie. Also nichts weiter als riesenhafte Affen, nur äußerst menschenähnlich, noch viel menschenähnlicher als der Gorilla. Hartung hat damals wohl sechzehn Stück gezählt, darunter drei halbwüchsige Kinder. Offenbar standen auch sie schon auf dem Aussterbeetat, unsere Freunde sahen wahrscheinlich die letzten Familien.«
»Und wie kamen sie mit diesen menschlichen Ungeheuern aus?«
»Nicht gerade gut. Wenn sie es wagen zu können glaubten, griffen sie unsere Robinsons an, meist aus der Ferne mit Steinen werfend. Als sie die Wirkung der Feuerwaffen kennen lernten, unterließen sie das freilich bald. Dann haben die beiden verschiedenen Menschenrassen ziemlich friedlich nebeneinander gelebt, beachteten sich nicht weiter. Gleich im Anfange wurde Miss Leonor von dem einen Menschenaffen geraubt, sie wurde ihm aber schnell wieder abgejagt, und dann Adam Green von solch einem wilden Weibe, wollte ihn als ihren Liebhaber erküren.«
»Was Sie nicht sagen! Wie war denn das?«
»Das, lieber Freund, müssen Sie sich von Mister Green selbst erzählen lassen. Sorgen Sie aber zuvor dafür, dass die Nähte ihrer Schädeldecke gut in Ordnung sind, sie könnten sonst aus den Fugen gehen. Wie das bepelzte Riesenweib das kleine Männchen zwischen ihren Fäusten wie eine Puppe herumdrehte, seine Kleidung für seine Haut haltend, wie dann ein anderes wildes Weib hinzukam, wie sich die beiden um das Menschlein einer anderen Welt stritten, es hin und her rissen, bis Adam aus dem Leime ging, der einen seinen Arm, der anderen sein Gummibein in der Hand ließ, wie er auf einem Beine davonhüpfte, wie er dann seine stark angenagten Gummiglieder wiederfand — es ist das Köstlichste des Humors, was ich je gehört habe. Freilich muss nun eben Adam Green es erzählen, in seinem Englisch, wie er das versteht — hahahaha!!!«,
Und Lilly wollte sich noch jetzt totlachen, konnte sich gar nicht wieder beruhigen.
So erreichten sie den ziemlich scharf begrenzten Kamm des Gebirges, und sie mussten sich zunächst beraten, in welcher Höhe sie darüber hinwegfliegen wollten, ob es nämlich in größerer Höhe nicht so grimmig kalt sein würde wie näher dem Boden.
Denn sie befanden sich schon weit über der Grenze des ewigen Schnees, mitten im Sommer starrte hier alles von Eis, gerade hier hauchte ein unübersehbarer Gletscher intensive Kälte aus, das Thermometer zeigte minus 15 Grad Celsius, und Pelze hatten zur vorschriftsmäßigen Ausrüstung des Aeroplans freilich nicht gehört.
Doch schließlich handelte es sich ja nur um wenige Minuten. Die ›Libelle‹ konnte in einer einzigen Minute bis zu zwei Kilometer machen, und mehr als fünf war der Kamm dieses Gebirges nicht breit, dann senkte er sich wieder jäh hinab, die ›Libelle‹ folgte ihm, unter sich sahen sie in üppiger Fruchtbarkeit prangende Täler, hier und da mit einer Ansiedlung.
»Was für eine ist das dort, die man schon mehr mit einer Stadt bezeichnen kann?«
Die Karte konnte hier gar nichts sagen, wenigstens nicht eher, als bis man eine geografische Ortsbestimmung gemacht hatte.
Breithaupt machte die Sonnenaufnahme, worin er sich auf dem fliegenden Aeroplan schon völlig eingeübt hatte, und dieser brauchte dabei durchaus nicht still zu schweben, nur etwas langsamer fliegen musste er, sonst veränderte sich der zu berechnende Punkt ja noch während der Aufnahme gar zu sehr.
»Das kann nur Parras sein, die dem Höllental nächste Stadt, welche auch das Panzerautomobil damals passierte.«
»Dann ist der Berg dort auch der Monte Cerboli.«
Ja, so war es, es brauchte deshalb keine geografische Ortsberechnung mehr gemacht zu werden.
Mitten in einem weiten Tale erhob sich ein isolierter Bergkessel, ziemlich bewaldet, und als sie über diesem Tale schwebten, sahen sie es ja selbst.
Das Höllental, noch von keines Menschen Fuß betreten, so viel die Welt weiß!
In der Erzählung ›Im Panzerautomobil um die Erde‹ ist es ganz ausführlich beschrieben worden, hier sei nur das Nötigste wiederholt.
Die Luftschiffer glaubten unter sich eine Winterlandschaft zu erblicken. Alles ganz weiß. Aber das war kein Schnee, sondern Borax, der sich von Borsäure gebildet hatte.
Diese Borsäure kam aus sogenannten Mofetten, aus Dampfquellen, die ihren weißen Gischt viele Meter hoch emporspritzen ließen.
Das durch eine chemische Verbindung entstandene Borax hatte alles überzogen, und der Eindruck einer Winterlandschaft wurde um so stärker, weil sich aus der Ebene hier und da ein Baum erhob, groß oder klein, der bis auf das letzte Zweiglein so total überzuckert war.
Aus dem Vorhandensein dieser Baumreste konnte man schließen, dass früher auch hier einmal eine Vegetation geherrscht hatte, die Borsäurequellen waren erst später durch eine Erdkatastrophe hervorgebrochen, hatten natürlich alles Organische vernichtet, aber auch alles für die Ewigkeit konserviert. Doch mochte sich dies schon in prähistorischer Zeit abgespielt haben.
Das ganze Tal umfasste etwa vier geografische Quadratmeilen, war von sehr hohen, überlall fast senkrechten Felswänden eingeschlossen, und genau in der Mitte erhob sich der Bergkegel, nicht ganz so hoch wie die Talumfassung, ein erloschener Vulkan, meist mit Nadelwald bedeckt, zwischen dem aber auch helles Laubgrün hervorleuchtete.
Da die Borsäure viel schwerer ist als die atmosphärische Luft, blieb sie unten, ließ auf dem Berge eine Vegetation gedeihen.
Hin und wieder schlängelte sich durch das Tal auch ein Bach, und Lilly konnte nach den vernommenen Berichten erklären, dass alle diese Bäche kochend heißes Wasser führten, obgleich man nichts von Dampf sah, und natürlich vollkommen ungenießbar, mit Borsäure und Schwefelverbindungen übersättigt.
»Nur ein Bach führt kaltes, genießbares Wasser, derjenige, der aus dem Berge hervorkommt, durch welche ausgewaschene Höhle die Automobilisten überhaupt erst in den Berg dringen und durch einen Tunnel hinaufgelangen konnten.«
»Und wo ist das Goldfeld?«, fragte zunächst Breithaupt, als von einem Weibe geborener Mensch.
»Nun, sehen Sie dort unten nicht überall die Goldkörner blitzen?«
Nein, der junge Ingenieur besaß nicht die Falkenaugen seiner Begleiterin, und hier versagte auch das Fernrohr.
»Ich sehe ja auch nicht die Goldkörner, sondern nur, wie es zwischen dem weißen Schnee oder Borax immer aufblitzt. Aber dort, dort — das ganze Goldfeld sehen Sie doch wohl!«
Ja, das sah Breithaupt, und er stieß einen Ruf der Überraschung aus.
Nur der Berg hatte ihnen noch den Anblick verdeckt, jetzt erblickten sie den Bach, der unten aus dem Berge hervorkam, nur ein schmales Wässerchen, aber mit einem sehr breiten Bette, und dieses Bett war ein einziger Goldstreifen, so weit glänzend und gleißend, bis er in die Region der Borsäure kam, die mit dem weißen Borax alles zudeckte.
Dass dies nicht gleich am Austritt des Baches aus dem Berge geschah, kam daher, weil der Bach aus einer Höhle hervorfloss, in die er sich erst mit intensivem Sturz ergoß, im Innern des Berges, dieser Wasserfall riss viel gute, reine Luft mit sich, von dem hohen Berge herstammend, die Luft ward in die Höhle gepresst, musste am Ausgange wieder heraus, drängte so die Borsäure zurück.
Doch was interessierten sich diese beiden Luftschiffer jetzt für solche Fragen und Probleme? Breithaupt schämte sich schon, weil er sich von dem Anblicke des Goldes hatte blenden lassen.
War das Luftschiff hier, oder war es doch schon hier gewesen?
Ach, da war gar keine Aussicht vorhanden. Der Aeroplan wäre jetzt schon sicher entdeckt worden, man hätte sich doch bemerkbar zu machen gewusst, und wäre der ›Tyrann‹ schon eher hier gewesen und hätte man den verlorenen Aeroplan hier erwartet, so hätten die Luftschiffer doch sicher ein ganz deutlich sichtbares Zeichen hinterlassen.
Aber nichts von alledem. Und aus solcher Höhe kann man doch alles ausgezeichnet beobachten.
»Nein, auch hier ist er noch nicht gewesen«, sagte Lilly nach einiger Zeit, während welcher sie die ›Libelle‹ über den ganzen Berg Bogen beschreiben ließ. »Und doch, er kann noch kommen, er kann unterdessen schon wieder an dem afrikanischen Wüstenbrunnen gewesen sein, befindet sich bereits auf der Reise hierher. Einige Zeit müssen wir uns immerhin hier niederlassen und warten.«
»Wie lange?«
»Das kommt ganz darauf an, da dürfen wir jetzt noch keine Frist setzen.«
»Dort unten ein Elch!!«
Ja, da es nun einmal so war, gab sich auch Lilly ganz dem Eindrucke dieser isolierten Welt hin, in der sich die Urzeit noch einigen Spezies der Schöpfung erhalten hatte.
Auf einer Waldblöße graste ein riesiger Hirsch mit mächtigem, schaufelförmigem Geweih — ein Elch, wie er sich noch in Kanada, im Norden Asiens und in einigen wenigen Exemplaren auch noch in einem russischen Park vorfindet.
Beim zufälligen Emporwerfen des Kopfes erblickte das Tier den unheimlichen Drachen in der Luft, ein starrer Blick, und mit einem stöhnenden Schrei flog der Elch davon, verschwand in dem dichten Nadelwalde. Der ungemein plumpe Lauf hatte fast possierlich ausgesehen, und ganz deutlich hatte man dabei ein seltsames Geräusch gehört, durch das Nachschleifen der Auswüchse an den Hufen verursacht, ein Charakteristikum des Elchs, wodurch er sich beim Laufen aus weiter Ferne bemerkbar macht.
»Wir wollen erst den ganzen Berg oben aus der Luft absuchen, ehe wir uns niederlassen, was überhaupt seine Schwierigkeiten haben dürfte.«
»Weshalb denn?«
»Schwierigkeiten nicht, wohl aber wenig Zweck. Wir dürfen uns ja nicht weit von der Flugmaschine entfernen, oder doch nur immer einer, und auch das nicht gar so weit. Denken Sie nur an jene wilden Menschen.«
»Ja, ob von diesen keiner zu erblicken ist?«
Sie flogen kreuz und quer, möglichst dicht über den Bäumen dahin, dann sich wieder hoch in die Lüfte erhebend, um einen allgemeinen Überblick zu gewinnen, flogen tief um den ganzen Berg herum, bis sich die beizende Borsäure in den Lungen und in der Nase bemerkbar machte — sie erblickten zahlreiche Vögel, Hirsche, Rehe und andere Tiere, sich von denen des gebirgigen Mexiko nicht unterscheidend, reißende Tiere sollten ganz fehlen, sie erblickten drei Elche, noch aus der Vorzeit stammend, aber keines jener menschlichen Ungeheuer.
»Entweder haben sie sich rechtzeitig versteckt«, meinte Lilly, »oder sie sind unterdessen alle gestorben. Mr. Green , der sich auf so etwas zu verstehen scheint, erklärte, es sei ihm ganz so vorgekommen, als hätten diese noch vorhandenen Familien auf dem allerletzten Aussterbeetat gestanden, die Kinder waren trotz aller Größe ganz verkümmert, dazu offenbar allgemeine Schwindsucht, und das ist nun schon sieben Jahre her...«
»Dort — ein Mensch!!!«
Der Aeroplan befand sich soeben direkt über dem Gipfel des Berges, der dort oben eine große Waldblöße hatte. Jetzt sah auch Lilly, was Breithaupt zufällig zuerst erblickt hatte.
Auf einem Steine, wie die dort oben herumlagen, saß eine menschliche Gestalt. Das Bemerkenswerteste war sehr langes Haar und ein sehr, sehr langer Bart. Sonst konnte man aus einer Höhe von 50 Metern über dem Boden nicht viel unterscheiden, höchstens noch konstatieren, dass es kein so großer Mann war. Und dann wohl völlig nackt.
»Vielleicht ein Kind dieser Gesellschaft?«
»Gehen wir hinab.«
Es geschah, der Aeroplan senkte sich. Dadurch rückte die Gestalt wohl näher, aber deutlicher wurde sie nicht. Sie saß eben zusammengekauert auf einem Steine, blickte nicht auf. Man sah nichts weiter als eine Unmenge flachsblonder Haare, welche die Glieder fast vollständig umhüllten.
Und das Hinabgehen des Aeroplans hatte seine Grenzen, weil die Bäume hier eine Höhe von mindestens 20 Metern hatten und die Blöße zu klein war, als dass die Flugmaschine innerhalb ihrer Grenzen hätte Bogen beschreiben können.
»Landen wir. Zu fürchten brauchen wir uns ja nicht, höchstens, dass dieses kleine Ungeheuer die Flucht ergreift, wenn es uns erblickt, und dass wir es dann nicht wiederfinden können.«
Hinter ihm zu landen, war nicht möglich. Die Landung ging in der Mitte der Blöße glatt vonstatten.
Jetzt musste das Wesen den riesigen Drachen unbedingt erblicken, mochte dieser sich auch noch so geräuschlos niedergelassen haben.
Gewiss, das menschliche Wesen sah den Aeroplan, es hatte ja jetzt den Kopf erhoben, blickte direkt hin.
Aber ein Wunder zu nennen war es, dass es gar nicht an Flucht dachte, ruhig sitzen blieb. Denn das ›starr vor Staunen‹ hat doch seine Grenzen.
»Merkwürdig«, meinte Lilly, »da möchte man fast meinen, der Kerl sei blind.«
»Oder es ist noch ein ganz unbeholfenes Kind, mindestens ohne jede Erfahrung.«
»Nun, gehen wir hin.«
»Wir beide zusammen?«
»Warum nicht? Den Aeroplan einmal allein zu lassen, daran müssen wir uns doch schließlich gewöhnen. Wenn er nur im Bereiche unserer Gewehre bleibt.«
Lilly hatte dem Waffenkasten zwei pneumatische Gewehre und Pistolen entnommen, mit deren Handhabung Breithaupt bereits vertraut geworden, deren fürchterliche Wirkung er schon an harmlosen Gegenständen oder an Möwen kennen gelernt hatte. Jede Waffe enthielt zehn Schuss, und das genügte.
Sie begaben sich hin, es waren nur wenige Schritt.
Seltsam! Das menschliche Wesen musste sie unbedingt sehen, und es schmunzelte ihnen ganz vergnügt entgegen.
Ja, was für ein menschliches Wesen war das überhaupt?
Mit einem jener Ungeheuer, wie Adam Green es beschrieben, hatte es gar keine Ähnlichkeit, auch wenn es ein Kind gewesen wäre. Aber das war es sicher nicht.
Es war ein zwerghaft kleiner Mann, wie man schon jetzt in seiner sitzenden Stellung berechnen konnte, im Stehen wenig über anderthalben Meter hoch, gedrungen, äußerst muskulös gebaut, auf den für diesen kleinen Körper mächtig zu nennenden Schultern ein entsprechend großer Kopf mit Stiernacken, das faltige Gesicht eines alten Mannes, und nun dazu der ungeheuer lange Bart, das Blond grau meliert...
»Das ist ja der Zwerg Alberich, wie er im Buche steht, der furchtbare, riesenstarke Zwerg, mit dem selbst Siegfried seine liebe Not hatte«, flüsterte der junge Ingenieur.
Auch Lilly hatte von dieser Sagengestalt schon gehört, und sie konnte es bestätigen. Ja, das war der richtige Zwerg Alberich!
Nur dass der grimmige Gesichtsausdruck fehlte, der zu diesem Zwerge, dem Hüter des Nibelungenschatzes, den er aber auch erst gestohlen hatte, fehlte. Dieses runzlige Gesicht hier war vielmehr ein recht gutmütiges, noch freundlicher blickten die blauen Augen, und nun vor allen Dingen auch dieses vergnügte Schmunzeln, wie er den Kommenden entgegenblickte.
Den beiden wurde ganz unheimlich zumute. Sie sahen schon das unlösbare Rätsel kommen, von dem diese erste Bekanntschaft nur die Einleitung war.
»Das ist doch kein Kind!«
»I wo, das ist doch ein alter, erwachsener Mann, eben nur zwergenhaft.«
»Ich meine ein Kind von jenem Riesengeschlechte, vielleicht das letzte Exemplar.«
»Nein, nein, diese Kinder sahen ganz, ganz anders aus, Adam Green hat sie mir genau beschrieben. Das waren nur langaufgeschossene Exemplare, welche die Muskulatur ihrer starken Eltern schon nicht mehr besaßen. Und außerdem total behaart, mit einem richtigen Pelz.«
Bei diesem war das nun allerdings nicht der Fall. Nur langes Haupthaar und ein sehr langer Bart, sonst war die schmutziggraue, pergamentartige Haut unbehaart.
Dass der dichte Bart bis weit über den Leib reichte, zumal so im Sitzen, dann aber auch im Stehen, war übrigens sehr gut, hier in Gegenwart der Dame, denn sonst war dieser Mann nicht einmal mit einem Feigenblatt bekleidet.
»Ja, wen haben wir denn da nur vor uns?«
»Einfach ein anderes Exemplar einer für die übrige Welt ausgestorbene Menschenrasse, das letzte Exemplar eines Zwergengeschlechtes.«
»Solche Zwerge oder nur einen haben die Automobilisten damals aber nicht vorgefunden.«
»Er ist ihnen entgangen.«
»Die haben sich hier sechs Wochen aufgehalten, den ganzen Berg gründlich durchforscht.«
»Er hat sich noch gründlicher zu verstecken gewusst.«
»Der macht aber doch einen ganz geistesschwachen, sogar blödsinnigen Eindruck, und wäre er es nicht, so würde er doch vor uns fliehen.«
»Ganz richtig, damals braucht er doch noch nicht geistesschwach gewesen zu sein, ist es in den letzten sieben Jahren erst geworden.«
So debattierten die beiden, kamen dadurch der Lösung dieses Rätsels natürlich nicht näher, was sie wohl selbst fühlten.
»Who are you? Wer sind Sie?«, redete da Lilly den nackten Zwerg an.
Diese Frage hatte doch eigentlich sehr nahe gelegen. Oder auch nicht. Breithaupt fand sie im Augenblicke sehr humoristisch, hätte fast gelacht. Er war eben ein vielgereister Mann, ein Forschungsreisender schon oft mit Menschen in Berührung gekommen, die sich von wilden Tieren wenig unterschieden. Durch solche Erfahrungen gewöhnt man sich derartige Fragen wie ›Wer sind Sie, mein Herr?‹ ganz ab. Und nun hier dieser splitterfasernackte Zwerg auf dem von aller Welt isolierten Berge, der letzte Repräsentant eines vorsintflutlichen Zwergengeschlechtes...
Da aber öffnete dieser vorsintflutliche Zwerg den Mund und kicherte mit dünner Stimme, die sonst gar nicht zu seinem sonstigen Körperbau passen wollte:
»Dead, all dead — tot, alles tot — hihihihihi!«
Es lässt sich gar nicht wiedergeben, wie und warum die beiden über diese englischen Worte so furchtbar erschraken, dass sie gleich zurückprallten.
»Allmächtiger Gott, ein Engländer!!«, stöhnte Lilly.
»Oder doch ein Englisch sprechender Europäer, Germane«, verbesserte der Forschungsreisende, sich zuerst beherrschend.
»Wie kommt der hierher?«
»Fragen wir ihn doch. Wer sind Sie?«
Jetzt also war die Frage berechtigt.
Der alte Zwerg öffnete den Mund, aber nur um ein kicherndes ›Hihihihihi‹ auszustoßen.
»Wie kommen Sie hierher?«
»Hihihihihihi.«
Und dabei blieb es.
»Der ist irgendwie hierher gekommen und ist hier verwildert«, meinte Lilly, aber flüsternd, ängstlich. Man muss sich nur die Situation vorstellen, um das begreiflich zu finden.
»Warten Sie mal. Wie viel Besatzung hatte denn jenes Panzerautomobil?«
»Alle zusammen waren es fünf, die beiden Diener fanden hier den Tod...«
»Könnte das nicht...«
»Ich weiß, woran Sie denken. Nein, nein. Die beiden sind hier wirklich gestorben. Der eine spaltete dem anderen im Fieberdelirium den Kopf und stürzte sich dann selbst draußen in eine Mofette, an dem Tod dieser beiden Diener ist gar kein Zweifel, und dann war auch keiner von ihnen solch ein Zwerg. Es waren große, normale Menschen, ich habe verschiedene Gruppenbilder gesehen, auf denen sie mit waren.«
»Dann will ich anders vorgehen. Ja, wir haben offenbar einen in der Einsamkeit verwilderten, zum Tiere herabgesunkenen Menschen vor uns, und ich habe mit solch einem Geschöpf schon einmal Erfahrungen gesammelt. Zunächst muss ihm die Erinnerung geweckt werden. Sprechen hat er uns schon genug gehört, das scheint wenig Eindruck auf ihn zu machen. Vielleicht spricht er auch gar nicht Englisch, hat nur jene drei oder nur zwei Worte aufgeschnappt, ›dead, all dead‹.«
Er versuchte es mit Deutsch, Französisch, Lateinisch und, weil er es nun einmal konnte, Arabisch, die Artistin konnte dieselben Fragen noch in Italienisch und Spanisch wiederholen.
Vergebens, keine Antwort, es machte auch keinen Eindruck auf ihn, lockte nur immer das blöde Kichern hervor.
»Dann etwas anderes.«
Breithaupt hatte von dem Dampfer her noch eine Schachtel Streichhölzer in der Tasche. Sonst führte er als Forschungsreisender schon aus Gewohnheit immer ein echtes Feuerzeug bei sich, aus Stahl und Feuerstein bestehend, unverwüstlich, den Zunder kann man sich aus allen möglichen Substanzen selbst herstellen. Streichhölzchen sind mehr für große und kleine Kinder, die jeden Abend brav ins Bettchen gehen.
Also riss er ein Streichholz an, ließ es brennen, den bärtigen Zwerg scharf beobachtend.
»Da da da — bemerken Sie es?«
Ja. Lilly bemerkte es, es war gar zu deutlich — wie die Augen des Zwerges beim Anblick der kleinen Flamme aufleuchteten, halb freudig, halb gierig, und dann streckte er die kleinen, aber muskulösen Hände mit den zolllangen Nägeln aus, aber nicht, um die Flamme zu greifen, sondern er rieb die Hände nur zusammen wie ein frierender, sich am Feuer wärmender Mensch...
Da erlosch die kleine Flamme.
»Tot, alles tot, hihihihihihi!«, erklang es wiederum, aber diesmal hatte das Kichern einen unsäglich traurigen Beiklang, und ebenso erlosch die Freudigkeit des Auges zu einem traurigen Blick.
Noch einmal dasselbe Experiment — ganz genau derselbe Erfolg, und auch wieder genau dieselben Worte mit demselben Klange.
»Tot, alles tot, hihihihi!«,
»Tot, alles tot, hihihihihihi!«,
»Das war doch Feuer.«
»Hihihihihihihi«, erklang es jetzt schon lustiger.
Das Wort Feuer wurde in den verschiedensten Sprachen wiederholt — ohne Erfolg, jetzt blieb es bei dem blödsinnigen, aber vergnügten Kichern.
»Trotzdem, er kennt das Feuer«, sagte Breithaupt. »Jene riesigen Affenmenschen besaßen kein Feuer?«
»Nein. Das versicherte Adam Green mir mit Bestimmtheit, eben weil ich mich hierfür interessierte.«
»Sie lernten es auch nicht von den Europäern kennen?«
»Auch nicht. Gesehen mögen sie das Lagerfeuer ja oft haben, aber von einer Nachahmung gar keine Rede.«
»Haben sich Mister Hartung und seine Begleiter nicht mit den riesigen Urmenschen beschäftigt, wenigstens einem etwas Englisch beigebracht und...«
»Sie sind mit den Ungeheuern absolut nicht in Berührung gekommen. Ja, Herr Doktor, und glauben Sie denn immer noch, dieser Zwerg sei schon damals hier gewesen und habe sich nur versteckt gehalten?«
Nein, jetzt wies Breithaupt diese Annahme ein für allemal zurück.
»Wie mag er aber sonst hierher gekommen sein?«
»Mit einem Luftballon, Luftschiff, mit einem Aeroplan, schon vor einigen...«
Lilly brach ab, weil der Zwerg plötzlich aufgestanden war. Ja, größer als anderthalb Meter war er nicht. Nicht gerade ein Zwerg, aber doch ein sehr, sehr kleiner Mensch, und nun gerade wegen seines sonstigen starken Körperbaues, mit diesen wahrhaft mächtigen Schultern und dem langen Barte, machte er ganz den Eindruck eines Zwerges, aber eines echten, eines Wichtelmannes, erinnerte eben an den Zwerg Alberich.
Doch dieses Aufstehen war es nicht, was Lilly plötzlich abbrechen ließ.
Wieder waren die blauen Augen aufgeflammt, aus dem gewöhnlichen Grinsen wurde ein pfiffiges Lächeln.
»Ae — ae — aero...«
Er wollte etwas sagen, brachte es aber nicht heraus.
Aber die beiden hatten es sofort erfasst.
»Aeroplan!«, riefen sie gleichzeitig.
Doch er wiederholte dieses Wort nicht, jetzt nicht und niemals, er kicherte nur, schritt auf die Flugmaschine zu und...
»Elektra, hihihihi, Elektra, hihihihi.«
Wieder ein neues Wort, welches er aber nicht wiederholte, was sich die beiden auch für Mühe gaben, und ebenso zeigte er fernerhin kein Interesse mehr für die Flugmaschine.
Doch auch das hatte genügt. Die Erinnerung hatte wenigstens einen aufklärenden Funken von sich gegeben.
»Ohne Zweifel ein Aviatiker, der mit seiner Flugmaschine über das Höllental auf den Monte Cerboli geflogen ist, hier verunglückte, und wahrscheinlich hatte seine Flugmaschine den Namen ›Elektra‹, ob sie nun elektrisch betrieben wurde oder nicht. Haben Sie von solch einem Unternehmen in den letzten Jahren gehört, Miss?«
Nein, Lilly wusste nichts davon.
»Hieß deine Flugmaschine, dein Aeroplan ›Elektra‹?«, fragte er den Zwerg.
»Tot, alles tot, hihihihihi«, wurde fröhlich gekichert.
Und dabei blieb es. Auf jede weitere Frage kicherte er nur oder setzte sein ›tot alles tot‹ voraus, und bei einigen Fragen, wie zum Beispiel wegen seiner Flugmaschine, hatte das ja auch einen gewissen Sinn, wenn wohl auch unbeabsichtigt ergeben.
Man wollte ihm zu essen geben, ihm moderne Nahrungsmittel zeigen, in der Hoffnung, dadurch die Erinnerung zu wecken.
Er nahm die Biskuits und das dargereichte Stück geräuchertes Fleisch mit offenbarem Misstrauen, schnoberte daran wie ein Hund und gab es mit einem vergnügten Kichern zurück, ließ sich durch ein Voressen mit wohlgefälligem Magenreiben nicht verleiten, davon einen Bissen zu kosten.
Dann aber winkte er kichernd, wandte sich zum Gehen, winkte immer wieder.
Die beiden folgten, vergaßen ganz die Sicherheit ihres Aeroplans. So gespannt waren sie, wohin jener sie führen würde.
Es war gar nicht so weit. Immer zwischen die Äste der Bäume spähend, kletterte er an einem solchen mit der Gewandtheit eines Affen empor, verschwand zwischen den Zweigen, kehrte mit drei Vogeleiern zurück, von denen er eins im weitaufgesperrten Munde, zwei in der einen Hand trug.
Jetzt spielte er den freigebigen Gastwirt, gab jedem ein Ei, mit dem dritten zeigte er, immer kichernd, wie man es machte, schlug das Ei auf der einen Seite sanft auf, bohrte mit dem Fingernagel noch ein Loch, setzte es an und schlürfte.
Gleich aber setzte er es wieder ab, es war ihm etwas in den Mund gekommen, was in ein ›Trinkei‹ nicht hineingehört — das Ei war schon stark angebrütet gewesen, ein schon ganz hübsch entwickeltes Vögelchen kam zum Vorschein.
Desto vergnügter aber ward nun das Kichern, der Vogelembryo verschwand hinter dem Gehege der noch gut erhaltenen Zähne, schmatzend ward dazu auch noch die übrige Sauce aus dem Ei geschlürft.
»Tot, alles tot, hihihihi.«
Die beiden Zuschauer waren durch ihre ganze Lebensweise Menschen geworden, die sich ob solch eines Mahles entsetzten, aber dass sie sich trotz allen freundlichen Nötigens durch Gestikulationen nicht dazu bewegen ließen, seinem Beispiele zu folgen, braucht wohl nicht besonders erwähnt zu werden.
Und doch, warum hätten sie diesem Beispiele nicht folgen sollen?
»Er ist vollständig zum Tiere herabgesunken«, sagte Breithaupt.
»Weshalb denn? Weil er unausgebrütete Vögel verspeist? Gerade der hochgebildete Mensch frisst noch etwas ganz anderes. Eben erst aufgebrochene Muscheln, Austern, die nicht mehr leben, aber auch noch nicht ganz tot sind, die noch im Sterben liegen. Und was das hier anbetrifft — auf allen südamerikanischen, besonders brasilianischen Märkten werden als höchste Leckerei ungeborene Ziegen, Lämmer, Schweine und Kälber feilgeboten, aus dem noch warmen Mutterleibe herausgeschnitten, und ich weiß bestimmt, dass diesem Barbarismus auch in den Hauptstädten Europas gefrönt wird, nur in aller Heimlichkeit, weil's die Polizei nicht erlaubt. Aber es wird schon noch kommen. Das Spanferkel ist der Anfang davon. — Ja, und doch, Sie haben Recht — er ist so tief gesunken, wie ein Mensch sinken kann — das heißt, zur Urmutter Natur zurückgekehrt. Denn manchmal kann der Mensch noch tiefer sinken als das liebe Vieh.«
Der Zwerg schlürfte die beiden anderen verschmähten Eier samt kompaktem Inhalte aus, winkte wieder, man folgte ihm.
Wieder nicht so weit, so blieb er stehen, deutete in ein Gebüsch hinein.
»Tot, alles tot, hihihihi.«
Was lag da am Boden? Ein Gerippe, das einem riesenhaften Menschen angehört hatte, und Breithaupt konstatierte dann aus der Schädelbildung die Affenähnlichkeit.
Dann führte der Zwerg die beiden zu einem anderen menschlichen Gerippe.
»Tot, alles tot, hihihihi.«
Ja, man glaubte es ihm, dass alle diese letzten Exemplare eines prähistorischen Menschengeschlechtes, das hier gehaust hatte, tot seien.
Die Hauptsache war, dass jetzt dieser Zwerg hier mitteilsamer wurde, freiwillig erklären wollte, so gut er konnte.
»Hast du diese großen Menschen getötet?«
»Tot, alles tot, hihihihi.«
Über mehr Worte verfügte er nicht. Auch das Wort ›Elektra‹ wollte er nicht wiederholen, selbst nicht auf Vorsprechen.
Trotzdem probierte man es immer wieder. Auch das Wort Aeroplan hatte ja solchen Eindruck auf ihn gemacht.
»Wo ist denn dein Aeroplan jetzt?«
»25 Grad 14 Minuten 18 Sekunden nördliche Breite, 102 Grad 51 Minuten 20 Sekunden westlich von Greenwich, hihihihi.«
Die beiden waren doch förmlich erschrocken! Das war so geläufig herausgekommen, aus dem Munde dieses nackten, total verwilderten Zwerges! Man hätte doch alles andere eher zu hören erwartet, als solch eine wissenschaftliche, ganz genaue Ortsbestimmung.
»Was sagst du da?«
»Tot, alles tot, hihihihi.«
»Wo befindest du dich hier?«
Da wurden jene Zahlen geläufig wiederholt.
»Hallo, das muss ich mir zunutze ziehen«, sagte Breithaupt zunächst. »Die geografische Bestimmung für diesen Berg dürfte stimmen, das weiß ich ungefähr aus dem Kopfe. Aber dieser Aeronaut kennt die geografische Lage bis zur Sekunde, der hat die Berechnung mit den besten Instrumenten gemacht oder er kennt sie aus Büchern, und ich kann mich auf ihre Richtigkeit verlassen, und so habe ich hier gleich Gelegenheit, meinen Chronometer danach zu justieren.«
Sie begaben sich nach dem Aeroplan zurück, der Ingenieur machte eine Berechnung der geografischen Lage, welche um einige Sekunden von der angegebenen differierte. Da er aber nun den unbewussten Angaben des Zwerges traute, so ging eben sein Taschenchronometer falsch, etwa eine halbe Minute vor, was sich durch eine Umdrehung ergab.
»So, nun habe ich wieder richtige Uhrzeit.«
»Haben Sie bemerkt, wie gespannt der Sie beobachtete, als Sie die Instrumente handhabten?«, flüsterte Lilly.
»Ja, ich habe es gemerkt. Natürlich, der weiß auch mit einem Sextanten umzugehen.«
Kichernd nahm denn auch der Zwerg das dargebotene Instrument, visierte nach der Sonne, freilich gar nicht in sachgemäßer Weise, er tat nur so, und dabei sagte er mit geläufiger Zunge:
»22 Grad nördliche Breite, 8 Grad westlich von Greenwich, hihihihi.«
Hoch horchten die beiden auf, ganz besonders Breithaupt.
»22 Grad nördliche Breite und 8 Grad westliche Länge?«, wiederholte zunächst Lilly. »Das muss doch Afrika sein!«
»Jawohl, von dort kommen wir soeben«, bestätigte der Ingenieur, noch viel erstaunter als jene. »Dortherum muss jener Wüstenbrunnen liegen, das weiß ich und wusste es von vornherein aus dem Kopfe.«
Die Karte wurde befragt. Gewiss, die von dem Zwerge genannten Grade gingen durch jene Gegend Afrikas, in welcher der Wüstenbrunnen lag, an dem sie von dem Luftschiffe verlassen worden waren.
Nun muss man aber bedenken, dass es von Breitengrad zu Breitengrad 15 geografische Meilen sind, dasselbe gilt von den Längengraden direkt auf dem Äquator, und der Zwerg hatte nur ganze Grade genannt, also konnte es sich, wenn er nicht einen direkten Punkt meinte, um ein Quadrat von 15 mal 13 = 215 geografische Quadratmeilen handeln.
Das ist an sich ein großes Terrain, in Bezug auf die ganze Erde hat es aber nicht viel zu bedeuten, auf der großen Weltkarte in Merkatorprojektion konnte man dieses Quadrat mit der Fingerspitze bedecken, durfte dabei nicht aufdrücken.
»Ganz gewiss, in diesem Quadrat liegt jener Wüstenbrunnen!«
»Ja, wie kann denn das dieser Zwerg wissen?«
»Haben wir uns denn darüber unterhalten?«
»Mit keinem Wort, wir haben ja noch gar keine solchen ortsgeografischen Zahlen genannt!«
Auch der Leser, der mit solchen geografischen Ortszahlen, um die sich das ganze Interesse aller Forschungsreisenden und zum Teil auch der Seeleute dreht, nicht Bescheid weiß, wird doch verstehen, was für ein unergründliches Rätsel hier vorlag, was für einen kolossalen Eindruck das auf die beiden machen musste.
»Was sagtest du da?«
Jetzt schien der Zwerg die Frage zu verstehen, er spiegelte wieder mit dem Sextanten nach der Sonne, aber ungeschickt, spielend, tat nur so, und wiederholte:
»22 Grad nördliche Breite, 8 Grad westlich von Greenwich, hihihihi.«
»Was ist denn dort?«
»Tot, alles tot, hihihihi.«
»Mein Gott, er meint, dass wir uns dorthin begeben sollen, dort werden wir unsere Freunde tot finden!«, rief Lilly erschrocken.
»Um Gottes willen, Miss Lilly, wie kommen Sie zu solch einer ungeheuerlichen Annahme!«, rief Breithaupt, fast nicht minder erschrocken — nämlich über diese abergläubische Logik seiner Begleiterin.
Lilly sah denn auch gleich ihre Torheit ein, sie schämte sich, sie wollte nicht abergläubisch sein. Allein... der Grund zur abergläubischen Annahme war nun einmal gegeben, und etwas abergläubisch ist wohl jeder Mensch, jeder, und das um so mehr, je mehr er es mit lauten Worten leugnet, darüber spottet.
»Was ist denn dort?«, begann Breithaupt nochmals zu examinieren.
»Tot, alles tot, hihihihi.«
»Weißt du, dass der bezeichnete Punkt in Afrika liegt?«
»Tot, alles tot, hihihihi.«
Er hatte keine anderen Worte. Es sollte aber doch anders kommen.
»Wo ist alles tot?«, versuchte es Breithaupt noch einmal auf andere Weise.
»22 Grad nördliche Breite, 8 Grad westliche Länge«, wurde gekichert.
»Was ist denn dort alles tot?«
»Alles, alles, hihihihi.«
»Wir sollen uns dorthin begeben?«
»Schnell, schnell, hihihihi!!«
Jedes neue Wort machte auf die beiden einen ganz gewaltigen Eindruck.
Und jetzt sprang der Zwerg in das Gerippe des Aeroplans hinein, schwang sich auf einen der Reitsitze und fingerte an den Hebeln des Steuerapparates herum.
In Bewegung setzen konnte er nichts, der Aeroplan hatte einen geheimen Mechanismus, der mit einem Griffe alles ausschaltete, eine Vorrichtung, die immer mehr auch an Automobilen angebracht wird, jedes hat seinen eigenen Hebelgriff, der den ganzen Mechanismus erst funktionieren lässt.
Mit sachkundiger Hand tastete der Zwerg an dem Hebelchen durchaus nicht herum. Er hätte anders greifen müssen, auch wenn das ein ganz anderes System war.
Aber wie er sich gebärdete, es hatte schon genügt.
»Wir sollen nach Afrika zurück?«, fragte Lilly mit brennenden Wangen.
»Schnell, schnell, hihihihi.«
»Warum denn? Was werden wir dort finden?«
»Tot, alles tot, hihihihi.«
»Herr Doktor«, wandte sich Lilly an ihren Begleiter, und ihre erst brennenden Wangen waren wieder blass geworden, »ich bin wirklich nicht abergläubisch, aber diese Aufforderung dieses zum unschuldigen Kinde gewordenen alten Mannes betrachte ich als ein Zeichen des Himmels, dass wir uns schnellstens nach jenem Wüstenbrunnen zurückbegeben sollen.«
Breithaupt zuckte zunächst skeptisch die Achseln.
»Das war ja sowieso unsere Absicht, wenn wir das Luftschiff hier nicht vorfanden.«
»Nein, eine Woche hätte ich mindestens gewartet, jetzt aber breche ich sofort wieder auf.«
»Ganz wie Sie bestimmen.«
»Nur dass ich erst noch ein deutliches Zeichen errichte.«
Diese Arbeit ward sofort in Angriff genommen. Steine von möglichst heller Farbe wurden zusammengetragen und aus ihnen hier auf dieser obersten Waldblöße ein großes Kreuz gebildet, unter den mittelsten Stein kam dann die geschriebene Mitteilung zu liegen, in einer gereinigten und wieder zugelöteten Sardinenbüchse.
Die Aviatiker wollten sich also zurück nach jenem Wüstenbrunnen begeben, von dort aus, wenn sie keine andere Mitteilung vorfanden, nach Utopia, nach jenem geheimnisvollen Lande, von dem Breithaupt noch gar nichts wusste.
Selbstverständlich wurde der Zwerg mitgenommen. Dass die ›Libelle‹ zur Aufnahme von drei Personen berechnet war, wurde schon gesagt. Entweder nahmen sie weniger Proviant und Wasser mit, oder die Balancierstange wurde vermindert. Man entschied sich zu letzterem. Die Metallgewichte, in dieser Eigenschaft aus schwerem Eisen bestehend, konnten leicht durch etwas anderes, sogar durch Steine ersetzt werden, falls man den dritten Passagier wieder verlor. Übrigens war dieser Aeroplan gar nicht so von Balancegewichten abhängig, sie erleichterten nur die Steuerung.
Je länger der Zwerg mit ihnen zusammen war, desto mehr veränderte sich sein Benehmen. Es war ganz offenkundig, wie die Anwesenheit von Menschen wieder auf ihn wirkte.
Sein ständiges Kichern hörte auf, der gutmütige Gesichtsausdruck blieb, und dennoch nahm er auch eine gewisse Traurigkeit an.
»Tot, alles tot«, erklang es noch oftmals, er sagte es von ganz allein, leise vor sich hin, jetzt aber ohne Kichern, seufzend, klagend.
Ja, man konnte begreifen, auch ohne dass man sonst die geringste Ahnung hatte.
Was mochte der Ärmste in dieser Wildnis alles durchgemacht haben, ehe er, sicher einst ein hochgebildeter Mann, so weit in den ersten Naturzustand des Menschen wieder zurückgesunken war!
Tot, alles tot — er meinte damit wahrscheinlich keine Kameraden, sondern sich selbst. In ihm selbst war alles tot, die Erinnerung an die Vergangenheit war ihm geschwunden, und dass er dies trotzdem wusste, das eben war das Schreckliche dabei. Man sah es ihm ja auch an, wie er manchmal sein Hirn marterte.
Bei der Arbeit beteiligte er sich, bewies sich hierbei ganz intelligent, wusste das angefangene Kreuz fortzusetzen.
Aber sonst war mit ihm nichts anzufangen. Weniger als zuvor. Er wollte gar nicht mehr sprechen. Höchstens noch ein seufzendes ›tot, alles tot‹.
Doch bei seinem Verlangen, nach Afrika hinüberzugehen, blieb er. Es war wirklich ein ganz heftiges Verlangen, man merkte es immer deutlicher. Dadurch kam in seiner Ausdrucksweise immer mehr hinzu.
»Wohin wollen wir gehen?«
Jene geografische Ortsbestimmung wurde wiederholt.
»Dorthin sollen wir gehen?«
Ein heftiges Kopfnicken, und das war etwas ganz Neues von ihm. Er begann immer mehr zu verstehen, ohne selbst sprechen zu können.
Ebenso wiederholte er auf Befragen auch die geografische Ortsbestimmung, die sich auf diesen Berg bezog, und da gab er die Lage bis auf Sekunden an, während er bei der afrikanischen Ortsbestimmung nur Grade gebrauchte.
»Er kennt es eben nicht anders«, meinte Breithaupt. »Ganz ohne Zweifel, er war auch ein Forschungsreisender, oder doch so ein wissenschaftlicher Abenteurer vom Schlage Andrees, der im Luftballon den Nordpol erreichen wollte — übrigens Hut ab vor solchen wissenschaftlichen Abenteurern! — Der hier benutzte zu seinen Expeditionen eine Flugmaschine, die offenbar ›Elektra‹ hieß, wollte erst dem geheimnisvollen Monte Cerboli einen Besuch abstatten, sein nächstes Ziel, wohin ihn die wissenschaftliche Neugier trieb, lag in Afrika, ungefähr in jener Gegend, die er durch Breitengrade bezeichnen kann. Diese beiden geografischen Bestimmungen, mit denen er sich früher ständig beschäftigt hat, füllen auch nun noch seinen Kopf aus, für etwas anderes ist gar kein Platz mehr drin, alles andere ist in der Erinnerung erloschen.«
So splitterfasernackt konnte der Mann nicht mitgenommen werden. Der lange Bart war trotz seiner Länge doch ein recht dürftiges Kleidungsstück, das ihm Mutter Natur mit der Zeit gegeben. Dass er übrigens so aller Scham bar war, das war auch ein Zeichen, wie tief er gesunken... oder aber hinaufgerückt.
Nun, zu der vorschriftsmäßigen Ausrüstung des Aeroplans gehörte auch ein Päckchen Segeltuch, für alles zu verwenden, was der Forschungsreisende am besten zu würdigen weiß, und die im fliegenden Schmierenzirkus großgewordene Artistin wusste mit der Nadel umzugehen, wie manche professionelle Schneiderin nicht, sie verstand aus einem Hemd ein Ballkostüm und aus einem Stiefel einen Ritterhelm zu machen.
Während sie schneiderte, wollte Breithaupt doch etwas weitere Umschau auf diesem Berge halten, sich nach Gold und Diamanten umsehen, ferner die Höhle mit dem Tunnel suchen, durch welchen damals die Automobilisten aus der Wasserhöhle auf die Oberfläche des Berges gelangten, und auch konnte man ja dort unten in dieser Grotte nur zu dem Goldfelde gelangen, sonst war ihnen das Gold wegen der Borsäureatmosphäre natürlich unerreichbar.
Lilly hatte das Maß genommen, nur mit den Augen, so war der Zwerg nicht mehr nötig, er begleitete den Ingenieur.
Zwei Stunden kroch dieser durch die Büsche, ohne Diamanten oder den Zugang zu jenem Tunnel gefunden zu haben, und so lag also auch das Gold in unerreichbarer Ferne oder vielmehr Nähe. Auch sonst hatte er nichts Bemerkenswertes entdeckt.
Die Begleitung des Zwerges hatte keinen Zweck gehabt. Mit diesem war weniger denn zuvor anzufangen.
»Tot, alles tot«, seufzte er manchmal schwermütig und schlenderte hinterdrein, und dabei blieb es.
Als sie zurückkamen, war das Gewand fertig. Der Zwerg ließ sich wie ein Kind ankleiden, ohne Scheu oder Freude zu zeigen, ließ sich ebenso teilnahmslos Haar und Bart kürzen.
»Aber den Bart nicht so kurz«, sagte Lilly, »das wäre doch schade drum.«
»Nur ein klein wenig zurechtstutzen — gewiss, der Zwerg Alberich muss bleiben«, stimmte Breithaupt bei.
Nur Wasser brauchte eingenommen zu werden, der Proviant vom ›Pelikan‹ reichte noch für vierzehn Tage, auch für diese drei Personen, es war ja mehr als ein Zentner gewesen, aus ganz kompakten Nahrungsmitteln bestehend.
Dann traten sie die Rückfahrt an, dem Osten zu.
Ob sich Alberich, wie er nun einmal genannt wurde, in dem Reitsattel auf dem Aeroplan zu Hause fühlte oder nicht, das konnte nicht konstatiert werden. Die Konstruktion sämtlicher Aeroplane war schon so weit gediehen, dass ein fortwährendes Balancieren nicht mehr nötig war. Denn die ersten Aviatiker mussten ja die richtigen Seiltänzer sein, noch viel mehr. Durch die Erfahrung war man so weit gekommen, Aeroplane zu bauen, bei denen durch automatische Ausbalancierung derartige Kunstproduktionen seitens der Menschen wegfielen. Nur etwas Schwindelfreiheit und vor allen Dingen Mut gehörte dazu — das heißt, für den Passagier, der den steuernden Aviatiker begleitet. Der freilich braucht noch etwas mehr.
Alberich hockte teilnahmslos auf seinem Reitsitz, aß jetzt das ihm Dargereichte, hatte sonst für nichts Interesse. Auch sein ›tot, alles tot‹, sagte er nicht mehr, weder kichernd noch seufzend.
So blieb es während der ganzen Reise über den amerikanischen Kontinent und über den Atlantischen Ozean hinweg, welche Tour, vom Winde begünstigt, in nicht ganz viermal vierundzwanzig Stunden gemacht wurde, ohne irgendwelche Havarie, ohne dass einmal ein Schiff angelaufen wurde, ohne jede sonstige Unterbrechung, nur dass einmal Wasser geschöpft wurde. Dazu glitt der Aeroplan in langsamerem Fluge so dicht wie möglich über der Meeresfläche dahin, ein nachschleppender Schlauch hing bis ins Wasser hinab, der arbeitende Motor trieb gleichzeitig eine kleine Pumpe. Bei sehr hoher See wäre dieses Manöver nicht möglich gewesen.
Immer wieder und immer mehr musste der junge Ingenieur staunen. Erst jetzt erkannte er die Leistungsfähigkeit dieses Aeroplans, nachdem die früheren Mängel beseitigt worden waren.
Wieder tauchte die Sonne eines neuen Tages über dem Horizonte empor, jetzt aber direkt vor ihnen, als sie die Küste Afrikas erblickten.
Sie hatten sich, täglich mehrere Bestimmungen machend, immer möglichst auf dem 22. Breitengrade gehalten. Denn der bezeichnete sowieso ihre Richtung.
Aber nun jenen Wüstenbrunnen wieder aufzufinden, das war ein schweres Stück Arbeit. Denn sie kannten ja nicht seine geografische Lage, und damals waren sie nach Norden geflogen.
So mussten sie auf gut Glück suchen, und nun hat man allerdings von solcher Höhe aus, die bis auf tausend Meter gesteigert werden konnte, einen ganz anderen Ausblick, und sie hatten damals gut aufgepasst, auf jedes Merkmal geachtet, und dann kamen noch die Erfahrungen des wissenschaftlichen Vermessungsingenieurs hinzu, und schließlich und vor allen Dingen der Blick Lillys, die sich wohl schon den Instinkt unserer Zugvögel angeeignet hatte.
Unsere Zugvögel, ach, wer sich mit diesen eingehender beschäftigt, schärfer beobachtet, was gehen dem für Wunder auf!
›Unsere Vögel‹ sind es, denn bei uns im Norden erblicken sie ja das Licht der Sonne, bei uns lernen sie fliegen, nur bei uns singen und brüten sie. Im Süden sind sie stumm, singen wenigstens nicht, machen trotz allen Nahrungsüberflusses einen recht traurigen Eindruck, schon durch ihr spärlicheres Federkleid. Höchstens den Star mit seinem unverwüstlichen Frohsinn hört man in Afrika vom Rücken eines Kamels oder Büffels herab sein Liedchen schwätzen.
Der Storch, der Star, das Rotkehlchen — im fernen Süden brechen sie auf, wenn ihnen die geheimnisvolle Stimme sagt, dass sie nun wieder nach ihrem Norden zurückkehren dürfen, und man muss diesen Vogelversammlungen in Afrika beigewohnt haben, um zu wissen, wie sich diese Vögelchen freuen, obgleich sie vielleicht in der noch verschneiten Heimat hungern müssen.
Männchen und Weibchen fliegen in getrennten Zügen. Zuerst gehen die Männchen ab, immer am Abend, fliegen des Nachts, und die Ankunft wird auch regelmäßig für die Nacht eingerichtet.
Über seinem alten Revier lässt sich der Vogel wie ein Stein aus dem allgemeinen Zuge herabstürzen, hat mit unfehlbarer Sicherheit den Platz gefunden, wo er im letzten Jahre sein Weibchen besungen, für seine Jungen mehr oder weniger gesorgt hat.
Wie hat der Vogel in der finsteren Nacht seinen alten Brutplatz wiederfinden können? Unfassbar, unfassbar!
Meist zwei Tage später, ebenfalls in der Nacht kommen die Weiberflüge. Das Männchen weiß es, es lockt. Bei dieser einzigen Gelegenheit hört man die Tagesvögel auch bei Nacht singen, aber mit besonderem Ton, es ist nur ein Locken. Es ist auch kaum anzunehmen, dass die hochfliegenden Vögel es vernehmen. Und doch, das zugehörende Weibchen lässt sich aus dem Zuge herabfallen und hat sein Männchen wiedergefunden. Denn dass es für gewöhnlich ein und dasselbe Paar ist, das hat man mit Gewissheit konstatiert, da braucht man doch nur Merkzeichen anzubringen.
Unerklärlich, unerklärlich!! Fürwahr, man braucht über Häckels angeregte Welt= und Schöpfungsrätsel nachzugrübeln, sollte es nicht tun. Wir haben andere, uns viel näherliegende Wunder genug, und je tiefer man in sie eindringt, desto mehr wird man das Unfassbare anstaunen, welches letztere Wort im Persischen ›Gott‹ heißt, und desto mehr wird man den Aberglauben an das Walten eines blinden Zufalles oder Schicksals verlieren. — — —
Anderthalb Stunden befanden sie sich schon über dem afrikanischen Kontinent. Wüste wechselte mit vegetationsreichen Gegenden, dann kam eine Oasenregion, immer spärlicher wurden die grünen Inselchen im gelben Sande.
Dabei aber ist zu bedenken, dass die ›Libelle‹ in der Stunde mindestens 100 Kilometer machte und sich jetzt, eben um einen sehr weiten Ausblick zu haben, immer in einer Höhe von 500 Metern hielt. Da ließ sich nun allerdings auch ein gewaltiges Terrain überblicken! Also nicht etwa, dass diese Oasen gar so nahe zusammenlagen. Da konnte von einer bis zur anderen manche Karawane verschmachten.
Wieder tauchte in weiter, weiter Ferne, ein klein wenig nördlich von ihnen, ein grünes Eiland, erst nur ein dunkler Punkt, auf.
Lilly machte ihren Begleiter darauf aufmerksam, als dieser noch nicht einmal durch das wunderbare Fernrohr etwas bemerken wollte. Dann aber sah er es doch auch durch das Glas.
»Und das ist unser Wüstenbrunnen«, setzte sie gleich darauf noch hinzu.
»Woraus wollen Sie denn das erkennen?«
»Ich weiß es eben, ich, ich, ich... weiß es, nennen Sie es meinetwegen eine Ahnung.«
Breithaupt wollte es nicht glauben, auch noch nicht eine Viertelstunde später, als sie sich der Oase so weit genähert hatten, dass schon die Brunneneinfassung mit bloßen Augen zu erkennen war, und bei dieser Geschwindigkeit wurde ja alles mit jeder Sekunde immer deutlicher.
Wenn es wirklich derselbe Brunnen war, so bot er jetzt ja ein ganz anderes Bild, weil sich eine Karawane daneben gelagert hatte.
Es waren gegen zwei Dutzend Kamele mit der dreifachen Anzahl von Menschen, die sich mit der Einnahme von Wasser beschäftigten. Getränkt waren die Tiere schon, die Lederschläuche wurden gefüllt.
Da sahen die ersten den ungeheueren Vogel pfeilschnell angeschwirrt kommen.
Zuerst eine furchtbare Aufregung, nur das Entsetzen ließ sie nicht gleich zum Entschluss kommen, ob sie fliehen oder sich lieber zu Boden werfen sollten, das Gesicht in den Sand vergrabend, Allah und den Propheten zum Schutze gegen böse Geister und Zauberer anrufend.
Denn so sehr auch das Luftschiff und die Flugmaschine die Welt schon erobert hatten, es gab doch noch genug Menschen auf der Erde, welche durchaus nicht als Wilde zu bezeichnen waren und doch noch kein solches Luftvehikel gesehen, noch nicht einmal eine Andeutung davon gehört hatten.
»Aeroplana, Aeroplana!!«, ertönte da der Ruf, für die Luftschiffer schon vernehmlich.
Es waren eben Männer darunter, welche eine Flugmaschine bereits kannten, andere arabische Worte folgten, sie beruhigten das Entsetzen.
Ehe etwas Weiteres folgen konnte, hatte sich die Flugmaschine schon niedergelassen, wenige Meter von der Reihe der niedergekauerten Kamele entfernt.
Ein Glück war es, dass das Kamel ganz sicher das dümmste aller Säugetiere ist. Es hat sich ja noch viel mehr unter den Schutz des Menschen begeben als das Schaf, ist daher noch viel unselbständiger geworden und dadurch auch noch viel dümmer, kann sich ohne menschliche Hilfe tatsächlich nicht fortpflanzen.
Man sagt, dass sich der Elefant vor einer Maus entsetzt. Das müsste doch wohl erst durch glaubwürdige Beispiele begründet werden. Das Kamel tut es wirklich, das fürchtet sich vor etwas noch ganz anderem zu Tode, kann wegen eines Lappens, der da im Sande liegt, in sinnloser Flucht durchgehen.
Und nun kommt da solch ein Riesenvogel angeschwirrt! Doch zum Glück war das etwas so Ungeheuerliches, dass es gar nicht in ein Kamelgehirn hineinging. Die Tiere hörten einmal mit Wiederkäuen auf, starrten das fabelhafte Ungeheuer an — nein, so etwas gab's ja gar nicht, das konnte sie deshalb auch nicht beunruhigen — und sie blickten anderswohin und käuten weiter.
»Inschallah, ein Aeroplan — o, Mohammed, wie bist du groß!!«, rief auf französisch als erster der Karawanenherr, ein Grieche, eigentlich ein Christ, der aber seine Religion öfter wechselte als sein Hemd, und er kam gleich heran, um zu fragen, ob die Luftschiffer etwas kaufen wollten oder zu verkaufen hätten, und das hätte er auch getan, wenn auf dem Drachen der Teufel in seiner ganzen Höllenmajestät gekommen wäre.
Lilly ließ sich nicht mit ihm ein. Die Hauptsache war die Erkenntnis, dass sie die Herren der Situation waren.
Beide begaben sich sofort nach dem Brunnen, die Maschine unter Alberichs Schutze zurücklassend, wenn dieser wirklich als Hüter zu betrachten war.
»Ja, es ist derselbe Brunnen!«, rief Lilly.
Fast hätte Breithaupt es noch immer nicht geglaubt. Nämlich weil sich die Brunnenumfassung etwas geändert hatte. Das Mauerwerk hatte noch einen kleinen Seitenbau bekommen.
Da aber zeigte sich, wie wahrhaft rührend alle Menschen, welche die Wüsten durchziehen, solche niedergelegte Botschaften respektieren.
Die Mitglieder irgendeiner anderen Karawane — denn von dieser hier rührte das Werk nicht her — hatten tief aus dem Wüstengrunde Steine hervorgeholt, mit diesen neben der Brunnenmauer einen kleinen Bau aufgeführt und unter diesen erst die Konservenbüchse gelegt, die Lilly damals mit dem beschriebenen Zettel zurückgelassen hatte. Jetzt war diese Büchse aber nicht mehr verlötet, es war eine andere mit gut schließendem aber auch leicht abnehmbaren Deckel, und das war ja auch viel praktischer, denn jeder neu hierher kommende Wüstenreisende wollte doch wissen, was die Büchse enthielt.
Es ist eigentlich merkwürdig, dass die Karawanen nie schriftliche Berichte über sich selbst an solchen Wüstenbrunnen niederlegen. Dadurch könnte doch eine förmliche Post eingerichtet werden, was für wichtige Mitteilungen könnten da nicht gemacht werden, da wüsste man doch wenigstens, wo eine verschollene Karawane zuletzt gelagert hat, könnte ihr vielleicht Hilfe bringen.
An Witz, solch einen Nachrichtendienst erfinden, wird es den Beduinen und jenen europäischen Karawanenhändlern doch wohl nicht fehlen. Aber es geschieht nicht. Es mag mit dem mohammedanischen Fatalismus zusammenhängen. Wie Allah will. Die arabischen Karawanenmitglieder lassen es gar nicht zu, dass die christlichen auf diese Weise in das Kismet, in das von Allah unabwendbar bestimmte Schicksal hineinpfuschen wollen.
Wird nun aber doch einmal solch eine Botschaft hinterlassen, dann wird sie auch, wie schon gesagt, selbst vom sonst gewissenlosesten Wüstenräuber als etwas Unverletzliches respektiert.
Doch unsere Aviatiker ergingen sich jetzt nicht in solchen Reflektionen. Die Büchse, die Blechbüchse war die Hauptsache.
Mit vor Aufregung zitternden Händen nahm Lilly den Deckel ab. Das Papier war noch darin, hatte keine andere Bemerkung erhalten.
»Nicht hier gewesen — ooo!«
Ja, nun waren schon bald vierzehn Tage vergangen.
Ehe sich Lilly noch von dem ersten niederschmetternden Eindruck befreit hatte, den diese negative Nachricht auf sie machte, wurde sie von Breithaupt am Arme gefasst.
»Da, sehen Sie unseren Alberich!«
Ja, das war wirklich sehr merkwürdig. Auch der Zwerg hatte seinen Reitsitz verlassen, um wieder einmal festen Boden unter die nackten Füße zu bekommen, was man ihm nicht verdenken konnte, — bis zu Segeltuchschuhen war Lilly damals nicht gekommen — aber hiermit begnügte er sich nicht, er hatte dem Utensilienkasten den Sextanten, das geografische Taschenbuch und die Logarithmentafeln entnommen, desgleichen den kleinen Chronometer, den Breithaupt lieber diesem Kasten als seiner Tasche anvertraut hatte, visierte nach der Sonne und der regelrecht in den Sand gestellten Quecksilberdose, schrieb mit dem Bleistift in die Kladde, in welcher der Ingenieur seine Rechnungen ausführte.
War das auch diesmal nur so eine Spielerei? Es machte gar nicht diesen Eindruck. Oder er wusste seinen spielenden Versuchen jetzt ein recht ernstes, sachgemäßes Aussehen zu geben.
Die beiden begaben sich hin, vorsichtig, etwas auf Umwegen.
Der Zwerg ließ sich in seiner Rechnerei nicht stören, Breithaupt blickte ihm über die Schulter.
»Wahrhaftig, eine ganz sachgemäße geografische Berechnung!«, staunte er. »Jetzt zieht er das Resultat — bis auf Minuten und Sekunden — 22 Grad 48 Minuten 7 Sekunden nördliche Breite, 8 Grad 12 Minuten 56 Sekunden westliche Länge.«
»Ob das aber auch stimmt?«, war Lillys nächste Frage, die selbst von dieser Berechnung nichts verstand.
»Ungefähr wenigstens stimmt es, und auch die Rechnung ist richtig, das sehe ich schon auf den ersten Blick, höchstens dass ein Rechenfehler unterlaufen sein könnte. Ich will es doch gleich nachprüfen.«
Willig überließ der Zwerg ihm Instrument und Kladde, hätte alles wohl jetzt von selbst fortgelegt.
Breithaupt machte die Aufnahme und Berechnung.
»Stimmt ganz genau, Zahl für Zahl!«, rief er dann. »Oder ist die Berechnung nicht richtig, so ist eben mein falschgehender Chronometer daran schuld.«
Man wandte sich dem Zwerg zu, der sich wieder in seinen Sattel gesetzt hatte, teilnahmslos wie während der ganzen Reise vor sich hinblickte. Sein Aussehen war eben ein überaus gutmütiges, das konnte er nicht ändern. Aber mit dem hellen Blick, den er früher gezeigt, war es vorbei.
»Nun, Freund Alberich, Sie können wieder eine geografische Ortsbestimmung machen?«
»Tot, alles tot«, erklang es seufzend, zum ersten Male wieder nach viertägiger Pause. Denn während der ganzen Reise über Land und Meer hatte er den Mund ja gar nicht geöffnet, weder zum Kichern noch zum Seufzen.
Lilly kämpfte den schrecklichen Eindruck nieder, den diese Worte gerade jetzt auf sie machten.
»Tot, alles tot.«
Und dabei blieb es wie früher; das wenigstens hatte er wiedergefunden, jetzt nur ohne Kichern.
»Die Erinnerung, seine Fähigkeiten erwachen doch nach und nach wieder«, meinte Breithaupt, »wir müssen nur Geduld haben, es wird schon noch mehr kommen.«
»Aber dass sich gleich solche mathematische Kenntnisse wieder einstellen!«
»Sie meinen die geografische Ortsbestimmung? O, das ist etwas ganz Schablonenhaftes, das führt doch jeder Steuermann aus, der nur die Volksschule besucht und dann als Schiffsjunge und Matrose gefahren ist. Was dazu gehört, das wird ihm auf der Steuermannschule eingebläut, und er muss schon ein sehr beschränkter Kopf sein, wenn er zwei Jahre dazu braucht, es zu kapieren. Nein, dazu gehört wenig mehr, als die Kenntnisse der vier Grundrechnungsarten und etwas Trigonometrie, alles andere nach vorgeschriebenen Formeln berechnet. Auch die Rechnung mit Logarithmen ist doch eine ganz, ganz einfache Geschichte, wenn man sie einmal begriffen hat. Und dann die nötigen Handgriffe mit den Instrumenten. Das macht solch ein einfacher Steuermann alles ganz mechanisch. Deshalb kann das hier natürlich ein wirklich astronomisch gebildeter Gelehrter gewesen sein. Aber aus dieser geografischen Ortsbestimmung ist hieraus durchaus nicht zu schließen. Ja, Miss, was nun?«
»O Gott, o Gott!«, konnte diese zunächst nur stöhnen, jetzt erst richtig erkennend, was das Nichtabholen der Mitteilung seitens des Luftschiffes zu bedeuten hatte.
Ehe sie sich aber in weitere Erwägungen ergehen konnte, wurde sie von Breithaupt wieder auf den Zwerg aufmerksam gemacht.
»Dort, dort — tot, alles tot«, sagte er von allein, dabei in die Ferne, nach Osten deutend, rutschte von seinem Sitz herab, der sich von dem Steuerapparat entfernt befand, begab sich zu diesem, hantierte an ihm herum.
»Er will offenbar, dass wir weiterfliegen sollen, fordert uns dazu durch Gestikulationen auf.«
»Ja, sehen Sie nur«, stimmte Lilly bei, »wie geschickt er die Hebel bedient, nur noch ein einziger Griff, dann würde er den Motor in Bewegung setzen, den ganzen Aeroplan sich erheben lassen, dazu freilich müsste erst der geheime Mechanismus ange...«
Einen Schrei des Schreckens ausstoßend, hatte Lilly mit dem Satze eines Panthers, oder wie ihn eben nur eine clownartige Artistin ausführen kann, den Aeroplan erreicht, denn schon hatte sich dieser auf seine Räder erhoben, war auf deren breiten Felgen eine Strecke über den Sand dahingerollt, mit arbeitendem Motor.
Der Zwerg hatte auch den geheimen Mechanismus auszulösen verstanden. So ganz merkwürdig war das ja allerdings nicht. Er hatte ja vier Tage Zeit gehabt, alle Handgriffe zu beobachten, er war doch auf alle Fälle ein ehemaliger Aviatiker, und auch wenn er irrsinnig war, das musste er doch bald lernen.
Also Lilly hatte den davongehenden Aeroplan noch rechtzeitig erreicht. Aber noch ehe sie den betreffenden Hebel, der zunächst den Motor außer Betrieb setzte, herumwerfen konnte, hatte dies schon der Zwerg selbst getan, mit einem zweiten Griffe war der Drachen wieder von den Rädern herabgelassen.
Und dann schaute er Lilly mit einem Blicke an, in dem ganz deutlich die vorwurfsvolle Frage zu lesen war:
»Ja glaubtest du denn, ich wollte mit deiner Flugmaschine entfliehen?«
Lilly hatte diesen Blick denn auch sofort verstanden, sodass sie jenen sonst so naheliegenden Verdacht gar nicht erst aussprach.
»Wunder, o Wunder, er kann den Aeroplan bedienen!«, rief sie jetzt.
»Na, das wundert mich von dem ehemaligen Aviatiker nicht so sehr, dazu braucht man keine großen Geisteskräfte«, meinte der nachgeeilte Breithaupt. »Ich bin mehr erschrocken darüber, dass er uns mit der Maschine durchgehen wollte.«
»Nein, o nein, das wollte er nicht! Er wollte uns nur zeigen, dass er den Aeroplan bedienen kann.«
Über diese Streitfrage wurde nicht weiter debattiert, indem man den Zwerg beobachtete, der ruhig auf dem Sitz hinter dem Steuerapparat blieb, dabei aber die beiden anblickend.
»Der will offenbar, dass wir ihm die Führung des Aeroplans anvertrauen«, meinte Lilly.
»Ja, so kommt es auch mir vor, und schon vorhin hat er ja in die Ferne gedeutet, dabei das neue Wort ›dort‹ gebrauchend. Alberich, willst du uns etwas sagen?«
»Tot, alles tot!«, erklang es seufzend.
»Willst du den Aeroplan führen?«
»Tot, alles tot!«
Etwas anderes war aus ihm nicht herauszubringen. Aber seine auffordernde Haltung, als wolle er den Aeroplan steuern, behielt er doch bei.
»Ja, er soll einmal die Führung übernehmen«, entschied Lilly, »nur will ich für alle Fälle noch eine entsprechende Mitteilung hinterlassen.«
Sie tat es, schrieb auf dasselbe Stück Papier, dass sie mit der Flugmaschine unterdessen auf dem M. C. gewesen seien, jetzt nach U. gehen würden. Nun bloß noch das Datum, weiter nichts. Diejenigen, für welche das bestimmt, würden die Anfangsbuchstaben schon zu den Worten Monte Cerboli und Utopia ergänzen können.
Das Papier wurde wieder in die Blechkapsel und unter die Mauerhöhlung getan, mit dem griechischen Handelsherrn ließ man sich nicht weiter ein, die Reise konnte fortgesetzt werden, unter des Zwerges Leitung trat sie somit in eine zweite Periode.
Ja, Alberich war gewillt, die Steuerung und die ganze Führung des Aeroplans jetzt selber zu übernehmen, und er ließ die Flugmaschine sich mit einer Geschicklichkeit erheben, die ihm Breithaupt nicht nachzuahmen vermocht hätte. Denn das wollte gelernt sein, das war nicht so einfach, wie ein Automobil in Bewegung zu setzen, obgleich auch mit diesem ein Unkundiger ganz sicher in den nächsten Straßengraben rennt, hier galt es gar viele Hebel mit sicherem Griffe zu bedienen, und noch anderes mehr war dabei zu beobachten.
Es war eben ein geübter Aviatiker, und dass dies ein ganz anderes System war, hatte im Grunde genommen nicht viel zu sagen.
Er wendete den Aeroplan in etwas nördlicherer Richtung, als bisher eingehalten worden war, um hierher zu gelangen.
»Wohin bringen Sie uns?«
»Tot, alles tot.«
Es hatte keinen Zweck, ihn zu fragen.
»Ob er uns nach dem 22. Breiten- und dem 8. Längengrad bringen will?«, wendete sich dann Lilly an Breithaupt.
»Es mag wohl sein, dass er dieses Ziel im Auge hat, von dem er schon immer geträumt.«
»Wie weit sind wir denn von diesem Punkte entfernt?«
»Ungefähr 12 geografische Meilen. Aber vergessen Sie nicht, dass es sich dann gerade um jenen Punkt handeln müsste, auf dem sich der 22. Breitengrad mit dem 8. Längengrade kreuzt. Sonst können unter Umständen noch 15 Meilen dazukommen, dass es also zusammen 27 sind.«
»Ob jener für sein Ziel eine genauere Ortsbestimmung kennt, Sie uns etwa nur verheimlicht?«
»Ja, Miss, was weiß ich?«
»Aber die vorige Bestimmung muss er doch mit klarem Bewusstsein gemacht haben.«
»Eigentlich ist das anzunehmen, er kann die Bestimmung nicht nur so mechanisch gemacht haben, muss wissen, was sie zu bedeuten gehabt. Er schlägt ja auch die betreffende Richtung ein.«
»Nun, wir werden bald sehen, wohin er uns bringt. Ich bin wirklich gespannt darauf, was wir erleben werden.«
Ja, keiner von den beiden sollte so etwas auch geahnt haben.
Eine dreiviertel Stunde verging im schnellsten Fluge, ehe sich die Wüste zu verändern begann.
Immer welliger wurde die bisherige völlige Ebene, es wurden Hügel daraus, und die schwarze Masse am fernen Horizonte, die man erst für eine Wolkenwand mit bizarren Rändern gehalten hatte, musste jetzt als ein Gebirge erkannt werden.
Dann aber handelte es sich um ein Gebirge, von dem die zivilisierte Welt noch gar nichts wusste. Man befand sich eben in jenem Teile der Sahara, der noch heute gänzlich unbekannt ist, auf den Karten durch einen weißen Fleck markiert wird, und den kann man auch auf der kleinsten Weltkarte nicht mit der Fingerspitze verdecken.
Der Forschungsreisende kam ganz in Aufregung. Eben diese Wüste hatte ja jene Expedition erforschen wollen, hatte dieses Gebirge wohl auch schon seitwärts gehabt, aber nichts davon erblickt. Da kommen eben gar zu große Strecken in Betracht.
Wusste denn der Zwerg von dem Vorhandensein dieses Gebirges?
Doch alle Fragen waren verbeglich, Dr. Breithaupt ließ lieber seine Augen umherschweifen, jetzt zunächst unter sich.
Merkwürdig war, dass nackte Felsmassen mit Sandhügeln abwechselten, sowie auch Felsplateaus mit sandigen Strecken.
Aber das findet man ja überall in der Wüste, hier ein steiniges Gebiet, glatt wie ein Tisch, und daneben ein Sandfeld, in dem der Fuß versinkt, ohne dass man sich erklären kann, weshalb der Sand hier hält, sich ablagert und dort nicht. Die physikalischen Gesetze, nach denen der Flug- und Triebsand wandert, sind überhaupt noch ganz rätselhaft. Nur das weiß man, dass jeder Sandhügel immer einen massiven Kern hat, der aber bloß aus einem kopfgroßen Stein zu bestehen braucht. Ein lose aufliegender Stein vermag den Sand nicht zu halten, um sich einen Sandberg aufzuhäufen. Weshalb nicht? Dafür fehlt jede menschliche Erklärung. Dann gibt es aber auch mitten in der Sandwüste große Felsen, die sich durchaus nicht mit Sand umhüllen wollen.
Da ließ der Zwerg wieder einmal seine Stimme vernehmen, von der man konstatieren konnte, dass sie den quäkenden Ton immer mehr verlor, was auf eine langsame geistige Gesundung schließen ließ. Denn Irrsinnige haben sehr oft eine viel höhere Stimme, bis zur Fistelstimme, als sie im normalen Leben gehabt, und bei ihrer Gesundung verliert sich das wieder.
»Tot, alles tot«, sagte Alberich diesmal mit fast tiefem Tonfalle, mit der Hand unter sich voraus auf einen Sandhügel deutend, der sich auf einer sonst ganz nacktsteinigen Ebene erhob.
Man wusste natürlich nicht, was er hiermit meinte, wurde erst stutzig, als er gleichzeitig den Aeroplan hinabgehen ließ.
»Willst du dort landen?«
»Tot, alles tot.«
Und da war die ›Libelle‹ schon unter seiner geschickten Führung niedergegangen, dicht neben dem Sandhügel, der auf dem ebenen Felsenboden nicht anders dalag, als wäre eine Karre mit Sand umgekippt worden, freilich eine ganz riesenhafte Karre. Es hätten einige Eisenbahnzüge dazu gehört, um diesen ›Sandhaufen‹ hier wegzuschaffen.
»Ja, was sollen wir denn nun hier? Was ist mit diesem Sandhügel?«
»Tot, alles tot«, seufzte Alberich, ohne sich sonst zu rühren, ohne nur nach dem Sandhügel zu blicken.
»Birgt dieser Sandhügel etwas?«
»Tot, alles tot.«
»Sehen wir erst einmal nach, wo wir uns befinden«, sagte Breithaupt.
Er machte die Berechnung, die ergab, dass sich gerade hier der 22. Breitengrad mit dem 8. Längengrad kreuzte.
»Also wirklich genau der Punkt, den uns Alberich immer angegeben hat...«
Da stieß Lilly einen Schreckensschrei aus. Ihr zur Seite sah aus dem gelben Sande eine gleichfarbige Knochenhand hervor, aber noch mit Haut überzogen, also eine Mumienhand.
Es sei hierbei gleich bemerkt, dass in den Wüstenregionen Afrikas, besonders des nördlichen, Leichen stets zu Mumien austrocknen, wenn sie mit Flugsand bedeckt sind und bleiben. Aber auch nur unter dieser Bedingung. Liegt die Leiche offen, so genügt der atmosphärische Niederschlag der Nacht — abgesehen von Geiern und Hyänen — um sie in Verbindung mit der Sonnenkraft des Tages verwesen zu lassen, dasselbe gilt, wenn die Leiche in dem Sande ruht, der zur eigentlichen Erdoberfläche gehört, ziemlich konstant ist. Denn dieser Sand enthält doch immer etwas Feuchtigkeit und wird um so feuchter, je tiefer man dringt. Nur der aufgehäufte Flugsand ist vollkommen trocken und saugt so die organische Feuchtigkeit gierig auf, mumifiziert.
»Ein Totenhügel, unter dem wahrscheinlich eine Karawane begraben liegt!!«, flüsterte der erfahrene Forschungsreisende.
Es war etwas voreilig — mindestens konnte es nur eine sehr kleine Karawane gewesen sein... oder alles hatte sich auf einen Haufen gelegt, war so durch den Samum begraben worden.
»Und deshalb hat uns der Zwerg hierher geführt, um uns das zu zeigen.«
»Diese Toten werden ihm nahe gestanden haben.«
»Aber woher weiß er so genau die geografische Lage?«
»Untersuchen wir doch erst die Sache näher.«
Es war eine schauerliche Arbeit, wie sie dem Arm nachgruben, bis sie zur Schulter und zum Kopf gelangten, dabei eine höchst beschwerliche Arbeit, auch eine Schaufel hätte nicht viel genützt, der Sand rutschte von oben herab immer nach. Aber es gelang. Und wie ward dem jungen Weibe da, als endlich der Kopf und auch einige Kleidungsstücke zum Vorschein kamen!
Wohl waren Kopf und Gesicht ganz ausgetrocknet, die charakteristischen Züge waren aber doch noch wohlerhalten, und nun dazu der Bart...
Da stieß Lilly wiederum einen Schrei aus, aber einen ganz anderen als vorhin, einen fürchterlich gellenden.
»Mein Gott, Mister Hennyson!!«
»Wie, Sie kennen den Mann?«
»Der erste Ingenieur unseres Luftschiffes!«
Was half es, dass Breithaupt es erst kaum glauben wollte. Er musste wohl.
Und sie wühlten weiter und fanden noch andere Mumien, und sie alle gehörten der Besatzung des ›Tyrann‹ an, und dann stießen sie auch auf Metallteile, federleicht, auf verbogene und zersplitterte Stangen...
Es war das zerschmetterte Luftschiff, der ›Tyrann‹, der unter diesem Sandhügel vergraben lag!
Die Erklärung war ganz selbstverständlich, so weit man eine geben konnte.
Der aus der Balance gekommene ›Tyrann‹ war erst senkrecht in die Höhe gestiegen, war dann wohl auch noch seitwärts gegangen, aber nicht nach Westen, wie die beiden sich das immer vorgestellt, weil das nun einmal die ursprüngliche Richtung gewesen war, sondern zurück nach Osten, viele Meilen weit, bis hierher, und ob die Besatzung das Luftschiff wieder in die Gewalt bekommen hatte oder nicht — hier über diesem Punkte hatte die furchtbare Katastrophe sie vollends erreicht, es war aus der Höhe herabgestürzt, jedenfalls auf rein felsigen Boden, der hier ja überall vorherrschte, war vollständig zerschmettert, der nächste Sturm hatte über das Ganze mit Flugsand einen Grabhügel gewölbt! Die vierzehn Tage hatten genügt, um die Leichen zu Mumien auszutrocknen.
»Mr. Hartung — Green, ach mein Adam Green — ach, und nun erst die unglückliche Leonor!«
Lilly dachte also mehr an die noch Lebenden, denen sie diese Kunde zu bringen hatte.
Die Leichen der Genannten waren noch nicht gefunden worden. Überhaupt waren erst zwei ausgegraben. Mit fieberhafter Eile wühlten die beiden weiter. Da aber zeigte sich bald, dass das ein ganz aussichtsloses Beginnen war. Noch eine Leiche konnten sie freilegen, nur einen Fuß, weiter nichts. Dann rollte der Sand von oben nach. Und hier hätte ein Dutzend Arbeiter mit Schaufeln und Karren nichts ausrichten können, wenigstens nicht so bald. Es war ja mehr ein ganzer Sandberg, nicht nur einige, sondern vielleicht einige hundert Züge hätten dazu gehört, ihn abzutragen. Wenn die Elemente wollen so spotten sie aller Arbeit dieser Pygmäen.
Bald gaben die beiden die Arbeit als hoffnungslos auf.
Also drei Leichen und ein Fuß waren zum Vorschein gekommen, einige Metallteile, eine Flasche, einige andere Sachen ohne Belang — weiter nichts.
Und dann blickten sich die beiden an und dann den Zwerg, um wieder einander anzublicken mit ganz entgeisterten Augen.
»Tot, alles tot«, seufzte der Zwerg.
Das gab auch ihnen endlich die Sprache wieder, die wie gelähmt gewesen war.
»Ja, ist denn dieser Zwerg allwissend?!«
Auch Breithaupt hatte es gerufen — eine gewöhnliche Redensart.
Aber der Zwerg gab keine Antwort. Jetzt machte er erst recht einen blödsinnigen Eindruck, wie er so gedankenlos vor sich hinstierte, angesichts dieses grausigen Fundes. Für die Mumien hatte er gar keinen Blick gehabt.
»Wie kann er wissen, dass das Luftschiff hier verunglückt ist, genau auf dem Punkte, den er eben so genau von vornherein angegeben hatte?«, wandte sich Lilly jetzt an ihren Begleiter.
»Ich weiß es nicht«, entgegnete dieser einfach, und es war wohl das Klügste.
»Doktor, glauben Sie an ein Hell- oder Fernsehen?«
»Nein. Denn ich habe bisher noch kein glaubwürdiges Beispiel erlebt, dass es ein Hell- und Fernsehen gibt, und ich würde auch gar nicht begreifen, wie es so etwas geben kann.«
Das war auch keine üble Antwort gewesen.
»Auch ich habe noch nichts derartiges erlebt, habe an solchen Berichten immer gezweifelt«, murmelte Lilly, »aber... ich preise dich, Vater Himmels und der Erde, dass du solches verborgen den Weisen und Klugen und es offenbart hast den Unmündigen.«
Es war der 21. Vers aus dem 10. Kapitel Lucae, den sie zitierte.
Und hiermit hört alle wissenschaftliche Erfahrung auf, da fängt die Spekulation des Übersinnlichen an. Dann hilft nur noch der Glaube, der sich aber weder lehren noch lernen lässt.
Lilly hob den Kopf und blickte nach dem alten Zwerge, der trotz seines mächtigen Bartes nun allerdings wie ein ›Unmündiger‹ aussah.
»Ja, ich glaube!«, sagte Lilly feierlich.
»Wohl Ihnen — ich kann's nicht«, entgegnete Breithaupt, vielleicht nicht so ganz ehrlich. Gerade in dieser Beziehung belügt der Mensch sich selbst gar zu gern.
Wir werden später sehen, dass dieser Zwerg durchaus nicht hell= und fernsehend war. Hier lag nur ein Zufall vor.
Aber konnten die beiden so etwas ahnen? Und was ist überhaupt Zufall? Vielleicht tat auch Breithaupt besser daran, gleich an ein Hellsehen zu glauben, dann wäre er doch von anderen Rätseln jetzt und später nicht so gemartert worden.
Was nun?« Lilly hatte sich mit dem Gedanken abgefunden, dass der ›Tyrann‹ mit der ganzen Besatzung hier zerschmettert lag. Zerschmettert im buchstäblichen Sinne des Wortes. Auch die Mumien hatten ganz zersplitterte Knochen, eine starke Stange jenes Metalls, welches Diamanthärte besaß, war vollständig zersplittert.
Nein, da konnte keiner mit dem Leben davongekommen sein.
Hinterher war Lilly noch einmal in Tränen und Jammern ausgebrochen, dann hatte sie es überwunden. Diese Artistin hatte schon zu oft an der Leiche eines Berufsgenossen gestanden, es war ja überhaupt ein Weib, das von zartester Jugend an in einem schweren Kampfe mit dem Leben hatte ringen müssen — das gibt Charakter, der aber natürlich nichts mit Hartherzigkeit zu tun zu haben braucht. Gerade in diesem Berufe findet man immer das Gegenteil. Artisten, die alle ein gar hartes Brot essen oder gegessen haben, sind fast ausnahmslos die bestherzigen Menschen, die nicht nur mit ihren Kameraden das letzte Stück dieses harten Brotes teilen. Aber sonst eben im Kampfe des Lebens gestählt.
Ferner kam nun noch die Mysterie dieses alten Zwerges hinzu, den sie als nackten Wichtelmann auf einem von aller Welt isolierten Berge, den man als einen ganzen Erdteil bezeichnen konnte, gefunden hatten. Dieses Rätsel setzte sie vollends schnellstens über das grauenvolle Unglück ihrer Freunde hinweg. Denn das ist ja eben das Wunderbare an dem Mystizismus, an dem Beschäftigen mit dem Übersinnlichen, dass man hierdurch die reale Welt mit all ihren Kleinigkeiten und Nichtigkeiten ganz vergessen kann. Die Schranke fällt, das Auge wird entschleiert, man erkennt die Nichtigkeit dieser begrenzten Welt zu ihrer unendlichen Fortsetzung. Das ist es ja eben, wie der, der so weit gekommen ist, im Alter darüber lächeln kann, wie er sich einst darüber gegrämt hat, als er Vermögen, Weib und Kinder verlor. Das ist ja alles nur Schein, Täuschung; was man hat, kann man überhaupt nicht verlieren; oder man hat es eben gar nicht besessen. Jedenfalls ist es alles Kleinigkeit gegen das einzig Wahre, Ewige, Unveränderliche, das man nie mit Worten beschreiben, nur in seinem Herzen fühlen kann.
Ist einer Welt Besitz für dich zerronnen,
Sei nicht in Leid darüber, es ist nichts,
Und hast du einer Welt Besitz gewonnen,
Sei nicht erfreut darüber, es ist nichts.
Vorüber geh'n die Leiden und die Wonnen —
Geh an der Welt vorüber, es ist nichts...,
sagt der persische Weise Sadi Gulestan.
»Wir wollen und müssen alles liegen lassen, wie es ist.«
Breithaupt war ihr behilflich, die Mumien wieder in den Sand zu verscharren.
Ein stilles Gebet, im Knien, und Lilly erhob sich wieder.
»Nur an die Waffen denke ich, dass diese pneumatischen Gewehre und Pistolen niemand in die Hände fallen, sie könnten furchtbares Unheil anrichten«, meinte sie dann, und es war ganz in der Ordnung, dass ihr dies während des Gebetes eingefallen war. Es hing ja eng mit dem Gebote zusammen, welches dem ersten ganz gleich ist.
»Ja, Sie sagten aber schon selbst, dass wir alles so liegen lassen müssen — wir haben gar keine Möglichkeit, in diesen Sandhügel weiter einzudringen, ich kenne das aus Erfahrung. Höchstens ein Zufall könnte uns noch solch eine Waffe finden lassen.«
Lilly versuchte noch einmal, in den Sand ein schräges Loch zu graben, gab ihre Bemühungen bald wieder auf.
»So überlassen wir alles Gottes Fügung.«
»Oder wir kehren später noch einmal hierher zurück«, setzte Breithaupt hinzu. »Ein tüchtiger Sturm dürfte diesen gewaltigen Sandhaufen mit leichter Mühe abtragen, das heißt, ein Nord- oder Weststurm. Aus der anderen Richtung wird der Hügel durch Triebsand nur noch vergrößert.«
»Woraus erkennen Sie das?«
»Aus den Überhängen des Kammes, aus meiner ganzen Erfahrung, wie ich Ihnen jetzt nicht weiter schildern kann.«
»Aber solch einen befreienden Sturm erst abwarten, das können wir doch nicht.«
Wenigstens nicht länger als vier Tage hätten sie hier warten können. Trinkwasser besaßen sie noch genug, sie hatten auf dem Monte Cerboli den ganzen zweiten Tank mit Frischwasser gefüllt und unterwegs nur Salzwasser gebraucht, aber der vom ›Pelikan‹ mitgenommene Proviant war noch nicht ergänzt worden, der reichte für diese drei Personen jetzt nur noch auf vier Tage.
»Nein, ich gedenke auch nicht diese vier Tage noch hier zu warten, jetzt treibt es mich anderswohin.«
»Wohin?«
»Nach Utopia.«
»Tot, alles tot«, erklang es da seufzend mit hohler Stimme.
Lilly schrak zusammen, während Breithaupt mit gerunzelter Stirn nach dem Zwerg blickte.
»Was hat dieser Unglücksrabe wieder zu krächzen?«
»Wehe, wenn er wiederum wahr spräche!«, hauchte Lilly.
»Glauben Sie wirklich, dass...«
Lilly raffte sich energisch auf.
»Lassen wir das«, unterbrach die den Gefährten. »Jetzt will ich nichts weiter glauben, als dass Gottes Wille geschieht, und dass dies ein guter, gerechter Gott ist, wenn wir Menschlein dies auch nicht immer gleich oder gar niemals einsehen. Das muss ich fest glauben, oder... ich werde wahnsinnig.«
»Vortrefflich gesprochen!«
»Natürlich will ich mir erst Gewissheit verschaffen, soweit ich es kann. Überhaupt muss ich ja dorthin erst die Botschaft bringen. Ach, das wird mir gar schwer fallen!«
»Also nach Ihrem Versteck, das Sie Utopia nennen.«
»Ja.«
»Darf ich jetzt erfahren, wo das liegt?«
»Nnnnein, noch immer nicht«, entgegnete Lilly zögernd. »Noch habe ich keine Berechtigung dazu. Sie verzeihen. Oder ich muss es mir erst noch richtiger überlegen, wie weit ich Sie einweihen darf.«
»Aber begleiten darf ich Sie doch?«
»Gewiss, das sollen Sie. Ich werde Sie doch nicht hier sitzen lassen.«
»Können mich aber unterwegs absetzen.«
»Nein, auch das werde ich natürlich nicht tun. Sie begleiten mich hin.«
»Ja, dann sind Sie aber doch schon jetzt entschlossen, mich in dieses geheimnisvolle Land einzuführen.«
»Nein, das bin ich deshalb noch nicht.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Die Sache ist die, dass Sie dicht vor diesem unserem Lande stehen können, und Sie wissen noch immer nicht, dass Sie sich vor solch einem bewohnten Lande befinden.«
»Das wäre! Ja, das ist dann ein wirkliches Utopia, ein geheimnisvolles Nirgendwo. Ja, können Sie denn dieses Land unsichtbar machen?«
»Das nicht. Sie werden es selbst erleben, wie die Sache beschaffen ist. Und was sagt nun unser kleiner Prophet?«
Der saß auf seinem Reitersitz — oder eigentlich nicht auf seinem, sondern auf dem Lillys, von wo aus die Maschinerie hauptsächlich zu bedienen war.
»Willst du die Führung weiter übernehmen?«
Ein einmaliges, aber nachdrückliches Kopfnicken.
»Der versteht uns immer mehr — wird immer intelligenter!«, wurde gestaunt.
»Weißt du, wo wir uns befinden?«, versuchte es Breithaupt gleich einmal mit einem Verhör.
Wieder ein Kopfnicken.
»Wo denn?«
»22 Grad nördliche Breite, 8 Grad westliche Länge«, erklang es geläufig.
»Woher weißt du das?«
Da blickte Alberich den Frager verständnislos an, um dann sein ›tot, alles tot‹ zu seufzen.
»Hierbei können wir doch von allen mystischen Ausnahmen absehen«, meinte Lilly. »Das muss er doch vorhin von Ihnen gehört haben, denn hören und in gewissem Sinne verstehen kann er ja ganz gut.«
Sie hatte Recht — wenn man nicht an das Vorhergegangene denken wollte.
»Du willst die weitere Führung übernehmen?«, fragte Breithaupt nochmals.
»Yes.« Diesmal wurde das Kopfnicken auch von einer Bejahung begleitet, zum allerersten Male, dass man dieses Wort hörte.
»Wohin willst du uns bringen?«
»22 Grad nördliche Breite, 8 Grad westliche Länge.«
»Da befanden wir uns ja soeben.«
»Weiter«, wurde der Zwerg immer gesprächiger.
»Wohin weiter?«
»Dorthin«, wurde mit ausgestrecktem Arm auch noch nach Nordosten gedeutet.
Die beiden wussten nicht, was sie von alledem denken sollten.
»Vertrauen wir uns einfach seiner Führung an, die Richtung ist ja auch die meine«, entschied Lilly.
Sie nahmen ihre Sitze ein, Breithaupt den des Zwerges, der sich vorn befand, von wo aus die Steuerung nicht zu bedienen war.
Wieder setzte Alberich den Aeroplan mit tadelloser Geschicklichkeit in Aktion, ließ ihn aufsteigen. Dies konnte bei Windstille nach jeder Richtung in gerader Linie geschehen, allerdings war große Motorkraft dazu nötig. Wenn Wind herrschte, musste der Aeroplan unbedingt gegen ihn angehen, um erst einmal in die Höhe zu kommen. Dann, einmal in vollem Fluge, konnte er sich auch mit dem Winde in der Schwebe halten, Aber mit dem Winde aufsteigen konnte er nicht, so wenig, wie ein einfacher Drachen, und wollte er bei solchem Fluge noch höher steigen, musste er erst einen Bogen beschreiben, um sich gegen den Wind empor zu schrauben. Dies gilt ja für jeden Aeroplan.
Jetzt herrschte Westwind, ein ganz leichter, aber schon genug, um nicht nach der anderen Richtung aufsteigen zu können.
Sprünge konnte die ›Libelle‹ schon machen, und das musste auch geschehen, weil ihr Schnabel nach Osten stand.
Der Zwerg hatte dieses Manöver von Lilly noch gar nicht beobachtet, aber er führte es mit größter Sicherheit aus. Eben weil das für alle Aeroplane zutrifft, und die Flugmaschine, die einst dieser Zwerg bedient, war sicher nicht so steuerfähig gewesen wie dieses Wunder der Luftschifffahrt. Immerhin, er verstand es vortrefflich.
Also, er ließ den Aeroplan einige Sprünge mit dem Winde machen, gleichzeitig aber auch die Spitze immer mehr herumrichtend, bis die Gleitflächen immer mehr Widerstand am Winde fanden, dann konnte er steigen, musste aber stets, um noch höher zu kommen, mit voller Kraft gegen den Wind angehen.
Auf diese Weise beschrieb er Bogen, schraubte den Aeroplan spiralförmig in die Höhe, und wohl nur ein Zufall war es, dass es gerade über dem Sandhügel geschah, den er also umkreiste.
Da gewahrten die beiden anderen etwas, was sie vorhin beim Herankommen nicht gesehen hatten.
Oben aus dem Sandhügel ragten einige Metallteile heraus, auch ein menschliches Bein ward sichtbar.
Breithaupt war es, der bei diesem Anblick gleich auf einen Gedanken kam.
»Hören Sie, Miss«, rief er jubelnd, oder doch, als überkäme ihn eine große Erleichterung. »Sie haben nicht mehr nötig, an eine Allwissenheit oder Hellsehen des Zwerges zu glauben!«
»Wieso nicht? Was haben Sie?«
»Ich glaube eine Erklärung geben zu können. Haben Sie vorhin diese Überreste auf dem Hügel gesehen?«
»Nein.«
»Ich auch nicht. Ich blickte gerade nicht hin, oder mich blendete die Sonne — ich weiß es nicht. Aber mag der Zwerg, vielleicht ein langjähriger Aviatiker in Gottes freier Natur, diese Trümmer nicht bemerkt haben? Auch das menschliche Bein. Da war sein ›tot, alles tot‹ ganz sachgemäß. Und ebenso, dass er landete. Und ein Zufall war es nur, dass dieser Sandhügel gerade auf dem Punkte liegt, wo sich der 22. Breitengrad mit dem 8. Längengrad schneidet. Alberich hatte und hat aber ein ganz anderes Ziel im Auge, von dem er jedoch nur weiß, dass es ungefähr auf dem 22. Breiten- und 8. Längengrade liegt. Dorthin will er ja auch jetzt noch. Diesen Schutthaufen, aus dem sogar menschliche Gliedmaßen hervorragen, hat er nur ganz zufällig im Vorübergehen bemerkt. Ist das nicht eine ganz natürliche Erklärung?«
Ja, es war eine jener natürlichen Erklärungen, die der unaufgeklärte Mensch nun einmal für alles, was sein Verstand sonst nicht fasst, unbedingt haben muss.
Doch wirklich, in dieser Hinsicht hatte Breithaupt das Richtige gefunden, wie wir später sehen werden. Sonst aber sollte ihm dieser Zwerg noch andere Rätsel aufgeben, die er nicht so leicht zu erklären vermochte.
Lilly ließ sich überhaupt gar nicht darauf ein, sie beobachtete teils den an ihrer Seite steuernden Alberich, teils die vor ihr liegende Gegend.
Auch der junge Vermessungsingenieur betrachtete mit wachsender Spannung und sogar Aufregung das Gebirge, dem der Zwerg den Aeroplan direkt zustreben ließ.
Wie gesagt, noch kein Geograf hatte geahnt, dass sich in dieser Wüste el Dschuf solch ein hohes und weitgestrecktes Gebirge erhob, keine sagenhafte Kunde von Beduinen war darüber in die zivilisierte Welt gedrungen.
Jene Expedition hatte diese Wüste erforschen wollen, war auch weit über die Mitte in ihr vorgedrungen, aber von diesem Gebirge hatten sie nichts bemerkt.
Und das ist eben das Problematische bei allen Forschungsreisen in fremde Länder. Man überblickt doch nur immer, was einige Kilometer links und rechts von der Route abliegt, es müssen immer wieder neue Linien eingeschlagen werden, soll das Land gänzlich aufgeschlossen werden, bei meilenweiten Entfernungen entziehen sich dem Blick doch auch die Gebirge, wobei man überhaupt sehr vorsichtig sein muss, schon manche stehende Wolkenwand ist für ein Gebirge gehalten worden, auch mit durch sagenhafte Berichte von Eingeborenen veranlasst, dazu kommt in Afrika noch die trügerische Fata Morgana, und so passiert es, dass auf den Landkarten schon oftmals Gebirge und Stromläufe und vegetationsreiche Gebiete eingetragen worden sind, von sonst ganz zuverlässigen Forschern, die dann nie wieder gefunden werden konnten, weil sie niemals existiert haben. Das war besonders auch bei der überhasteten Durchforschung Australiens der Fall, von welchem Kontinente es als Rarität ganz merkwürdige Karten gibt.
Dieses Gebirge hier war aber nun eine Realität. Es war gar nicht so hoch, der höchste Kamm erhob sich nach Schätzung 600 bis 800 Meter. Den mächtigen Eindruck bekam man nur dadurch, dass es aus der wieder ganz eben gewordenen Wüste so jäh emporstieg, eine in Afrika überall zu beobachtende Erscheinung, im Großen wie im Kleinen. Von letzterem sind durch den Burenkrieg am bekanntesten die sogenannten ›Kopjes‹ geworden, aus dem ebenen Boden herauswachsende Felskegel; am besten tritt diese Gebirgsformation in Abessinien zutage.
Es war um die Mittagsstunde — nur infolge des schnellen Fluges fühlte man die brennende Glut der afrikanischen Sonne nicht — als die ›Libelle‹ diesen scharfen Gebirgskamm überflog; unter den Luftschiffern lag ein großes Tal, auch aus dieser Höhe gar nicht zu überblicken, aber ebenfalls eine Wüste, alles Sand, nichts als gelber Sand bedeckte den Boden, und da streckte der Zwerg die Hand aus, deutete nach unten, und zum ersten Male kam es in jubelndem Tone aus seinem Munde.
»Bahira — Bahira el Dschennet!!«
Besonders der Vermessungsingenieur, der für die afrikanischen Verhältnisse erst seine Vorstudien gemacht und dann noch viel zu hören bekommen hatte, war grenzenlos erstaunt.
»Wie? Du weißt auch etwas von dem Bahira el Dschennet? Und hierher willst du es verlegen?«
Der Zwerg blieb die Antwort schuldig, versank wieder in sein gewöhnliches Brüten, Breithaupt aber gab seiner Begleiterin Aufklärung.
Fast jedes Volk weiß etwas von einem ersten Menschenpaar und deren Nachkommen zu erzählen, die einst in einem paradiesischen Lande unter den glücklichsten Verhältnissen gelebt haben, vor allen Dingen ohne Arbeit, aus dem sie dann durch eigene Schuld vertrieben wurden, und dann begann der Jammer der Erde.
Die ganze europäische Christenheit, auch nach Amerika hinüberverpflanzt, hat — leider, geniert sich der Schreiber nicht, dieses zu sagen — hierüber die Sage der östlichen Hamiten und Semiten angenommen, glauben — oder glauben auch nicht mehr so ganz — an Adam und Eva, verlegen das Paradies nach Mesopotamien, zwischen Euphrat und Tigris, auch ernste Männer der Wissenschaft beschäftigen sich mit der Lage dieses einstigen irdischen Paradieses, es taucht doch immer einmal in der Zeitung der Bericht auf, der oder jener wissenschaftliche Forschungsreisende habe jetzt mit Bestimmtheit die Gegend gefunden, in welche die Mythe den Wohnplatz der ersten Menschen verlegt.
Nur — möchte hierbei ein Laie diese Herren der Wissenschaft einmal auf etwas aufmerksam machen — werden diese Paradiese stets als die fruchtbarsten Gegenden geschildert, in denen Milch und Honig fließen, so sollen sie noch heute sein — aber diese Herren vergessen dann immer einen Grund anzuführen, weshalb denn die ersten Menschen aus ihrem Paradiese vertrieben wurden, warum sie es verlassen mussten!
Da sind die westlichen Hamiten, die arabischen Bewohner des westlichen Nordafrika, viel konsequenter und logischer. Die haben ihre eigenen ersten Menschen, die sie zwar ebenfalls Adam und Eva nennen, die sie aber samt ihren zahlreichen Nachkommen im Innern der Sahara leben lassen, in Bahira el Dschennet — Dschennet heißt Paradies — aus dem sie wegen Freveltaten vertrieben wurden, und zwas dadurch, dass Allah den Flugsand der Wüste über das die ganze Oase eingrenzende Gebirge steigen ließ; die Oase versandete, und da war es mit dem Paradiese vorbei.
Diese Mythe, diese Vertreibung aus dem Paradiese, hat doch wenigstens Hand und Fuß.
So hatte Breithaupt erklärt.
»Und hier soll jenes westafrikanische Paradies sein?«, fragte Lilly.
»So sagt dieser Zwerg. Ich selbst wäre gar nicht darauf gekommen. Ja, und doch, bei diesem Anblicke des südlichen Gebirgskammes wäre mir doch vielleicht eine Erinnerung erwacht. Das ist ja auch wirklich ganz merkwürdig!«
Sie hatten sich also dem Gebirge von Westen genähert, wo die Felswände jäh aus der Wüste emporwuchsen. Unten am Boden hatte man nur ganz spärliche Anhäufungen von Flugsand bemerkt.
Jetzt zuletzt hatte Alberich den Aeroplan mehr nach rechts gelenkt, sodass er über den südlichen Gebirgskamm dahinschwebte, und hier freilich hatte man ein ganz anderes Bild.
Wer von Süden kam, konnte von diesem Gebirge überhaupt gar keine Spur bemerken. Hier ging die Wüste eben bis an den Gebirgskamm hinauf, und dann stürzte die Felswand jäh hinab.
»Ja, wenn das Flugsand ist!«, rief Breithaupt. »Und was soll es anders sein? Dann lässt sich die ganze Fabel erklären, und dann kann das auch alles Wirklichkeit gewesen sein! Dereinst, vielleicht vor vielen, vielen Jahrtausenden, als sich die Wüste Sahara erst aus dem abgelaufenen Meere zu bilden begann, trat auch hier dieses südliche Gebirge schroff aus dem Boden empor, da kann dort unten wohl ein blühendes Tal entstanden sein, es war vor dem Flugsande geschützt, aber dieser hat sich im Laufe der Jahrtausende immer mehr im Süden angehäuft, denn der Südwind ist hier der vorherrschende, alle größeren Sandanhäufungen nehmen ihren Ursprung von Süden her, und als nun der Wüstensand den Gebirgskamm erreicht hatte, da war es mit der paradiesischen Oase vorbei, der Sand deckte nach und nach alles zu. Ja, dann gibt es für das Paradies der westlichen Araber und seine Vernichtung auch wirklich eine Erklärung!«
»Wissen denn die hiesigen Araber und Beduinen noch etwas von diesem verlorenen Paradiese?«, fragte Lilly.
»Das wohl, aber selbst die orthodoxesten Mohammedaner betrachten es als eine Mythe, dem keine Realität beizumessen ist.«
»So ist auch nichts von der Existenz dieses Gebirges bekannt?«
»Gar nichts. Wir haben doch bei den umwohnenden Beduinen und Tuaregs ganz eingehende Erkundigungen eingezogen, ehe wir unsere Expedition antraten.«
»Wie kommt das nur, dass davon gar nichts bekannt ist?«
»Es handelt sich eben um el Dschuf, um die sterilste und wasserloseste Wüste der ganzen Erde. Noch keine Karawane hat sie durchquert, kann es nicht, wagt es nicht, oder es hat auch gar keinen Zweck, es gibt bequemere Wege, um von Westen nach Osten zu kommen. Auch Aberglaube ist wohl dabei. Denn in diese Wüste el Dschuf verlegen die Bewohner der ganzen Sahara den Wohnsitz all ihrer zahllosen bösen Geister, zu denen auch der gehört, der die trügerische Fata Morgana erzeugt.«
»Und das ehemalige Paradies suchen sie auch nicht hier, ich meine, verlegen es nicht hierher?«
»Auch nicht. Das ist bei diesen westlichen Hamiten vollständig Mythe geworden, das liegt jetzt bei ihnen ganz in der Luft, genau so, wie ja auch wir Abendländer das himmlische Jenseits schon Paradies nennen.«
»Woher mag dieser Zwerg davon wissen?«
»Ja, geehrte Miss, da fragen Sie mich zu viel. Hast du gehört, Freund Alberich?«
Gehört mochte der Zwerg wohl haben, aber er antwortete nicht, auch auf keine diesbezügliche Frage.
Doch teilnahmslos war er durchaus nicht, er hatte sein ganzes Interesse auf die unter ihm liegende Gegend gerichtet, und seine in letzter Zeit so glanzlosen Augen leuchteten.
Zu sehen war dort unten allerdings nichts. Alles auch in dem Tal ebene Wüste, langgezogene Einsenkungen mochten ehemalige Flussläufe bezeichnen, nicht die geringste Erhöhung.
»Wenn hier einst eine Vegetation geherrscht hat, so müssten doch wenigstens abgestorbene Palmen aus dem Sande hervorsehen«, meinte Lilly.
»Oder der Sand ist noch viel höher geweht als die höchste Palme. Und dann hätte der glühende Sand doch bald alles zu Pulver ausgetrocknet. Ach, wie viele, viele tausend Jahre mögen darüber schon vergangen sein! Und schließlich ist doch alles nur eine Sage. Auch dieser Zwerg hat von dem Bahira el Dschennet gehört, er verlegt es jetzt hierher.«
»Dann muss er aber doch schon einmal hier gewesen sein.«
»Möglich. Warum nicht? Oder andere sind hier gewesen und haben ihm von diesem Gebirge mit dem großen Tale berichtet. Aber dann haben diese der anderen Welt nichts davon erzählt. Denn ich habe ja nur gesagt, dass die gebildete Welt nichts von diesem Gebirge weiß. Das ist überhaupt eine eigentümliche Sache. Unter den europäischen Jägern in allen Erdteilen, auch unter den Goldgräbern, Diamantensuchern und sonstigen Abenteurern, gibt es doch manch gebildeten Mann, sie kommen in Gegenden, die sonst noch keines zivilisierten Menschen Fuß betreten hat, sie könnten der wissenschaftlichen Welt manche hochwichtige Mitteilung machen — aber sie tun es nicht, sie haben ihr Geheimnis dabei, sie fürchten, einen materiellen Verlust dabei zu haben.«
Der südliche Gebirgsrand, der bisher ganz eben verlaufen war, begann sich zu verändern. Hier und da stieg eine Kuppe hervor, schon mehr säulenartig, und das war erklärlich, denn es war Basalt, der solche Formationen liebt.
Der Aeroplan wurde von Alberich immer in einer Entfernung links von diesem Kamme gehalten, und da die Wand dann ganz senkrecht abfiel, befand sich direkt unter ihnen das Wüstental.
»Sehen Sie nur, wie scharf er diese beobachtet«, flüsterte Lilly, »und er bewegt den Mund dabei, er scheint zu zählen.«
So war es in der Tat. Doch dann ließ er den Aeroplan hinabgehen, landete. Jetzt hatte man nach dem Dosenbarometer konstatieren können, dass das Gebirge, wenigstens dieser südliche Kamm, etwas über 140 Meter hoch war. Diese Sandebene selbst lag gegen 100 Meter über dem Meeresspiegel.
Es war in der zweiten Nachmittagsstunde, der Schatten der steilen Felswand war gegen 40 Meter breit, auch die schlanken Basaltsäulen wurden als aufgesetzte Knöpfe markiert.
Gerade auf dieser Grenze zwischen Schatten und Sonnenlicht war der Aeroplan gelandet.
Schon beim Niedergehen hatte man gesehen, dass diese Felswand mit sehr vielen Löchern durchsetzt war. Nicht gerade dich neben= und übereinander, es lagen zwischen je zwei oft Distanzen von mehr als 100 Metern, aber das doch überall so weit das Auge reichte, und diese Höhlenformation ging bis dicht an den Boden herab, in die untersten war der Sand eingedrungen.
Das war aber auch das einzige Interessante, was es hier zu sehen gab. Sonst alles eine ebene Sandwüste, keine Spur von dem dornigen Galubusch, an dem das Kamel auch in den ödesten Gegenden der Sahara noch seinen Hunger zu stillen weiß — wen es vor Durst noch fressen kann.
Ohne weiteres öffnete Alberich den Utensilienkasten, unter gespanntester Beobachtung der beiden anderen. Denn der Zwerg war doch wohl nicht umsonst hier niedergegangen.
Er entnahm dem Kasten den Sextanten, den Chronometer und was sonst noch dazu gehörte, trat auf den Schattenrand, gerade auf solch einen schwarzen Knopf, den dort oben eine schlanke Säule warf, konnte in dieser Stellung, so klein der Mann auch war, doch eben noch den äußersten Rand der Sonne hinter dem Gebirgskamm erblicken, stellte den Sextanten ein, nahm die Uhrzeit, fing an zu rechnen.
Lange, lange rechnete er in der Kladde, machte immer noch einmal eine Sonnenaufnahme, stets auf denselben Schattenknopf tretend, der sich natürlich immer mehr nach Nordosten verschob, aber ganz, ganz langsam, weil es eben noch Mittagsstunde war, in der sich ja die Sonne für unser Auge ganz langsam fortbewegt, rechnete immer wieder.
Eine einfache geografische Ortsbestimmung konnte das nicht sein. Das vorige Mal hatte er zu einer solchen keine fünf Minuten gebraucht.
Breithaupt blickte in die Kladde, und gleich darauf machte er ein ganz erstauntes, schon mehr bestürztes Gesicht.
»Bei Gott, das Kerlchen macht eine astronomische Schattentransmutation!! Und zwar — da hat er Datum und Stundenzeit notiert — für den 6. Februar nachmittags 4 Uhr 13 Minuten. Und wie der das versteht! Miss Leley, Hut ab, wir haben die Ehre, uns in der Gesellschaft eines wissenschaftlichen Astronomen zu befinden, mit dem ich nun freilich nicht antreten kann!«
Er gab seiner Gefährtin eine Erklärung, was jener eigentlich mache, was eine Schattentransmutation ist.
Wir wollen die Sache von einem anderen Gesichtspunkte betrachten.
Man soll über einen Irrtum, den ein ernster Mensch versehentlich oder im besten Glauben begeht, nicht spotten, gar nicht darüber kritisieren. Es gibt einen sehr bekannten deutschen Romanschriftsteller, er schreibt auch viel für die Jugend, aber klassische Sachen, wenigstens wird das einst anerkannt werden — schildert einmal eine phantastische Südpolarexpedition, wobei Eisbären erlegt werden.
Das ist fatal! Am Südpol gibt es keine Eisbären. Am allerfatalsten muss es dem Verfasser selbst gewesen sein, als er dann von seinen ›Freunden‹ auf diesen Lapsus aufmerksam gemacht wurde, zumal es ein regelrechter Professor ist.
Nun, der Schreiber dieses hat manchen Lapsus und groben Fehler in seinen Schriften gemacht, den er erst hinterher gemerkt, und sicher noch viel mehr, wovon er bis heute noch nichts weiß. Never mind, irren ist menschlich, es war nicht bös gemeint.
Da er aber nun so über sich selbst urteilt, hat er schon etwas mehr Recht, auch über andere zu urteilen, dabei auch einmal einen Namen anzuführen.
Der phantastische Romancier Jules Verne ist wohl allgemein bekannt. Eine seiner spannendsten Erzählungen ist ›Die Reise nach dem Mittelpunkt der Erde‹. Ein Professor der Physik, der auch stark Geologie und Astronomie betreibt, bekommt zufällig eine chiffrierte Schrift in die Hände — auf Island ist ein Krater, der den Eingang zu dem natürlichen Tunnel bildet, der fast in den Mittelpunkt der Erde führt. So meldet wenigstens die Fabel.
Die Hauptsache der Geheimschrift ist die Angabe einer Schattenbestimmung. Es sind in jener Gegend mehrere Krater, schwer zu unterscheiden, und dann ist noch ein hoher Berggipfel vorhanden, und in welchen Krater nun zur bestimmten Stunde und Minute eines bestimmten Tages im Jahre die Schattenspitze des Berggipfels fällt, das ist der richtige. In allen anderen Kratern wird man nur in die Irre geführt.
Der Professor begibt sich zur Zeit hin nach Island, wartet jenen bestimmten Tag ab und ist in größter Sorge, weil zur bestimmten Stunde die Sonne nicht zum Vorschein kommen will. Glückt es ihm nicht, zur rechten Minute die Sonnenbestimmung zu machen, so muss er wieder ein Jahr warten, ehe er dasselbe wiederholen kann. Aber es glückt ihm, die Sonne kommt noch rechtzeitig zum Vorschein.
So sagt Jules Verne. Das ist ein Irrtum, und den hätte Jules Verne, der zwar nur ein armer Advokatenschreiber gewesen, sich aber durch Selbststudium wirklich ganz außerordentliche physikalische und astronomische Kenntnisse angeeignet hatte, vermeiden können.
Für diesen Professor der Physik, der auch in der Astronomie durchaus bewandert war, musste es eine Kleinigkeit sein, eine Schattentransmutation zu machen. Man braucht nur ein einziges Mal im Jahre eine Schattengrenze zu haben, so kann man durch eine Umrechnung bestimmen, wohin derselbe Schattenpunkt zu irgendeiner Stunde und Minute irgendeines Tages in irgendeinem Jahre fallen wird. Um einen beliebten Ausdruck zu gebrauchen: das wäre doch noch schöner, wenn man das nicht könnte! Freilich muss ›man‹ ein wirklicher Astronom sein. Ein Steuermann kann das nicht machen. Hierfür gibt es nicht so einfache Formeln. Das kann nur der regelrechte Astronom, von dem man etwa die Dissertationsschrift sehen muss, vielleicht nichts weiter als die Berechnung des Abstandes zweier Sterne. Nur ein Blick in das Büchelchen — da gehen einem doch gleich die Augen über. Diese Formeln, diese Zahlenreihen!!
Der Vermessungsingenieur wusste von der Astronomie ganz bedeutend mehr als ein simpler Steuermann, solch eine Schattentransmutation aber konnte er nicht machen.
Jetzt konnte er nur staunen. Staunte, wie dieses Männchen die kniffligen Formeln berechnete, die er alle im Kopfe hatte.
Breithaupt musste seinem Staunen gegen Lilly Luft machen, und die hatte sofort nur einen Gedanken.
»Kann er? Ist er wirklich ein so fabelhafter Mathematikus? Aber mit Mister Green, glaube ich, könnte er sich doch nicht messen. Der braucht überhaupt kein Papier, rechnet alles im Kopfe, nur dass er immer Streichhölzchen aus einer Westentasche in die andere steckt, das ist so ein Hilfsmittel. Tut er? Ach, mein armer, armer Adam!!!«
Mit einem Male brach bei ihr der ganze Jammer von neuem hervor, stärker als vorhin an Ort und Stelle. Sie schluchzte herzzerreißend.
Der junge Ingenieur hatte noch gar nicht erfahren, wie die Verlobungsgeschichte eigentlich zwischen den beiden gestanden. Auch aus diesem Jammern konnte er nichts schließen, das galt doch nur dem befreundeten Gefährten im Allgemeinen, und natürlich fragte er jetzt erst recht nicht.
Alberich hatte seine Berechnung beendet, hatte bereits mit einem größeren Steine im Sande einen Punkt bestimmt, über den der Grenzschatten der Basaltsäule unterdessen schon hinweggerutscht war, jetzt suchte er, immer wortlos, in dem Utensilienkasten, brachte aus demselben einen Meterstock und ein Knäuel Bindfaden zum Vorschein, maß von diesem sorgfältig 35 Meter ab, diese Stelle durch ein Fädchen markierend, trieb an Stelle des Steines einen kurzen Eisenstab in den Sand, band an diesen die Schnur, ging mit dem anderen Ende davon, den großen Kompass der Flugmaschine mitnehmend, spannte die Schnur, als die 32 Meter abgewickelt waren, straff, die Richtung nach dem Kompass verbessernd, wobei er auch noch über den Stock visierte — jetzt hatte er offenbar den Punkt gefunden, wohin vier Monate früher oder ganz genau am 6. Februar nachmittags 4 Uhr 13 Minuten der Schatten der Spitze jener Basaltsäule gefallen war und übers Jahr um dieselbe Zeit wieder fallen würde.
So ganz, ganz genau konnte das freilich nicht bestimmt werden. Dann hätte er mit Zehntelgradsekunden rechnen müssen, was er nicht getan, weil es keinen Zweck gehabt hätte, denn dann hätte auch der Chronometer so absolut genau bis auf Zehntelsekunden gehen müssen.
Aber so genau kam es wohl nicht darauf an, jedenfalls genügte diese Bestimmung.
Den gefundenen Punkt markierte der Zwerg nun wieder durch einen besonderen Stein, trat darauf, hielt den mit einer besonderen Wasserwaage versehenen Kompass vor sich, streckte den Arm aus.
»Dort!«, sprach er bei dieser ganzen Manipulation zum ersten Male ein Wort aus.
Er deutete schräg nach der Felswand, konnte nur eins der vielen Löcher meinen, eben das, auf welches er deutete.
Lillys Tränen waren über diesem geheimnisvollen Gebaren des Zwerges schon längst versiegt.
»Was gibt es denn dort? Was ist in der Höhle?«
»Tot, alles tot«, erklang es seufzend.
»Ach, nun fängt der schon wieder so an.«
»Ich glaube fast, der verstellt sich, jetzt wenigstens«, meinte Breithaupt. »Früher mag er wirklich die Erinnerung verloren haben, also das gewesen sein, was man, nicht ganz mit Recht, irrsinnig nennt. Jetzt aber ist er wieder bei ganz normalen Sinnen, behält nur das alte Verfahren bei, um keine Antwort nötig zu haben.«
Breithaupt hatte das nicht ohne Grund laut gesagt, beobachtete den Zwerg scharf dabei. Der aber würdigte ihn nicht einmal eines Blickes, ging nach der Flugmaschine zurück, entnahm dem Utensilienkasten ein zusammengerolltes Seil von etwa zehn Meter Länge, das mit zur Ausrüstung des Aeroplans gehörte, denn so etwas kann doch immer einmal gebraucht werden, und einen starken Haken, von dem dasselbe gilt.
So begab er sich, von hier aus eine andere Richtung einschlagend, direkt nach jener Stelle an der Felswand, blickte unterwegs noch einmal nach den beiden, hätte wahrscheinlich auch gewinkt, aber es war nicht nötig, die beiden folgten schon von selbst.
»Was der nur will?«
»Wir werden es ja gleich erfahren. Freilich, wenn er so bleibt, wohl nicht, woher er dies alles weiß.«
Der untere Rand der Höhle befand sich etwa fünf Meter über dem Boden, das ist zu hoch, als dass ihn auch ein professioneller Kunstspringer mit den Händen hätte erreichen können; ihr ziemlich kreisrunder Durchmesser betrug kaum zwei Meter.
Breithaupt spähte nach irgendeinem angebrachten Zeichen, machte seine Begleiterin darauf aufmerksam, sie konnten aber nichts Derartiges entdecken, und von den benachbarten Höhlen unterschied sich diese sehr wenig, eine spezifische Beschreibung hätte gar nicht gegeben werden können. So war für Leute, welche den Sextanten zu handhaben wissen und auch eine Schattentransmutation vornehmen können, diese Fixierung die sicherste, vielleicht sogar die Allereinzigste. Denn hier gab es ja viele Hunderte, vielleicht auch viele Tausende solcher Höhlen, nur in dieser Gegend hier, die man überblicken konnte. Von weitem sah die Felswand wirklich siebartig durchlöchert aus.
Der herkulische Zwerg, wirklich ein Herkules en miniature, schwang den an einem Ende befestigten Haken mit Geschick, gleich beim ersten Male hatte er am Rande der Höhle gefasst.
Ohne Weiteres kletterte Alberich hinauf, Hand über Hand angelnd, die Füße nur dazu benützend, sich mit ihnen von der Wand abzustützen.
Er verschwand in dem Loche, kam aber gleich mit Kopf und Arm wieder zum Vorschein, winkte den Untenstehenden.
»Folgen wir der Einladung. Da bin ich doch wirklich gespannt!«
Lilly war im Nu oben, und nur weil Breithaupt ehemals ein guter Turner gewesen war, und noch nichts von seiner Gelenkigkeit und Muskelkraft eingebüßt hatte, brachte er es auch fertig. Denn das war ja nicht so einfach, er musste unbedingt Hand über Hand emporgehen, zum richtigen Klettern hing das Seil zu dicht an der Wand.
Sie konnten sich eben aufrichten. Vor ihnen gähnte die Finsternis, in welcher der Zwerg schon verschwunden war.
»Kommt!«, erklang es da als wiederum neues Wort aus des Zwerges Munde.
»Ist denn das ein Tunnel?«
»Ja.«
»Wohin führt er?«
»Sie werden es sehen.«
Zunächst blickten sich die beiden, noch im Tageslicht stehend, an.
»Der bekommt in diesem finsteren Loch die Sprache wieder!«, flüsterte Lilly mit einigem Humor.
»Der hat sie schon längst wieder, der verstellt sich nur noch, wie ich schon sagte«, entgegnete Breithaupt, diesmal aber ebenfalls leise.
»Wohin führen Sie uns? Was enthält dieser Tunnel?«, fragte Lilly weiter.
»Das... weiß ich nicht«, erklang es nach einigem Zögern zurück.
Der Zwerg konnte noch gar nicht so weit vorgedrungen sein.
»Wie? Das wissen Sie nicht?«
»Nein.«
»Sind Sie schon einmal hier gewesen?«
Wieder eine längere Pause.
»Ich glaube ja«, erklang es wieder zögernd.
»Sie glauben es nur?«, fragte Lilly mit Recht verwundert.
»Ja.«
»Sie wissen nicht, wohin Sie uns führen wollen?«
»Nein.«
»Ja, wie sollen wir denn das verstehen?«
»Ach, Miss«, erklang es unsagbar kläglich zurück. »Verstehen Sie mich wirklich nicht? Meinen geistigen Zustand? Ich habe in den langen, langen Jahren, die ich einsam auf jenem Berge zubringen musste, die Erinnerung verloren — und dass ich das selbst ganz genau weiß, das ist eben das Furchtbare dabei. Aber sobald ich etwas wiedersehe, dann kommt mir die Erinnerung wieder. Und so gehe ich von Schritt zu Schritt. Verstehen Sie mich jetzt?«
Die beiden waren ob des Vernommenen furchtbar betroffen.
Ja, jetzt bekam das seltsame Gebaren dieses Zwerges eine Erklärung! Das ist sogar eine Art des Irrsinns, der gar nicht so selten vorkommt.
Breithaupt raffte sich zuerst aus seiner Bestürzung auf, er wollte ganz sachgemäß sein.
»Ja, jetzt beginnen wir Sie zu verstehen. Wie heißen Sie?«
»Nennen Sie einmal meinen früheren Namen, und ich weiß ihn wieder für immer.«
Das war ganz logisch. Ebenso konnte ein vernünftiger Mensch begreifen, wie dieser arme Mann erst hier in der Finsternis zu sprechen begann, soweit er über sich sprechen konnte. Das Vermögen hierzu hatte er schon früher bekommen, aber eine gewisse Scham hatte ihn bisher davon abgehalten — sogar eine ganz gewaltige Scham, und unvernünftige Leute können dabei von einer ›ungerechtfertigten‹ sprechen — da hatte er sich lieber völlig blödsinnig gestellt — hier erst, in dieser absoluten Finsternis, fand er den Mut dazu.
Dieses Sicheröffnen war so interessant, dass Breithaupt darüber ganz die Höhle im Herzen des unbekanntesten Afrika vergaß, desgleichen Lilly, und überhaupt musste diese Gelegenheit ausgenützt werden. Vielleicht kam sie nie wieder. Zunächst erfand der junge Ingenieur gleich eine List, oder er wollte prüfen.
»Ich weiß aber, wie Sie heißen.«
»Sie wissen?«
»John Goldsmith.«
»So soll ich heißen?«
»Ja.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Ich weiß es. Sie haben auf dem Monte Cerboli eine Karte verloren, und ich weiß bestimmt, dass dieses Ihr Name ist.«
»John Goldsmith? Nein, so heiße ich nicht. Da irren Sie sich. Nennen Sie meinen Namen, und ich werde Ihnen sofort bestätigen, dass ich wirklich so heiße. Nur ein einziges Mal braucht der Klang dieses Namens mein Ohr zu treffen.«
Alles ganz, ganz logisch! Die List hatte nicht verfangen. Eben weil der Unglückliche sich trotz aller Erinnerungslosigkeit selbst am besten kannte.
»Sie wissen nicht, woher Sie sind?«
»Ich bin ein Amerikaner, ein Yankee, aber von deutschen Eltern stammend.«
»Woher wissen Sie das?«
»Das ist mir durch Belauschen Ihrer Unterhaltungen nach und nach wieder zum Bewusstsein gekommen.«
»Ist es ein deutscher Name?«
»Auch das weiß ich noch nicht einmal. Der Name oder das Wort kam in Ihren Unterhaltungen noch nicht vor.«
»Kennen Sie den Namen der Stadt oder des Fleckens in dem Sie geboren sind, zuletzt gelebt haben?«
»Nein. Ich vermag mich durchaus nicht zu entsinnen. Doch Sie brauchen den Namen bloß zu nennen.«
Alle Ortsnamen Nordamerikas herzusagen, dazu war jetzt keine Zeit — es war überhaupt eine Unmöglichkeit, das musste später auf eine andere Weise arrangiert werden.
»Wie sind Sie nach dem Monte Cerboli gekommen?«
»Weiß ich nicht.«
»Doch mit dem Aeroplan.«
»Ja, das weiß ich allerdings noch. Es kam mir zur Besinnung, als ich Ihren Aeroplan sah, nur dieses Wort aus Ihrem Munde hörte. Ach, da hat es freilich erst einen gar harten Kampf gegeben!«
Wieder hatte das letzte unsagbar traurig geklungen, herzzerreißend, und ein mitfühlender Seelenkenner verstand den Grund.
»Sie hatten auch die Sprache verloren?«
»Vollkommen.«
»Wann haben Sie das Sprechen wiedergelernt?«
»Jetzt, während dieser Reise. Durch Belauschen Ihrer Unterhaltungen.«
»Müssen Sie jedes einzelne Wort vernehmen, ehe Sie es wieder nachsprechen können?«
»Ja — oder auch nein. Nicht so ganz. Vieles kommt ja auch so nach und nach von allein wieder in die Erinnerung — nur die großen Hauptsachen nicht.«
»Aber Sie wussten, dass Sie sich auf dem Monte Cerboli in Mexiko befanden?«
»Nein, das wusste ich nicht mehr. Erst durch Ihre Unterhaltungen erfuhr ich es — und dann freilich wusste ich es.«
»Aber Sie konnten doch gleich die geografische Ortslage angeben, und wir hatten diese Zahlen noch nicht genannt.«
»Da hing eins mit dem anderen zusammen.«
»Ja, ich verstehe. Sie sind ein professioneller Aviatiker gewesen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Astronom?«
»Jedenfalls habe ich gründliche astronomische Studien gemacht.«
»Woher wissen Sie das?«
»Nun, weil ich sonst wohl nicht imstande wäre, solch eine Schattentransmutation zu machen.«
»Ganz richtig. Aber mir kommt es jetzt eigentlich auf etwas anderes an. Wenn ich das Wort ›Astronomie‹ sage, taucht Ihnen nicht sofort ein Gebäude, eine Universität auf, in dem sie solchen Studien obgelegen haben?«
»Nein. So einfach ist das nicht. Es muss immer etwas handgreiflich sein, was mir die Erinnerung zurückbringt. Bei meinem Namen ist das etwas anderes, der gehört zu meiner Person, aber sonst... ach!!«
Wieder ein kläglicher Seufzer.
»Wie kommen Sie dazu, uns hierher zu führen?«, fuhr Breithaupt in seinem Examen fort.
»Ich weiß es nicht.«
»Aber das müssen Sie doch wissen. Irgendeine Erklärung müssen Sie doch geben können — irgendeine!«
»Ein unwiderstehlicher Drang zwingt mich dazu.«
»So, das ist schon etwas. Wo befiel dieser Drang Sie zuerst?«
»Schon auf dem Monte Cerboli. Gleich als ich für diesen die geografische Ortsangabe gemacht hatte.«
»Aha! Jetzt kommen wir der Sache näher! Nun nannten Sie gleich die Zahlen einer zweiten geografischen Ortsbestimmung.«
»Die für diese Insel gültige.«
»Wie kamen Sie dazu?«
»Das war ebenfalls ein unwiderstehlicher Drang. Ich habe mich offenbar in der letzten Zeit meines vollen Bewusstseins ganz intensiv mit dieser geografischen Ortsbestimmung beschäftigt. Das Wort Monte Cerboli gab mir die Erinnerung an dessen Lage zurück, das Aussprechen dieser geografischen Ortsbestimmung löste gleich eine zweite Zahlenreihe aus, die ich ganz unbewusst aussprach, aber doch zugleich auch von dem Drange beseelt, dorthin zu gelangen.«
»Ganz richtig, ganz richtig! Wussten Sie, dass diese zweite geografische Bestimmung für Afrika galt?«
»Nein, damals wusste ich das nicht.«
»Aber jetzt wissen Sie es?«
»Ich muss doch wohl.«
»Sie wissen, dass Sie jetzt in Afrika sind?«
»Ich habe es ja oft genug von Ihnen gehört.«
»Sind Sie schon früher einmal in Afrika gewesen?«
»Das... weiß ich nicht«, erklang es wiederum sehr zögernd.
»Wir sind doch schon eine bedeutende Strecke über Land geflogen. Kam Ihnen da keine Erinnerung?«
»Als wir in dem gelben Sandmeere die grünen Inselchen erblickten, sprachen Sie oftmals den Namen ›Oase‹ aus, und da erinnerte ich mich wieder, diesen Namen schon oft gehört zu haben, wusste plötzlich wieder, was eine afrikanische Oase ist. Nein, solche Oasen habe ich früher wohl noch nicht gesehen. Und trotzdem kann ich früher schon in Afrika gewesen sein.«
Freilich, Afrika ist ein ganzer Erdteil, und es gibt genug afrikanische Landschaften ohne Wüste, Oasen und Palmen.
»Sind Sie schon hier in diesem Tale gewesen?«
»Ich... glaube nicht.«
»Sie sprachen den Namen Bahira el Dschennet aus.«
»Den muss ich schon einmal gehört haben.«
»Wissen Sie, was das heißt?«
»Bahira das Paradies.«
»Woher wissen Sie das?«
»Diese Erklärung kann ich ja erst von Ihnen gehört haben.«
Der Mann hatte Recht.
»Taraf arabi?«
Nein, arabisch sprach er nicht. Wohl aber Deutsch, Französisch und Lateinisch, und außerdem klassisches Griechisch, worin ihn der Ingenieur freilich nicht examinieren konnte. Aber einige griechische Brocken hatten genügt, um das Bewusstsein wieder zu wecken. Jetzt kam es zum Vorschein.
Nach dieser Abzweigung kam Breithaupt wieder auf dieses Tal zurück. Der Zwerg blieb dabei immer im Finstern.
»Sie sprachen den Namen Bahira el Dschennet sofort aus, als Sie dieses Tal erblickten.«
»Ja, da wurde eben meine Erinnerung geweckt.«
»Dann müssen Sie dieses Tal doch schon früher wenigstens einmal gesehen haben.«
»Das ist nicht nötig.«
»Weshalb nicht?«
»Ich wusste die geografische Lage des Ortes, wohin es mich drängte. An jenem Leichenhügel machte ich noch eine Bestimmung...«
»Erlauben Sie«, unterbrach Breithaupt, »was wussten Sie von diesem Sandhügel?«
»Gar nichts.«
»Sie haben ihn nur zufällig gesehen?«
»Ganz zufällig. Ich sah auf dem Hügel unter dem Sande Trümmer eines Gerüstes und menschliche Gliedmaßen, und da sagte ich mir, dass es wohl meine Pflicht sei, dort erst zu landen.«
»Also kein Hellsehen — nur ein Zufall — Gott sei Dank!«, murmelte Lilly.
Dann aber war doch des Zwerges Teilnahmslosigkeit an diesem grausigen Funde recht merkwürdig gewesen, das sprach nicht gerade für seinen Geis-teszustand. In den Irrenanstalten führen manchmal gerade die unheilbarsten Kranken die vernünftigsten Gespräche. Die Interesselosigkeit für alles, was nicht in den ganz eng gewordenen Ideenkreis passt, ist immer das schlimmste Zeichen.
»Ein Zufall war es«, fuhr der Zwerg von allein in seiner Finsternis fort, »dass jener Leichenhügel genau auf dem 22. Breiten- und dem 8. Längengrade lag. Eine genauere Bestimmung für dieses Tal werde ich wohl nicht bekommen haben. Ich wusste nur, oder es drängte mich nur, weiter nordöstlich zu gehen. Aber von einem Tale wusste ich noch gar nichts. Doch als ich das Gebirge auftauchen sah, wusste ich wiederum sofort, dass dies mein ersehntes Ziel sei. Und als ich dann jenseits des Kammes dieses Tal erblickte, kam mir ganz unbewusst der Name Bahira el Dschennet über die Lippen.«
»Sie haben es gejauchzt.«
»Ich weiß es. Weil ich mich endlich am Ziele meiner sehnsüchtigen Wünsche sah, wenn diese auch immer in meiner Brust gleichsam geschlafen hatten. Anders kann ich mich nicht ausdrücken.«
»Gut, ich verstehe. Und was ging dann in Ihnen vor?«
»Wieder wurde ich ganz richtig gezwungen, von einer geheimnisvollen Macht, mich an dem südlichen Kamme zu halten, und als ich die Basaltsäulen sah, wusste ich, dass ich diese zählen sollte, und die fünfzehnte war die betreffende, mit deren Schatten ich mich unten zu beschäftigen hatte.
»So landete ich unten im Tale, trat auf die Grenze dieses Säulenschattens, machte eine genaue geografische Ortsbestimmung, und in demselben Augenblicke, da sie vollendet, fiel mir ein, dass ich diese Schattenspitze für den 6. Februar nachmittags 4 Uhr 13 Minuten umzurechnen hatte...«
»Da dachten Sie noch gar nicht an eine dieser Höhlen?«
»Mit keinem Gedanken. Aber als die Transmutation beendet, da freilich wusste ich sofort, in welcher Richtung ich von dort aus über den Kompass zu visieren hatte, und als ich da diese Höhle erblickte, wusste ich ebenso sofort, dass ich in sie einzudringen hatte, dass ich nur dieser Höhle wegen hierher gekommen war.«
»Wunderbar, wunderbar!«, ließ sich Lilly wieder einmal vernehmen.
»Ich kann Ihnen dann noch ein ganz ähnliches Beispiel anführen«, wandte sich Breithaupt an sie, »wie ein Mensch so nach und nach die Erinnerung zurückerhält, aber er weiß das Betreffende niemals eher, als er es unbedingt wissen muss. Ein gebildeter Buddhist oder ein moderner Theosoph könnte Ihnen hierfür auch eine Erklärung geben. Es ist — so würde er sagen — eine Wiedergeburt mitten im menschlichen Leben. Der Betreffende war mitten im Leben schon einmal tot, geistig tot... doch lassen wir das, verirren wir uns nicht auf mystisches Gebiet.«
»Tot, alles tot«, hörte man den Zwerg in der Finsternis murmeln.
»Warum sagen Sie das immer, tot, alles tot?«
»Ich... weiß es nicht.«
Das war allerdings schlimm. Hier wenigstens hätte er eine Erinnerung haben können.
»Also nun war Ihr Entschluss fertig, in diese Höhle einzudringen.«
»Ja. Ich musste, von einer fremden Gewalt dazu getrieben.«
»Sie wissen und wussten aber nicht, wohin dieser Tunnel führt?«
»Ich weiß es jetzt noch nicht, und ich wusste vorhin noch gar nicht, dass dieses Loch den Eingang zu einem Tunnel bildet. Jetzt aber, da ich ihn begehe, finde ich das ganz selbstverständlich.«
»Gut, ich verstehe. Nur eins ist mir nicht ganz selbstverständlich. Können Sie denn im Finstern sehen?«
»Nein.«
»Wie kommen Sie dazu, so ohne Weiteres in den stockfinsteren Tunnel zu dringen. Sie könnten doch bei jedem Schritte in eine Spalte stürzen.«
»Nein. Es ist mir ganz unklar und dennoch auch ganz bestimmt bewusst, dass ich diesen Tunnel ohne jede Gefahr bis zu Ende gehen kann.«
»Ja ja, jetzt verstehe ich es doch. Es ist Ihnen dies alles einmal ganz ausführlich beschrieben worden.«
»Jedenfalls.«
»Die Erinnerung kommt Ihnen aber immer nur, sobald Sie so weit sind, wenn es das Betreffende auszuführen gilt.«
»So ist es. Aber es ist doch keine klare Erinnerung, sondern nur ein Drang.«
»Jawohl, eben weil Sie nur einer Beschreibung folgen.«
»Das mag sein.«
»Können Sie sich entsinnen, wer Ihnen diese Beschreibung gegeben hat?«
»Mit keinem Gedanken.«
»War es vielleicht eine Frau?«
»Eine Frau? Nein, ganz gewiss nicht.«
»Ein Kind?«
»Auch nicht.«
»Also ein Mann.«
»Ja, es war ein Mann, der mir von alledem erzählte.«
Nicht umsonst hatte Breithaupt in seinem Examen zuerst mit einer Frau begonnen. Jetzt wusste er, auf welche Weise er von diesem Erinnerungslosen alles erfahren konnte, doch war jetzt keine Zeit zu solch einem langwierigen Verhör. Nur noch eine kleine Probe wollte er daraufhin machen, um für später seiner Sache ganz sicher zu sein.
»War es ein junger Mann, der Ihnen hiervon berichtete?«
»Jung? Nein, jung war er nicht.«
»Also ein alter Mann.«
»Ich glaube, ja.«
»Hatte er weißes Haar?«
»Nein, das hatte er nicht.«
»Graues Haar?«
»Jawohl, er hatte graues Haar!«, wurde förmlich gejubelt.
Der Unglückliche wünschte ja nichts sehnlicher, als dass man seiner Erinnerung zu Hilfe kam, aber sie musste Schritt für Schritt geweckt werden, Bilder mussten ihm vorgemalt werden. Bei Kindern nennt man das Anschauungsunterricht.
»In welcher Sprache berichtete Ihnen der Mann davon?«
»Das... weiß ich nicht mehr.«
Diese Antwort hatte Breithaupt erwartet.
»In Englisch?«
»Nein, Englisch war's nicht.«
»In Deutsch?«
»Auch nicht.«
»Französisch?«
»Französisch, jawohl, Französisch war's — aber...«, wurde die erste Freude gleich wieder gedämpft.
»Was aber?«
»Der Mann sprach nicht gut Französisch.«
»Ah so, er wechselte die Sprache. Vielleicht dann Italienisch?«
»Nein, Italienisch war's nicht, das kann auch ich nicht — und doch...«
»Lateinisch?«
»Jawohl, jawohl, natürlich, wir unterhielten uns auf Lateinisch!!«, erklang es diesmal richtig jauchzend.
Breithaupt wusste genug — wenigstens, dass er später auf diese Weise zum Ziele kommen würde, und dieses Unglücklichen Erinnerungsvermögen würde doch, da es nun einmal geweckt war, auch immer mehr zunehmen.
»Also in diesen Tunnel können Sie ohne jede Gefahr vordringen?«
»Ohne jede Gefahr.«
»Wie weit?«
»Bis... ich nicht weiter kann.«
»Weshalb nicht?«
»Ich werde wohl auf ein Hindernis stoßen.«
»Was für ein Hindernis?«
»Das kenne ich noch nicht.«
»Wie werden Sie es beseitigen?«
»Das werde ich wissen, sobald ich dieses mir jetzt noch unbekannte Hindernis erreicht habe, und dann werde ich auch wissen, was für ein Hindernis das ist, das heißt, es wird mir sein, als ob ich es schon immer gewusst hätte.«
»Ganz richtig ausgedrückt, ich verstehe alles! Werden Sie aber auch fernerhin kein Licht brauchen?«
»Doch. Und ich habe eine elektrische Lampe bei mir.«
»Ah, die haben Sie vom Aeroplan mitgenommen?«
»Ja, es drängte mich dazu — es ist immer jene geheimnisvolle Macht.«
»Bedürfen wir keiner Waffen?«
»Nein, hier gibt es nichts, was uns gefährlich werden könnte.«
»Ich habe mein pneumatisches Taschenterzerol bei mir«, sagte Lilly.
»Es ist nicht nötig. Hier ist alles tot, alles tot«, wurde wieder einmal kläglich geseufzt.
»Hat Ihnen vielleicht jener alte Mann erzählt, dass hier alles tot ist?«, begann Breithaupt doch noch einmal zu examinieren.
»Ja, das hat er mir erzählt!«, wurde gleich mit frohlocken versichert.
»So hat hier einmal jemand gelebt?«
»Ja, das erzählte er mir.«
»Ich meine natürlich nicht die ersten Menschen und ihre Nachkommen, die in diesem Bahira gelebt haben sollen.«
»Nein, nein, er erzählte mir von etwas anderem.«
»Hier hat noch bis vor kurzem ein Mensch gelebt?«
»Ja, und nicht nur einer«, begann der Zwerg jetzt selbstständiger zu werden.
»Mehrere?«
»Ja, es müssen mehrere gewesen sein.«
»Wie viele?«
»Das... weiß ich nicht.«
»Drei?«
»Mehr noch.«
»Zwölf?«
»Nein, so viele waren es nicht.«
Nun, auf die Zahl kam es ja nicht an.
»Waren es Europäer?«
»Ja — nein — nicht alle.«
»Untersuchen wir doch erst den Tunnel, wohin der führt«, sagte Lilly ungeduldig. »Alles andere können wir ja später ausforschen.«
»Sie haben Recht. Nur noch eins: alle diese Menschen sind tot?«
»Tot, alles tot«, wurde geseufzt.
»Gestorben?«
»Ich... weiß nicht...«
»Etwa im Kampfe gefallen?«
»Ja, ja — ermordet sind sie alle worden!!«
»Von jenem Manne, der Ihnen dies berichtete?«
»Nein, von dem nicht — gegenseitig haben sie sich getötet — jener kam nur gerade hinzu, verfolgte den Mörder, tötete auch ihn, den letzten.«
Obgleich der Unglückliche jetzt klarer denken zu können schien, brach Breithaupt das Verhör doch ab.
»Vorwärts, folgen wir ihm! Den Aeroplan können wir doch sich selbst überlassen, Miss?«
»Weshalb nicht? In diesem menschenleeren Tale!«
Dann führen Sie uns, Freund Alberich, wie wir Sie wohl noch nennen dürfen. Es ist aber doch wohl besser, wenn Sie jetzt gleich Licht machen.«
Sofort flammte vor ihnen ein Lichtlein auf, das sich zum Blendstrahl vergrößerte. Der Zwerg hatte sich sechs Schritt vor ihnen befunden, und diese Entfernung suchte er auch beizubehalten. Es war ganz offenbar, wie er sich schämte, dies alles gestanden zu haben — eine ganz undefinierbare Scham, aber für den wirklichen Menschen — und mehr noch dem Seelenkenner doch begreiflich. Die Irrsinnigen schämen sich in ihren lichten Momenten stets ihres kranken Wahnzustandes, werden dadurch nur noch unglücklicher oder eigentlich, für ihre eigene Person, erst jetzt unglücklich, und auch Alberich ließ noch einen gar kläglichen Seufzer erschallen, ehe er den Weg antrat.
Der Blendstrahl beleuchtete einen gewölbten Tunnel, der kreisrund gewesen wäre, wenn der Boden nicht abgeplattet. Sein Durchmesser betrug nach wie vor zwei Meter, nur ein sehr langer Mensch hätte sich bücken müssen. Der Felsen war Basalt, die Wände so glatt, dass man es für menschliche Arbeit halten musste.
»Etwa fünf Meter befindet er sich über dem Boden«, meinte Breithaupt einmal unterwegs, »wir müssen aber bedenken, dass der Flugsand die eigentliche Talsohle, wo einst geherrscht hat oder geherrscht haben soll, wohl sehr hoch bedeckt. Früher muss dieser Tunnel also noch viel höher über dem Boden gewesen sein.«
»Ob er von jenen letzten Bewohnern dieses Tales angelegt worden ist?«, fragte Lilly.
»Nein, er ist schon früher vorhanden gewesen«, ließ sich Alberich von allein vernehmen.
»Das hat Ihnen jener Mann berichtet?«
»Ja.«
»Hier haben also wirklich schon einmal Menschen gelebt, das war einmal ein fruchtbares Tal?«
»So erzählte mir jener.«
»Wann sind diese Ureinwohner gestorben oder ausgewandert?«
»Das... weiß ich nicht. Tot, alles tot — ach!«
Man ließ es dabei, gab lieber acht auf die Umgebung.
Breithaupt hatte von Anfang an seine normalen Schritte gezählt, es waren 62, als er vor einer Wand hielt, an der Alberich bereits stand, an ihr auch schon herumtastete.
»So sollte es sein«, murmelte er dabei, »hier drücken — und hier — und hier schieben — da geht es schon...«
Die Steinwand wich zurück, es zeigte sich, dass sie auf Zapfen ging, aus einem besonderen Steine von außerordentlicher Härte kunstvoll eingesetzt, ebenso wie die Lager. Die Steintür war von Alberich zurückgedrängt worden, wollte von allein auch wieder vor — ehe dies geschah, ließ sich Breithaupt erst den äußeren Mechanismus erklären und vergewisserte sich dann, dass die Tür auch von innen wieder geöffnet werden konnte.
Hierzu waren wieder andere Handgriffe nötig, aber jetzt an Ort und Stelle wusste der Zwerg alles zu finden, wenn er auch suchen musste, kannte dies alles eben nur nach der Beschreibung.
Aber es musste ihm ganz genau beschrieben worden sein, und dann besaß dieser kleine Mann ganz offenbar trotz aller Erinnerungslosigkeit ein ganz vorzügliches Gedächtnis.
»Sie sind kein professioneller Astronom?«, fragte Breithaupt bei dieser Gelegenheit wieder einmal.
»Nein, das bin ich nicht.«
»Ein Seemann?«
»War ich niemals.«
»Ein Ingenieur?«
»Ingenieur, ja, Ingenieur bin ich gewesen — oder auch nicht...«
»Ein Erfinder?«
»Ja, ein Erfinder, ein gewerbsmäßiger Erfinder!«, erklang es freudig.
»So eine Art von Edison.«
»Ich war bei Edison«, kam es jetzt heraus.
»In Orange bei New York?«
»Ja, in Orange bei New York.«
Es stellte sich weiter heraus, dass dieser kleine Mann lange Edisons rechte Hand gewesen war. Aber nicht bis zuletzt. In den letzten Jahren hatte er sich selbständig mit dem Aeroplan beschäftigt, bis er die Fahrt nach dem Monte Cerboli angetreten hatte. Von wo aus, wo er da zuletzt gelebt hatte, das wusste er nicht, da hätten erst wieder langwierige Fragen gestellt werden müssen, was jetzt nicht geschah.
Nur wenige Schritte hinter der Tür endete dieser zweite Teil des Tunnels an einer hinabführenden Steintreppe.
Sie stiegen hinab, immer geradeaus, nicht im Zickzack. Und das war ein gar tiefer Abstieg!
Die Höhe der Stufen betrug wohl 25 Zentimeter, und 262 solcher Stufen zählte Breithaupt, sodass sie mehr als 60 Meter hinabgedrungen waren.
Schon vorher hatten sie ein Rauschen vernommen, das an Stärke immer zunahm, und als die Treppe geendet, standen sie vor einem unterirdischen Strome, der bei einer Breite von über 20 Metern mit großer Schnelligkeit sein schwarzes Wasser nach Süden wälzte, wie der von Alberich mitgenommene Kompass anzeigte.
»Wunderbar, wunderbar!«, flüsterte Lilly.
Breithaupt erklärte ihr, dass dieser unterirdische Strom an sich nichts so Wunderbares sei, dass die ganze Sahara kreuz und quer von unterirdischen Wasserläufen durchzogen ist, wie die Bewohner dieser Wüste von alters her behauptet haben, aber die kultivierte Welt hat ihnen nie Glauben geschenkt, und das um so weniger, weil die Araber immer von ›Wassergeistern‹ sprachen, die dort unten hausen sollen, und doch ist das eigentlich gar nicht so unrichtig. Erst die Forschungen der letzten Zeit haben dieses Märchen als Tatsache bestätigt. Fast überall, wo man in der Sahara bohrt, stößt man auf Wasser, man muss nur tief genug bohren, und dann freilich ist noch immer die Frage, ob man es, von artesischen Brunnen abgesehen, auch heraufbefördern kann. Und zwar ist dieses Wasser dann fast immer, wie man aus gewissen Kennzeichen konstatieren kann, besonders aus dem großen Gehalt an atmosphärischem Sauerstoff, fließendes.
»Das ist mir alles bekannt«, unterbrach Lilly ihren Gefährten, noch ehe dieser seine Erklärung beendet hatte. »Nein, etwas anderes finde ich ganz wunderbar.«
»Was?«
»Das... darüber darf ich vorläufig nicht sprechen...«
»Durch Ihr Utopien fließt wohl ebenfalls solch ein unterirdischer Strom?«
»Woher wissen Sie...?!«, fuhr Lilly stutzend empor.
»Nun eben, weil Sie darüber nicht sprechen dürfen, Sie haben sich auch sonst genug verraten«, lächelte Breithaupt.
Zu sehen war nicht viel, immer nur das, worauf Alberich den Blendstrahl seiner Laterne lenkte, und den hatte er jetzt auf das schwarze, finstere Wasser gerichtet, konnte aber mit dem intensiven Strahl auch noch das jenseitige Ufer erreichen — eine nackte Felswand.
»Stimmt«, nickte er jetzt zufrieden, »dieser unterirdische Strom musste kommen.«
»Und wohin geht er?«, fragte Breithaupt schnell, um diese Erinnerung möglichst auszunützen.
»Er mündet in den atlantischen Ozean.«
»Wo da?«
»Zwischen Kap Bojador und Kap Blanco, näher konnte jener Mann es mir nicht bestimmen.«
»Mündet er oberirdisch?«
»Ja. Das heißt, an das Tageslicht kommt er nicht, aber er ergießt sich noch über dem Meere in dieses, bricht aus einem Felsen hervor, wird nur von der höchsten Flut eben erreicht.«
Es klang ja ganz märchenhaft, was man da zu hören bekam. Und doch nicht so märchenhaft für den, der die Verhältnisse kennt oder nur zu denken versteht. Ach, wie viele unterirdische Ströme mag es geben, welche unter dem Meere austreten oder auch darüber, sich in dieses als Wasserfall ergießen! Allerdings kommt ersteres viel, viel häufiger vor als letzteres.
Und es kann ja auch gar nicht anders sein. Es kommt viel mehr Regenwasser vom Himmel herab, auf die Erde fallend, als die Flüsse wieder ins Meer schaffen. Das kann man mit fast mathematischer Genauigkeit berechnen. Und irgendwo muss dieses überschüssige Regenwasser, fast ebensoviel, wie das in den Flüssen fortgeschaffte, doch bleiben. Nur nicht in der Erde.
Es fließt eben unterirdisch ins Meer. Nur kennt man noch sehr, sehr wenige solcher Ausflüsse. Wie soll man sie denn finden? Nur durch Zufall. Am besten werden derartige Ausflüsse durch den Manglebaum charakterisiert, der nur im Brackwasser gedeiht, dort, wo sich Flusswasser mit salzigem vermischt. Aber er muss seichten Grund haben, abwechselnd Ebbe und Flut, kommt ja auch nur in den heißesten Gegenden vor. Wo er aber dort gedeiht, immer in üppigster Menge, ohne dass ein sichtbarer Fluß mündet, kann man sicher sein, dass sich dort ein unterirdischer Wasserlauf ins Meer ergießt.
Es sind schon Vorschläge gemacht worden, die unterirdischen Ströme der Sahara als Kommunikationswege zu benutzen. Die Betreffenden hat man als phantastische Narren verlacht, tut es heute noch. So geht's. Man hat schon viele, unzählige, als phantastische Narren verlacht. Auch Jules Verne war ein närrischer Phantast, man hat sein Werk Reise um die Erde in achtzig Tagen gelesen und es lächelnd den Kindern als unschuldige Lektüre gegeben.
In 80 Tagen um die Erde, so ein Unsinn! So sprach man vor kaum 30 Jahren. Heute macht man's bequem in 64 Tagen. Von Jules Vernes Unterseebooten und Luftschiffen gar nicht zu sprechen, von allen anderen Männern nicht, die man wegen einer Idee und ihrer Versuche als Narren verlacht hat. Auch Zeppelin gehört ja dazu.
Ach, wenn man doch nach hundert Jahren noch mit demselben Bewusstsein lebte!
»Von wo kommt dieser Strom?«, forschte Breithaupt weiter.
»Das weiß ich nicht.«
»Sie meinen, das konnte Ihnen jener Mann nicht sagen.«
»Nein, es wird auch schwer stromaufwärts zu fahren sein.«
Allerdings, die Strömung war eine ganz beträchtliche. Auch ein Dampfboot mit starker Maschine hätte schwer zu kämpfen gehabt.
»Woher wusste Ihr Berichterstatter, dass dieser unterirdische Strom zwischen den beiden genannten Kaps mündet?«
»Er hat die ganze Tour in einem Boote gemacht.«
»Was?!«, riefen Breithaupt und Lilly wie aus einem Munde, ganz erschrocken.
Denn sie befanden sich an Ort und Stelle, sahen den reißenden Strom, und sie wussten, ohne die Karte befragen zu müssen, dass es von hier bis an die Küste mindestens 150 geografische Meilen waren.
»Immer unter der Erde?!«
»Gewiss. Dieser Strom tritt nirgends zutage.«
»Freiwillig hat er diese Bootsfahrt gemacht?«
»Freiwillig. Um von hier fortzukommen. Über Land war das nicht möglich, und hier, wo er Zeuge des entsetzlichen Verbrechens geworden, das die Ida Pfeiffer an ihren Leuten begangen...«
»Wer?!«, schrie da plötzlich der junge Ingenieur auf.
Für die Leser, welche kein Konversationslexikon besitzen oder nicht erst nachschlagen wollen, sei hier kurz angeführt, welches Weib einst den Namen Ida Pfeiffer geführt hat. Dieses Weib ist jetzt ziemlich vergessen, das ist sehr ungerecht, gerade die Anhänger der jetzigen Frauenemanzipation hätten allen Grund, die Ida Pfeiffer in Ehren zu halten, als das einzige Weib, welches sich als tollkühne Forschungsreisende wirklich hervorgetan, wirklich Hervorragendes geleistet hat.
Ida Reyer, geboren den 14. Oktober 1797 zu Wien, verheiratete sich in ihrem 23. Jahre mit dem Advokaten Pfeiffer, der alsbald ihr mitgebrachtes Vermögen verjubelte. Worauf die Ehe wieder geschieden wurde. Es soll schon ein sehr abenteuerlich, exzentrisch veranlagtes Mädchen gewesen sein. Dem widerspricht aber, dass sie mit dem Rest ihres Vermögens, wohl auch durch eigene Tätigkeit noch hinzu erwerbend, ihre beiden Söhne aufs beste großzog, 20 Jahre lang. Erst als deren Studien vollendet waren — der eine, Karl Pfeiffer ist ein bedeutender Naturforscher geworden — gab die jetzt schon fünfundvierzigjährige Frau ihrer Reiselust nach, und nun ging sie allerdings auch gleich tüchtig los! Zuerst bereiste sie Palästina und Ägypten, drei Jahre lang, die Mittel dazu immer unter den abenteuerlichsten Verhältnissen erwerbend, ein Jahr lang bereiste sie Skandinavien und Island, von 1846 bis 48 Brasilien, Chile und die anderen südamerikanischen Länder, dann ging sie nach Otaheiti (1), von dort nach China, weiter nach Vorderindien, Persien, Kleinasien und Griechenland, dann zwei Jahre in den verschiedensten Regionen Afrikas, wieder nach Indien, nach den Sundainseln und Molukken, zurück über Afrika nach Nordamerika, von New York zu Pferd und zu Fuß — wie überhaupt immer — nach Kalifornien, wieder durch ganz Südafrika, ein Jahr Ruhe in Wien, um ihre Naturaliensammlung zu ordnen, im Jahre 1856 von Rotterdam aus wieder nach Madagaskar eingeschifft.
(1) Alter Name Tahitis.
Hier aber war das Ende der abenteuerlichen Laufbahn dieser nun schon sechzigjährigen Frau. Sie wurde zwecks Erpressung eines Geheimnisses, das sie aber gar nicht besaß, von einem eingeborenen Häuptling fürchterlich gefoltert, kam ganz siech nach Hamburg, wo sie lange im Hospitale lag, wurde auf ihren Wunsch sterbend nach Wien überführt, wo der Tod am 28. Oktober 1858 dem Leben dieser abenteuerlichen, rätselhaften Frau ein Ende machte.
Dieses kühne, tollkühne Weib ist in Gegenden vorgedrungen, die vor ihr noch keines Europäers Fuß betreten hatte. Die wissenschaftlichen Resultate ihrer Reisen sollen gering sein, groß aber war ihr Sammeleifer, dem das Wiener Naturalienkabinett eine Unmasse Insekten, Reptilien usw. verdankt. Ein warmes Interesse an der mutigen Frau nahm Alexander von Humboldt, sie war Ehrenmitglied der Berliner Geografischen Gesellschaft, erhielt vom König von Preußen die goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft. Die von ihr verfassten Bücher über ihre Reisen sind in jeder großen Bibliothek zu haben.
Woher sie die Mittel zu ihren kostspieligen Reisen nahm? Ja, das ist ein Geheimnis! Sie war eben auch mit 45 Jahren eine schöne, stattliche Frau. Die brauchte nur irgendwo hinzukommen, da fand sie schon Aufnahme. An den indischen Fürstenhöfen von Sumatra hat sie anderthalb Jahre als Fürstin gelebt. Da wird sie sich schon von den Juwelen, die ihr dort zur Verfügung standen, etwas zurückgelegt haben, dass sie dann wieder eine ganze Karawane ausrüsten konnte. Ja, auf das, was man wirklich sein eigen nennen kann, sich zu stützen, das ist sicherer, als die Berliner geografische Gesellschaft um Unterstützung zu bitten.
Man hat ihr noch anderes vorgeworfen. Sie befürwortete die Sklaverei, lebte zuletzt ganz als Orientalin, umgab sich mit schönen Sklaven und Sklavinnen, und sie war so selbstlos, dass sie sogar ihren zeitweiligen Geliebten auch noch schöne Sklavinnen schenkte.
Da hat man sie gebrandmarkt. Ja, du lieber Gott! Solch eine Frau, die 20 000 Meilen zu Pferd und zu Fuß zurücklegt, die lässt sich nicht mit der Elle der Frau Biedermeier messen. Ein ganz tolles Weib muss die Ida Pfeiffer freilich gewesen sein, und das musste sie eben, sonst wäre sie nicht überall durchgekommen.
»Wer?!«, hatte also Dr. Breithaupt geschrien. »Die Ida Pfeiffer?!«
»Ja, Ida Pfeiffer hieß sie!«, jauchzte da der Zwerg auf.
Weshalb er so jauchzte? Weil er merkte, dass ihm das Gedächtnis wiederkehrte. Freilich nur für den Fall, der hier vorlag.
»Kennen Sie denn die Ida Pfeiffer?!
»Sie meinen wohl die berühmte Weltreisende, die vor mehr als 50 Jahren in Wien starb? Nein, die meine ich natürlich nicht. Das hier war eine ganz andere Ida Pfeiffer, und doch mit jener verwandt.«
Und Alberich berichtete ganz zusammenhängend. Konnte sich plötzlich auf alle Namen besinnen.
Diese Ida hier war eine späte Tochter jenes liederlichen Advokaten aus zweiter Ehe. Weil die andere Ida unterdessen hochberühmt geworden war, wurde auch dieses Kind so genannt.
Und die kleine Ida setzte sich in den Kopf, auch so eine berühmte Weltreisende zu werden wie die geschiedene Stiefmama. Alle dazu nötigen Fähigkeiten gingen ihr zwar ab — aber davon wusste sie ja gar nichts, sie glaubte vielmehr das Gegenteil, sie war ja ebenso exzentrisch, so verrückt. Und das genügte doch.
Und außerdem hatte sie noch den Vorteil, von ihrer Mama, die vorsichtiger gewesen war als die erste Advokatengattin, ein sehr großes Vermögen geerbt zu haben.
Zuerst wollte diese neue Ida als Weltreisende Afrika beglücken, wollte das verlorene Paradies der westlichen Mohammedaner entdecken. Woher sie die Kunde von diesem Gebirge bekommen, das wusste Alberich nicht zu sagen, das hatte ihm auch jener Mann nicht berichten können, dessen Name ihm jetzt auch plötzlich eingefallen war — Emmanuel van Dierk, ein gelehrter Holländer, schon viel in Afrika gereist, der als Idas rechte Hand mitging.
Es wurde eine wohlausgerüstete Karawane zusammengebracht. Nur in einer Hinsicht zeigte sich diese neue Ida Pfeiffer, auch schon ein dreißigjähriges Mädchen — vor dem Tode ihrer Mutter hatte sie die Geschichte nicht machen können — also nur in einer Hinsicht zeigte sie sich wirklich klug, viel, viel klüger als mancher wirklich berühmte männliche Forschungsreisende, sie teilte der Welt ihr Vorhaben nicht im voraus mit. Allerdings entsprang diese Klugheit eigentlich nur der Eitelkeit, sie wollte die Welt dann um so mehr in Staunen setzen — aber immerhin, die meisten männlichen Forschungsreisenden sind nicht so klug, trompeten erst ihr Vorhaben aus und haben dadurch die Hälfte und das Beste ihres Erfolges schon dahin.
Also wurde in aller Heimlichkeit vorbereitet. Und die Karawane erreichte wirklich dieses noch unbekannte Gebirge, in diesem Tale musste wirklich das sagenhafte Bahira el Dschennet erkannt werden.
Hier aber wurde die Karawane, welche ganz gut, ohne nennenswerte Verluste angekommen, von ihrem Schicksale erreicht. War es das Wasser, welches man hier glücklich gefunden — kurz, an ein und demselben Tage starben alle 52 Kamele mit ihrer ganzen Begleitmannschaft. Nur Ida, van Dierk und sieben Araber blieben am Leben. Entweder hatten sie zufällig von irgendeiner Speise nicht gegessen, oder das Wasser hatte ihrem Magen nichts anhaben können. Alle anderen waren an Vergiftungserscheinungen gestorben.
»Oder die Pfeiffer hat ihnen das Gift absichtlich beigebracht«, lassen wir den Zwerg jetzt selbst erzählen. »Es war nämlich ein ganz verrücktes Weib, dabei geizig bis zum Schmutz und durch die Wüstenstrapazen nun vollends ganz nervös geworden. Sie soll die Karawane unterwegs schrecklich kujoniert haben. Hier angelangt, gab sie sich nur der Verzweiflung hin, dass sie die vielen Tiere jetzt ganz umsonst füttern müsse. Einige Kamele genügten doch, um den letzten Proviant zurückzubringen. Im Grunde genommen hatte sie ja ganz recht, aber dieses Sorgen war bei ihr überhaupt krankhaft. Da habe sie jedenfalls, meinte van Dierk, die überflüssigen Tiere beiseite bringen wollen, vergiftet, und... ihre Treiber auch gleich mit! Denn zuzutrauen wäre das jenem Weibe gewesen, das sagte van Dierk ganz offen. Zuletzt hat sich ja überhaupt bestätigt, was für ein Teufelsweib das war.
Aber die sämtlichen Kamele töten, das hat sie natürlich nicht gewollt. Nun hatten die Überlebenden Menschen ja keine Möglichkeit mehr, dieses Tal wieder zu verlassen.
Es waren noch neun Personen — die Pfeiffer, van Dierk und sieben Araber. Ziemlich einen Monat haben die hier in diesen unterirdischen Gewölben, die sie entdeckt, gehaust, immer darüber nachgrübelnd, wie sie zurück nach der Küste, zur nächsten Oase gelangen könnten. So viel Wasser konnten sie natürlich nicht mit sich tragen.
Zu leben hatten sie hier sonst noch genug, vielleicht auf Jahre hinaus. Denn jedes Kamel hatte noch immer reichlich eigenes Futter mit sich getragen, Reis und Mais und Datteln, dann waren es auch 50 wohlverproviantierte Menschen gewesen, von denen jetzt nur noch neun lebten. Außerdem lieferte der unterirdische Strom Fische im Überfluss.
Die Pfeiffer kümmerte sich wenig um die Geheimnisse dieser Felsengewölbe. Ihre ganze Sorge galt dem vorhandenen Proviant, und das um so mehr, weil sie Fische verabscheute. Damals mussten sie ja zuerst auch roh gegessen werden.
Aber jetzt kam überhaupt erst recht ihr Geiz zum Durchbruch, es wurde eine Manie daraus. Sie hat tatsächlich die einzelnen Maiskörner gezählt. Von diesem Proviant — und es waren noch viele Konserven vorhanden — gab sie den anderen nichts ab, sie mussten Fische essen, zuerst, als sie noch kein Feuer hatten, eben roh.
Die Leute wollten sich solche Behandlung natürlich nicht gefallen lassen. Sie verlangten Teilung des Proviants. Da machte die Pfeiffer der Sache ein gewaltsames Ende. Sie gab nach, aber in das erste Gericht, das sie ihren Leuten vorsetzte, mischte sie Gift. Nur van Dierk blieb durch einen Zufall davon verschont. Er war gerade abwesend. Als er zurückkam, fand er die sieben Araber schon tot, sagte der Pfeiffer auf den Kopf zu, dass sie auch diese vergiftet habe, wie schon früher die anderen Menschen und Tiere.
Das rabiate Weib richtete den Revolver auf den Ankläger, der Holländer kam ihr zuvor, schoss sie nieder. Sie stürzte in den Strom, war verschwunden.
Van Dierk zimmerte sich aus vorgefundenen Brettern von unverwüstlichem Holze ein Boot, vertraute sich dem Strome an. So oder so, hier sterben musste er ja doch, wenn er in der Einsamkeit nicht schon vorher den Verstand verlor. Da suchte er lieber den Tod im Wasser.
Aber der unterirdische Strom brachte ihn in sechstägiger Fahrt ins offene Meer. Was für eine Fahrt das gewesen war, vermochte er selbst nicht zu schildern, ließ sich nie auf Einzelheiten ein.
Er wurde von einem Schiffe aufgefischt, kam nach Amerika. Hier lernten wir uns kennen, befreundeten uns, er erzählte mir alles. Bald darauf starb er.
Ich beabsichtigte, mit meinem Aeroplan erst das mexikanische Höllental zu überfliegen, um den Monte Cerboli zu erforschen, dann wollte ich nach Afrika, nach dem Bahira el Dschennet, freilich wohl nicht per Aeroplan, die Benzinfrage war nicht zu lösen... hier bin ich.«
Der Zwerg hatte ganz fließend erzählt, aufmunternde Fragen waren nicht nötig gewesen. Und jetzt hatte der junge Ingenieur erst eine Frage, die nicht mit dieser Sache zusammenhing, und es sprach sehr zu seinem Vorteil, dass er an etwas anderes dachte, als daran, seine Neugier zu befriedigen.
»Und nun wissen Sie doch auch, wie Sie heißen?«
Nein, das wusste der Zwerg noch immer nicht! Und es war gar nicht so merkwürdig.
Nur für das, was auf diesen Ort hier Bezug hatte, war seine Erinnerung zurückgekehrt.
»Wie hat denn der Mister van Dierk Sie immer angeredet?«, versuchte es Breithaupt auf diese Weise.
Der Zwerg wusste es nicht. Weil das nicht Bezug auf diesen Ort, auf diese ganze Geschichte hatte.
»Nennen Sie meinen Namen nur ein einziges Mal, und ich weiß, dass ich so geheißen habe«, erklang es wieder recht kläglich.
Ja, der Unglückliche hatte die traurige Geschichte recht freudig erzählt, die furchtbarsten Stellen mit lachendem Munde. Weil er glaubte, jetzt sei er wieder ganz geistesnormal.
Nun sah er seinen Irrtum ein, wollte deswegen ganz zusammenbrechen.
»Es wird schon noch kommen«, tröstete Breithaupt. »Bleiben wir jetzt bei der Hauptsache, über die Sie mir ja berichten können, und das stärkt sicher Ihr Gedächtnis immer mehr. Sie wissen nicht, woher die Ida Pfeiffer die Kenntnis von diesem Tale hatte?«
»Es war bei der Karawane ein alter Beduine, einer jener Tuaregs, welche in Afrika die Rolle der Zigeuner spielen. Dieser Mann namens Abdallah muss doch Kenntnis von diesem Gebirge und Tal gehabt haben. Er führte die Karawane direkt hierher. Mehr konnte mir van Dierk nicht berichten.«
»Wie ist denn die Pfeiffer zu diesem Tuareg gekommen?«
»Van Dierk traf mit der Pfeiffer erst im Küstenfort Arquin zusammen. Da war die Karawane schon gebildet, auch der arabische Zigeuner schon da. Nein, darüber konnte mir van Dierk nichts berichten.«
»Wie fanden sie hier diese Höhle, diesen Tunnel?«
»Abdallah führte sie direkt hierher, drang gleich in die Höhle ein.«
»Und er konnte auch gleich die Felsentür öffnen?«
»Sofort.«
»Merkwürdig! Gar keine Ahnung, woher der Mann diese Kenntnisse hatte?«
»Keine Ahnung.«
»Er musste doch schon einmal hier gewesen sein.«
»Das muss man annehmen.«
»Auch darüber erfuhr van Dierk nichts?«
»Absolut nichts. Der Tuareg nahm eine ganz bevorzugte Stellung ein, steckte mit der Pfeiffer immer unter einer Decke — selbst dem Holländer gegenüber, dem einzigen männlichen Europäer, spielt er sich als Herr auf.«
»Fand auch er hier seinen Tod?«
»Ich sagte ja, dass sie alle, alle von diesem Weibe vergiftet wurden — bis auf den Holländer.«
»Er hätte doch vorher verschwinden können, da er hier nun schon einmal Bescheid wusste.«
»Ah so! Nein, er gehörte sogar zur ersten Partie, die an Gift starb.«
»Was wurde hier sonst noch entdeckt?«
»Nur van Dierk ging auf Entdeckungsreisen aus. Es sind viele unterirdische Kammern, welche den früheren Bewohnern wohl als Götzentempel gedient haben.«
»Sind Götzen gefunden worden?«
»Nein. Die haben sie wohl alle mitgenommen.«
»Keine Skulpturen?«
»Auch nicht.«
»Keine eingemeißelten Hieroglyphen?«
»Gar nichts.«
»Woraus schloss der Holländer da auf Götzenstatuen?«
»Weil Nischen und Postamente und Altäre vorhanden sind.«
»Hat er sonst Überreste von den früheren Bewohnern gefunden?«
»Gar nichts. Es gibt noch einen tiefer gelegenen Tunnel als der, den wir benutzt haben, aber der liegt jetzt schon unter dem Sande, van Dierk vermochte trotz fleißiger Arbeit nicht weit vorzudringen.«
»Nun, ich werde ja selbst Umschau halten. Da fällt mir noch etwas ein. Sie sagten, dass die Karawanenmitglieder ihr Essen erst roh oder doch ungekocht verzehren mussten, auch die Fische. Dann später fanden sie Feuer...«
»Ja, eine Gasquelle.«
»Eine Gasquelle?«
»In einem Gewölbe entströmt einer Öffnung am Boden eine Gasart, wahrscheinlich Kohlenwasserstoff, brennbar. Aber nicht so wie die Feuer bei Baku, sich von selbst an der Luft entzündend. Das war diesen Bewohnern hier natürlich eine heilige Flamme. So bekamen die Karawanenmitglieder wieder Gelegenheit, ihr Essen zu kochen.«
»Wo befindet sich dieses Gewölbe?«
»Das müssen wir erst suchen. So genau war die Beschreibung des Holländers denn doch nicht. Nur die Lage der Höhle und die Handhabung der Mechanismen ließ ich mir natürlich so genau wie möglich beschreiben.«
»Gut, gehen wir nun an eine Untersuchung dieser Kammern!«
Im Scheine der elektrischen Blendlaterne wanderten die drei stromabwärts, konnten gar keine andere Richtung einschlagen, denn nur nach dieser Seite führte eine schmale Galerie den Strom entlang, nach der anderen verschwand das Wasser in einer Höhlung, bei deren Anblick man erst recht mit Grausen daran dachte, was für eine Verzweiflung dazu gehört hatte, ehe sich ein Mensch diesem Wasserwege anvertraute, nur, um von hier fortzukommen.
Bald zeigte sich in der diese Galerie begrenzenden Felswand eine türähnliche Öffnung, sie führte in eine Kammer mit nackten Wänden, auch sonst nicht das Geringste enthaltend. Nicht einmal Staub konnte sich hier ablagern, während der Wasserstrom doch für die beste atmosphärische Luft sorgte, die er von irgendwo mit in diese Tiefe gerissen hatte.
»Es sind zahllose solcher Kammern«, erklärte Alberich, »die sich längs des Stromes, der wohl den ganzen südlichen Gebirgszug durchfließt, hinziehen.«
»Führt denn noch eine andere Treppe nach oben?«
»Ich glaube nicht, dass mir van Dierk davon berichtet hat.«
»Dann wundert mich, dass die Karawanenmitglieder ihre den Kamelen abgenommenen Vorräte nicht gleich in den ersten Kammern, der Treppe am nächsten, untergebracht haben.«
»Dies hatten sie wohl im Anfang getan — bis sie dann die Gasquelle entdeckten, welche Licht und Wärme spendete. Da quartierten sie sich in deren Nähe um.«
Breithaupt zählte noch fünf weitere solcher leerer Kammern, eine dicht neben der anderen, zusammen eine Länge von etwa dreißig Schritten einnehmend, dann kam eine viel geräumigere Kammer, in der es ganz anders aussah.
Decken lagen umher, arabische Kleidungsstücke, Kochgeschirre — ganz offenbar war hier das Hauptquartier der Karawanenmitglieder gewesen.
Wohl machte alles einen alten, sehr gebrauchten Eindruck, aber von richtigem Verfall noch keine Spur.
»Ja, da fällt mir erst jetzt eine der Hauptfragen ein«, rief Breithaupt. »Wie lange ist denn das alles eigentlich schon her?«
Man musste dem Gedächtnis des Zwerges wieder etwas zu Hilfe kommen, dann erfuhr man es. Er hatte auch schon wieder einigen Sinn für die Zeit, für die Jahreszahlen bekommen.
Zwei Jahre hatte er auf dem Monte Cerboli verbracht. Hiermit konnte er die richtige Zeitberechnung eröffnen. Vor drei Jahren war die Karawane hier angelangt, alles weitere hatte sich ja gleich in den nächsten Wochen abgespielt.
»Drei Jahre? Merkwürdig! Selbst die einst blank gewesenen Blechtöpfe zeigen noch keine Spur von Rost.«
Ja, das war sehr merkwürdig. Aus der dichten Nähe des Stromes, auch wenn er nicht gerade schäumte, hätte man doch auf eine große Feuchtigkeit der Luft schließen müssen. Aber das schien eben nicht der Fall zu sein, die Luft musste ganz trocken sein.
Die afrikanischen Wüsten haben eben ihre ganz besonderen atmosphärischen Erscheinungen — die Fata Morgana, das Mumifizieren aller organischen Substanzen, die außerordentliche Elektrizität der Atmosphäre, sodass sich manchmal die menschlichen Haare kerzengerade emporrichteten, man ohne Reibung lange Funken aus ihnen ziehen kann, und anderes mehr, was nicht allein von der großen Trockenheit der Luft abhängen kann, denn in den Wüsten anderer Erdteile herrscht dieselbe Trockenheit, vor allen Dingen in den australischen, und doch zeigen sich dort solche Naturphänomene nicht — und das schien sich hier auch noch tief unter der Erde fortgepflanzt zu haben, die Nähe des raschfließenden Wassers änderte daran nichts.
»Oder hat vielleicht die Gasflamme, die wir noch zu suchen haben, eine große Zugkraft nach oben?«, fragte Breithaupt.
»Die hat sie wohl, aber ich weiß zufällig bestimmt, dass sie damals, als van Dierk in aller Hast entfloh, nicht brannte.«
»Warum denn nicht? Brannte sie denn nicht immer?«
»Sie hätte immer brennen können, aber auch hierin zeigte die Pfeiffer einen Geiz, der an Wahnsinn grenzte. Die Flamme wurde von ihr nur angezündet, wenn die Mannschaft das Feuer zum Essenkochen brauchte. Sonst musste sie ausgelöscht werden, wozu ein Fußtritt auf die Öffnung im Boden genügte. Eine Sparsamkeit war das natürlich nicht, das Gas floß dann auch so aus. Es war bei dem Weibe eben eine Manie. Wenn nicht mit dem Gase, so wollte es doch wenigstens mit dem Feuer geizen.«
»Fand denn das Gas einen anderen Ausfluß, dass es nicht hier diese Räume erfüllte?«
»Ja, es zog sofort oben ab. Der ganze Raum war danach angelegt, dass es sich nicht nach unten verbreiten konnte. Man musste erst wie in einen Keller steigen und dann wieder nach oben, und man konnte getrost mit einem brennenden Lichte hineingehen. Wohl erfolgte stets eine Explosion, aber eine ganz ungefährliche, nicht anders, als wenn man eine Gasflamme im Zylinder anzündet. Da erfolgt doch auch stets unter einem Knalle eine Explosion. So auch hier, und trotz der kolossalen Dimension der Flamme hatte es ebensowenig zu sagen. Dann brannte die Flamme eben, man konnte sofort von unten her in den Raum treten, der sich sogleich mit guter Luft füllte.«
»Das muss doch alles jetzt noch so sein.«
»Gewiss. Wenn kein Naturereignis etwas daran geändert hat.«
»Suchen wir diesen heiligen Feuerraum, der interessiert mich am meisten.«
Erst kam noch eine zweite Kammer, wieder mit Decken, zu Lagern hergerichtet, angefüllt, jene erste hatte zur Aufnahme aller Karawanenmitglieder noch nicht genügt, in der nächsten hatte offenbar nur ein einziger Mann gehaust, jedenfalls van Dierk, als einziger Europäer sich separiert haltend.
Hier lagen auch noch andere Gegenstände umher, ein Handkoffer, der Untersuchung doch sicher wert — aber den jungen Ingenieur drängte es, die rätselhafte Gasquelle zu finden.
Die nächste Tür war sehr niedrig, nur gebückt zu begehen, der vorausgeschickte Blendstrahl zeigte auch erst einen kurzen Tunnel, der an einer aufwärtsführenden Treppe endete.
»Das ist der Eingang zu dem Feuerraume, so hat ihn mir der Holländer beschrieben«, sagte Alberich sofort.
Dann war die Einrichtung auch ganz gut getroffen. Das sehr leichte Wasserstoffgas, um welches es sich doch sicher handelte, musste immer nach oben entweichen, denselben Abzug nehmen, den dann auch die heiße Flamme nahm. Nach unten konnte gar nichts entweichen.
»Ist das Gas giftig?«
»Jedenfalls. Van Dierk hat es nicht weiter untersucht.«
»Wie löscht man die Flamme aus?«
»Man legt einen gut schließenden Stein auf die Öffnung, es genügt aber auch schon, nur den Fuß fest daraufzusetzen. So leicht das Gas sich auch entzündet, lässt es sich doch ebenso leicht verlöschen.«
»Das finde ich merkwürdig.«
»Es mag ein ganz besonderes Gas sein, jedenfalls nicht mit unserem Leuchtgas zu vergleichen, das sich ja nicht so leicht ausdrücken lässt.«
»Wenn die Flamme aber ausgedrückt ist, und der Verschluss ist nicht absolut dicht, muss sich der Raum doch schnell wieder mit Gas füllen.«
»Natürlich.«
»Dann wird der Betreffende, der das ausgeführt hat, doch mindestens betäubt.«
»Nein, er hat immer noch Zeit, sich rechtzeitig nach unten zurückzuziehen. Das Gas mag nicht gar so giftig sein. Sonst weiß ich das auch nicht so genau, sondern nur, dass die Pfeiffer und andere das Gas wiederholt entzündet und wieder ausgedrückt haben, ohne dass jemals ein Unfall vorgekommen ist. Nur das erstemal, ais sie diesen Raum mit einem brennenden Lichte betraten, bekamen sie einen tüchtigen Schreck. Wegen der erfolgenden Explosion. Aber eben nur einen Schreck, die Explosion war eine ganz harmlose Entzündung, und die atmosphärische Luft muss ja sofort ganz intensiv nachströmen.«
»Nun, so machen wir dieses Experiment«, sagte Breithaupt, sein Feuerzeug ziehend. »Glimmender Zunder wird wohl schon genügen, sonst blase ich erst etwas Feuer an.«
Der Zwerg erbot sich, als erster mit dem Feuer hineinzugehen, er sei doch nun hier einmal der Führer — der junge deutsche Ingenieur ließ sich aber ein Risiko, welches vielleicht doch vorlag, nicht abnehmen.
Mit hellangeblasenem Zunder drang er ein — und mit doch etwas klopfendem Herzen.
Da zeigte sich, dass weder der glimmende Zunder noch das Herzklopfen noch eine Vorsicht nötig war.
Schon als er nach Durchkriechen des nur kurzen Tunnels die Treppe erreicht hatte, gewahrte er über sich einen schwachen Lichtschein, hörte auch ein leises Sausen, und als er die wenigen Stufen erstiegen, sah er die Flamme, die wohl hier einst als Gottheit angebetet worden, vor sich.
Der Raum war nur eng, hatte etwa vier Meter im Durchmesser bei ebensolcher Höhe, und in der Mitte des Bodens kam aus einem Loche von dem Durchmesser eines Wasserglases eine ebenso starke Flammensäule, die unter leisem Sausen kerzengerade bis zur Decke schlug, dort in einem sehr weiten Schachte verschwand.
Es war ein weißes Feuer, also sehr wenig leuchtend, doch ausreichend, den engen Raum zu erhellen. In den Ecken sah man steinerne Postamente, dann lagen noch einige Kochtöpfe herum.
Die ausstrahlende Hitze war erträglich. Man hätte diesen Raum gar nicht als Schwitzraum benutzen können. Das machte, weil die Flamme die erwärmte Luft sofort nach oben mit hinausriss, der aus dem Treppentunnel nachkommende Luftzug war ein ganz bedeutender, und dann handelte es sich auch nicht etwa um eine Stichflamme, dass etwa in brennendes Kohlenwasserstoffgas atmosphärische Luft geblasen wurde, sondern es war eben ein weißbrennendes Gas, ohne besondere Heizkraft.
Auch die beiden anderen waren schon herbeigekommen. Am erstauntesten war der Zwerg, die Flamme hier brennen zu sehen.
»Ich entsinne mich ganz bestimmt, dass mir van Dierk erzählte, als er diesen Ort verließ, habe die Flamme nicht gebrannt.«
»Dann hat sie sich selbst wieder entzündet«, meinte Breithaupt.
»Nein, das tut diese Gasart nicht.«
»Na, dann hat der Holländer die Flamme doch brennend zurückgelassen.«
»Nein, sie war erstickt!«, blieb der Zwerg bei seiner Behauptung.
Weder Breithaupt noch Lilly schenkten diesem Umstande irgendwelche Beachtung. Sie untersuchten die Eigenschaft der Feuersäule näher.
Es gehörte nur Mut dazu, dann konnte man die seltsamen Eigenschaften dieses Feuers oder vielmehr dieser Gasart feststellen.
Eine kleine Steinplatte schien offenbar dazu bestimmt, auf das Loch gelegt zu werden. Aber würde dann nicht die Flamme nach allen Seiten spritzen, alles versengend?
Wie gesagt, es gehörte zum erstmaligen Experimente nichts weiter als Mut. Die leichte Steinplatte brauchte nur aus die Öffnung geschoben zu werden, sofort erlosch die Flamme. Ja, man konnte den Fuß darauf setzen, sie war sofort erstickt, ehe man an dem Fuße stärkere Hitze wahrnahm.
Es handelte sich eben um eine ganz besondere Gasart, sehr wenig entzündbar, die kleinste Unterbrechung zwischen den einzelnen Partikelchen genügte, um die Brennbarkeit aufzuheben — mit einfacheren Worten: das Gas ließ sich äußerst leicht ersticken, besaß deshalb auch nur eine schwache Heizkraft. Denn sonst hätte eine solche fast armstarke Flammensäule ja auch eine ganz andere Hitze ausstrahlen müssen.
War die Flamme erstickt, dann allerdings musste man retirieren. Dieser Ausdruck aber sagt schon, dass man es dabei aber gar nicht so eilig hatte. Es mochte ein ungemein leichtes Gas sein, welches so schnell oben den großen Ausgang suchte, wurde auch nichtbrennend mit Gewalt bis zur Decke geschleudert, und ehe sich der ganze Raum mit Gas gefüllt hatte, wurde der Mensch durch ein unangenehm kratzendes Gefühl in der Kehle veranlasst, sich wieder nach unten in die frische Luft zu begeben.
Ebenso harmlos war das Wiederanzünden. Zuletzt wagte Breithaupt sogar, die Explosion zu veranlassen, während er sich noch im Raume befand, unmittelbar neben der Gassäule stehend. Dann durchzuckte das ganze Gewölbe ein Feuermeer, ohne aber nur ein Haar zu versengen. Zwischen Feuer und Feuer ist eben ein Unterschied, wenn es auf diese Weise auch nicht richtig ausgedrückt wird. Die brennbare Substanz bedingt den Unterschied der Heizkraft. So kann man einen brennenden Kork ganz ruhig in den Mund nehmen, so die Flamme ersticken, man verbrennt sich nicht dabei, und die sogenannten Feuerfresser auf den Jahrmärkten benutzen zu ihrem Experiment eine Mischung von Kolophonium und Werg, die ebenfalls ein ganz ›kaltes Feuer‹ ergibt.
Die Hand direkt in die Flamme halten durfte man nicht.
»Wie haben denn die nun hier gekocht?«, war die nächste Frage.
Die war bald gelöst. Am Boden lag ein Dreifuß, wie ihn die Karawanen mit sich führen, um im freien abzukochen, wenn sich brennbares Material findet. Den brauchte man hier nur über die Öffnung zu stellen und das mit Wasser gefüllte Gefäß daraufzusetzen. Die Flamme spritzte dann wohl zur Seite, man musste sich doch vor ihr hüten, aber der Auftrieb des Gases war so stark, dass sich die Flamme über dem Topfe gleich wieder vereinigte, und auch eine längere Zange war vorhanden, um den Topf abzunehmen.
Alberich beschäftigte sich mehr mit den herumliegenden Töpfen, als mit der Flamme. Einen nach dem anderen nahm er her, blickte und roch hinein, und immer misstrauischer wurde sein Gesicht.
»Mir ist doch fast, als ob...«
»Was ist Ihnen?«, fragte Breithaupt den Abbrechenden.
»Als wären erst vor Kurzem in diesem Topfe hier Fische und in diesem Erbsen gekocht worden.«
Breithaupt und Lilly untersuchten ebenfalls die Töpfe, konnten weder etwas Auffälliges sehen noch riechen. Einen alten Eindruck machten die Töpfe ja allerdings nicht, weder außen noch innen. Aber dieses frische Aussehen war ja hier an allem zu bemerken, es fehlte eben jede Staubablagerung und das Ansetzen von Rost.
»Sie irren sich. Wir können nichts riechen.«
»Möglich, dass ich mich irre, aber... wie kann sich nur das Gas wieder entzündet haben?«
Die beiden anderen schenkten dem, was den Zwerg so frappierte, gar keine Beachtung. Entweder die Flamme hatte damals, als der Holländer von hier floh, eben doch gebrannt, oder sie hatte sich dennoch eben von selbst wieder entzündet, wenn das auch jetzt nicht mehr geschah.
Sie verließen den Raum wieder, um von der Galerie aus die anderen Kammern zu untersuchen.
Gleich die angrenzenden enthielten den Proviant. Ja, das mochten noch zehn volle Kamellasten sein, gegen fünfzig Zentner, außer Konservenbüchsen meist Hülsenfrüchte und Datteln, in Säcken und Kisten verpackt, alles tadellos erhalten.
Drei Kammern waren nötig, um diesen Proviant zu fassen, und in der ersten fand man außerdem noch eine Lagerstatt, einige Koffer und anderes, was darauf schließen ließ, dass hier einst die Karawanenherrin, die Ida Pfeiffer, gehaust hatte.
Auch das alles war wohlerhalten, aber... starrend vor Schmutz! Und dieser Schmutz musste sich noch bei Lebzeiten der Besitzerin angehäuft haben.
»Ist bei der Forschungskarawane ein Tagebuch geführt worden?«, fragte Breithaupt.
»Ja, das musste van Dierk besorgen, deshalb war er als wissenschaftlicher Begleiter hauptsächlich mitgenommen worden.«
»Dieses Tagebuch hat er doch natürlich bei seiner Entfernung bei sich gehabt.«
»Nein, eben nicht! Zuletzt gab es die Pfeiffer nicht mehr aus den Händen, hütete es ebenfalls wie einen Schatz, der dieses Buch ja auch wirklich war, und als der Holländer die Giftmischerin getötet hatte und in wahnsinniger Furcht floh, dachte er an anderes, als erst dieses Tagebuch zu suchen.«
So wollte Breithaupt es jetzt tun. Als er den ersten Koffer öffnete, musste er aber wirklich zunächst einen Ekel überwinden, ehe er in den Lumpen wühlen konnte. Dieses Weib musste auch während der Wüstenreise stinkende Lumpen getragen haben.
Ehe er in seiner Untersuchung weitergekommen war, griff Lilly nach einer Fotografie, die beim Wühlen zum Vorschein gekommen war.
Es war das Brustbild eines Weibes, einer Dame in dekolletierter Balltoilette, obgleich die Dame sehr wenig Reize zu zeigen hatte, mehr Knochen, und ebenso knochig und eckig war das Gesicht mit der sehr großen und dazu noch aufgestülpten Nase.
Darunter stand mit Tinte ein Name geschrieben: Ida Pfeiffer — dann noch ein unvollendetes Wort, wohl eine angefangene Widmung.
»Mein Gott!«, rief da Lilly. »Das ist diese Ida Pfeiffer?! Die kenne ich ja!«
Das interessierte den jungen Ingenieur zunächst mehr als das Suchen nach dem Tagebuche, aber auch der Zwerg blickte mit starren Augen auf die Fotografie.
»Und ich auch!«, flüsterte er.
»Sie kennen diese Person?«, fragte Breithaupt.
»Ja, das ist die Ida Pfeiffer, in New York lernte ich sie kennen — auf einem Balle — bei — bei...«
Das Gedächtnis begann ihn wieder zu schwinden, es war nur ein Zuckblitz der Erinnerung gewesen.
»Und ich lernte sie ebenfalls in New York kennen«, bestätigte Lilly. »Ein sehr zweifelhaftes Vergnügen. Das ist also die spätere Forschungsreisende Ida Pfeiffer?! Diesen Namen bekam ich nämlich nicht zu hören, damals nannte sie sich anders — Miss Lucy Higgin, glaube ich. Aber das ist sie, das ist sie, diese impertinente Physiognomie vergisst man doch nicht, wenn man sie einmal gesehen hat. Ja, nun glaube ich auch, was ich schon von dieser Ida Pfeiffer zu hören bekommen habe, das trifft auch alles auf meine Lucy Higgin zu. Pfui Deiwel!!«
Und die bewegliche, ganz wie aus Kautschuk zusammengesetzte Artistin schüttelte sich noch nachträglich vor Grauen.
»Wie machten Sie denn ihre Bekanntschaft?«, lächelte Breithaupt.
»Es war vor vier Jahren, ich hatte den Zirkus verlassen, zu dem ich dann wieder überging, machte meine ersten öffentlichen Freiflüge. Passagiere nahm ich dabei eigentlich nicht mit, oder nur, wenn ich dafür gehörig bezahlt wurde. Viele Passagiere meldeten sich nicht, die Fliegerei war damals noch eine gefährliche Geschichte, ich habe doch nicht umsonst meine sämtlichen Knochen gebrochen.
Aber ab und zu fand sich doch ein verwegener Bruder, der mit mir in die Lüfte ging. Oder noch mehr eitel als verwegen, und ich spekulierte hauptsächlich auf die Eitelkeit, deshalb eben suchte ich keine freiwilligen Passagiere gegen Geld, sondern ließ mich dafür auch noch bezahlen.
»Und da kam auch einmal eine Dame, Miss Lucy Higgin nannte sie sich, ich merkte aber gleich, dass es nicht ihr richtiger Name war. Doch wer kümmert sich in Amerika um so etwas.
Ein ganz verrücktes Weibsbild, pompös aufgedonnert und dabei alles zerrissen, sie selbst direkt dreckig. So verrückt und zerfahren war auch ihr ganzes Benehmen. Sie wollte gleich von Anfang an nicht nur einmal mitfliegen, sondern für immer, wollte mit mir akkompagnieren, wollte selbst Flugkünstlerin werden. Und dabei hatte sei wohl noch gar keinen Aeroplan. Nun ja, einem meiner Flüge hat sie beigewohnt. Und das hatte ihr so imponiert, dass sie sofort zu mir gestürzt kam: sie wollte auch Flugkünstlerin werden. Wie es solche Frauenzimmer eben gibt.
Nun gut, ich nahm sie mit. Von den fünfhundert Dollar, die ich für den Flug forderte, wollte sie mir mehr als die Hälfte abhandeln. Feilschen konnte die überhaupt wie der gezwiebeltste Jude. Zehn Dollar ließ ich mir wirklich abschachern. Dann ging es los. Und das Weib hatte tatsächlich Courage. Oder es war eben Verrücktheit, der höhere Spleen. Anstatt sich festzuhalten, klatschte sie immer in die schmutzigen Spinnenfinger und lachte dazu. Ein schreckliches Lachen hatte die an sich! Mir gellt es heute noch in den Ohren.
Aber sonst war sie nicht auf den Kopf gefallen. Wir machten drei Flüge zusammen, nur kurze, da hatte sie schon den ganzen Mechanismus kapiert, konnte alle Hebel bedienen, die Maschine recht geschickt selbst steuern, aufsteigen und landen und alles. Dabei konnte sie natürlich nicht mehr in die Hände klatschen, aber bei ihrem grässlichen Lachen blieb sie. Und das war es eben. Sie konnte mir dann bieten, was sie wollte, ich nahm sie nicht mehr mit. Ich konnte in der erhabenen Stille, die den Aviatiker meist umgibt, dieses wahnwitzige, unausgesetzte Lachen nicht mehr ertragen.
Also hier hat dieses Weib geendet?! Als Forschungsreisende? Ach, die heißt ja auch gar nicht Ida Pfeiffer, die hat sich nur so nach dem berühmten Vorbilde genannt, als sie Afrikareisende werden wollte. Ich weiß, vorher, ehe sie zu mir kam, hatte sie einer spiritistischen Sitzung beigewohnt, und da hatte sie sich gleich zum Medium ausbilden wollen. Nur wegen ihres Lachens, das sie nicht unterdrücken konnte, war nichts daraus geworden. Mir gellt, wenn ich diese Fotografie ansehe, ihr freches, grässliches Lachen sofort in den...«
»Hahahahahaha!!!«
Zum Tode erschrocken waren die drei zusammengefahren. Es war ein schallendes, höhnisches Gelächter gewesen, von unbeschreiblicher Tonart, dabei begleitet von einem Händeklatschen.
»Alle guten Geister, das war sie!!«, flüsterte Lilly zuerst.
Dann sprang als zweiter Breithaupt auf die Galerie hinaus.
Nichts war zu sehen, das Gelächter wollte sich auch nicht wiederholen.
»Das war eine Frauenstimme, das muss sie gewesen sein!«, rief Breithaupt. »Hat sie denn wirklich ihren Tod gefunden?«
»Van Dierk schoss sie nieder, sie stürzte dabei in den Strom«, sagte der Zwerg.
»War er dessen sicher?!«
»Natürlich war er es.«
Breithaupt sah gleich ein, dass alle diesbezüglichen Fragen zwecklos waren.
Nur eins war sicher: dieses Weib lebte noch, hauste noch hier. Denn an Gespenster glaubten alle drei nicht.
Da nochmals das grässliche, furchtbar höhnische Gelächter, begleitet von einem schallenden Händeklatschen.
Von dort, woher sie gekommen, war es erklungen.
»Vorwärts, wieder hinaus ins Freie, ich denke an meinen Aeroplan!!! War Lilly wiederum die erste, die zu einem Entschlusse drängte.
Sie eilten den Weg zurück, die Treppe hinauf, und als die Artistin merkte, dass die anderen ihrer Schnelligkeit nicht folgen konnten, sie aber auch im Finstern nicht zu sehen vermochte, riss sie dem Zwerge die Lampe aus der Hand und jagte hinauf, immer vier Stufen auf einmal nehmend. Die anderen mochten sich hinauftasten, sie wollte die erste im Freien sein.
Ihr Vorauseilen hatte keinen Zweck gehabt. Sie vermochte die Steintür nicht zu öffnen, musste warten, bis die anderen keuchend anlangten.
Aber wie auch diese beiden drückten und suchten und fingerten — die Tür wollte sich nicht wieder öffnen, obgleich sie vorhin den Mechanismus doch von innen so eingehend geprüft hatten.
Und da abermals das gellende Lachen, dem aber diesmal ein Wort vorausgesetzt wurde.
»Gefangen, hahahahahaha!!!«
Es war von oben gekommen. Der Blendstrahl zeigte oben an der Decke ein kaminartiges Loch. Durch dieses musste die ganz nahe klingende Stimme gekommen sein.
»Miss Ida Pfeiffer, sind Sie es?«, rief Lilly mit ganz unnatürlicher Ruhe.
»Jawohl, das bin ich, und ich kenne auch Sie, Miss Lilly Leley, genannt die Luftlady, hahahahaha. Und wissen Sie, woher ich sie kenne?«
»Ich habe vorhin eine Fotografie von Ihnen gesehen. Ja, dann kenne ich Sie auch auch unter einem anderen Namen.«
»Nun?«
»Miss Lucy Higgin.«
»Stimmt, hahahahahaha!«
»Weshalb können wir hier die Tür nicht öffnen?«
»Was wissen Sie denn überhaupt von dieser Tür?«
»Erst muss ich wissen, ob Sie etwa daran schuld sind, dass wir diese Tür nicht öffnen können.«
»Jawohl, daran bich ich Schuld, hahahahahaha!«
»Sie wollen uns hier mit Absicht zurückhalten?«
»Jawohl, das will ich!«, wurde wieder mit einem nachfolgenden Gelächter geantwortet, das aber mit dem gemütlichen Kichern, das der wahnsinnige Zwerg früher gehabt, nicht die geringste Ähnlichkeit hatte.
»Weshalb wollen Sie uns den Ausweg verlegen?«
»Weil ich mich erst etwas mit Ihnen unterhalten möchte.«
»Das tun wir ja schon.«
»Ich habe erst einige Fragen an Sie zu richten.«
»Fragen Sie doch.«
»Wenn Sie nicht der Wahrheit gemäß antworten, wird es Ihr eigener Schaden sein.«
»Ich wüsste nicht, weshalb ich lügen sollte.«
»Wie kommen Sie hierher?«
»Mit einer Flugmaschine.«
Gleich die erste Antwort hatte Lilly doch einigen Kampf gekostet.
»Jawohl, das weiß ich schon«, wurde da aber durch das Sprachrohr geantwortet.
»Das wissen Sie schon?«
»Na, dort im Sande steht doch ihr Aeroplan, ich sah Sie vorhin schon angeflogen kommen.«
O weh! Und die drei hier eingesperrt — in der Gewalt eines verrückten Weibes!
»Nein, wie Sie überhaupt hierherkommen, das wollte ich wissen!«
»Sie kennen doch einen Mann namens van Dierk?«
»Natürlich kenne ich den. Meine tausend Flüche mögen ihn in der Hölle peinigen.«
»Von diesem hat einer meiner Begleiter, Mister Alberich, die Lage dieses Tales erfahren.«
»Und was hat van Dierk über mich gesagt?«
»In einem Handgemenge glaubte er Sie getötet zu haben.«
»Und weshalb entstand dieses Handgemenge?«
O weh, jetzt wurde die Sache gefährlich!
»Weil, weil... aus Meinungsverschiedenheiten.«
»Lügen Sie nicht! Weil ich die ganze Karawane vergiftet habe.«
»Was? Davon hat der Holländer gar nichts berichtet...«
»Lügen Sie doch nicht! Ich habe doch alles belauscht, was der kleine Mann Ihnen vorhin erzählt hat, und was sonst noch besprochen wurde, hahahahahaha!!!«
Wenn sich die drei nicht von allein zu helfen wussten, dann... konnten sie sich jetzt gleich verloren geben.
»Sie wollen uns wohl hier gefangen halten?«, stellte Lilly dann auch gleich eine andere Frage.
»Sie können auch noch fragen? Hahahaha, sind Sie naiv!«
»Ja, warum denn nur?«, versuchte es Lilly doch immer noch einmal.
»Hahahahahaha, sind Sie naiv!«, erklang es aber mals, jetzt kam auch gleich eine Erklärung, ein Geständnis.
»Ja, ich habe die ganze Karawane wirklich vergiftet, das war sofort meine Absicht, als ich zufällig das fand, was ich hier gar nicht zu finden gehofft hatte. Leider gingen auch sämtliche Kamele daruf, sodass ich selbst nicht zurückkonnte. Also, das wissen Sie alles schon selber, und Sie können noch hoffen, ich würde Sie von hier lebendig wieder fortlassen? Wohl, damit Sie mich als Giftmischerin und vielfache Mörderin anzeigen? Hahahahaha!!«
Nun war es heraus! Alles weitere Disputieren war eigentlich überflüssig. Es handelte sich höchstens noch darum, aus der Verbrecherin herauszubekommen, was sie sonst beabsichtigte, um Gegenminen machen zu können, wenn überhaupt noch möglich, und Breithaupt hielt es für das Beste, dieses Aushorchen der Artistin zu überlassen, die vielleicht den meisten Anspruch auf ›Gerissenheit‹ machen konnte.
»Teufelsweib!!«, ließ sich Lilly freilich zunächst hinreißen.
»Ja, das bin ich, hahahahaha, und hier habe ich mit dem Teufel erst richtig Brüderschaft gemacht.«
»Sie wollen uns töten?«
»Na, gewiss!«
»Fürchten Sie nicht Gottes Rache?«
»Nein, hahahaha!«
»Wenn wir Ihnen versichern...«
»Geben Sie sich nur gar nicht erst die Mühe.«
»Es dürfte Ihnen aber nicht gelingen, uns so leicht zu töten.«
»Sie sollen staunen, wie schnell das geht — wenn Sie im Sterben liegen, nach Luft schnappen — dann denken Sie daran.«
»Das klingt fast, als ob Sie uns ersticken wollten.«
»Beabsichtige ich auch.«
»Wie denn?«
»Ich verstopfe einfach oben den Kamin, dann füllen sich alle Räume mit dem Gase.«
»Wir lassen die Flamme brennen.«
»Versuchen Sie es nur, ob das noch geht, wenn der Kamin verstopft ist. Ich habe doch nicht umsonst drei Jahre hier gelebt.«
»Teufelsweib!«
»Immer schimpfen Sie mich — oder Sie sprechen ja nur die Wahrheit. Und denken Sie nicht, so von hier fortzukommen, wie es damals dem schuftigen Holländer gelungen ist. Als ich vorhin hörte, was ich ja noch gar nicht gewusst hatte, habe ich gleich meine Vorkehrungen getroffen, dass so etwas nicht wieder möglich ist.«
»Wie denn?«, Konnte Lilly noch mit Ruhe fragen.
»Das werden Sie schon erleben — im Sterben.«
»Ach, Sie sprechen ja nur eine Drohung aus, um uns von diesem Wasserwege abzuschrecken.«
»Nein, nein, es ist so, Sie werden's schon sehen, was ich Ihnen in den Weg gelegt habe. Oder Sie werden's auch nicht sehen. Aber ich kann's Ihnen ja sagen. Ich habe eine Dynamitmine gelegt, auf die Sie unbedingt auflaufen müssen, was für ein Fahrzeug Sie auch benutzen. Sie fliegen sofort in die Luft, brauchen das Ding nur zu berühren.«
»Ach, Sie renommieren ja nur, oder wollen uns eben von dem Wasserwege abschrecken.«
»Gut, nehmen Sie's an. Sie werden's ja erleben — oder eigentlich ersterben, hahahaha!«
»In aller Schnelligkeit hätten Sie diese Dynamitmine gelegt?«
»O, ich hatte genügend Zeit dazu, als Sie vorhin meine Sachen durchstöberten.«
»Nun gut, überliefern Sie uns dem Tode. Was nützt Ihnen denn das, aber Sie können ja doch nicht von hier fort.«
»Nicht? Ich habe doch Ihre Flugmaschine, und ich habe doch nicht umsonst Unterricht genommen, hahahaha!«
Plötzlich schrak Lilly zusammen, schlug sich vor die Stirn, warf einen Blick nach oben, wandte sich hastig an Breithaupt.
»Mein Gott, wie kann ich erst jetzt daran denken!«, flüsterte sie im leisesten Tone. »Die Aussicht ist ja gering, aber es muss doch sofort probiert werden, ehe die an meiner Flugmaschine... schnell, Doktor, schnell, übernehmen Sie jetzt die Unterhaltung — irgend etwas — ich versuch's...«
Breithaupt hatte ja keine Ahnung, was jene eigentlich von ihm wollte, wusste nicht, warum sie ihn etwas vorschob — und da plötzlich stand die Artistin, wie ein Gummiball in die Höhe schnellend, mit ihren Füßen auf seinen Hüften, kletterte weiter an ihm empor.
Da freilich ging dem jungen Ingenieur sofort eine Ahnung auf, was sie beabsichtigte. Sie wollte in dem Schacht in die Höhe klettern. Weit genug war er dazu, oder eigentlich insofern zu eng, als er einen Menschen gerade eindringen ließ. Auch der geschickteste Schornsteinfeger hätte bei dieser Enge wohl nicht emporklimmen können. Aber diese ehemalige Clownesse verstand wohl etwas mehr von solcher Kletterei.
Der Tunnel war also nur zwei Meter hoch. Als Lilly mit ihren Füßen auf Breithaupts Hüften gestanden, war ihr Kopf schon in dem Schachte gewesen, jetzt war sie darin bereits gänzlich verschwunden.
Breithaupt hatte also begriffen, was er tun solle. Die Unterhaltung seinerseits fortführen.
»Sonst noch etwas, ehe ich die Vorbereitungen zu ihrem Tode treffe?«, wurde oben gefragt.
Die Weiberstimme klang jetzt ganz anders als vorhin. Weil eben der als Sprachrohr dienende Schacht durch einen menschlichen Körper halb oder so ziemlich ganz verstopft war.
Breithaupt erschrak. Würde jenes Weib dort oben das nicht merken? Wohl nicht an der eigenen Stimme, sondern an der gegebenen Antwort.
Doch es musste eben riskiert werden. Ein Glück war es, dass sie Breithaupts Stimme noch gar nicht gehört hatte, wenigstens nicht durch diesen Schacht, der ja der gewöhnlichen Stimme einen ganz, ganz anderen Klang gab. Si konnte sie jetzt den Unterschied nicht gewahren.
»Miss Pfeiffer, lassen Sie sich sprechen!«, schrie Breithaupt mit allem Aufgebote seiner Lungenkraft, um den Widerstand in dem Sprachrohr zu überwinden.
»Wer spricht denn da?«, wurde sofort gefragt, mit sichtlicher Verwunderung. Die andersklingende Stimme fiel eben gleich auf.
»Ich bin es, Doktor Breithaupt.«
»Was wollen Sie?«
»Lassen Sie sich erweichen, schonen Sie unser Leben, ich kann...«
»Sie wollen mir wohl mitteilen, dass Sie im Besitze eines großen Geheimnisses sind? Nein, auf diese abgedroschene List gehe ich nicht ein, hahahaha!«
Gott sei Dank, der merkwürdige Stimmenklang machte sie nicht weiter stutzig.
»Mit Ihnen habe ich überhaupt nichts zu tun«, fuhr es oben fort. »Aber mit Ihnen, Miss Leley, möchte ich mich noch etwas unterhalten...«
»Bitte, sehr gern«, erklang Lillys Stimme aus dem Schachte, aber wiederum mit ganz anderem Klange.
Gleichzeitig ein gellender Schrei, dann ein Gurgeln und Röcheln, dann ward es still, bis sich wieder Lillys Stimme vernehmen ließ.
»Die ist besorgt. Nun sehen Sie, wie Sie hier heraufkommen.«
Es war Lilly geglückt, den Schacht, der mit ganz glatten Wänden wenigstens zehn Meter völlig senkrecht in die Höhe ging, zu erklimmen. Aber eben nur solch eine schlangenartige Akrobatin hatte dies fertigbringen können, ganz abgesehen davon, dass die geringste Verengung genügt hätte, ein weiteres Vordringen unmöglich zu machen.
Im Übrigen lässt sich nicht weiter beschreiben, was für eine Leistung diese Aviatikerin hier vollbracht hatte. Jenes Weib dort oben kannte doch wohl die Verhältnisse, es wusste auch, dass diese jetzige Aviatikerin früher eine Akrobatin und Seiltänzerin und alles mögliche in der Artistik gewesen war, aber auch dieses Weib musste es wohl für ganz ausgeschlossen halten, dass irgendein Mensch diesen Schacht erklimmen könne. Sonst wäre sie doch nicht so sorglos gewesen.
»Aber mit Ihnen Miss Leley möchte ich mich noch etwas unterhalten...«
»Bitte, sehr gern.«
Und da tauchten aus dem finsteren Schachte zwei Hände empor, griffen blitzschnell zu, umklammerten einen dürren Hals wie mit Eisenzangen, und diese Eisenzangen drückten und drückten...
Beim ersten Anblick dieser auftauchenden Hände hatte das Weib noch einen Schrei ausstoßen können, dann war die eingeschnürte Kehle nur noch eines Gurgelns und Röchelns fähig, dann auch dessen nicht mehr.
Lilly hatte sich mit den Füßen oder mehr noch mit den Knien, mit denen sie an den Wänden geklebt, abgestoßen, das weitere Herausziehen besorgte ihr Opfer von ganz allein, dessen Besichtigung Lilly vorläufig noch nicht vornahm, sie hatte es zunächst nur auf den dürren Hals abgesehen, tat mit ihren kräftigen, sogar muskulösen Fingerchen ihr möglichstes, diesen dünnen Hals noch immer dünner zu machen oder ihn doch in der Mitte einzuschnüren, bis sie zwischen ihren Fingern nur noch die Wirbelsäule hatte — und da klappte das Opfer auch schon wie ein Sack zusammen.
Es war eine Megäre, die da am Boden lag, eine Hexe, wie sie im Buche, im Märchen steht, in Lumpen gehüllt, die einst einem bunten orientalischen Seidengewande angehört hatten, starrend vor Schmutz. Eine weitere Beschreibung sei erspart.
Lilly ließ sich auch noch imemr nicht auf eine nähere Besichtigung ein, sie kniete auf der Bewusstlosen, und die Aviatikerin hatte immer einige Lederriemen in der Tasche — sie band ihr Opfer an Händen und Füßen, mit einer Schnelligkeit und Festigkeit, um die jeder Matrose oder jeder Mann des wilden Westens sie beneidet hätte. Dann, sich aufrichtend, rief sie erst ihren Gefährten jene Worte hinab:
»Die ist besorgt. Nun sehen Sie, wie Sie hier heraufkommen.«
Es waren einfach Worte der größten Erleichterung nach der größten Seelenangst gewesen.
Heraufklettern konnten die beiden anderen diesen Schacht ja nicht, aber Lilly brauchte nicht erst darüber nachzugrübeln, wie die Vereinigung sonst hier oben zu bewerkstelligen sei — ihr erster Blick, den sie wieder auf die Megäre werfen wollte, um sie nun näher zu besichtigen, wurde wiederum abgelenkt durch ein zusammengerolltes Seil, welches neben der Ohnmächtigen lag.
Das passte ja vortrefflich, nun war die Wiedervereinigungsfrage gleich gelöst.
Lilly ließ das Seil hinab, sie half mit ziehen, während im Schacht mit den Knien gearbeitet wurde, und fünf Minuten später waren alle beide oben, in einem horizontalen Tunnel, dessen Ausgang nach dem Wüstentale nicht sehr weit entfernt war, sodass er noch ziemlich viel Tageslicht empfing.
»Nun wollen wir sehen, wen wir da eigentlich haben.«
Noch immer sollte es nicht zu einer regelrechten Besichtigung kommen, auf dass man sich am Anblick dieser Hexe erfreuen könne.
»Ich glaube fast, die... ist tot«, flüsterte Breithaupt alsbald.
Sie mussten sich bezwingen, eine Untersuchung anzustellen.
Ja, sie war tot, unter Lillys Händen erstickt. Wahrscheinlich war auch durch den furchtbaren Schreck oder durch Blutandrang zum Gehirn noch ein Schlaganfall hinzugekommen.
Auf Lilly machte das Resultat einen sehr geringen Eindruck.
»Dann ist das der zweite Mensch den ich getötet habe«, sagte sie gleichgültig, »und auch in diesem Falle fühle ich mich so wenig als Mörderin wie beim ersten Falle. Eigentlich aber ist's schade, nun kann uns die Frauensperson nicht mehr beichten, wer sie in Wirklichkeit gewesen ist. Denn ich bezweifle, dass sie überhaupt Ida Pfeiffer geheißen hat.«
Zunächst dachte man an seine eigene Sicherheit.
Nach hinten endete auch dieser viel höher gelegene Tunnel an einer Steinwand, die wohl ebenfalls eine Tür enthielt, deren geheimen Mechanismus man aber nicht fand, und mit dessen Suchen man sich auch nicht lange aufhielt.
Nach vorn führte also der Tunnel ins Freie, lag fünfzehn Meter hoch über dem Talboden, und das Seil, an dem sich der Haken befand, war noch länger.
Und dort lag die ›Libelle‹!
»Falls wir durch den unteren Tunnel die Felsentür auch von außen nicht wieder öffnen können, dieses Weib den Mechanismus total zu verändern verstanden hat, so müssen wir eben durch diesen senkrechten Schacht wieder hinabdringen«, meinte Breithaupt.
»Wozu denn das?«
»Nun, wir wollen jetzt dort unten doch weitere Umschau halten.«
»Mich zieht es nicht mehr dort hinab.«
»Dieses Weib sprach von einem Schatze...«
»Um Gottes willen!«, unterbrach Lilly wie erschrocken. »Nein, mich bringen alle Schätze der Welt nicht mehr dort hinab. Außerdem zieht es mich anderswohin, und dorthin zu eilen, das ist meine erste Pflicht. Fühlen Sie sich der Menschheit gegenüber verpflichtet, dieses Tal weiter zu untersuchen, so können Sie ja später hierher zurückkehren. Denn allein zurückbleiben wollen Sie doch nicht.«
Nein, das wollte der junge Ingenieur nicht. Aber seinen kraftvollen Charakter bewies er dadurch, dass er ganz allein noch einmal durch den vertikalen Schacht in die schauerliche Tiefe drang, um, wie er sagte, wenigstens eine Decke zu holen, in welche die Leiche eingeschlagen wurde.
Bald kehrte er mit der Decke zurück. Die Leiche ward nicht hinabgeworfen, sondern hinabgelassen, die anderen folgten nach, sie wurde in dem heißesten Sande bestattet, an einer leicht wiederzufindenden Stelle.
Wer dieses Weib gewesen, ob sie wirklich Ida Pfeiffer geheißen, mit jener berühmten Forschungsreisenden weitläufig verwandt war, das mussten die späteren Recherchen ergeben, hier hätte man sich nur in nutzlosen Grübeleien ergehen können.
»Nun, Mr. Alberich, fühlen Sie wieder einen Drang in sich, einen besonderen Ort aufzusuchen, den Sie schon mit geografischen Zahlen bestimmen können?«, fragte Lilly.
Der Zwerg, der niedergeschlagener denn je war, schüttelte stumm den Kopf.
»Dann vorwärts, weiter nach Osten!«
Und die ›Libelle‹ setzte ihren unterbrochenen Flug fort, ohne von hier Wasser und Proviant mitgenommen zu haben. Es war auch nicht nötig, in wenigen Stunden war diese Wüste überflogen, dann musste reichbewässertes Oasengebiet mit jagdbaren Tieren aller Art kommen.
Vierzehn Stunden später, wieder ein Sonnenaufgang. Diesmal war es Breithaupt, der von seiner Begleiterin aus dem Schlafe geweckt wurde.
»Sehen Sie, mitten in der Wüste, die wir während der ganzen Nacht wieder unter uns gehabt, eine große Stadt!! Was kann das sein?«
Breithaupt rieb sich die schlaftrunkenen Augen und brauchte dann nur einen Blick.
»Timbuktu.«
»Timbuktu«, echote Lilly, »natürlich, das rätselhafte, sagenumwobene Timbuktu, was kann es denn anderes sein! Der ›Tyrann‹ flog damals viel weiter nördlich daran vorbei, und Kapitän Hartung ließ sich durch nichts aus der direkten Richtung bringen, so sehr ich auch bat, diese geheimnisvolle Stadt, die nur ganz, ganz selten einmal von einem Europäer gesehen worden ist, aufzusuchen. Ich habe damals alles darüber gelesen, was sich in unserer Bibliothek befand.«
Der Vermessungsingenieur, der sich in langjährigem Studium zum speziellen Afrikaforscher vorbereitet hatte, konnte ihr noch mehr darüber erzählen.
Die Stadt Timbuktu wurde um das Jahr 1100 nach Christi von den Tuaregs gegründet, erhob sich bald zum Zentralhandelsmarkt von ganz Mittelafrika.
Ihre wechselvollen Schicksale, wie sie von einer Macht an die andere überging, wollen wir nicht weiter verfolgen.
Damals lag Timbuktu wohl schon am Südrande der Sahara, aber doch noch in einer blühenden Gegend direkt am Niger, dem mächtigsten Strome Afrikas, den Nil nicht an Länge, aber doch weit an permanenter Wassermenge übertreffend.
Der Niger, der dort ein scharfes Knie macht, hat sein Bett immer weiter nach Süden verschoben, heute liegt Timbuktu gegen zehn geografische Meilen von ihm entfernt, in einer völlig versandeten Gegend, in der nur noch mit Mühe einige bedürfnislose Palmen fortkommen. Aber Brunnenwasser gibt es genug, sonst wäre ja auch eine Existenz unmöglich.
Trotzdem ist Timbuktu noch heute das, was es einst gewesen, das afrikanische London. Wenigstens für den mit den Negern handeltreibenden arabischen Kaufmann. Und diesen Handel darf man doch nicht etwa unterschätzen. Bei diesem Handel kommen Kairo, Kapstadt und andere Wüstenstädte ja gar nicht in Betracht. Timbuktu ist noch immer der Knotenpunkt, an dem alle Karawanen von ganz Zentralafrika zusammenkommen, mit Tauschwaren, mit Salz, Tabak, Tuchen, Waffen, Pulver, Glasperlen, Spiegeln und allen anderen der zahllosen Industrieartikel, deren Herstellung in Europa und Amerika nicht nur Tausende von Händen, sondern Tausende von Fabrikbetrieben beschäftigt, ernährt. Denn Afrika ist ein Erdteil, und wie viele hundert Millionen Menschen darin stecken, die diese Erzeugnisse der modernen Technik schon nicht mehr entbehren können, das wissen wir noch gar nicht.
Nur den Elfenbein- und Sklavenhandel hat Timbuktu verloren, der ist nach den Küsten verlegt worden. Aber für Salz, Gold und Gummi hat es noch immer das Monopol.
Timbuktu ist den Europäern von jeher verschlossen gewesen und ist es noch heute. Ängstlich wachen diese arabischen Kaufleute über ihr Monopol. Diese Araber, ganz gebildete Menschen, die man in Kairo, in Paris, in London im schwarzen Gehrockanzug im Café sitzen sieht, die sind es, welche noch heute den dort umwohnenden Tuaregs und anderen wilden Negerstämmen für jeden abgeschnittenen Europäerkopf eine hohe Prämie zahlen.
Den ersten Bericht über Timbuktu gab der in Spanien geborene Maure Hassan Mohammed el Wasan, als Forschungsreisender bekannt oder sogar berühmt geworden unter dem Namen Leo Africanus, der afrikanische Löwe, um das Jahr 1510. Aber seine Berichte über diese Stadt sind ganz märchenhaft.
Viele Europäer versuchten vergebens, nach Timbuktu vorzudringen. Entweder mussten sie ihr Leben lassen oder umkehren, so auch 1805 Mungo Park, der am weitesten gegen Timbuktu vorrückte, aber auch nur bis nach dem Stromhafen Kabara kam.
Der erste Europäer, dem es gelang, Timbuktu wirklich zu erreichen, war der Engländer Major Laing, 1826. Aber auf der Rückkehr wurde er ermordet, seine Tagebücher gingen verloren.
Zwei Jahre später hielt sich der Franzose René Caillié zwei Wochen in Timbuktu auf, als Araber verkleidet. Ihm gelang die Rückkehr. Doch als einfacher Araber, sich vor allen Fragen hüten müssend, hatte er nicht viel erreichen können.
Der erste Europäer, dem wir sichere Kunde über diese Märchenstadt verdanken, ist der deutsche Forschungsreisende Heinrich Barth, der sich nach Timbuktu ebenfalls einschmuggelte, dann durch seine medizinischen Kenntnisse das Vertrauen des Sultans gewann und sich ein Jahr lang in der Stadt aufhielt, vom September 1853 bis Juli 1854.
Dann sind noch einige andere Europäer nach Timbuktu gelangt und zurückgekehrt, aber Barths Berichte sind von keinem ergänzt, nicht erreicht worden.
Die Stadt hat eine Stunde im Umfange und zählt 13 000 Einwohner die in zirka tausend einstöckigen, aus Lehm zusammengekleisterten Häusern und einigen hundert Basthütten leben.
Wolle man das nicht lächerlich finden, sonst werden auch wir ausgelacht. Was sind denn unsere modernen Städte? Was sind denn unsere Häuser? Meist aus gebranntem Ton zusammengesetzte Steinkästen, so geschmacklos wie möglich aufgebaut. Ja, so geschmacklos wie möglich! Was würde wohl ein alter Athener über unsere Städte sagen? Was in Griechenland noch vorhanden ist, das suchen wir sorgsam zu erhalten, wagen es nicht zu restaurieren, und was sich fortschleppen lässt das wird mühsam in unsre Museen getragen. Oder man muss die altindischen Städte gesehen haben, die durch die zugewanderten Europäer noch nicht so verstümmelt worden sind, z. B. Delhi. Ein Inder denkt über unsere Baukunst genau so verächtlich, wie wir über solch eine afrikanische Stadt.
Dass auch diese Tuaregs und Mandingoneger unter arabischer Leitung in Zentralafrika etwas bauen können, wenn sie nur wollen, haben sie an den drei Moscheen Timbuktus bewiesen, darunter die Djingereber-Moschee, ein kolossales Bauwerk von wirklicher Schönheit, innen von einer Pracht und mit Schätzen von Edelsteinen, Gold und Elfenbein angefüllt, wie sich nach Barths Worten gar nicht beschreiben lässt.
Dies alles hatte Breithaupt erzählt, soweit es Lilly noch nicht gewusst, während sie sich der Stadt, die direkt vor ihnen gelegen, immer mehr genähert hatten.
»Bei Gott, dieses geheimnisvolle Timbuktu und seine Bewohner möchte ich näher kennen lernen, die erste Europäerin sein, welche Timbuktu betritt — für diese Ehre würde ich schon einige Zeit opfern!«, rief Lilly mit funkelnden Augen.
»Die erste Europäerin sind Sie ja auch sicher, welche Timbuktu erblickt«, entgegnete Breithaupt, »aber auf die Ehre des wirklichen Betretens müssen Sie wohl verzichten.«
»Weshalb?«
»Na, habe ich Ihnen nicht ausführlich berichtet, wie es mit dem Kopfabschneiden hier gehandhabt wird? Sehen Sie dort unten in dem Vorhofe des großen Tempels den Garten mit den Stangen, auf denen so runde Kugeln sind? Mir scheint, das sind Menschenköpfe. Vielleicht einheimischen Verbrechern angehörend, Religionsfrevlern, vielleicht aber ist auch mancher europäische Schädel dazwischen.«
»Sollten wir auf unserer Flugmaschine nicht anders empfangen werden?«
»Bei den Mohammedanern geht Religion über alles andere — und dasselbe gilt vom arabischen Geschäftsgeist.«
»Geist, ja — sollten wir nicht als Götter empfangen werden?«
»Mohammed hat allen Glauben an Geister verboten, und wenn dem auch noch gehuldigt wird — hier dürfte es genug Araber geben, welche den Aeroplan schon kennen und schnell genug Aufklärung geben werden und es schon tun, wenn man uns in den Lüften erblickt.«
»Also keine Möglichkeit, die Stadt selbst zu betreten?«
»Nein, Miss, das müssen sie sich aus dem Sinn schlagen. Aber in der Umgebung können wir ja einmal landen.«
»Ach, das ist doch nichts, und das spricht dann nur, wenn ich darüber berichte, für meine Feigheit. Nein, entweder mitten in der Stadt landen oder gar nicht. Ja, hat diese Stadt denn nur gar keinen freien Platz? Dann würde ich es dennoch riskieren.«
Einen Marktplatz hat Timbuktu zwar, aber der ist so eng, dass er für unsere Begriffe diesen Namen gar nicht verdient. Wenn zu gewissen Zeiten bis zu 10 000 Fremde hier zusammenströmen, so wird der Markt außerhalb der Stadtmauern abgehalten, in der freien Wüste.
Der im Zentrum gelegene Platz war so klein, dass Lilly aus ihrer Höhe ihn gar nicht für einen solchen hielt. Wenn sie in der Mitte desselben landeten, konnte man mit einer langen Lanze aus der Haustür nach ihnen stechen.
»Nein, wir müssen uns darauf beschränken, Kreise über der Stadt zu ziehen«, fuhr Breithaupt fort, »und wir tun gut dabei, uns über Büchsenschusshöhe zu halten.«
Die unternehmungslustige Artistin machte ein finsteres Gesicht, während sie die nun direkt unter ihnen liegende Stadt musterte.
Aus dieser Höhe, mit bloßen Augen besehen, kam nichts weiter in Betracht, als der sehr stattliche Palast des Sultans und die drei Moscheen, und von diesen am meisten Djingereber.
Diese Moschee — richtiger Dschami oder Kullijjet, denn nur die kleinen Kapellen, Bethäuser nennt der Araber und Türke Moschee — seit sieben Jahrhunderten nun schon sich mitten in der Stadt erhebend, hat eine Länge von 80 Metern bei 60 Meter Breite und eine Höhe von 24 Metern.
Die Bauart dieser Moscheen, wie wir sie nun auch nennen wollen, ist ja ganz verschieden. Diese hier war ein viereckiger Kasten mit ausnahmsweise nur einem Turm, dem Minarett, auf der östlichen Seite angebracht, sich noch 20 Meter über das Gebäude erhebend, dessen Dach wie immer ganz flach war.
»Hei, ich hab's!«, rief da Lilly mit blitzenden Augen. »Wissen Sie was? Wir lassen uns einmal auf dem Dache dieser großen Moschee nieder!«
Breithaupt machte eine erschrockene Bewegung.
»Miss, es handelt sich um das Allerheiligste der Mohammedaner!«
»Ach was! Haben die Türken und Araber als Eroberer jemals unsere christlichen Kirchen geschont? Und überhaupt, ist ganz Timbuktu nicht an sich eine heilige Stadt, sodass sie von allen europäischen Forschungsreisenden, die sie betreten, geschändet wurde?«
Breithaupts erster Schreck war denn auch schnell wieder vorüber.
»Sie haben Recht, und wenn wir es nun einmal tun, können wir auch diese Schändung damit bemänteln, dass wir es nur der Wissenschaft halber getan haben. Dann können wir von dort oben aus die ganze Stadt so lange beobachten, wie wir wollen.«
»Solange wir wollen? Nein, bis sie uns von dort oben fortjagen.«
»Das dürfte seine Schwierigkeiten haben.«
»Wieso?«
»Weil gerade das Dach jeder Moschee das allergrößte Heiligtum ist. In Innern der Moschee wird nur der Prophet Mohammed verehrt, auf dem Dache stellt man sich den Geist Allahs ruhend vor. Das Dach der Moschee darf von keines Menschen Fuß betreten werden. Nur einmal im Jahre, am höchsten Festtage, betritt es unter feierlichen Zeremonien der erste Priester, der Imam, um zufällig daraufgeratene Gegenstände zu entfernen. Deshalb sind die Dächer der meisten Moscheen auch von gewalztem Blei. Einmal, weil die Vögel alles Blei fliehen, so das Dach nicht beschmutzen, und zweitens, weil dieses Dach nicht repariert, von keines Menschen Hand auch nur berührt werden darf. Bei einem Schadenfeuer soll es gleich vollständig zerschmelzen.«
»Aber man wird uns von dem Minarett aus beschießen.«
»Kein Gedanke daran. Auf diesem heiligen Dache darf niemand getötet, nicht geritzt werden. Solche Fälle sind in der allgemein gültigen Moscheenordnung wirklich vorgesehen worden. Und ich kenne einen Fall, in einer kleinasiatischen Stadt, wo ein Sträfling durch den Turm auf das Moscheedach floh.«
»Und was geschah mit ihm?«
»Als man seiner mit einer Schlinge nicht habhaft werden konnte, er auch durch kalte Wasserstrahlen nicht zu bewegen war, herabzuspringen oder sich zu ergeben, ließ man ihn einfach oben verhungern. Oder noch eher verschmachten. Die ausgedörrte Leiche wurde erst nach einem halben Jahre am Beiramsfeste von dem Priester entfernt.«
»Nun gut, dann passt ja alles vortrefflich, dann lassen wir uns auf dem Dache nieder und beobachten von dort aus das Treiben der Stadt, solange es uns gefällt — oder unser Proviant langt. Schade dass wir keinen Fotografenapparat haben!«
Der Riesendrachen war bemerkt worden; in den engen Straßen, die vorher ziemlich verlassen dagelegen, begann es wie in einem Ameisenhaufen zu wimmeln, jetzt hörte man schon die Rufe des Staunens und mehr noch des Entsetzens, und das steigerte sich immer mehr, als man sah, wie sich der ungeheure Vogel gerade auf dem Dache der großen Moschee niederließ.
Die Landung selbst konnte freilich nicht beobachtet werden, höchstens vom Turme dieser und der beiden anderen Moscheen aus, sonst überragte dieses Gebäude alle anderen um ein ganz Bedeutendes. Die Wohnhäuser kamen überhaupt nicht in Betracht.
Lilly hatte die Flugmaschine genau in der Mitte des Daches landen lassen, das also eine völlig glatte Fläche von 80 Meter Länge und 60 Meter Breite darstellte — ein ganz ansehnliches Terrain.
Hier von der Mitte aus war ja von der Stadt auch nichts weiter zu sehen als die drei Minaretts, so betrachtete man erst einmal das, was sich den Blicken darbot.
Auch dieses Dach bestand aus gewalztem Blei, dessen Stärke sich nicht beurteilen ließ, ohne jede Fuge, ohne Riss, ohne eine zu öffnende Falltür. Nichts lag darauf, auch kein Flugsand oder Staub hatte sich angehäuft. Entweder war erst vor kurzem eine Reinigung erfolgt, oder die Höhe schützte eben das Dach vor dem Flugsand der Wüste. Eine Einfassung gab es nicht.
Auf dem östlichen Rande erhob sich der angebaute Turm, von dessen Galerie aus der Muezzin zu gewissen Stunden das Volk zum Gebet auffordert und Gebete verrichtet, und unten an diesem Turme zeigte sich ein kleines, auf das Dach führendes Türchen, jetzt geschlossen.
»Wollen wir nun sehen, wie es dort unten ausschaut, die schreien ja ganz entsetzlich«, sagte Lilly, sich dem Dachrande zuwendend.
»Seien Sie vorsichtig, Miss«, bat Breithaupt, ihr den Weg vertretend.
»Ich denke, wir sind auf diesem heiligen Gebiete gegen jede Injurie gefeit?«
»So muss ich Ihnen erklären, ich kenne die mohammedanische Moscheenordnung nicht anders, aber wir sind in Timbuktu, wer weiß was für Ausnahmen es hier gibt.«
»Aber wir müssen doch einmal über den Dachrand blicken, wozu sind wir denn sonst erst hier gelandet?«
»Nehemen Sie mich wenigstens mit.«
»So kommen Sie doch!«
»Und die ›Libelle‹? wir haben uns hundert Schritte von ihr zu entfernen, nicht weiter ist es von der Minarett-Tür bis hierher.«
Breithaupt hatte Recht. Es wäre von Lilly sehr leichtsinnig gewesen, sich so ohne weiteres eine Strecke von der Flugmaschine zu entfernen, womöglich gar noch unter Begleitung des einen Gefährten.
Dann blieb zwar noch Alberich zurück, dem man jetzt unbedingt traute, aber einige Instruktionen musste der doch wenigstens erst bekommen. Der Gang bis zum Dachrande war in dieser Hinsicht mit einer Expeditionsreise zu vergleichen.
So hielt man doch erst noch einmal mit kritischen Blicken Umschau, obgleich sich den Augen nichts weiter bot, als das völlig nackte Bleidach und dort der Turm.
Dann aber erkannte man doch noch einiges andere. Erstens die Tür, welche aus dem Turme auf das Dach führte, zweitens das Geländer, welches sich in dreiviertel Höhe um den Turm zog; drittens die zweite Tür, welche in dieser Höhe aus dem Turme auf diese Galerie führte. Sonst zeigte der Turm weiter keine Öffnung, weder Tür noch Fenster.
Jetzt erkannte auch Lilly, was für eine Bedeutung diese Erwägung alles dessen hatte.
»Ist die auf das Dach führende Tür verschlossen?«
»Das weiß ich nicht, wir können uns ja aber überzeugen, ob sie auch von außen zu öffnen ist.«
»Warten Sie erst — und die obere Tür?«
»Aus der tritt der Vorbeter auf die Galerie hinaus.«
»Gibt es auf der anderen Seite auch noch solch eine Tür?«
»Nein, das kann ich Ihnen mit Bestimmtheit versichern, dass dies nicht der Fall ist. Die Minarett-Tür mündet stets nach Westen, der Khatib muss immer nach Westen heraustreten und erst auf der Galerie herumgehen. In dieser religiösen Ordnung kann hier unmöglich eine Ausnahme gemacht werden.«
»So. Das zu hören ist mir von großer Wichtigkeit. Darf jeder das Minarett und dort oben die Galerie betreten?«
»Soviel ich weiß, nur die Scheichs und Khatibs und Imams und Muezzins, das sind die vier Rangstufen der eigentlichen Priester. Dazu kommen noch die Kaims, die Wächter der Moscheen. Ich glaube nicht, dass irgendein anderer Mensch diese ebenfalls sehr heilige Galerie betreten darf, wohl schon der Kaim nicht.«
»Nun gut, dann müssen wir immer nur diese Tür im Auge behalten. Also, Mr. Alberich, das ist Ihr Amt, während wir dort unten Umschau halten. Sobald jemand dort oben aus der Tür tritt oder diese sich nur öffnet, rufen Sie uns. Dasselbe gilt auch von der unteren Tür oder wenn Sie sonst irgend etwas Verdächtiges bemerken. Verstehen Sie mich, lieber Freund?«
»In dieser Hinsicht bin ich ganz bei normalen Sinnen«, lautete die schwermütige Antwort.
Dann war auch weiter keine Instruktion nötig. Diesmal aber nahm Lilly für ihren Gang ein Gewehr und eine Pistole mit, auch Breithaupt musste sich mit pneumatischen Waffen versehen.
Nahe des Randes legten sie sich auf den Boden und schoben nur die Köpfe etwas über die scharfe Kante.
Also eine Höhe von fünfundzwanzig Metern. Das ist ein modernes vierstöckiges Haus mit hohem Dache. Da nehmen sich die menschlichen Figuren schon klein aus, wenn Lilly auch das mitgebrachte Fernrohr gebrauchen musste.
Auf diese Weise konnten sie nur in eine einzige Straße hineinblicken, wohl in die Hauptstraße, welche diese im Zentrum gelegene größte Moschee umzog. Es kribbelte darin wie in einem Ameisenhaufen oder doch Ameisentunnel. Ein wirres Durcheinander von bekleideten und nackten Körpern, schwarz und braun und gelb, von wolligen Schädeln und Turbanen in allen Farben, und das ständige Summen war mit dem in einem aufgeregten Bienenkorbe zu vergleichen, nur dass dazwischen auch genug echt menschliche Stimmen schrillten.
Die anderen Straßen konnte man nicht beobachten, trotz der nur einstöckigen, ganz niedrigen Wohnhäuser, dazu waren die Gassen zu eng. Wohl aber hatten sich auf den flachen Dächern von fast allen Wohnhäusern Menschengruppen angesammelt, welche aufgeregt nach der großen Moschee gestikulierten.
Das war der Gesamteindruck, den man hatte, und dagegen kamen einzelne Gruppen gar nicht in Betracht, konnten gar nicht beobachtet werden. Und so sah es auch auf allen anderen Seiten aus. Auf der östlichen Seite befand sich das Schloss, dessen Dach ebenfalls zahlreich mit Menschen besetzt war, sogar mit Weibern.
Aber auch von diesem höchsten Wohngebäude aus konnte, wie leicht zu berechnen war, die Flugmaschine nicht erblickt werden, das wäre nur von den Minaretts der beiden anderen Moscheen aus möglich gewesen, und es war sehr bemerkenswert, dass sich auf deren Gelerien keine Menschen zeigten.
»Da erkennen Sie, wie heilig diese Galerien gehalten werden«, sagte Breithaupt. »Sie dürfen eben nur zu den bestimmten Gebetsstunden betreten werden, und muss eine Ausnahme gemacht werden, so ist das wohl nicht so einfach.«
»Hm, das ist nicht so interessant, wie ich es mir vorgestellt habe«, meinte Lilly. »Ich werde mir wohl an der Ehre genügen lassen, für eine Viertelstunde auf dem Dache der heiligsten Moschee Timbuktus geweilt zu haben, meinen Flug gleich wieder fortsetzen. Noch lieber freilich möchte ich diese allerheiligste Moschee Timbuktus auch innen einmal betreten.«
»Das ist natürlich ausgeschlossen.«
»Gehört der Turm nicht mit zur eigentlichen Moschee?«
»Das wohl, das ist noch der Tempel selbst.«
»Nun, probieren Sie, ob die Tür dort nicht offen ist.«
»Miss, schonen Sie die allerheiligsten Gefühle dieser Moslems!«, bat Breithaupt noch einmal.
»Nur einmal einen Blick hinein.«
Der junge Ingenieur machte denn auch weiter keine Schwierigkeiten, begleitete Lilly hin, wollte wohl selbst gern wissen, ob diese heilige Tür immer verschlossen sei oder nicht. Unten die Eingangstüren zu den Moscheen, so niedrig, dass man nur gebückt hindurchkriechen kann, sind sogar mit Ketten verrammelt.
Ja, sie ließ sich nach innen öffnen, hatte überhaupt weder Schloss noch Klinke.
Man sah eine Wendeltreppe, die Stufen wohl aus großen Lehmklumpen bestehend. Aber sie führte nur nach oben, denn in gleicher Höhe mit dem Dache war eine Falltür angebracht, so die Treppe nach unten abschließend, und zwar war auch ein gewaltiger Riegel vorhanden, der jetzt vorgeschoben war.
»Stimmt«, sagte Breithaupt, »so habe ich diese Minaretts beschreiben hören. Es sind doch schon Europäer in dieses Heiligtum eingedrungen. Diese Falltür ist stets vorhanden, sie trennt des Propheten Wohnung von der Allahs, und der heraufsteigende Muezzin muss stets hinter sich schließen und auch den Riegel vorschieben, sodass er von der ganzen Welt abgeschlossen ist.«
»Wie soll man denn aber den Riegel von unten auf- und wieder zuschieben können?«, meinte Lilly.
»Das scheint nicht möglich zu sein, dazu ist doch wohl gar keine Vorrichtung vorhanden. Da bleibt der Riegel eben einstweilen auf.«
»Ja, aber jetzt ist er doch vorgeschoben.«
Breithaupt blickte starr nach dem Riegel und dann seine Begleiterin an.
»Alle Wetter, ja«, flüsterte er dann, »soweit ich diese Verhältnisse kenne, sagt dieser vorgeschobene Riegel, dass jetzt ein Priester oben...«
Da ertönte aus Alberichs Munde der verabredete Warnungsruf.
Schnell drängte Breithaupt seine Begleiterin zurück, schloss die Tür leise wieder.
»Da ist oben schon ein Priester auf die Galerie getreten! Lassen Sie mich reden, wenn er uns sprechen will, er wird ja nur Arabisch können. Ich werde ihm begreiflich machen, dass an unserer Flugmaschine etwas gebrochen ist, wir sind ganz unfreiwillig auf diesem Dache gelandet, wir bitten vielmals um Entschuldigung, werden uns nach ausgeführter Reparatur sofort wieder davonmachen. Nicht wahr?«
»Tun Sie, was Sie für am besten finden. Nur sagen Sie dem Herrn gleich, dass ich ihn bei der geringsten verdächtigen Bewegung niederschießen werde. Wenn ich auch nicht immer die Pistole auf ihn gerichtet habe.«
Alberich winkte fortwährend, nach dem Turme deutend, und die beiden brauchten nur wenige Schritte zurückzutreten, so konnten sie den Mann oben auf der Galerie stehen sehen.
Es war ein Greis mit langem, weißem Barte, in arabische Gewänder von Seide gehüllt, das Bemerkenswerteste an ihm war der mächtige grüne Turban mit weißen Bändern.
»Der Scheich el Moslem selbst«, flüsterte Breithaupt, »der höchste Priester eines Bezirks, eines ganzen Landes, etwa einem Erzbischof entsprechend.«
Der Greis hatte schon zu sprechen begonnen, sich aber nicht um die unter ihm Stehenden kümmernd, obgleich er diese unbedingt sehen musste.
Er deklamierte einfach, hatte dabei die Arme ausgebreitet, als wolle er das ganze Dach umfassen, sprach schnell, aber mit Ausdruck.
»Was deklamiert er?«, fragte Lilly.
»Eine Sure aus dem Koran. Ich erkläre es Ihnen dann, wenn er fertig ist.«
Es dauerte höchstens drei Minuten, so schloss der alte mit einigen sich wiederholenden Worten, drehte den Umstehenden einfach den Rücken, verschwand in der Tür, schloss diese hinter sich.
»Was hat er deklamiert?«
»Er hat uns nach allen Regeln der Kunst verflucht. Die Sure hat er hergebetet, welche den verflucht, der die Moschee schändet. Was der uns und unseren Nachkommen alles gewünscht hat — verzeihen Sie, Miss, ich wage Ihren Ohren nicht einmal den harmlosesten Fluch zu wiederholen. Die Mohammedaner sind groß in solchen Flüchen. Furchtbar, schrecklich! Höchstens kann ich Ihnen noch sagen, dass wir jetzt auf der Stelle von Allahs Zornesfeuer zu Asche verzehrt werden müssten.«
»Und darauf wartet der Alte nun?«
»Der glaubt wohl sicher nicht daran, dass so etwas passiert. Der erste Priester hat einfach seine Pflicht getan, indem er die Fluchformel über uns Kirchenschänder gesprochen.«
»Und da geht er gleich wieder?«
»Ja, eben weil er seine erste Pflicht getan hat. Aber er wird schon wiederkommen. Dazu muss er sich nur durch Zeremonien von neuem vorbereiten. So denke ich es mir wenigstens.«
Da ging auch schon wieder die obere Tür auf, ein anderer Araber trat auf die Galerie, hinter sich diesmal aber die Tür auflassend.
Der Mann war wohl reich, aber ohne priesterliche Abzeichen gekleidet.
Die beiden waren noch etwas mehr von dem Turme zurückgetreten, um besser nach oben blicken zu können.
»Alle Wetter, das ist kein Priester«, flüsterte Breithaupt, »da haben sie richtig schon eine Ausnahme gemacht, einen Laien zum Betreten der heiligen Galerie berechtigt, ihn wohl dazu erst schnell geweiht. Wahrscheinlich ein arabischer Handelsmann, der in der zivilisierten Welt Bescheid weiß, der soll uns auf den Zahn fühlen.«
So sollte es auch wirklich sein.
»Inschallah, ein Aeroplan!«, rief der Araber alsbald, sich der französischen Sprache bedienend, sich dann direkt an die Untenstehenden wendend. »Wer seid ihr denn?«
»Wenn Sie das Wort Aeroplan kennen, so werden Sie wohl auch wissen, dass wir Aviatiker sind«, entgegnete Breithaupt.
In dieser reinen Luft brauchte die Stimme trotz der großen Höhe nur wenig angestrengt werden, um sich verständlich zu machen.
»Ihr seid mit dem Aeroplan bis hierher geflogen?«
»Wie Sie wohl merken.«
»Von wo aus?«
»Von Fort Luille aus«, nannte Breithaupt auf's Geratewohl eine kleine Hafenstadt an der atlantischen Küste.
»Fort Luille kenne ich. Das ist ja gar nicht möglich.«
»Was ist nicht möglich?«
»Ich verstehe etwas von Flugmaschinen, habe in Marseille und Paris viele manövrieren sehen. So viel Benzin könnt ihr doch gar nicht mitnehmen, zumal ihr drei Personen seid, was ich auch noch nie gesehen habe.«
»Eben daraus erkennen Sie, dass es eine ganz besondere Flugmaschine ist.«
»Sie kann soviel Benzin tragen?«
»Gewiss, sonst hätten wir diese Strecke doch nicht zurücklegen können.«
»Nun, das bleibt sich ja auch ganz gleich. Was wollt ihr hier?«
»Wir wollten eigentlich weiterfliegen, hatten nur gerade über dieser Stadt einen Defekt am Motor, der uns zum Landen zwang. Viel Auswahl hatten wir nicht, und so ging der Aeroplan unglücklicherweise gerade hier auf dem Dache dieser Moschee nieder.«
»Das geschah nicht mit Absicht?«
»O nein.«
»Wissen Sie, wo Sie sich hier befinden?«, fragte der Araber so höflich, wie er von allem Anfang an gewesen war.
»Auf dem Dache der Hauptmoschee.«
»Aber was für eine Stadt ist das?«
»Timbuktu.«
»Das wissen Sie also?«
»Wie ich sage.«
»Und wohin wollen Sie?«
»Quer durch Afrika.«
»So. Hm. Ihre Flugmaschine hat einen Defekt bekommen?«
»Er wird bald beseitigt sein, und dann werden wir unsere Fahrt fortsetzen, können nur um Entschuldigung bitten, dass wir uns zufällig gerade hier niederließen. Aber es war nicht unsere Schuld.«
»O, das hat doch auch gar nichts zu sagen!«
»Was hat nichts zu sagen?«
»Dass Sie das Dach der Moschee betreten haben. Über solchen Aberglauben sind wir hier schon längst hinaus, wenn wir natürlich auch auf die vorschriftsmäßige Ordnung halten müssen. Im Namen des Sultans von Timbuktu soll ich Sie und ihre Begleiter als seine Gäste einladen. Bitte treten Sie durch die untere Tür in das Minarett, wo man Sie empfangen wird, wie es solchen vornehmen Gästen gebührt.«
»Na, da sehen Sie!«, rief Lilly. »Was haben Sie mir nun erst alles erzählt!«
»Sie würden dieser Einladung wirklich Folge leisten?«, wandte sich Breithaupt zunächst an sie, mit leiserer Stimme und auf Englisch.
Jetzt allerdings stutzte Lilly gleich.
»Sie meinen...«
»Die wollen uns nur vom Dache haben, dass sie uns in aller Gemütlichkeit massakrieren können. Aber weshalb«, rief er dann wieder auf französisch hinauf, »hat uns denn da vorhin der Scheich el Moslem so furchtbar verflucht?«
»Sie haben ihn verstanden?«
»O, ich verstehe recht gut Arabisch, wenn ich Sie auch bitte, unsere Unterhaltung auf Französisch fortzusetzen.«
»Das war nur eine Sure aus dem Koran.«
»Jawohl, die Fluchsure für die Tempelschänder. Und weshalb dann das erst?«
»O, einfach eine Zeremonie. Entweiht haben Sie als Andersgläubige dieses Moscheedach ja allerdings, es muss wieder geweiht werden, aber sonst hat das nichts weiter zu sagen. Also bitte, treten Sie unten ein, der Sultan erwartet Sie schon sehnlichst.«
»Nein, wir danken für diese Ehre, wir fliegen lieber weiter.«
Breithaupt sprach's drehte sich einfach um und nahm Lilly mit sich.
»Ei, solche Halunken!«, sagte er unterwegs. »Und so plump dabei! Oder sollte nicht in der Plumpheit eine ganz raffinierte List liegen?«
»Sie meinen wirklich...«
»Unbedingt wollen die uns massakrieren.«
»Und ich wäre wahrhaftig ohne weiteres der Einladung gefolgt!«
»Da sehen Sie, wie vorsichtig man sein muss. Nein, mich braucht niemand mehr diese Araber kennen zu lehren. Die Priester haben als Dolmetscher offenbar einen Araber ausgesucht, der zwar Mohammedaner ist, aber im Grunde genommen doch an gar nichts glaubt, der auch ruhig beim Barte des Propheten einen falschen Eid leistet, nur um einige Pennies zu verdienen.«
»Hallo, Effendi!«, erklang es da hinter ihnen.
Sie blieben auf halbem Wege nach der Flugmaschine stehen und wandten sich um. Ausgenützt musste die Gelegenheit werden, sich mit einem Bewohner des sagenhaften Timbuktu unterhalten zu können.
»Was wünschen Sie?«
»Aber ich bitte Sie — Sie schlagen diese Einladung Seiner Allerheiligsten Majestät des Sultans wirklich aus?«
»Wir tun es.«
»Ist das ihr letztes Wort?«
»Ja. Kommen Sie Miss!«
In demselben Augenblick sah Breithaupt, schon halbabgewendet, wie Lilly blitzschnell ihre Pistole hob und sie gegen den Turm abdrückte, und gleichzeitig ging von dem Araber ein Feuerstrom aus, aus der kurzen Büchse, die er plötzlich in der Hand hielt, aber der Feuerstrom war ziemlich gen Himmel gerichtet, und unter dem Knalle seiner eigenen Waffe brach er, von Lillys pneumatischem Geschoss getroffen, zusammen.
Gleich darauf ward er an den Füßen durch die Tür in das Minarett geschleift, unter lautem Zetern eines anderen.
»Da sehen Sie, was diese Mohammedaner von der Heiligkeit des Moscheedaches halten!«, rief Lilly tiefaufatmend. »Der hätte uns mit zwei Doppelschüssen weggeputzt, ich hätte gar keine Zeit mehr gehabt, das Gewehr emporzureißen, nur die Pistole konnte die Bewegung noch ausführen.«
»Nein, den Priestern wenigstens tun Sie Unrecht«, entgegnete Breithaupt. »Es war der Imam, der ihn hereinzog, und hören Sie, was der jetzt noch zetert und wettert?«
»Ich kann ihn ja gar nicht verstehen. Nun, was lamentiert er?«
»Wehe wehe, dieser Verruchte hat nach den Menschen auf dem heiligen Dache geschossen, wo Allah thront! So ruft der Kerl in einem fort. Nein, der französische Araber hat aus eigener Initiative gehandelt, er ist wohl ein Mohammedaner, aber ein Freigeist, hat mit uns kurzen Prozess machen wollen, hat eine kurze Büchse mit in die Moschee geschmuggelt, was an sich schon eine Freveltat ist. Nein, keiner von den Priestern wird jemals auf uns schießen.«
»Na, machen wir lieber, dass wir von hier wieder fortkommen.«
Der Weg nach dem Aeroplan wurde fortgesetzt.
»Ich habe ihn nur in den linken Arm geschossen«, sagte Lilly vorher noch einmal.
»Das können Sie behaupten?«
»Nun, das sind doch nur 20 Schritte. Und wissen Sie nicht, dass ich einmal als Kunstschützin mich produziert habe?«
Das hatte der junge Ingenieur wohl schon gehört, hatte aber von seiner Begleiterin noch keine Probe ihrer Treffsicherheit bekommen, es war noch keine Gelegenheit vorhanden gewesen.
»Wir brauchen aber nun bald Wasser«, sagte Lilly, als sie sich in den Reitsattel schwang. »Sie meinen, der Niger, an dem Timbuktu früher direkt gelegen haben soll, ist weiter südlich gerutscht?«
»Zehn geografische Meilen südlich von hier.«
»Dann gehe ich erst direkt nach Süden. Wir haben in der letzten Zeit dem Trinkwasser recht tüchtig zugesprochen, haben kaum noch fünf Liter. Zu diesem Katzensprunge langt das natürlich noch.«
Sie warf den Hebel herum.
»Was ist denn das?!«
Auf die Räder hatte sich der Aeroplan erhoben, der Apparat entwickelte Knallgas, aber der Motor wollte nicht arbeiten.
Der Zwerg, von Breithaupt befragt, brauchte nicht erst zu versichern, nichts daran gemacht zu heben.
Fünf Minuten beschäftigte sich Lilly mit der Untersuchung der Maschinerie.
»Fatale Geschichte! Wir haben den Teufel an die Wand gemalt. Doch ich weiß, woran der Fehler liegt, glaube es wenigstens. Es hilft nichts, der ganze Motor muss auseinandergenommen werden.«
Sie begann mit der Demontierung.
Auf der Galerie erschien wieder ein Araber, ein jüngerer Mann, ebenfalls durch einen grünen Turban mit den weißen Bändern als höherer Priester gekennzeichnet.
»Fremdlinge, lasst mit euch sprechen!«, rief er in gebrochenem Englisch.
»Diesmal will ich die Unterhaltung übernehmen«, sagte Lilly, sich von dem halbgeöffneten Motor aufrichtend und ihre Pistole entsichernd. »Nun, was gibt es?«
»Kommt näher!«
»Nein, wir bleiben hier, können uns auf diese Entfernung ganz gut verständigen. Aber das lass dir gleich gesagt sein: bei der ersten verdächtigen Bewegung, die du machst, empfängst du von mir eine Kugel, und zwar diesmal durch den Kopf.«
»Weib, du wagst einem heiligen Imam so zu drohen?!«
»Wie du hörst!«
»Wir dürfen euch leider kein Haar auf dem Haupte krümmen.«
»Wenn man dieser Versicherung nur trauen dürfte.«
»Ihr dürft es, jener Araber vorhin hat uns furchtbar getäuscht, er wird, wenn er von seiner Wunde geheilt ist, unter schrecklichen Martern sterben.«
»Ich kann dem Manne nicht helfen. Und dann desto besser für uns, wenn es wirklich so ist,«
»Es ist nicht besser für euch.«
»Wieso denn nicht?«
»Ergebt euch gutwillig, fügt euch in das Schicksal, das der Scheich für euch bestimmen wird.«
»Was sprichst du da? Wir werden sogleich davonfliegen.«
»Ihr könnt es nicht.«
»Was können wir nicht?«
»Dieses heilige Dach anders lebendig verlassen, als indem ihr euch auf Gnade oder Ungnade in unsere Hände begebt. Oder ihr müsstet Selbstmord begehen, was ja aber dasselbe ist.«
»Ich verstehe dich nicht. Ich mache hier nur eine kleine Reparatur, dann gehen wir durch die Luft auf und davon.«
»Das könnt ihr nicht mehr.«
»Ja, warum denn nur nicht?«
»Der Scheich el Moslem hat über euch den großen Bannfluch gesprochen, ihr seid auf dieses Dach festgezaubert.«
Fragend blickte Lilly ihren in arabische Verhältnisse eingeweihteren Gefährten an.
»Was sagt der?«
»Der meint es so, wie er sagt. Die Mohammedaner sollen keine Zauberei treiben, der Prophet hat es ihnen strikte verboten, aber sie tun es doch, sogar ihre Priester. Das ist noch von der früheren Religion übernommen. Da gibt es einen Zauberspruch, der den, gegen den man ihn ausspricht, so uns so viele Klafter unter die Erde versinken lässt, und ein anderer wieder nagelt den Behexten an der Stelle fest, dass er sich davon nicht rühren kann, bis der Bannspruch wieder gelöst ist. Natürlich muss man solche Hexerei gelernt haben, das kann nicht jeder. Aber so ein Scheich wird es schon gelernt haben.«
»Und an solchen Humbug glauben die Leute?«
»Die glauben noch an etwas anderes.«
»Der Scheich macht sich das zunutze, weil wir sagten, wir hätten eine Reparatur vorzunehmen — oder vielmehr einen Defekt an der Maschine zu beseitigen.«
»Hm. Damals wussten wir das doch eigentlich noch gar nicht.«
Betroffen, bestürzt blickte Lilly ihren Gefährten an.
»Wie? Sie glauben doch nicht etwa...«
»O nein, dass dies wirklich eingetreten, das ist doch der reine Zufall.«
»Das denke ich auch. Wenn wir aber davonfliegen, so wird jener Hexenmeister ja Lügen gestraft.«
»O, der weiß sich dann schon wieder rauszureden, das muss alles genau so kommen, wie er will«, lachte Breithaupt.
»Gebt euren Widerstand auf, ihr seid durch den Scheich el Moslem, dessen Kunst nie versagt hat, hier festgezaubert«, erklang es wieder von der Galerie herab.
»Ach, lassen wir den Kerl doch schwatzen, wollen ihm gar keine Antwort mehr geben«, meinte Lilly, sich wieder ihrer Arbeit zuwendend.
Das Innere des Motors lag bloß.
»Hier ist ja schon die Ursache des Versagens, dieses Stiftchen ist gebrochen. Da haben wir gleich einen Ersatz. Aber gut, dass das nicht in den Lüften, wenigstens nicht über dem Meere, passiert ist. Es ist und bleibt doch eben Menschenwerk. So, das Stiftchen ist schon ersetzt. Nun werde ich auch gleich einmal alles schmieren.«
Sie tat es, nahm dabei eine faustgroße Stahlkugel — oder eben aus jenem Metalle — heraus, legte sie neben sich.
»Was für eine Kugel ist denn das?«, fragte Breithaupt. »So eine habe ich doch noch gar nicht in einem derart konstruierten Motor gesehen.«
»Ja, das ist eben meine eigene Erfindung, die Hauptsache von der ganzen Geschichte. Das ist der Ventilverschluss.«
Sie erläuterte den Zweck der Kugel näher, der Ingenieur staunte.
»Diese Kugel düfte freilich nicht verloren gehen, dann ist es aus. Aber sie ist ja unzerbrechlich, eben deshalb habe ich keinen Ersatz für sie.«
»Ihr seid dazu bestimmt, hier oben zu verhungern und zu verschmachten, wenn ihr es nicht vorzieht, euch vom heiligen Dache herabzustürzen!«, erklang es wiederum von dem Minarett herab.
»Ach, schwatze doch, was du willst!«, lachte Lilly. Hier, Doktor, halten Sie mal dieses Zäpfchen in die Höhe.«
Beide waren ganz in ihre Arbeit vertieft, als Alberich plötzlich einen Schrei ausstieß und davonsprang.
Verwundert blickten die beiden ihm nach, sie wussten erst gar nicht, weshalb der eigentlich davonrannte, dann aber schnellte auch die Artistin über das Bleidach dahin.
»Die Kugel, die Ventilkugel!!«,
Das Blechdach war doch etwas schräg, senkte sich etwas gegen die Ränder hin, und die achtlos beiseite gelegte, faustgroße Kugel war unbemerkt ins Rollen gekommen, dort rollte sie, schneller und schneller, war in dem Augenblick, das Breithaupt es gewahrte, nur noch wenige Meter von dem Dachrand entfernt.
Dann stieß auch Breithaupt einen Schreckensschrei aus, weniger wegen der Kugel, als wegen seiner Begleiterin.
Mit drei ungeheueren Sätzen hatte die Zirkuskünstlerin den Zwerg überholt — dann stand sie mit einem letzten Sprunge dicht an dem Rande, fünf Etagen hoch, auch noch mit vorgeneigtem Oberkörper hinabblickend.
Das war es, was dem jungen Doktor zunächst einen furchtbaren Schreck eingejagt hatte.
»Weg — die ist weg!!«, rief Lilly in heller Verzweiflung sich wieder zurückwendend.
»Ist sie denn nicht durch irgend etwas anderes zu ersetzen?«, fragte Breithaupt, erst nur froh, seine Begleiterin unversehrt zurückkehren zu sehen.
»Durch nichts — durch gar nichts.«
»Verlasst euch darauf, der Zauberspruch unseres Scheichs hat noch nie versagt«, erklang es wiederum mit hohler Stimme von dem Minarett herab, »lebendig könnt ihr dieses heilige Dach nur verlassen, wenn ihr euch auf Gnade oder Ungnade in unsere Hände gebt.«
»Der Mann hat Recht, jetzt sind wir geliefert, und ich möchte diesen Unglücksraben doch gleich...«
Sie hatte nur so eine Bewegung mit der Luftpistole gemacht, sie hätte aber auch ihren wirklichen Vorsatz nicht ausführen können — nach diesen letzten Worten war der Imam wieder im Innern des Minaretts verschwunden.
»Sollte sich denn die Ventilkugel nicht irgendwie ersetzen lassen?«, meinte Breithaupt. »Es lässt sich doch fast jede technische Frage lösen, man muss nur angestrengt darüber nachdenken.«
Ja, auch Lilly probierte es noch einmal mit dem Nachdenken. Eine Viertelstunde dachten sie angestrengt darüber nach, wie dieses Problem zu lösen sei, probierten hin und her, bis auch Breithaupt zugeben musste, dass die fehlende Ventilkugel durch nichts zu ersetzen sei.
»Ja, jetzt sind wir hier wirklich festgenagelt, werden verschmachten, wenn wir uns nicht lieber zum Dache herabstürzen, oder uns eine Unze Blein in den Kopf schießen«, seufzte Lilly.
»Nur Mut, so schlimm ist es noch nicht«, tröstete Breithaupt. »Wir müssen die Kugel wiederbekommen. Kann sie durch den Sturz auf die Steine beschädigt worden sein?«
»Nein, die ist hart wie Diamant, die verträgt noch einen ganz anderen Sturz.«
»Sie muss doch unten gefunden worden sein.«
»Was nützt uns das?«
»Wir müssen mit dem Imam in Unterhandlungen treten, eine List ersinnen.«
»Was für eine List?«
»Irgendeine. Da meldet sich der Imam schon wieder.«
»Unterhandeln Sie mit ihm, ich bin dazu jetzt nicht imstande, ich bin zu sehr niedergeschmettert, dass mir so etwas passiert ist.«
Der junge Priester war wieder auf die Galerie getreten.
»Habt ihr eure Wahl getroffen?«
»Was für eine Wahl?«
»Ob ihr lieber auf diesem glühenden Bleidache verschmachten oder euch ausliefern wollt?«
Es war noch früher Morgen, die Nacht wie gewöhnlich in Afrika sehr kalt gewesen, aber Breithaupt konnte sich schon vorstellen, wie das werden musste, wenn die Sonne höher stieg und auf dieses Bleidach nieder brannte — und fieberhaft arbeitete sein Gehirn jetzt schon, wie er wieder in den Besitz der Kugel gelangen könne.
Zunächst musste er den Priester hinhalten, um nur erst seine Gedanken zu ordnen.
»Du bist ein Imam?«
»Du sagst es.«
»Was ist unser Los, wenn wir uns ausliefern?«
»Der Tod.«
»Und da sprichst du von einer Wahl die wir hätten?«
»Gewiss. Hier müsst ihr eines qualvollen Verschmachtungstodes sterben. Durch einen gnädigen Richtspruch aber werdet ihr vielleicht nur gehangen.«
»Vielleicht nur?«
»Ja, nur vielleicht. Vielleicht auch werdet ihr unter Martern hingerichtet.«
»Und da sprichst du von einer Wahl, die wir hätten, kann ich da nur wiederholen.«
»Ich kann ebenfalls nur dasselbe wiederholen. Liefert ihr euch freiwillig aus, so ist eine kleine Aussicht für euch vorhanden, dass ihr eines ganz schnellen Todes sterbt.«
»Dann bliebe uns doch noch der Selbstmord, von dem du schon selbst gesprochen hast.«
»Ihr werdet wohl keinen Selbstmord begehen.«
»Weshalb denn nicht?«
»Ihr seid doch Christen?«
»Ja.«
»Wenn ein Christ Selbstmord begeht, so kommt er in die Hölle, muss ewige Feuerpein erdulden, und das werdet ihr doch nicht wollen.«
Das war eigentlich sehr naiv gedacht. Dieser Imam hatte eben von den Lehren des Christentums und von der jetzigen Christlichkeit nur etwas läuten hören.
Unterdessen hatte Breithaupt seinen Plan ersonnen.
»Du irrst, Imam. Wir denken nicht an Selbstmord, wir haben ihn nicht nötig, denn wir werden hier weder verschmachten noch uns ausliefern.«
»Es bleibt euch ja gar nichts anderes übrig.«
»Nein, wir fliegen einfach wieder davon.«
»Das könnt ihr nicht.«
»Weshalb denn nicht?«
»Ihr seid durch den Spruch des Scheichs hier festgezaubert.«
»Ah bah, du wirst gleich sehen, wie unser Drache wieder fliegen kann. Der Defekt ist bereits wieder beseitigt. Dann sied ihr uns also wieder los. Dass wir eure Moschee entheiligt haben, bedauern wir sehr, es geschah nicht mit unserer Absicht. Ehe wir davongehen, bitten wir nur um die Kugel, die uns vorhin entrollt ist.«
»Was für eine Kugel?«
Also der Imam wusste noch nichts von diesem Verluste. Oder er stellte sich unwissend.
»Eine Metallkugel, so groß wie eine Faust. Sie entrollte uns vorhin, fiel von dem Dache auf die Straße hinab.«
»Was für einen Zweck hat diese Kugel?«
Gerade das war es, worauf sich Breithaupt nun vorbereitet hatte, hierauf kam sehr viel, wenn nicht alles an.
»Wir bedürfen ihrer, um geografische Ortsbestimmungen zu machen. Weißt du, was das ist?«
»Ja, das weiß ich. Ihr Franken könnt immer berechnen, wo ihr euch befindet, wozu ihr durch eine blitzende Röhre nach der Sonne seht und dann in einem Buche rechnet.«
Der Imam mochte schon mit europäischen Forschungsreisenden in Berührung gekommen sein, es brauchte ja nicht gerade hier gewesen zu sein.
»So ist es«, bestätigte Breithaupt, »und zu dieser Messung brauchen wir auch die Kugel.«
Breithaupt hatte sich das reiflich überlegt. Eine große Wichtigkeit musste er der abhandengekommenen Kugel doch zuschreiben, anders ging es nicht. Von einer Spielerei oder einem teuren Andenken und dergleichen zu sprechen, hätte nicht genügt, damit wäre die lange Verzögerung der Abreise doch nicht ausreichend begründet gewesen.
»Ihr könnt ohne diese Kugel nicht fort, der Drache kann ohne sie nicht fliegen?«, ahnte der Priester allerdings gleich das Richtige.
»O nein, das ist es nicht. Mit dem Flugdrachen hat diese Kugel gar nichts zu tun. Wir brauchen sie eben nur, um geografische Berechnungen zu machen, die aber auch nicht unbedingt notwendig sind.«
»Ihr braucht diese Kugel überhaupt nicht mehr.«
»Weshalb denn nicht?«
»Ihr braucht nicht mehr zu wissen, wo ihr seid. Jetzt befindet ihr euch auf diesem Dache, das genügt, denn von hier kommt ihr ja doch nicht wieder fort.«
Freilich, in diesem Sinne musste der Imam das letzte Wort behalten, sein Aberglaube war zufällig in Erfüllung gegangen.
»Du irrst, Imam«, versuchte es Breithaupt doch noch, jenen schwankend zu machen, »wir werden uns sofort erheben.«
»So tut es doch.«
»Wir möchten nur noch unsere Kugel wieder haben.«
»Die könnt ihr dann wiederbekommen. Erhebt euch nur einmal, fliegt um diesen Turm herum, nur einige Schritt weit, dann sollt ihr eure Kugel wiederhaben. Aber ihr könnt es nicht. Oder so tut es doch.«
Die Sache wurde für unsere Freunde immer verzwickter. Wusste der Imam doch vielleicht, dass durch den Verlust der Kugel der Motor, der ganze Aeroplan total flugunfähig geworden war, hatte ein anderer es ihm gesagt, der mit Aeroplanen mehr Bescheid wusste?
Nein, diese Ventilkugel gehörte zur ureigenen Motorkonstruktion der Aviatikerin, niemand konnte ihren Zweck nur ahnen. Es war eben ein unglückseliger Zufall, dass der Aberglaube dieser Mohammedaner so realisiert wurde, etwas Tatsächliches bekam, was man durch nichts hinwegleugnen konnte.
»So erhebt euch doch, dann sollt ihr auch eure Kugel wiederbekommen«, fing der jetzt auch noch in seinem mangelhaften Englisch an zu spotten.
Was sollte Breithaupt tun? Es gab nur eins. Jetzt musste er einen festen Charakter zeigen, um jenen doch noch vielleicht zur Nachgiebigkeit zu bewegen.
»Nein, wir gehen nicht davon, solange wir die Kugel nicht haben.«
»Weil ihr einfach nicht könnt.«
»Du denkst wohl, die Kugel hat etwas mit dem Fliegen zu tun?«
»Das denke ich gar nicht, das ist mir auch ganz gleichgültig. Ihr kommt nicht von hier fort, der Zauberspruch hält euch hier fest.«
»Nein, wir fliegen davon, sobald es uns passt.«
»Dann geht doch gleich jetzt!«
»Nein, wir wollen erst die Kugel wiederhaben. Dann werde ich dir beweisen, dass der Zauberspruch des Scheichs uns nicht bannen kann.«
Der Imam trat zurück, verschwand in der Tür, kam aber sofort wieder heraus.
In seiner Hand hielt er etwas Blitzendes.
»Ist es diese Kugel hier?«
O, wie die beiden aufatmeten! Allerdings noch nicht erleichtert. Jetzt kam alles darauf an.
»Ja, das ist sie. Wirf sie uns zu.«
»Kommt her, holt sie euch!«
»Wirf sie uns doch zu!«
»Auf das geheiligte Dach darf nichts geworfen werden.«
»Wir werden sie auffangen.«
»Ihr könntet fehlgreifen.«
»O nein, wirf sie nur!«
Breithaupt war etwas näher gegangen, Lilly folgte ihm schnell nach, holte ihn ein.
»Vorsicht, da steckt eine teuflische List dahinter!«, flüsterte sie.
»Ich bin auf der Hut«, gab Breithaupt ebenso leise zurück, »aber... könnten wir nicht...«
»In den Turm eindringen...«
»Dem Imam gefangen nehmen.«
»Ihm wenigstens die Kugel entreißen.«
»Vorwärts!«
Mit wenigen Schritten waren diese Worte hastig gewechselt worden, und sie hatten zum Einverständnis genügt.
Aber sollte der Imam nicht so etwas ahnen, sollte er so sorglos gewesen sein, die Tür offen zu lassen? Es war vorhin allerdings gar nicht bemerkt worden, wie man diese schließen konnte. Doch sollte er die beiden dann so nahe herankommen lassen, ohne sich schnell vom Turme zurückzuziehen?
Doch jetzt war keine Zeit zu solchen Erwägungen, es musste gehandelt, das äußerste versucht werden.
So hatten die beiden sich dem Turme bis auf wenige Schritte genähert — da sprang die Artistin mit einem gewaltigen Satze gegen die Tür... sie gab nicht nach, konnte also dennoch geschlossen wedern, oder sie war eben sonst verrammelt worden.
Gleichzeitig aber bemerkte Lilly, dass hinter ihr etwas Besonderes vor sich ging, ihr Gefährte hatte einen Schrei ausgestoßen, und als sie sich umwandte, sah sie Breithaupt sich gegen die Umschlingung eines Seiles wehren, das ihm von oben herab kunstvoll um den Oberkörper geworfen worden war, ihm beide Arme fest an den Leib schnürend, schon wurde er nach oben gezogen — und im nächsten Augenblick fühlte auch Lilly, wie sich ein Seil um ihren Oberkörper legte.
Doch diese Artistin war nicht so leicht zu überraschen, mit einem Griffe hatte sie einen Dolch aus der Tasche gerissen, in die die Scheide wohl gleich eingenäht war, hatte im Nu das Seil über ihrem Kopfe zerschnitten.
Breithaupt schwebte schon mit den Füßen einige Meter hoch über dem Boden, sich vergebens zu wehren suchend, wurde immer höher gezogen — da sprang Lilly einige Schritte zurück, hatte ihre Luftpistole in der Hand, ein leises Zischen, und die Kugel hatte auch das andere Seil glatt durchschnitten, Breithaupt plumpste wieder herab, gerade auf seine Füße zu stehen kommend, und auch sonst hatte er den doch ziemlich hohen Sprung ausgehalten.
»Zurück, zurück!!«, schrie Lilly.
Breithaupt ließ sich das nicht zweimal sagen, war schon in voller Flucht, und Lilly war nur zurückgesprungen, um die Galerie besser übersehen zu können, mit der Pistole in der Hand.
Der Imam hatte Genossen bekommen, Lilly sah drei Männer auf der Galerie, kam aber nicht mehr dazu, die Pistole abzudrücken, denn in demselben Augenblick, da sie dies unterscheiden konnte, waren die drei auch schon im Innern des Turmes verschwunden.
Deshalb aber war der Feldzug, zu dem gar kein besonderer Plan verabredet worden, noch nicht beendet.
»Nach der Tür, wir müssen dennoch hindurch!«, schrie Lilly.
Breithaupt sah das Richtige dieses Planes ein, hatte wohl dasselbe vorgehabt, beide rannten gleichzeitig Seite an Seite gegen die kleine Tür vor, warfen sich gleichzeitig mit Wucht dagegen, und — da wurde die hölzerne Tür nach innen aus den Angeln gerissen, beide stürzten in das Innere des Turmes.
Es zeigte sich, dass die Priester einfach eine eiserne Stange, welche gerade die Länge des inneren Turmdurchmessers hatte, davorgestemmt hatten, diese Befestigung hielten sie für sicher genug, sie wäre es auch gewesen, wenn die beiden durch die Wucht des Anpralls eben nicht gleich die ganze Tür eingedrückt hätten.
Doch mit dieser Beobachtung hielten sich die beiden jetzt natürlich nicht auf, sie sahen nur die drei Araber, welche dort oben auf der Treppe standen.
Keiner brauchte dem anderen noch zu sagen, um was es sich handelte.
»Kein Blut schonen!«, schrie Lilly nur noch, als sie schon die Treppe hinaufflog.
So fünf oder sechs Stufen gleichzeitig nehmen, das konnte Breithaupt nicht, im Hinaufstürmen sah er seine Begleiterin schon oben, sah den einen Priester schon am Boden liegen, den zweiten erwischte Lilly gerade noch am Fuße, als er durch die obere Tür zur Galerie hinausretirieren wollte, sie riss ihn zurück, hatte ihn durch einen geschickten Griff gleich vorn an der Brust gepackt und schmetterte ihn mit dem Hinterkopfe gegen die Wand, dass auch dieser zweite Mann bewusstlos, wenn nicht schon tot, zusammenbrach, aber der dritte, der junge Imam, war durch die Tür entkommen, was freilich nicht viel zu sagen hatte, denn auch diese Tür konnte nicht geschlossen werden, so befand sich der Flüchtling einfach auf der Galerie, Lilly ihm nach, dann auch Breithaupt, nach der anderen Seite herumlaufend — und richtig eilte ihm der Fliehende entgegen.
»Die Kugel, die Kugel!!«
Ja, er hatte sie noch immer in der Hand.
Aber es wäre vielleicht besser gewesen, wenn sie das nicht gerufen hätten, vielleicht merkte er erst jetzt, wie wichtig diese Kugel für sie war.
Kurz, in demselben Moment, da er von vorn gepackt wurde, hob der Imam mit schneller Bewegung den Arm, und zum zweiten Male sauste die blitzende Metallkugel durch die Luft, um abermals in der Tiefe zu verschwinden.
»Verflucht, nun sind wir gerade so weit wie vorhin!«
Nein, etwas weiter waren sie doch gekommen. Jetzt waren sie auch Herren des Turmes, brauchten von dessen Galerie oder durch dessen auf das Dach mündende Tür keinen hinterlistigen Angriff mehr zu fürchten, und außerdem hatten sie jetzt drei Geiseln in den Händen.
Nachdem der Imam schnell gebunden worden war, besichtigte man die beiden anderen. Den ersten von ihnen hatte, was Breithaupt gar nicht gesehen, so schnell war alles gegangen, Lillys kräftige Faust durch einen Schlag auf den Hinterkopf betäubt, er war sowenig wie der zweite schon wieder zur Besinnung gekommen.
»Alle Wetter, besitzen Sie eine schlagfertige Faust!«, musste Breithaupt erst einmal seinem Staunen Luft machen, mit scheuem Respekt seiner Gefährtin Hand betrachtend, die, wenn die Muskeln nicht gespannt wurden, bei ihrer Kleinheit einen zierlichen Eindruck machte.
Doch sonst war jetzt keine Zeit zum Staunen. Auch diese beiden wurden gebunden; als Lillys eigene Lederriemen nicht reichten, lieferte das zerschnittene Seil, das sie bei sich gehabt, die nötigen Stricke. Eine Untersuchung ergab, dass keiner von den dreien irgendwelche Waffe bei sich hatte, auch nicht das kleinste Messerchen. Die Moschee darf mit keiner Waffe betreten werden, dieser Fall hatte keine Ausnahme gerechtfertigt, das als Lasso dienende Seil war nicht als Waffe betrachtet worden.
Während des Bindens noch kamen die beiden Bewusstlosen wieder zu sich. Es waren ihrem Abzeichen nach Unterpriester, sie verhielten sich genau so wie ihr weit jüngerer Vorgesetzter, der die Prozedur des Bindens bei vollem Bewusstsein über sich hatte ergehen lassen müssen. Als sie ihre Lage erkannten, zeigte ihr Auge einen Moment einen furchtbar erschrockenen Ausdruck, dann wurde es sofort wieder ganz normal, sie ergaben sich mit mohammedanischem Fatalismus in ihr unvermeidliches Schicksal, das Allah ihnen bestimmt, verweigerten freilich auch auf irgendwelche Frage jegliche Antwort, stellten sich einfach taub und stumm.
»Jetzt sind wir dennoch gerade so weit wie zuvor«, musste Breithaupt wiederholen, als er dieses Verhalten bei allen dreien konstatiert hatte. Denn er hätte ebenso gut zu leblosen Puppen sprechen können.
»Sind sie denn nicht als Geiseln zu gebrauchen, dass wir durch ihre Freigabe unsere Kugel wiedererlangen?«, fragte Lilly.
»Nein, ich glaube nicht. Dazu kenne ich diese Mohammedaner zu gut. Wenn die dort unten jetzt erfahren haben, was für eine Bedeutung jene Kugel für uns hat, so opfern sie lieber ihre Priester, so wie diese sich selbst mit Vergnügen opfern werden, nur um uns zu vernichten. Das ist mohammedanischer Fatalismus und mehr noch orientalischer Fanatismus, dagegen ist nichts zu machen. Das Leben spielt bei diesen Mohammedanern ja gar keine Rolle, hat gar keinen Wert. Sterben sie für eine gute Sache der Religion, so kommen sie ja sofort ins Paradies, was doch ihr ganzer Lebenszweck ist. Nein, einen Vorteil haben, wir nur dadurch bekommen, dass man uns jetzt nicht mehr von diesem Turme aus belästigen kann, obgleich diese Belästigung ja schon immer recht harmloser Natur war.«
»Dann könnten wir diese drei doch gleich wieder freigeben.«
»Eigentlich ja. Zweck hat es nicht, sie hier zu behalten.«
»So lassen wir sie doch laufen. Zeigen wir uns edelmütig, vielleicht macht das Eindruck auf sie.«
»O nein, wohin denken Sie bei diesen Mohammedanern!«, lachte Breithaupt. »Nein, da wollen wir sie lieber behalten. Und vielleicht gelingt es uns ja doch, sie gegen die Kugel auszutauschen. Was lacht der Kerl?«
Der junge Imam hatte zum ersten Male den Mund geöffnet — nur, um ein kurzes Lachen auszustoßen.
Was hast du zu lachen?«
»Dass ihr so leichtgläubig wie die Kinder seid«, wurde der Imam jetzt sogar gesprächig.
»Wieso leichtgläubig?«
»Dass ihr glauben könnt, wir würden euch die Kugel zurückgeben.«
»Was weißt du von dieser Kugel?«
»Wir wissen recht gut, dass es eben diese fehlende Kugel ist, weswegen ihr nicht mehr von hier fortkönnt. Und eben der Zauberspruch des Scheichs war es, der euch diese Kugel entführte.«
Das hatte man sich ja wohl nur so zusammengereimt, aber es war schlimm genug, dass dies überhaupt geschehen war. Nun konnten sich die Luftschiffer gleich als geliefert betrachten.
»Veranlasse, dass wir die Kugel zurückbekommen, und ihr sollt frei sein«, versuchte Breithaupt es doch noch einmal.
Nur ein verächtliches Lachen war die Antwort.
»Du willst es nicht veranlassen?«
»Nein.«
»Weshalb nicht?«
»Weil ihr des Todes sein sollt.«
»Ja, wir werden über kurz oder lang hier verschmachten, aber noch eher gilt das für dich und deine Genossen, denn wir werden natürlich keinen Tropfen Wasser mit euch teilen.«
»Wir sind bereit zu sterben«, sagte der Imam noch einmal und schloss die Lippen, um sie nicht wieder zu öffnen. Die beiden anderen waren überhaupt gar nicht zum Sprechen zu bringen.
Unsere Freunde untersuchten noch einmal die Falltür. Dass der Riegel von hier oben vorgeschoben, davon hatten sie sich gleich von allem Anfange an überzeugt. Die Vorschrift, dass dieser Raum, schon zu der Dachregion gehörend, in der Allah residiert, immer abgeschlossen sein muss, war so streng, dass auch die drei Priester, obgleich sie sich mehr auf dem Kriegspfade als im Kirchendienste befanden, dies nicht vergessen hatten.
Ohne weitere Vorsicht zu beobachten, wurde der schwere eiserne Riegel zurückgeschoben und die nicht allzuschwere Falltür gehoben. Etwaigen unten auf der Treppe lauernden Feinden war man ja bedeutend überlegen.
Aber nichts war zu sehen, als die aus dem steinharten Ton geformten Stufen. Dann war die Hauptsache, dass sich auf der unteren Seite der hölzernen, mit Eisenbändern beschlagenen Klappe kein Riegel und kein anderes Verschlussmittel befand.
Oder die Hauptsache war das doch nicht.
Plötzlich stieß Lilly einen jauchzenden Ruf aus.
»Gerettet!!«
»Was?!«
Lilly legte ihre Hand auf einen der dicken Balken, durch welche die aus mehreren starken Brettern bestehende Falltür unten zusammengehalten oder doch beschwert wurde.
»Ich sagte Ihnen doch schon, dass ich keine Möglichkeit hätte, die Metallkugel zu ersetzen. Auf weitere Auseinandersetzungen ließ ich mich nicht ein, ich, die ich die ganze Flugmaschine von Grund auf mit eigener Hand gebaut habe, muss das doch am besten wissen, in vielem würden Sie mich gar nicht verstehen. Es sind einige Bestandteile vorhanden, die wir entbehren könnten, sowohl aus Radiumaluminium wie aus gewöhnlichem Eisen oder Stahl, eine Knallgasflamme vermag viel, aber solch eine Kugel zusammenzuschmelzen, das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Dann käme bloß noch Blei in Betracht, das wir ja nur aus dem Dache herauszuschneiden brauchten. Aber eine Bleikugel wäre viel, viel zu schwer...«
»Dann machen wir eine aus Holz!!«, rief Breithaupt.
»Das ist es! Ich bin nur noch gar nicht auf diesen Gedanken gekommen, weil es hier so gar nichts von Holz zu sehen gibt. Wir müssen uns solch eine Kugel aus diesem Holze mit dem Messer zurechtschneiden. Die Dimensionen der Kugel kenne ich ganz genau, das kann ja auch nach der Ventilöffnung angepasst werden — wichtiger ist, dass ich auch ganz genau ihr Gewicht kenne, denn das ist nötig, sonst werden mindestens im Funktionieren ständig Stockungen eintreten. Aber meine Federwaage registriert bis zum halben Gramm, und etwas schwerer als Holz ist dieses Aluminium doch und was nun bei der Holzkugel am genauen Gewichte fehlt, das ergänzen wir durch etwas Blei, das in Höhlungen eingeschmolzen wird. Gelobt sei Gott, wir sind gerettet!«
Sie machten sich sofort an die Arbeit. Freilich würde es eine höchst langwierige werden, des waren sie sich von vornherein bewusst.
Zum Inhalt des Utensilienkastens gehörte auch eine kleine Säge. Mit dieser sägten sie nach Lillys Maßangabe von dem einen Balken einen quadratischen Block ab und begannen dann abwechselnd diesen mit dem Messer zu bearbeiten. Die Abwechslung mindestens aller Viertelstunden war sehr nötig, denn es war ein äußerst hartes Holz — zwar recht gut für den beabsichtigten Zweck, aber mühsam für den Arbeiter.
Nach der ersten halben Stunde schlug Breithaupt vor, durch die Stichflamme das äußere Holz zu verkohlen. Dazu aber musste Wasser verbraucht werden. Und es waren nur noch fünf Liter vorhanden.
Nein, sie litten lieber Durst, als dass sie einen Tropfen anders verbrauchten als zur Abfahrt von hier.
Wir wollen es kürzer machen. Vier Stunden später verzweifelte Breithaupt daran, lebendig von hier fortzukommen.
Mit furchtbarer Glut brannte die afrikanische Mittagssonne auf das Bleidach herab, man wunderte sich nur, dass es nicht schmolz, und begab man sich in den Turm, so kam man von einer glühenden Ofenplatte in einen geschlossenen, wohlgeheizten Backofen hinein, in dem es erst recht nicht auszuhalten war.
Und die Arbeit wollte nicht fortschreiten! Ja, eine Kugel war es schon, sie hatte bereits genau den vorschriftsmäßigen Durchmesser — bis auf die zahllosen Ecken und Kanten, die alle mit dem Messer weggeschnipselt werden mussten.
Schon längst nahm Breithaupt das Messer nicht mehr in die Hand, ließ Lilly allein schnitzen. Er selbst sah nur noch zu, und zwar staunend.
Denn was für eine Arbeit hier vorlag, das begreift wohl ein jeder. Es musste eine vollkommen geometrische oder vielmehr stereometrische Kugel werden, nicht die geringste Abweichung von der Kugelform durfte vorhanden sein. Und dies nun aus freier Hand mit dem Messer zu schnitzen! Ja, Breithaupt konnte nur staunen. Was für eine Handfertigkeit, und was für ein Augenmaß dieses Weib besaß! Freilich, wie oft sie auch, als der Block die Kugelgestalt anzunehmen begann, den Taster, eine Art von Zirkel, handhabte!
Ohne Beispiel stand dieses Verfertigen einer kleinen Kegelkugel, an deren Vollkommenheit auch nicht das Geringste auszusetzen sein durfte, ja nicht da. Es hat Zeiten gegeben, wo der Handwerker noch keine Drehbank besaß, und er fertigte dennoch tadellose Kugeln, aus Holz, Metall und Stein. Wilde Völker tun es noch heute, machen Kugeln zum Schmuck oder sonst zu einem Zweck. Steinkugeln für Ornamente werden ja auch heute noch nicht anders gefertigt, nur der Taster gibt das Maß — und das Auge des Handwerkers, des Künstlers, des Genies.
Und ein Genie war diese Artistin in derartiger Holzschneiderei. Aber freilich: wie lange dauerte das! Und sie musste ja auch auf das bedächtigste schneiden und schnitzen und schnipseln, denn nur ein ganz, ganz klein wenig zu viel abgeschnitten, sodass der Taster nur ein klein wenig zu lose darüber hinwegging, und die ganze Kugel, die ein Ventil absolut luftdicht abzuschließen hatte, wie der eingeschliffene Kegel eines Hahnes, wäre verpfuscht gewesen, die ganze Arbeit musste an einem anderen Holzblocke von neuem begonnen werden. Deshalb schaute Breithaupt den geschickten Händchen nicht nur mit Staunen, sondern auch mit den größten Sorgen zu, schon mehr mit Todesangst.
Und mit Todesgedanken konnte man sich schon jatzt trotz der sichersten Hoffnung abgeben. Breithaupt wenigstens wurde schon längst von einem furchtbaren Durste geplagt, und er wagte doch nichts zu sagen, von den noch vorhandenen fünf Litern Wasser hing im Grunde ihre Rettung ab, und dann vor allen Dingen verloren die beiden anderen kein Wort über ein Durstgefühl. Ob ihnen aber Gaumen und Lippen weniger brannten? Ob nicht jeder darauf wartete, dass ein anderer endlich den Anfang mache, von seinem Durste spreche?
»Fertig«, sagte da Lilly, welche zuletzt nicht mehr den Taster gehandhabt, sondern die Kugel immer direkt an der Ventilöffnung hin und her probiert hatte, dazwischen immer schnipselnd, »die Kugel ist mathematisch zadellos, ich garantiere schon jetzt für vollständigen Luftabschluss.«
Unterdessen waren fast sechs Stunden vergangen, seitdem man mit dem Heraussägen des Holzblockes begonnen hatte!
»So können wir sofort abfahren?!«, fragte Breithaupt mit heiserer Stimme, aus welcher der jauchzende Ton nicht mehr herauszuhören war.
»O nein, so fix geht das nun freilich nicht. Jetzt muss erst das ganz genaue Gewicht der Kugel hergestellt werden, ich muss sie durchbohren und mit Blei nachhelfen, genau in der Mitte, die Öffnungen dann wieder verschließen.«
»Und wie lange dauert das?«
»Darüber dürften auch noch einige Stunden vergehen.«
Ganz kaltblütig hatte es das Mädchen gesagt, der Vertreter des stärkeren Geschlechtes aber musste all seine Kraft zusammennehmen, um nicht vor Schreck in die Knie zu sinken.
»Na«, setzte Lilly tröstend hinzu, wahrscheinlich auch zum eigenen Troste, »so absolut genau kommt es ja auch nicht drauf an, bei ein oder zwei Gramm mehr oder weniger will ich gern ein Auge zudrücken, aber dieses Holz wird doch viel leichter sein als jenes Metall, so leicht es auch sonst sein mag, dass es sogar auf Wasser schwimmt, aber mehr als zwei Gramm darf der Unterschied auf keinen Fall betragen.«
Es war ein schlechter Trost gewesen, den Lilly da gegeben.
»Noch einige Stunden!«, ließ sich Breithaupt mit röchelnder Stimme vernehmen.
Lilly, die ganz in ihrer Arbeit vertieft gewesen, hob den Kopf, blickte den Gefährten aufmerksam an.
»Was ist Ihnen?«
»Was soll mir sein?«
»Haben Sie sich erkältet, dass Sie heiser geworden sind? Oder Sie haben doch nicht etwa...«
Sie brach ab, öffnete den Wasserbehälter, schöpfte den großen Becher voll, der mindestens einen Liter hielt, reichte ihn dem Gefährten hin.
»Sie haben offenbar großen Durst. Aber warum trinken Sie denn nicht?«
»Es sind nur noch fünf Liter vorhanden...«
»Ach, ein Liter reicht ja vollkommen, um die zehn Meilen zu durchfliegen, die uns noch vom Niger trennen, das sind nur fünfundsiebzig Kilometer, und ich kann mit dem Liter sogar hundert machen. Trinken Sie, trinken Sie, wir können noch fliegen.«
Breithaupt ließ sich nicht zum zweiten Male auffordern, er leerte den großen Becher in einem Zuge, obgleich er es nicht gewollt. Aber da er ihn einmal angesetzt, floß das Wasser in seine ausgedörrte Kehle wie Öl hinab — nein, eben wie Wasser in die Kehle eines vom größten Durste geplagten Menschen. Von Verschmachtungsqualen freilich war noch lange nicht die Rede.
»Danke«, sagte er mit triefenden Lippen, als er den Becher zurückgab. »Das ist der köstlichste Trank meines Lebens gewesen.«
»Haben sie das nicht schon öfter gesagt?«, lachte Lilly.
»Freilich«, konnte auch Breithaupt wieder aus frischer Kehle lachen, »und das ist ja eben das Schöne dabei, dass man solch einen Trunk immer wieder als das Köstlichste empfindet. Nun und Sie? Haben Sie denn gar keinen Durst?«
»O gewiss, ganz tüchtigen, aber Sie wissen doch, dass wir Frauen in gewisser Hinsicht weit mehr leisten können als das stärkere Geschlecht, nämlich was das Leiden und Dulden anbetrifft, da sind wir doch viel widerstandsfähiger. Oder ist es nicht so?«
Sie hatte den Literbecher noch einmal gefüllt, reichte ihn, immer wieder erst an andere denkend, dem Zwerge hin. Der aber griff nicht nach dem Labetrank, schüttelte den Kopf.
»Was, Sie wollen nicht?«
»Nicht eher, als bis wir weiterfliegen können«, entgegnete Alberich, und dabei beharrte er trotz allen Zuredens, wandte sich ab und wollte nichts mehr hören.
»Trotzkopf!«, sagte Lilly, weiter nichts, und goss das Wasser in den Tank zurück.
»Und Sie?!«, wiederholte Breithaupt mit großen Augen.
»Warten Sie nur. Ich muss immer meinen eigenen Becher schöpfen.«
Sie schöpfte denn auch noch einmal, dabei ihre Stellung verändernd, sodass sie zwischen Breithaupt und den Tank zu stehen kam, in den sie sich tief hinabbeugen musste, dann richtete sie sich auf, trank, trank in langen, langen Zügen, und dann, als sie sich umwandte, tiefaufatmend, hatte sie nasse Lippen — aber vergebens, die List war ihr nicht geglückt, Breithaupt hatte es dennoch beobachtet, oder wusste es doch ganz bestimmt: sie hatte nur ein klein wenig Wasser in den Becher geschöpft gehabt, nur um ihre Lippen zu netzen, nichts weiter.
Weshalb hatte sie diese Täuschung versucht? Und weshalb hatte Alberich, der doch sicher ebenfalls sehr durstig war, den Trunk verschmäht? Breithaupt brauchte nicht erst zu fragen, wagte es gar nicht. Die beiden wollten eben so lange mit jedem Tropfen Wasser geizen, bis der Aeroplan tatsächlich wieder flugfähig war, bis dahin erlitten sie lieber Durstqualen bis an die Grenzen der Möglichkeit.
Der junge Ingenieur ward vom tiefsten Schamgefühl erfüllt. Er hätte sonst etwas darum gegeben, um seinen Trunk wieder rückgängig zu machen. Es war nicht möglich, und so war es gut, dass er darüber nichts weiter sagte.
Wieder schlichen zwei endlos lange Stunden dahin. Lilly bohrte an der Kugel, schmolz Blei, das sie aus den Dachplatten schnitt, und maß mit der Federwaage.
Breithaupt lag meistens am Rande des Daches, in die Straßen hinabspähend. Das Treiben dort unten hatte sich geändert, von einer Aufregung war nichts mehr zu bemerken. Die Einwohner Timbuktus schienen ihrer Beschäftigung nachzugehen, so weit von einer solchen zur heißen Nachmittagsstunde überhaupt die Rede war.
»Fertig«, ließ sich Lilly zum zweiten Male vernehmen, und jetzt klang auch ihre Stimme heiser.
Das Gehäuse der Maschinerie wurde geschlossen, die drei nahmen ihre Plätze ein.
Da kam, noch ehe Lilly nur versuchsweise den Motor in Gang setzte, ein Paket geflogen, fiel mitten auf das Dach neben dem Aeroplan nieder.
Wie und woher es geworfen, das war nicht beobachtet worden. Es war ein kleines Leinenbündel, mit Bastfäden umschnürt.
»Da steckt eine Teufelei dahinter, wahrscheinlich eine Bombe!«, rief Lilly und ließ den Motor schnurren.
Die neue Ventilkugel aus Holz funktionierte tadellos, gehorsam erhob sich die ›Libelle‹, schraubte sich in die Höhe.
»Nein, ich garantiere noch immer, dass diese Mohammedaner nicht daran denken, uns auch nur ein Haar zu krümmen«, entgegnete Breithaupt schnell auf Lillys Äußerung. »Sehen wir doch nach, was sie uns da zugeworfen haben.«
Lilly war sofort einverstanden, ließ sich wieder herab.
Ohne weitere Vorsicht öffnete Breithaupt das Bündel.
Und was enthielt es?
Nichts anderes als die abhanden gekommene Ventilkugel aus Radiumstahl.
Weshalb hatte man sie ihnen freiwillig wieder zugestellt? Hatte man dort unten erkannt, dass sich diese Frevler auch ohne die Kugel fortzuhelfen wüssten? Schwerlich. Wahrscheinlicher war das Gegenteil, nämlich dass die Priester beweisen wollten, wie diese Gottesfrevler auch mit der Hilfe dieser Kugel nicht davon könnten, kraft des Zauberspruches des Scheichs el Moslem.
Gleichgültig, das Weshalb, die fehlende Kugel war wieder da, man hatte sechs Stunden lang ganz umsonst gearbeitet und gedurstet.
Doch das hatte nichts zu sagen. Etwas ›Zweckloses‹ gibt es ja überhaupt nicht.
Die menschliche Energie hatte wieder einmal einen herrlichen Sieg über die tückischen Mächte davongetragen!
Eine Stunde später landete die ›Libelle‹ in der Steppengegend am Niger, an einer steilen, aber nicht allzu hohen Uferstelle, wo der Schlauch noch das Wasser erreichte.
»Wohin nun?«, fragte Breithaupt, als die beiden Wassertanks vollgepumpt waren, was nur wenige Minuten in Anspruch nahm.
»Nach Utopia«, lautete Lillys Antwort nach wie vor, und Breithaupt hatte ja auch keine andere erwartet.
»Ich wollte fragen: Was nun? Unser Proviant geht bedenklich zu Ende, und ich muss gestehen, dass ich schon seit langer Zeit starken Appetit nach einem frischen Braten habe. Sahen Sie vorhin die Herde Antilopen zur Tränke gehen? Gar nicht weit von hier, nur jenes Gebüsch trennt uns von ihnen.«
Ja, Lilly hatte sie gesehen. Sie hatten während der Stunde Fluges schon manches Wild unter sich auf dem Steppenlande beobachtet, aber zuerst hatte die Wasserfrage gelöst werden müssen, und zuletzt hatte es sich darum gehandelt, eine günstige Stelle zur Wassereinnahme am Stromufer zu finden.
Die ›Libelle‹ erhob sich wieder, noch aus großer Höhe erlegte die ehemalige Kunstschützin mit der Luftbüchse einen stattlichen Springbock.
Neben dem verendeten Wilde wurde wieder gelandet, es war eine unübersehbare Gegend mit nur niedrigem Buschholze, ein Mensch war weit und breit nicht zu erblicken gewesen. Doch diese Reisenden, die auf dem Rücken eines ungeheueren Vogels oder gar Drachens angeflogen kamen, hatten wohl schwerlich einen Feind zu fürchte, am wenigsten Eingeborene. Es zeigte sich, dass nur der im Leben der Wildnis schon bewanderte Vermessungsingenieur die Kunst verstand, ein Tier regelrecht abzuhäuten und zu zerwirken, denn auch das will gelernt sein, oder es wird eine gar unappetitliche Geschichte. Die Artistin gestand, bisher noch nicht einmal ein Huhn gerupft, noch viel weniger einen Hasen abgezogen zu haben, und ebenso unerfahren in dieser Arbeit erwies sich dann der Zwerg, der auf jenem einsamen Berge sich wohl nur von Vogeleiern genährt hatte.
Doch so weit, bis zum Abhäuten, war es noch gar nicht gekommen, es war nur darüber gesprochen worden, wer dieses Geschäft verstände.
»Halt, noch nicht!«, sagte Lilly, als Breithaupt das Messer ansetzte, um den ersten Schnitt in der Bauchgegend zu tun. »Wir wollen das Fleisch konservieren, solange noch die Haut darum ist, da macht es sich leichter. Lassen Sie das Tier nur erst tüchtig ausbluten, wozu Sie es wohl an den Hinterfüßen heben müssen, nachdem Sie die Kehle aufgeschnitten haben. Alberich mag Ihnen dabei helfen.«
»Konservieren?«, wiederholte Breithaupt, während Lilly nach dem Aeroplan ging, wo sie in dem Utensilienkasten kramte.
»Nun, wollen Sie sich mit einem einzigen Braten begnügen? Oder wollen wir nicht lieber gleich das ganze Fleisch mitnehmen, schon gebraten, aber so konserviert, dass wir es immer nur wieder anzuwärmen brauchen, wozu wir ja selbst in den höchsten Regionen immer die Möglichkeit haben.«
»Konservieren?«
»Nun, haben Sie denn nicht von der Räucherkammer in jenem Panzerautomobil gehört?«
Ja, von dieser hatte Breithaupt seinerzeit nicht nur gehört, sondern er hatte sie selbst besichtigt, freilich ohne der Erfindung des genialen Maximus Morris, wie man frisches Fleisch in aller Schnelligkeit wie für die Ewigkeit konservieren kann, und zwar ohne dass es das frische Aussehen und den frischen Geschmack verliert, auf die Spur zu kommen.
»Haben Sie denn solch eine elektrisch betriebene Räucherkammer mit?«
»Nein, das freilich nicht«, lachte Lilly. »Unterdessen aber haben Morris' Nachfolger diese Erfindung verbessert, oder verändert, aus dem Räuchern ist ein Pökeln geworden, oder vielmehr beides miteinander verbunden worden, die Hauptsache dabei ist, dass man keine umfangreiche Räucherkammer mehr dazu nötig hat, und was man dazu braucht, das führe ich allerdings bei mir.«
Sie war mit einer kleinen Spritze zurückgekehrt, die Breithaupt bisher für eine Luftpumpe gehalten hatte, füllte eine Schale mit Wasser, löste darin eine Handvoll eines gelblichen Salzes auf, füllte die Spritze, führte das Mundstück in die geöffnete Halsschlagader der Antilope ein, nachdem man diese sich möglichst hatte ausbluten lassen, stieß kraftvoll den Kolben der Pumpe zurück.
Hierin zeigte sie große Übung, das musste sie schon mehrmals getan haben.
»So, dies war der erste Teil der Präservierung.«
»Die Salzlösung verteilt sich bis in die feinsten Äderchen des Fleisches?«
»Es ist nicht nötig, dass dies die Spritze besorgt, das geschieht nach und nach von ganz allein. Diese Salzlösung besitzt ein wunderbares Durchdringungsvermögen.«
»Und hiermit ist das Fleisch für alle Zeiten vor Verwesung geschützt, bleibt für immer genießbar?«, staunte Breithaupt noch immer.
»Noch nicht so ganz. Ich sprach vom ersten Teile der Prozedur. Dann wird solches Salz noch in das helle Feuer geworfen, das Fleisch einfach darüber gehängt, in Verbindung mit dieser Räucherung, so oberflächlich sie auch sein mag, ist das Fleisch dann wirklich bis in die Ewigkeit vor Verwesung geschützt.«
»Was für wunderbares Salz ist denn das?«
»Da fragen Sie mich zu viel. Ich kenne immer nur die Handhabung und das Resultat. Jetzt also ziehen Sie das Tier ab und zerwirken es, während Alberich und ich Holz zusammentragen für ein Feuer und darüber einen Galgen errichten.«
Es geschah, und eine halbe Stunde später erklärte Lilly die sämtlichen nur leicht angerösteten Fleischstücke für präserviert, sie wurden auf den Aeroplan verpackt, mit Ausnahme des saftigsten Stückes, das gargebraten und sofort verspeist wurde.
»Jetz komme ich selbst noch einmal auf Ihre vorige Frage zurück«, begann Lilly gleich im Anfange dieser Mahlzeit. »Ich muss nämlich gestehen, dass ich meiner Sache durchaus nicht so sicher bin.«
»Welcher Sache?«
»Meines Zieles?«
»Sie sprechen von jenem Lande Utopia?«
»Ja. Aber es ist gar kein Land. Nur ein Versteck. Oder auch eine... ich darf davon nicht sprechen, mich bindet mein Ehrenwort, ein feierlichst abgegebener Schwur.«
»Sie glauben, dieses Ziel gar nicht wiederzufinden?«, kam Breithaupt dem immer stockender sprechenden Mädchen entgegen.
»Wenigstens nicht so ohne weiteres, und über diesen Punkt wenigstens müssen und können wir jetzt ganz offen sprechen. Das hat mir nämlich schon immer die größte Sorge gemacht, ich gestehe, dass ich deswegen immer etwas renommiert habe, indem ich eben meiner Sache durchaus nicht so sicher war. Sie wissen doch, dass ich nicht imstande bin, eine geografische Ortsbestimmung zu machen.«
Ja, das wusste der Ingenieur.
»Deshalb«, fuhr Lilly fort, »war der Aeroplan gar nicht mit solch einem Instrument und den nötigen Tabellen ausgerüstet. Ich war ja auch gar nicht darauf vorbereitet, solch einen großen Überlandflug zu machen, habe überhaupt noch keine Gegend, keine Wildnis, in der ich mich nicht zu orientieren weiß, jemals überflogen. Ich weiß mich nur nach dem Kompass zu richten, habe bis noch vor Kurzem geglaubt, das genüge vollkommen zur Orientierung, so wie doch auch Kolumbus und die anderen ersten Amerikafahrer den Weg nach dem neu entdeckten Kontinent nur mittels des Kompasses immer wieder gefunden haben — während dieses meines ersten großen Überlandfluges aber habe ich mit größter Deutlichkeit erkannt, dass ich es da nicht mit jenen Seefahrern aufnehmen kann. Nein, auf diese Weise vermag ich mein Ziel nicht aufzufinden, jetzt muss ich es offen gestehen.«
»Da haben Sie sich auch zu viel zugetraut und die Kunst jener ersten Amerikafahrer überschätzt«, tröstete Breithaupt die Niedergeschlagene, die sich selbst demütigen wollte. »Solange man nicht imstande war, mit Hilfe der Gestirne eine genaue geografische Ortsbestimmung zu machen, hat es überhaupt immer nur eine Küstenschifffahrt gegeben. Schon die alten Phönizier fanden den Weg nach Britannien nur, indem sie immer der Küste entlang segelten oder ruderten, und so ist es bis zu der Zeit geblieben, da Astronomen, vor allen Dingen Newton, den Sextanten oder damals den Oktanten erfanden. Die Durchschiffung des atlantischen Ozeans war etwas ganz anderes. Da segelte man ganz planlos nach Westen, immer direkt nach Westen, bis man wieder auf Land traf, das nur die Küste des neuen Erdteils sein konnte, dieser Küste segelte man weiter entlang...«
»Lassen wir das doch jetzt«, unterbrach Lilly den Erklärenden mit bittender Bewegung, »bleiben wir bei meiner Sache, es drängt mich mit Macht, sie jetzt zu erledigen. Kurz, ich bin nicht imstande, unser Ziel mit Hilfe des Kompasses allein aufzufinden.«
»Kennen Sie die Zahlen der geografischen Ortsbestimmung, die doch sicher gemacht worden ist?«
»Ich kenne sie nicht, und wenn ich sie kennte, ich...«
»Sie dürften sie nicht nennen?«, kam Breithaupt der Stockenden wiederum zu Hilfe.
»Nein, ein Schwur bindet meine Zunge.«
»Das ist nun freilich eine fatale Geschichte«, musste der junge Ingenieur lächeln. »Ist die betreffende Gegend auf der Landkarte angegeben?«
»Ja... und nein... wie man's nimmt. Wie oft ich schon in der letzten Zeit die Karte zurate gezogen, haben Sie wohl bemerkt.«
»Das habe ich, und auch, wie Sie dabei immer auf den Kompass blickten. Aber in Afrika liegt das Versteck, das wenigstens dürfen Sie doch sagen.«
»Das wissen Sie ja bereits, da ist nichts mehr zu verheimlichen, und Afrika ist groß.«
»Im Zentrum Afrikas?«
»Nein.«
»Weiter im Osten?«, ging das Rätselspiel fort.
»Ja.«
»An der Ostküste?«
»Nein.«
»Wollen Sie sich nicht deutlicher erklären?«
»Es ist ein See«, platzte Lilly förmlich heraus.
»Der König-Albert-See?«, fuhr Breithaupt fort zu raten.
»Der Viktoria-Njansa«, gestand Lilly von selbst. »Ich darf es sagen, mein Gewissen entlastet mich. Der ist so groß wie ganz Großbritannien, auf diesem Terrain können Sie lange suchen, ehe Sie unser nur sehr kleines Versteck finden.«
»Da die Menschen nicht unter Wasser leben können, muss es wohl eine Insel sein.«
»Natürlich, aber nun finden Sie unter den zahllosen Inseln, die der Viktoria-Njansa enthält, einmal die richtige heraus.«
»Können Sie sie denn wiederfinden?«, lächelte Breithaupt.
»Ja, sobald ich das Wasser dieses Sees unter mir habe, dann will ich mich schnell zurechtfinden, da habe ich schon meine Merkzeichen immer aus großer Höhe beobachtet. Aber von hier aus direkt auf diesen See zu stoßen, das getraue ich mir nicht, so riesig groß er auch sein mag. Das habe ich hier in Afrika nun schon in Erfahrung gebracht.«
Die Sprecherin hatte ganz Recht. Mit Hilfe des Kompasses sich von hier nach dem Viktoria-Njansa zu finden, von dem man noch reichlich 500 geografische Meilen entfernt war, das war einfach ein Ding der Unmöglichkeit — oder eben der reine Zufall, wenn man ihn auf diese Weise wirklich erreichte. Freilich, das Weshalb lässt sich nicht so leicht erklären, und am wenigsten dem, der gewohnt ist, die Erde und die Entfernungen nur auf der Landkarte zu betrachten und zu messen. Nur ein anderes Beispiel in diesem Sinne: weshalb hat es denn solch unendliche Mühe gekostet, die Quellen des Nils aufzufinden? (Vorausgesetzt, dass man sie überhaupt schon gefunden hat). Ist so etwas denn nicht eigentlich ganz einfach? Man braucht doch nur immer den Nil hinaufzufahren oder am Ufer entlangzugehen. Aber nein, wenn das so einfach wäre, dann hätten sich eben nicht länger als hundert Jahre die kühnsten, energischsten und erfahrensten Forschungsreisenden vergebens abgemüht, die Quellen des Nils zu entdecken.
Kurz und gut, so war es auch hier. Wer nicht mit dem Sextanten umzugehen und nach den geografischen und astronomischen Tabellen zu rechnen verstand, der hatte wenig Aussicht, den Viktoria-Njansa so bald zu erreichen, nur mit Hilfe des Kompasses. Ja, vielleicht nach langem, langem Suchen, durch planloses Umherirren, auf den Zufall hoffend, durch Fragen und Forschen — aber doch nicht etwa in drei oder gar nur zwei Tagen, wozu der stündlich hundert Kilometer machende Aeroplan befähigte.
Das hätte der junge Ingenieur schon immer sagen können, hätte er das Ziel gleich gewusst, die Artistin hatte diese Schwierigkeiten im Laufe ihrer letzten großen Flüge erfahren. Man befand sich eben in Afrika, nicht im dicht bevölkerten Europa, hier konnte man nicht jeden Eingeborenen fragen: »Entschuldigen Sie, wie kommt man am nächsten nach dem Viktoria-Njansa?«
Breithaupt hatte zur Karte gegriffen.
»Nun, da ich das Ziel kenne, ändert sich die Sache. Darf ich noch erfahren, in welchem Teile die Insel zu suchen ist?«
»Im nördlichen.«
»Und wenn ich Sie dorthin bringe, genügt das? Dann werden Sie Ihre Insel finden?«
»Ich bin dessen sicher.«
»So können wir gleich aufbrechen.«
Es geschah. In weniger als zweimal vierundzwanzig Stunden überflog die ›Libelle‹ hoch in den Lüften so ziemlich ganz Afrika an seiner breitesten Stelle. Tief unter sich sah man am Tage ungeheuere Urwälder mit endlosen Steppen und Wüsten abwechseln, hin und wieder ein Strom, ein Flusslauf, in der Nacht, in der die Fahrt keine Stunde unterbrochen wurde, ab und zu ein Feuer, viele Feuer, aber zu einem Haufen zusammengedrängt, ein Dorf oder ein Lager von Eingeborenen, die Luftschiffer ließen sich durch nichts aufhalten, kein Wassermangel und keine Havarie zwang sie zur Landung, und als nach jener Abendmahlzeit die Sonne zum zweiten Male ihren höchsten Stand erreicht hatte, da streckte Breithaupt, nachdem er wiederum die geografische Lage berechnet, wozu der Aeroplan nur wenig seinen sausenden Flug zu mäßigen brauchte, die Hand aus und sagte:
»Kaum einen Längengrad vor uns liegt der Viktoria-Njansa!«
Sie befanden sich fast direkt auf dem Äquator, also betrug hier die Entfernung zwischen zwei Längengraden ebensoviel wie zwischen zwei Breitengraden, 15 geografische Meilen, und da natürlich konnte man den Spiegel des Sees noch nicht erblicken, auch nicht aus dieser Höhe von rund 100 Metern, die sie gewöhnlich einhielten.
Doch es konnte sich nur um eine Stunde handeln. Unter ihnen sah es recht öde aus, mehr Wüste als Steppe. Dort aber begann wieder der Urwald.
Und da brach aus diesem Urwald eine Schar Menschen hervor, man hörte ihr Brüllen bis hierherauf, in ihren Händen blitzte es — Waffen, geschwungene Lanzen und Schwerter — sie stürzten in die Steppe, in der sich plötzlich eine andere Schar Männer erhob.
Es waren Neger, sie stießen zusammen, ein blutiger Kampf fand statt, man konnte ihn durch das Fernrohr genau beobachten.
Aber kaum, dass Lilly einen Blick hinabwarf, und noch weniger hatte sie Lust, in diesen Kampf einzugreifen. Schon der Anblick dieses Flugdrachens hätte ja genügt, die Streitenden auseinander zu bringen, sie davonfliehen zu lassen, aber es wurde nichts getan, um sie auf den geräuschlos dahinfliegenden Drachen aufmerksam zu machen.
Wer sagte denn einmal, dass hier nicht ein ganz gerechtfertigter Kampf stattfand, bei dem sich hoffentlich der Sieg auch auf die gerechte Seite schlug? Und zweitens war Lilly mit ganz anderen Gedanken beschäftigt, als sich jetzt in einen Streit von Negern zu mischen, mochte dieser auch noch so blutig sein.
Diese Artistin war gewiss mit eisernen Nerven ausgestattet, aber vergebens bemühte sie sich, nichts von der Nervosität oder doch gewaltigen Aufregung zu zeigen, die sich ihrer immer mehr bemächtigte, je näher sie dem Ziele kamen.
Nur der größten Übermüdung war sie in der letzten Nacht unterlegen, sonst hätte sie auch die noch schlaflos verbracht, und bewundernswert war schon, dass sie niemals eine Frage stellte: Was werden wir finden? Ob sie schon Kunde von dem Untergang unserer unglücklichen Gefährten haben?
Denn so zwecklos solche Fragen auch gewesen wären, entschuldbar und begreiflich waren sie.
Aber jetzt, als Breithaupt einmal fragte, ob man sich dort unten in den Kampf einmischen solle, unterlag sie doch einmal diesem menschlichen Drange.
»Nein, nein — weiter, weiter! Nur eine Stunde noch! O, wäre sie doch erst vorüber, diese endlose Stunde! Was werde ich dort finden?«
»Tot, alles tot, hihihi!!«, kam es aus dem Munde des Zwerges.
Wie von einer Natter gestochen fuhr Lilly von ihrem Sitze empor.
Der Charakter, das geistige Wesen des Zwerges, hatte sich bisher durchaus nicht geändert, wenn er auch einmal ziemliche Intelligenz und Rückerinnerung gezeigt hatte, damals in dem Tale des Todes, wo er ja eine ganze Erzählung zum besten gegeben. Aber das war doch nur eine scheinbare Wiederentwicklung seines geistigen Vermögens, im Grunde genommen war es ja ganz dasselbe gewesen: Man musste seiner Erinnerung nur zu Hilfe kommen, dann entsann er sich immer auf alles und jedes — geschah dies aber nicht durch treffende Fragen, so war und blieb er der unglückliche Mensch mit dem verlorenen Gedächtnis.
Auch sonst zeigte er noch immer sein gedrücktes Verhalten, kümmerte sich um nichts, wenn er nicht aufgerüttelt wurde. Eben weil er sich seines Unglückes bewusst war, er grübelte unausgesetzt über seine Vergangenheit nach, ohne sie zu finden. Nur dass er in der letzten Zeit auf an ihn gestellte Fragen niemals mehr ganz sinnlose Antworten gegeben hatte, auch sein blödes Kichern war verstummt gewesen.
Jetzt, nach langer Zeit kicherte er zum ersten Male wieder sein »tot, alles tot, hihihi!«
»Was ist alles tot?«, schrie Lilly wahrhaft entsetzt auf.
»Tot, alles tot, hihihi!«, erklang es noch einmal kichernd.
»Dort in der Felseninsel alles tot?! Die ganze Kolonie ausgestorben?!«
»Tot, alles tot, hihihi«, bestätigte der Zwerg wiederum.
»Mensch, woher willst du denn das wissen?!!«
»Regen Sie sich doch nicht auf«, suchte Breithaupt seine Begleiterin, der das Entsetzen aus allen Zügen sprach, zu beruhigen, »dieser Unglückliche ist — es muss frei herausgesagt werden — ein Irrsinniger, der nur hin und wieder lichte Momente hat. Sie dürfen solchen Bemerkungen wie diesen doch keinen Glauben schenken.«
Doch Lilly ließ sich nicht so leicht beruhigen.
»Hat er nicht schon mehrmals die Wahrheit prophezeit?!«
»Nein, das hat er nicht. Es war zweimal ein Zufall, dass er...«
»Gut, gut, Sie haben Recht«, unterbrach ihn Lilly, sich mit einem Ruck zusammenraffend, mit einem Male wieder ganz eisern werdend. »Und doch, auch diesmal könnte er die Wahrheit sprechen, wiederum durch einen Zufall.«
»Wie? Sie erwarten, dort nur noch Tote zu finden?«, schrak Breithaupt jetzt auf.
»Ich erwarte es nicht, aber die Möglichkeit ist doch vorhanden.«
»Die Möglichkeit ist vorhanden?!!«
»Habe ich Ihnen nicht schon erzählt, wie unser Paradies ein sehr zweifelhaftes ist, wie es eine große Gefahr birgt?«
»Das taten Sie, auch Kapitän Hartung sprach zu mir davon, wenigstens von großen Unannehmlichkeiten, und diese eben veranlassten die Bewohner, dieses Paradies in Afrika mit dem Teufelsberge in Amerika zu vertauschen.«
»So ist es. Aber außer einigen Unannehmlichkeiten gibt es dort auch noch eine direkte Gefahr. Die ersten Entdecker dieses aller Welt unbekannten Ortes freuten sich sehr, als sie dort eine Quelle fanden, einen überfließenden Brunnen, der äußerst kohlensäurehaltiges Wasser enthielt. In dieser heißen Gegend hat das etwas zu bedeuten, das löscht den Durst am schnellsten, erfrischt ungemein. Aber auf die Dauer ist so viel Kohlensäure im Trinkwasser für den menschlichen Organismus doch nicht gut, und anderes Wasser gibt es dort nicht. Und dann vor allen Dingen tritt diese Kohlensäure manchmal auch frei heraus, in nicht genügender Menge, um der Vegetation zu schaden, diese vielmehr in kolossaler Weise sich entwickeln lassend, aber genügend, um alles Lebendige zu ersticken.«
»O weh! Findet die Kohlensäure keinen Abzug?«
»Es ist ein vollständig geschlossener Talkessel, an dessen Boden die Kohlensäure ausströmt — nicht immer, aber häufig genug.«
»O weh«, wiederholte der Ingenieur, der so etwas am besten zu beurteilen verstand, bedauernd. »Lässt sich dem nicht durch technische Einrichtungen abfelfen, lässt sich die Kohlensäure nicht ableiten?«
»Alles, was technisches Genie vermochte, ist versucht worden. Nützte alles nichts. Eine Ableitung des giftigen Gases ist aus besonderen Gründen, die ich nicht verstehe, ganz ausgeschlossen, und sobald die Gasquelle zugemauert oder sonst wie verstopft wird, strömt die Kohlensäure aus allen Fugen und Ritzen erst recht mit Macht hervor.«
»Und so fürchten Sie wirklich, dass alles Lebende erstickt sein könnte?«, fragte Breithaupt leise.
»Nein, das fürchte ich nicht, das halte ich überhaupt für unmöglich — soweit ein Mensch von einer Unmöglichkeit sprechen darf. Vor Gott ist kein Ding unmöglich. Aber ich weiß, was für Vorsichtsmaßregeln da getroffen sind; meine Gefährten werden sich bei einem Ausbruch der Kohlensäure noch immer rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Als Alberich vorhin jene schon so oft gehörte Äußerung tat, war es nur der erste Schreck, der mich überwältigte. Ich gestehe, dass ich etwas nervös geworden bin. Nein, ich glaube nicht an solch eine Prophezeiung, ich werde meine Gefährten lebend finden.«
»Was für Sicherheitsmaßregeln sind da getroffen worden? Darf ich wenigstens das erfahren? Es interessiert mich als Ingenieur.«
»Ganz, ganz merkwürdige, sodass ich sie gar nicht beschreiben kann. Aber Sie werden sie ja selbst zu sehen bekommen.«
»Selbst zu sehen bekommen?!«, wiederholte Breithaupt.
»Ja, Sie sollen direkt mit mir kommen, jetzt mit einem Male sind meine Bedenken geschwunden, sie waren grundlos genug. Dort ist der Wasserspiegel!«
Es war der Viktoria-Njansa, für den Beschauer auch von hier oben aus einfach ein unübersehbares Meer, in dem hin und wieder eine kleinere oder größere Insel auftauchte.
Aus leichtbegreiflichen Gründen war die Artistin, deren geografische Kenntnisse sonst sehr gering, gerade über den Viktoria-Njansa besser beschlagen als der Nivellier-Ingenieur, der mit seinem Wissen entweder die ganze Erde umspannte oder immer nur wenige Quadratmeter ausmaß. Nur darin hatte Lilly sich geirrt, als sie sagte, dieser See sei so groß wie ganz Großbritannien. Der Viktoria-Njansa ist nur etwa so groß wie das Königreich Bayern, aber das genügt wohl auch schon zu der Berechtigung, gleich von einem Meere zu sprechen.
Wir wollen uns nicht mit seiner Entdeckungsgeschichte beschäftigen, wir bleiben bei der Gegenwart. Der Viktoria-Njansa wird von mehreren Dampferlinien befahren, von englischen und deutschen, welche hauptsächlich den Verkehr mit den Inseln herstellen, deren größte das äußerst fruchtbare, dichtbevölkerte Ukerewe ist, ganz nahe dem Südstrand gelegen, wie diese größeren Inseln überhaupt alle im Süden des Sees liegen. Auch der nördliche Teil, zu England gehörend, besitzt viele Inseln, ja, man kann sogar von zahllosen sprechen, denn sie sind noch nicht gezählt, noch nicht erforscht, noch nicht geografisch bestimmt, und daraus schon kann man entnehmen, dass von ihnen auch nicht viel oder eben nichts zu holen ist.
Breithaupt hatte mit dem Aeroplan nach dem nördlichen Teile des Sees gehalten, wobei es freilich bei den ungeheueren Dimensionen auf einen Unterschied von zehn geografischen Meilen gar nicht ankam, und bald hatten sie das dunkelgrüne Wasser direkt unter sich, durch welches sich der Viktoria-Njansa so merkwürdig von den benachbarten Riesenseen unterscheidet, dem Albert-Njansa und dem Tanganjika, die beide ganz hellgrün gefärbtes Wasser haben.
Hin und wieder erhob sich eine Insel, ein Felseneiland, mit ganz steilen Wänden jäh aus dem Wasser emporsteigend, an Höhe und Umfang ganz verschieden, von zehn bis wohl zu hundert Meter Höhe, einige wie Nadelspitzen aussehend, bei anderen nahm die Oberfläche mehrere Quadratkilometer ein. Niedrige Inseln fehlten gänzlich, sämtliche hatten genau denselben Charakter, lauter Felsenburgen mit ebenen Plateaus, auf denen wohl zahllose Wasservögel nisteten, aber keine einzige zeigte auch nur eine Spur von Vegetation.
»Das macht«, erklärte die hier ja so gut wie zu Hause seiende Lilly, »diese völlig ebenen Plateaus, glatt wie Tischplatten, ob sie nun klein oder meilengroß sind, haben alle eine kleine Neigung nach Nordwesten, sodass jeder Regenguß den etwa entstehenden Humus, wobei der Vogeldünger ja sehr förderlich wäre, sofort wieder abspült.«
»Sie waren auf solchen Plateaus?«
»Oft genug. Wir sind doch selbst zu Vögeln geworden, für uns gibt es keine unersteiglichen Felsenberge mehr.«
»Woher kommt es, dass die Plateaus sämtlich eine Neigung nach Nordwesten haben?«
»Da müssen Sie den lieben Gott fragen, aber nicht mich!«, lachte Lilly, und es war kein gottloser Spott.
»Mir scheint, die Vögel bauen dort oben Nester«, fuhr Breithaupt fort, imemr fleißig das Fernglas gebrauchend.
»Natürlich, diese vor jedem eierlüsternen Menschen gefeiten Plateaus sind ihre Brutstätten.«
»Da müssen die Nester aber doch ebenfalls von jedem Regengusse fortgespült werden.«
»Sie vergessen wohl, dass es hier eine Regenzeit gibt und eine vollständig trockene Periode. Und in diese letztere fällt die Brutzeit dieser Wasservögel. Das ist sehr weise von der Natur eingerichtet — oder die Vögel haben sich dem anbequemt.«
»Es gibt keine einzige solche Felseninsel, die bewohnt ist?«
»Von Menschen? Keine einzige.«
»Das wundert mich.«
»Weshalb?«
»Sind diese Inseln denn alle so absolut unersteigbar?«
»Ich glaube kaum. Das mag von hier oben glatter aussehen, als es in Wirklichkeit ist. Ganz in der Nähe unseres Eilandes z. B. sind zwei umfangreiche Felsen, die sich an bestimmten Stellen erklimmen lassen. Unsere natürliche Ummauerung allerdings ist vor jeder Ersteigung gesichert, und solcher Felseninseln mag es ja auch noch genug andere geben.«
»Wie gesagt, wundert mich, dass dann diese natürlichen Felsenburgen mit großem Plateau oben nicht bewohnt sind. Unersteigbar ist ja schließlich auch nicht die glatteste Wand, da lassen sich doch Stufen einhauen, Strickleitern anbringen, was haben denn hundert Meter Höhe zu bedeuten, und die Leutchen hier haben doch genügend Zeit, das kann ja von Generation zu Generation gehen. In Abessinien, in der Region der Terrassenfelsen, hat man da noch etwas ganz anderes geschaffen, Felsenplateaus von mehr als tausend Meter Höhe sind zugänglich gemacht worden, um sie zu besiedeln.«
»Ja, aber wozu sollte man dies denn hier tun?«, stellte sich Lilly noch immer unwissender, als sie in dieser Angelegenheit wohl war.
»Nun, um ebenfalls diese Plateaus zu besiedeln. Einmal oben, braucht man doch nur eine Mauer ringsherum zu errichten, oder nur auf der einen Seite, um das abfließende Regenwasser aufzuhalten, auf der anderen Seite wird der Boden abgetragen...«
»Hier auf diesen Felseninseln im Viktoria-Njansa, wo ringsherum an den Ufern alles von Fruchtbarkeit strotzt?! Da sollen sich diese faulen Neger solchen Arbeiten unterziehen?! Ingenieurchen, Weltenvermesser, wohin verirrt sich Ihre Phantasie?«
»Hm«, brummte der Weltenvermesser, weder beleidigt noch gedemütigt, »Sie haben Recht — und doch, ich beharre darauf, es ist mir etwas Unverständliches dabei. Die verschiedenen Negerstämme, die hier herum wohnen, liegen doch in ständiger Fehde miteinander. Sollte da nicht einmal ein besonders intelligenter Volksstamm auf den Gedanken kommen, solch eine natürliche Festung zu benutzen, ein ganzes Reich von uneinnehmbaren Seefesten zu schaffen, von denen aus sie ihre Raubzüge nach der nahen Küste antreten, schwarze Flibustier, nach gemachter Beute in ihre absolute Unantastbarkeit zurückfliehend...«
»Jetzt haben wieder Sie Recht«, unterbrach Lilly den Gefährten, »ich habe Sie auch nur Ihre Meinung aussprechen lassen wollen. Und doch ist es eigentlich ein ganz anderer Grund, dass all diese Felseninseln von den umwohnenden Negerstämmen niemals besiedelt worden sind und auch niemals werden.«
»Was für ein Grund?«
»All diese Felseninseln im nördlichen Teile des Sees sind für die umwohnenden Negerstämme tabu. Wissen Sie, was das bedeutet?«
»Tabu ist ein Wort der Neuseeländer und bedeutet so viel wie gefeit, heilig, unantastbar.«
»Ja. Die Somalis und die anderen Neger gebrauchen freilich ein anderes Wort dafür, aber ich hörte es oft von meinen Kameraden, so habe auch ich es mir angeeignet, es ist mit geläufig geworden. Auf all diesen Felseninseln treiben böse Geister ihr Wesen. Diese uralte Sage ist noch heute in voller Blüte und wird wohl auch noch bestehen bleiben, solange es hier Negervölker gibt. Kein Eingeborener wird wagen, solch einen Felsenberg zu erklimmen, mag auch ein noch so bequemer Aufstieg vorhanden sein, kein Boot kommt ihm auch nur zu nahe, wegen dieses Geisteraberglaubens ist diese ganze Inselgegend wie ausgestorben und wird es immer bleiben.«
Die Richtigkeit dieser letzten Bemerkung hatte Breithaupt schon selbst beobachtet. Von hier oben aus konnte man ja ein gut Teil des Sees überblicken, im Süden waren noch einzelne flache Inseln zu erkennen, man sah manchen Dampfer, Segel- und selbst Ruderboote, die entweder von Insel zu Insel strebten, wobei Ruderboote freilich ausgeschlossen waren — in dieser Gegend hier war kein einziges Fahrzeug zu erblicken.
»Der Dampfer«, setzte Lilly ihrer Erklärung noch hinzu, »der hier die Durchfahrt wagen würde, um von Ufer zu Ufer zu gelangen, würde boykottiert werden von den Eingeborenen, bekäme keine Mannschaft und keine Fracht und gar nichts, dafür würden schon die arabischen Kaufleute sorgen, welche ja hier doch die Macht in Händen haben, trotz aller europäischen Gewehre und Kanonen.«
»Trotzdem«, nahm auch wieder Breithaupt seine Einwände auf, »haben denn die Europäer, die Engländer, nicht wenigstens versucht, sich auf solch einer Felsenburg festzusetzen, aus ihr eine unbezwingliche Seefeste zu machen?«
»Ja, der Versuch ist gemacht worden, erst vor wenigen Jahren. Eine Felseninsel dicht an der Westküste wurde von den Engländern befestigt und armiert, trotz aller wohlmeinenden Warnungen von Arabern. Auch diese Besatzung wurde von den Eingeborenen boykottiert, sie bekam einfach keine Nahrungsmittel geliefert, sie wäre bald verhungert. Denn da ist durch eigene Kraft nichts zu machen, so weit sind die Europäer hier noch lange nicht. Sie sind gänzlich auf die schwarze Bevölkerung angewiesen. Die Insel musste aufgegeben werden. Dann lieferten die Neger wieder Nahrungsmittel. Und dass hier in der Mitte des Sees solch eine Insel annektiert werden könnte, daran ist erst recht nicht zu denken. Nein, wir leben in unserem Inseltale so gut wie in einer unsichtbaren Welt.«
»Es ist ein Tal?«
»Sie werden es selbst sehen.«
»Wer hat es denn zuerst entdeckt?«
»Kapitän Hartung.«
»Auf welche Weise? Wie ist er hingekommen?«
»Das weiß ich nicht. Möglich, dass auch er erst hingeführt worden ist. Aber von wem — ich weiß es nicht. Mir ist die ganze Entdeckungsgeschichte unbekannt, sie wird wohl überhaupt als ein Geheimnis gehütet.«
»Und wie ernähren sich die Bewohner dieser Insel?«
»Unser Luftschiff holt ab und zu Proviant.«
»Woher?«
»Von der Küste, d. h. von der Seeküste. Das ist aber wieder ein Geheimnis, das ich nicht kenne. Die Leiter unserer Kolonie haben dort an der Seeküste irgendein Versteck, haben auch ihren eigenen Dampfer, oder wahrscheinlich mehrere. Das geht doch schon viele Jahre lang, und Sie wissen es ja selbst, dass die andere Welt bis jetzt nicht das geringste von unserem heimlichen Treiben erfahren hat.«
»Aber das Luftschiff muss doch gesehen werden.«
»Weshalb denn? Es fliegt nur in der Nacht. Die währt hier zwölf Stunden, und das genügt für ein Luftschiff nach unserem System, wie der ›Tyrann‹ einer ist oder vielmehr war, um die Küste zu erreichen. In der Nacht fliegt er wieder zurück — fertig — alles ist unsichtbar vor sich gegangen.«
»Sie haben auch mit dem Aeroplan die Umgegend ihrer Insel ausgekundschaftet?«
»Ich und andere — oft genug.«
»Solche Kundschaftsreisen mussten aber doch bei Tage gemacht werden, wollte man etwas erkennen.«
»Nun, warum nicht? Die ganze Gegend hier ist doch wie ausgestorben, völlig menschenleer, wer soll uns denn da erblicken. Wir können oder konnten vorhin in weiter, weiter Ferne die Dampfer erkennen, ganz stattliche Dinger, die sahen wir Nussschalen aus, die ein Wölkchen ausstoßen, die größten Boote waren nur durch das Fernrohr ganz besonderer Konstruktion zu erkennen, wie die andere Menschheit ein solches gar nicht besitzt. Wie soll denn da unser Aeroplan erblickt werden können?«
Sie hatte Recht, in dieser Hinsicht hatte Breithaupt nichts mehr zu fragen.
»Und in belebte Gegenden haben Sie sich nie begeben, weder mit Luftschiff noch mit Aeroplan?«
»Wir werden uns hüten. Anhaben kann man uns ja nichts. Doch worzu die Menschen erst neugierig machen?«
»Aber der letzte Flug des ›Tyrann‹ ist doch beobachtet worden.«
»Das ist oder war etwas ganz anderes. Das geht mich überhaupt nichts an. Wenn ich jetzt lieber wüsste wo... halt, dort ist die Nadel der Kleopatra, jetzt finde ich mich allein zurück, allerdings ist es nur ein glücklicher Zufall, dass ich dieses Erkennungszeichen so ohne weiteres Suchen gleich erblickte.
Es war ein schlanker Turmfelsen, der den Namen ›die Nadel der Kleopatra‹ erhalten hatte, wie ihn wohl jeder gebildete Mensch beim ersten Anblick getauft hätte, an den altägyptischen Obelisken denkend, der — ein echt englisches Stückchen, ein Wahrzeichen englischen Sammeleifers — in einem besonders hierzu gebauten Schiffe aus seiner Heimat nach England überführt wurde, wo er jetzt in London einen Marktplatz schmückt.
Wir wollen nicht erwägen, wie Lilly trotz aller geografischen Berechnungsgabe ihres Gefährten auch jetzt noch planlos umhergeirrt wäre, hätte sie nicht zufällig diese ihr wohlbekannte Felsennadel erblickt.
»Dann ist das dort das weißrote Tal«, setzte sie gleich noch hinzu.
Die Felseninseln waren zuletzt immer höher und besonders auch umfangreicher geworden, und auf eine solche deutete Lilly jetzt. Sie unterschied sich von den anderen sonst durch nichts, auch nicht durch Höhe oder Größe.
So dicht waren diese Inseln allerdings überhaupt nicht gesät. Aber da die ›Libelle‹ in großer Höhe schwebte, so erblickte man doch alles in stark verkürzter Perspektive.
»Das weißrote Tal?«, wiederholte Breithaupt verwundert, weil er wiederum so etwas ganz Neues zu hören bekam.
»Sie werden gleich sehen, weshalb dieser Name — oder nein, hoffentlich sehen Sie es nicht — oder dann doch nur einen Anflug von Rosa — oder auch das nicht einmal...«
»Nun werde ein anderer aus Ihren Worten klug!«, rief Breithaupt.
»Ich werde Ihnen die Erklärung geben, wenn wir darüber schweben.«
Die Entfernung jener Insel, auf die Lilly deutete, mochte ja noch zehn Kilometer betragen, aber was war das für die ›Libelle‹! Keine zehn Minuten!
Es war in der zweiten Nachmittagsstunde, als der Aeroplan direkt über der betreffenden Insel schwebte, Lilly hielt ihn in der Balance und musste wohl einen Grund gehabt haben, ihn vorher solch eine große Höhe einnehmen zu lassen.
Mindestens 800 Meter tief blickte Breithaupt hinab, und zwar blickte er in einen Krater. Denn nichts anderes war es. Die kreisrunde Insel von 150 Meter Höhe bildete eine Ausnahme von allen anderen, über die sie geflogen oder die sie von weitem erblickt, sie besaß nur außen jäh emporsteigende Wände, innen war sie trichterförmig ausgehöhlt, und zwar mochte der obere Durchmesser des Trichters zwei, der des Bodens einen Kilometer betragen.
Die schräge Innenseite war nicht glatt, sondern terrassenförmig abgesetzt, jedenfalls schon von Natur so gebildet, für ein Werk von Menschenhand konnte man das unmöglich halten, höchstens hatte diese nur noch nachgeholfen.
Das Gestein war tiefschwarzer Basalt, aber überall auf den Terrassen befanden sich größere und kleinere schwarze Flecke von regelmäßigen Konturen, die Breithaupt aus seiner Vogelperspektive ohne vielen Scharfsinn als Gebäude erkannte, aus weißem Stein aufgeführt, oder weiß angestrichen, und auf der Talsohle dort unten standen erst recht viele solche weiße Häuserchen, von denen aber einige in der Nähe von recht stattlichem Umfange sein mochten.
Ferner fiel noch ein weißer Strich von ziemlicher Breite ins Auge, der sich von unten an über die Terrassen hin die ganze Wand hinaufzog, bis er den oberen Rand des ganzen Kessels erreichte.
Der junge Ingenieur hatte genügend Zeit, das Bild dort unten zu betrachten, denn auch seine Gefährtin spähte unausgesetzt hinab.
Nichts Lebendiges regte sich in der Tiefe. Durch solch ein Fernrohr hätte man einen Menschen erkennen müssen, auch durch ein anderes, selbst mit bloßen Augen — nichts war zu erblicken.
»Da sieht ja aus, als wäre dort unten alles ausgestorben«, meinte Breithaupt, ohne sich dabei weiter etwas zu denken, eben eine geläufige Redensart gebrauchend, um die bewegungslose Stille zu schildern.
»Tot, alles tot, hihihi!«, kicherte da wieder einmal Alberich.
Diesmal aber machten diese Worte auf Lilly nicht den geringsten Eindruck, gemächlich schon sie das Fernrohr zusammen.
»Um diese Zeit der brennendsten Sonnenhitze wird stets allgemeine Siesta gehalten«, sagte sie ebenso ruhig. »Nun, Mr. Breithaupt?«
»Ein Krater, ein erloschener Vulkan!«, machte dieser seinem Staunen noch nachträglich Luft.
»Nichts anderes ist es.«
»Ist es der einzige in dieser Inselregion?«
»Wir haben auch bei den weitesten Ausflügen in der Umgegend keinen anderen entdeckt.«
»Nicht mehr tätig?«
»Sonst würden sich wohl schwerlich Menschen darin häuslich niederlassen.«
»Aber Kohlensäure haucht der Boden aus.«
»Hin und wieder. Ungefähr zweimal im Jahre. Es scheint mit dem Beginn und Ende der Regenperiode zusammenzuhängen. Diese kritischen Zeiten werden noch studiert, dann hofft man sich besser gegen die Gefahr schützen oder ihr doch immer noch rechtzeitig ausweichen zu können.«
»Wie geschieht das jetzt?«
»Wenn die Kohlensäure dem Brunnenschachte und dem ganzen übrigen Boden aus Ritzen entquillt, bleibt nichts Anderes übrig, als dass alles die Terrassen erklimmt, immer höher, bis die Kohlensäure, welche glücklicherweise bedeutend schwerer als die atmosphärische Luft ist, die Menschen nicht mehr erreicht.«
»Und wie hoch geht sie?«
»Höher als bis zur achten Terrasse ist sie noch nie gestiegen. Und einundzwanzig Terrassen sind es.«
»Und wenn sie nun einmal den Rand erreicht, die Menschen oben auf ihrer letzten Zufluchtsstelle überflutet?«
»Dann ist Matthäi am letzten. Das heißt, wenn wir kein Luftschiff hätten. Das liegt dort unten in dem langen Gebäude immer bereit zur Flucht, eben deswegen.«
»Wenn es aber nun gerade unterwegs ist, um Proviant zu holen?«
»Wir haben doch zwei Luftschiffe gehabt. Dieses darf das Tal nicht mehr verlassen.«
»Nette Geschichte das, immer in dem Gedanken zu leben, einmal in Kohlensäure ersticken zu müssen.«
»O, daran gewöhnt man sich«, klang es gleichmütig zurück.
»Na, ich für meinen Teil danke für solch ein Paradies.«
»Dann dürfen Sie nicht einer der Unsrigen werden.«
»Ich denke, die ganze Gemeinschaft will eben deswegen dieses Versteck verlassen und sich lieber auf dem mexikanischen Monte Cerboli ansiedeln.«
»So ist es, wir brauchten also gar nicht mehr darüber zu debattieren, ob es Ihnen hier gefallen wird oder nicht.«
»Wie wird die Kohlensäure nun wieder entfernt?«, interessierte sich der Ingenieur zunächst hierfür weiter. »Hat sie einen natürlichen Ausweg?«
»Eben nicht. Und auch kein künstlicher kann geschaffen werden. Die Talsohle liegt bedeutend tiefer als der Wasserspiegel des Sees, und dann, was meinen Sie, was für eine Arbeit das wäre, durch diese ungeheueren Felswände Tunnels zu bohren! Das ist Basalt, und da wäre es doch, wenn wirklich schnelle Abhilfe geschehen soll, nicht etwa mit einem Kanal getan, da müsste ein Loch ans andere kommen, sonst hätte es keinen Zweck.«
»Ja, wie wird dem sonst Abhilfe geschaffen?«
»Einmal geschieht es von selbst auf natürliche Weise. Vorhin sprach ich von einem natürlichen Kanale, einem richtigen Abzugsrohre. Nein, so etwas gibt's nicht. Der Boden saugt die Kohlensäure selbst wieder ein, durch dieselben Ritzen und Spalten, denen sie entströmt. Es hängt eben mit dem Steigen und Fallen des Sees zusammen, das wieder von Regen und Trockenheit bedingt wird. Beim Steigen des Wassers wird die Kohlensäure in einem Reservoir komprimiert, entweicht dem Boden — beim Fallen des Wassers wird sie durch die Ritzen wieder aufgesaugt. Doch das geht gar langsam vor sich. Das kann so ein Weltenbummler abwarten, wie Mr. Hartung damals einer gewesen ist, als er zuerst hierher kam — fleißige Menschen, die dort unten arbeiten wollen, in ihren Werkstätten, haben keine Zeit dazu. Sehen Sie dort das Rohr an der Wand in die Höhe gehen?«
Breithaupt musste erst das Fernglas zu Hilfe nehmen, um trotz dessen fabelhafter Vergrößerung oder vielmehr Heranziehung des zu beschauenden Gegenstandes den weißen Faden zu erkennen, der die schwarze Wand hinauflief, noch über den oberen Rand hinausragte.
»Das ist ein Rohr von einem halben Meter Durchmesser, das kann etwas schaffen.«
»Die Kohlensäure wird hinauf- und hinausgepumpt?«
»So ist es. Freilich strömt die Kohlensäure bedeutend schneller nach, als sie herausgepumpt werden kann, da ist nichts zu machen, auch mit zehn solchen Röhren nicht — aber hat das Zuströmen einmal nachgelassen und ist der Kessel, wie es einmal im schlimmsten Falle war, auch bis zur achten Terrasse mit dem Gase angefüllt — in weniger als einer Stunde ist alles wieder herausgepumpt.«
»Und während dieser Zeit muss alles nach oben auf die Terrassen flüchten?«
»Wie ich sagte. Und das muss rechtzeitig geschehen. Wer es versäumt, der ist dem Tode verfallen.«
»Richtet denn das Gas dort unten sonst keinen Schaden an?«
»Was für Schaden? Die Kohlensäure ist doch ein ganz indifferentes Gas. Ich spreche schon wie ein Gelehrter, obgleich ich gar nichts davon verstehe. Es sind eben nur tote Gegenstände dort unten in den Häusern und überall vorhanden. Kein Seidenpapierchen wird durch die Kohlensäure verdorben. Ja, wenn Vieh vorhanden wäre! Das müsste dann auch mit dort oben hinaufgeschafft werden. Aber das gibt's eben nicht. Nur die Menschen müssen rechtzeitig hinaufklettern. So ist die Geschichte im Grunde genommen ganz einfach, es geht ganz gemütlich dabei zu.«
»Na, ich danke!«, konnte der junge Ingenieur nur wiederholen, musste aber dabei lachen.
Dann wusste er nichts mehr zu fragen, tat dasselbe wie Lilly, die unverwandt hinabblickte, mit und ohne Fernrohr, den Aeroplan immer in gleicher Höhe und so ziemlich auf ein und derselben Stelle schweben lassend, wozu nur der beweglich angebrachte Propeller etwas nach unten gerichtet werden brauchte.
»Worauf warten Sie eigentlich?«, begann dann Breithaupt wieder.
»Darauf, wie lange es dauert, bis man dort unten meine ›Libelle‹ endlich entdeckt.«
»Ja, das wundert mich auch. Gibt es denn da keine Wächter?«
»Doch, deren mehrere. Diese haben allerdings etwas anderes zu tun, als den Horizont oder vielmehr den Himmel abzuspähen.«
»Was haben sie sonst zu tun?«
»Nun, vom Himmel herab droht diesen Talbewohnern doch keine Gefahr. Auch die kolossalste Regenmenge verschwindet in den zahllosen Ritzen und Spalten, welche den ganzen Talgrund durchziehen. Aber die Gefahr, die einzige, die uns immer bedroht, kommt aus denselben Ritzen hervor.«
»Ah, die Wächter, welche nicht schlafen, auch keine Siesta halten dürfen, haben das Auftreten von Kohlensäure zu beobachten?«
»So ist es.«
»Sind dazu Apparate aufgestellt?«
»Ich weiß, was Sie meinen. Es gibt solche Apparate, welche die in der atmosphärischen Luft befindliche Kohlensäure messen und ihre Menge in Prozenten anzeigen. Unsere Ingenieure aber haben ein noch viel auffälligeres Mittel gefunden, um das Auftreten des Stickgases und seine Menge immer genau kontrollieren zu können.«
»Was für ein Mittel ist das?«
»Sie wunderten sich doch vorhin, als ich unser Tal ein weißrotes nannte.«
»Richtig, und jetzt wundere ich mich noch mehr über diesen Namen. Wo ist dort unten etwas Rotes? Schwarzweißes Tal, ja das wäre eine zutreffende Benennung.«
»Sie sehen doch den weißen Strich, der sich dort hinaufzieht?«
»Natürlich sehe ich den, da müsste jemand schon sehr kurzsichtig sein.«
»Es ist eine ganz besondere weiße Farbe, mit der hier alles angestrichen ist. Sie kennen doch Lackmuspapier, oder überhaupt Lackmus...«
»Das von Säuren rot, von sogenannten Gasen blau gefärbt wird.«
»Sie wissen es besser als ich. Mit Lackmus hat diese Farbe allerdings nichts zu tun, ich wollte nur ein Gleichnis anführen, musste mich aber erst vergewissern, ob sie davon schon gehört haben. Doch natürlich, Sie als Ingenieur! Nun, diese weiße Farbe hat eine ähnliche Eigenschaft. In normaler atmosphärischer Luft, die nur die üblichen Prozente Kohlensäure enthält, bleibt dieser Strich schneeweiß. Sobald aber mehr Kohlensäure auftritt, beginnt sie sich rot zu färben, d. h., nimmt erst einen rötlichen Schimmer an, wird rosa, wird immer röter und zuletzt purpurrot. Aber schon ein mittleres Rot genügt, um den Menschen ersticken zu lassen, während ein zartes Rosa noch atembar ist. Hierfür existiert eine Farbenskala, an welcher der Prozentsatz der Kohlensäure genau zu kontrollieren ist, gleich in Zahlen.«
Aufmerksam hatte der Ingenieur dieser Erklärung gelauscht.
»Ah, das ist ja ganz genial ausgedacht!«, rief er. »Und was für eine wunderbare Farbe ist das? Ich kenne gar keine Chemikalie, die auf diese Weise auf Kohlensäure reagiert.«
»Das kann ich Ihnen auch nicht sagen, ich weiß von Chemie nichts weiter, als was mit Benzin und seiner Vergangenheit zusammenhängt, und das ist wohl auch mehr physikalisch. Außerdem ist das wohl auch ein Geheimnis der Männer, die sicher einen triftigen Grund haben, der anderen Welt nichts von ihren Erfindungen mitzuteilen — vorläufig nicht, wie es immer heißt. Jedenfalls ist diese Farbe so billig herzustellen, dass gleich alle Häuser damit gestrichen worden sind, der weiße Anstrich schützt doch am besten vor der hier manchmal niederträchtig brennenden Sonnenhitze. Wenn nun also einmal die Kohlensäure kommt, so färbt sich gleich das ganze Tal rosa und dann Rot bis zum Purpur — oder doch wenigstens alle Gebäude machen die Farbenumwandlung mit. Daher der Name weißrotes Tal.«
»Und er weiße Strich dort an der Felswand markiert, wie weit die Menschen vor der Kohlensäure fliehen müssen.«
»So ist es. O, es sieht ganz hübsch aus, wenn sich das alles so nach und nach rosa und immer röter färbt, wenn das Rot dann so den weißen Strich an der Wand hinaufklettert — und noch possierlicher sieht es aus, d. h. hier aus so großer Höhe, wie ich es schon einmal von meiner ›Libelle‹ aus beobachtet habe, wenn die Menschlein plötzlich aus den rosa werdenden Häuserchen hervoreilen, wozu gar nicht erst die Warnung durch Kanonenschläge nötig ist, wie sie kribbelnd die Terrassen hinaufklimmen... da da da da... merken Sie nichts?!... bei Gott, wir wohnen solch einem Falle gerade wieder bei!«
Ja, jetzt merkte es auch Breithaupt, nämlich wie sich unter ihm all das Weiße zu verändern begann, wie es einen rötlichen Schimmer annahm, erst ganz, ganz schwach, dicht am Boden anfangend, so weit man dies aus solcher Höhe beurteilen konnte, aber schnell an Intensität zunehmend, in die Höhe wachsend, bis sich auch die Dächer zu röten begannen.
»Ja, wo bleiben denn nur die fliehenden Menschen?«, fragte Breithaupt.
Lilly antwortete nicht, mit zusammengepressten Lippen starrte sie in die Tiefe hinab.
Das Rot kletterte auch an dem weißen Striche der Kraterwand hinauf, hatte mit Purpur schon die dritte Terrasse erreicht, und noch war dort unten kein Mensch zu sehen!
»Was ist denn das?«, flüsterte Lilly mit farblosen Lippen.
»Tot, alles tot, hihihi!«, kam da kichernd die Antwort aus des Zwerges Munde.
»Er hat Recht, furchtbar Recht!!«, schrie da Lilly auf. »Dort unten ist alles tot...«
Sie warf einen Hebel herum, wie ein aus den Lüften herabsausender Vogel sauste plötzlich der Aeroplan hinab.
»Was tun Sie!«, schrie da aber auch Breithaupt und hatte mit raschem Griffe den Hebel wieder zurückgeworfen.
Der Aeroplan hielt gehorsam wieder in der Schwebe, war nur 50 Meter gefallen.
Lilly strich sich die durch den plötzlichen Windstrom in Verwirrung gebrachten Haare aus der Stirn, stierte wieder hinab, war aber eine ganz andere.
»Sie haben Recht, wir gingen nur in den eigenen Tod«, murmelte sie. »Und doch... tot, alles tot!«
Das Rosa hatte die sechste Terrasse erreicht, bis zur vierten war der Strich schon purpurrot gefärbt.
»Oder das Tal ist von seinen Bewohnern verlassen worden«, suchte Breithaupt nach einer Beruhigung.
»Auch möglich, hoffen wir es«, stimmte Lilly mit ziemlicher Ruhe bei.
»Fehlt denn das Luftschiff?«
»Das kann ich nicht erkennen.«
»Weshalb nicht?«
»Es ist immer dort in dem langen Gebäude untergebracht, und ich kann nicht feststellen, ob es sich darin befindet oder nicht.«
»Ist kein Zeichen verabredet, woraus zu erkennen ist, wenn das Tal einmal verlassen werden muss?«
»Nein, so weit ging die Erwägung der Gefahr nicht.«
Wir können uns aber doch noch tiefer hinabsenken, aber nur nicht wieder so sturzähnlich.«
»Das können wir.«
Es geschah. Der Aeroplan senkte sich noch in den Krater hinein, da aber hatte das erste Rosa auch schon die achte Terrasse erreicht, und ein immer stärkeres Rot folgte noch nach.
»So weit ist das Rot noch nie gestiegen«, sagte Lilly, »das ist ein ganz ungewöhnlich heftiger Ausbruch der Kohlensäure.«
Vergebens spähte man mit dem Fernrohr auf die Talsohle hinab, von der man jetzt also keine 150 Meter mehr entfernt war. Einen lebendigen Menschen zu sehen, konnte man ja nicht mehr erwarten — aber auch keine Leiche sah man liegen, nichts sonst Auffälliges war zu erblicken.
»Gelobt sei Gott!«, ließ sich da Lilly wieder vernehmen, und ein Jauchzen lag in ihrer Stimme, »Jetzt erkenne ich doch etwas — vor der Ballonhalle liegen aufgerollte Seile, was nicht der Fall wäre, wenn sich das Luftschiff noch darin befände — nein, sie haben das Tal noch rechtzeitig verlassen können, gelobt sei Gott!«
»Gehen denn sämtliche sofort ins Luftschiff, sobald sich die Kohlensäure bemerkbar macht?«, fragte Breithaupt.
»Nein, nur die Bedienungsmannschaft steigt empor.«
»Und die anderen?«
»Die erklimmen die Terrassen, wie ich schon erzählte.«
»Was ist da nun verabredet worden, falls die Kohlensäure einmal höher steigt? Da gab es doch sicher Instruktionen.«
»Gewiss. Die anderen retirierten sich eben bis an den Rand des Kraters, und wenn die Kohlensäure die zwanzigste Terrasse erreichte, also die drittletzte, dann gingen sie alle ins Luftschiff. Das heißt, so wurde es öfters nur als Manöver geübt, vorgekommen ist dieser Fall ja noch nicht. Das Gas hat als Maximum nur einmal die achte Terrasse erreicht.«
»Und was sollte das Luftschiff dann tun?«
»Das wäre ganz darauf angekommen. Zunächst, wohl warten, ob sich die Kohlensäure nicht wieder verlief. Auch der Saugapparat wurde vorher angestellt, dessen Maschinerie weiter keiner Aufsicht bedarf.«
»Wie lange sollte das Luftschiff dann über dem Tale warten?«
»Diese Instruktion kenne ich nicht.«
»Funktioniert der Saugapparat auch jetzt noch?«
»Das vermag ich nicht zu beurteilen.«
»Auch nicht, wenn wir uns dorthin begeben, wo das Rohr über dem Rande des Kraters mündet?«
»Gewiss, dort werden wir gleich erfahren, ob Kohlensäure ausströmt oder nicht. Natürlich müssen wir sehr vorsichtig sein.«
Sie stiegen wider nach oben, und es war auch die höchste Zeit, denn sie hatten sich schon bis zur zwölften Terrasse herabgesenkt, und so hoch war an dem weißen Striche auch das Rosa gekommen, man hatte sogar schon verspürt, wie die Luft bereits schwer atembar wurde.
Lilly ließ den Aeroplan erst noch einmal über den Kraterrand gehen, um sich dem Saugrohr dann von hinten zu nähern.
»Dort liegt etwas«, sagte Alberich, der ja auch seine ganz vernünftigen Augenblicke hatte, die Hand ausstreckend.
Es war ein weißer Gegenstand, der auf der ersten Terrasse unterhalb des Kraterrandes lag, dem Saugrohr gerade gegenüber.
Der weiße Fleck hob sich auffällig genug von dem schwarzen Grunde ab, aber man muss bedenken, dass der obere Durchmesser des Kraters mindestens zwei Kilometer betrug, solche Distanzen lassen sich doch nicht so leicht überblicken.
»Es scheint ein Paket zu sein«, meinte Lilly, mit dem Fernrohre danach spähend, noch ehe sie die betreffende Richtung einschlug.
»Sollten die Talbewohner keine Nachricht hinterlassen haben für die Abwesenden, falls diese zurückkehrten?«
»Ja, es ist seltsam genug, dass wir erst jetzt hieran denken. Aber wir müssen uns beeilen, sonst dürften wir bald gar keine Möglichkeit haben, das Paket noch heraufzuholen.«
So war es. Die rote Färbung an dem Markierungsstriche stieg rapid, es musste ein ganz kolossaler Ausbruch der Kohlensäure sein, das Gas musste in dem unterirdischen Reservoir unter Hochdruck gestanden haben. Es dauerte immer nur wenige Sekunden, so war eine neue Terrasse mit Rot überzogen.
»So etwas ist nie dagewesen!«, rief Lilly. »Jetzt glaube ich selbst, dass dieses Tal für unbewohnbar gehalten wurde.«
Der Aeroplan landete dort, wo das weiße Paket lag, auf dem etwa zehn Meter breiten Kraterrande.
»Weshalb sie es nur nicht gleich auf diesem höchsten Rand niedergelegt haben?«, meinte Breithaupt, als er sich wie seine Gefährtin aus dem Sattel schwang, um sich zu Fuß nach dem Rande zu begeben.
»Vielleicht haben sie es getan, aber der Wind oder ein Sturm, von dessen Heftigkeit wir uns keine Vorstellung machen können, hat es hinabgeweht. Oder unter Voraussetzung dessen haben sie es gleich...«
Das Wort erstarb auf Lillys Lippen. Sie hatte den Rand erreicht, blickte hinab — ja, da lag sieben Meter unter ihr, gerade dort, wo von Terrasse zu Terrasse eine eingehauene Treppe hinabführte, das weiße Paket — aber unterdessen hatte die rote Farbe an dem Markierungsstriche diese Terrasse auch schon erreicht, war schon wieder einige Meter die Wand hinaufgeklettert, war höchstens noch vier Meter von dem Kraterrande entfernt.
»Zu spät, es liegt schon in der Region des Stickgases, wir erreichen es nicht mehr!«, rief Breithaupt.
»Wir müssen es heraufholen!«
»Was wollen Sie tun?«, hielt Breithaupt die Gefährtin zurück, ihr Vorhaben sofort erratend.
»Lassen Sie mich, lassen Sie mich, es muss, es muss sein...«
Und schon hatte sie sich losgerissen, eilte die Treppe hinab, immer fünf Stufen auf einmal nehmend.
Es war mit einem Tauchen in ein drei bis vier Meter tiefes Wasser zu vergleichen. Allerdings doch etwas einfacher. Kurz. In fünf Sekunden hatte Lilly, natürlich den Atem anhaltend, das Paket erreicht, hob es auf, war in fünf Sekunden schon wieder oben — und doch hatte die Kohlensäure in diesen zehn Sekunden schon den Kraterrand beinahe erreicht, wie der Markierungsstrich verriet.
»Nach der Maschine! Aufgestiegen!!«, schrie Lilly, ihren Gefährten mit sich reißend.
Sie schwangen sich in die Sättel, und es war die höchste Zeit gewesen, schon erschwerte das Stickgas das Atmen. Wenn jetzt etwas an dem Mechanismus versagte, waren die drei Menschen unrettbar dem Erstickungstode ausgeliefert.
Zwar ist die Kohlensäure viel schwerer als die atmosphärische Luft, sie musste sich also, sobald sie den Rand des Kraters erreicht hatte, über dieses zehn Meter breite Plateau hin ergießen, dann sich auf der anderen Seite wieder nach dem See hinabsenken, hinabfließen, ganz so wie es eine Flüssigkeit getan hätte, von welcher der Krater überquoll — aber schließlich ist Kohlensäure denn doch keine Flüssigkeit, sondern eben ein Gas, es konnte doch eine ganz bedeutende Höhe über dem Kraterrande erreichen, zumal wenn ein von unten kommender Wind einsetzte, nur eine aufsteigende Luftströmung — kurz, es war das Beste, wenn man sich schnellstens nach oben retirierte, dem Land- oder vielmehr Gasfrieden war doch nicht recht zu trauen, und das Stickgas machte sich ja auch wirklich schon unangenehm bemerkbar.
Wehe also, wenn jetzt etwas an der Maschinerie versagt hätte! Aber der Motor funktionierte, die ›Libelle‹ schraubte sich in die Höhe.
Lilly löste die Umschnürung des Pakets, so groß wie eine Handtasche. Die äußere Umhüllung bestand aus weißem Segeltuch — und immer anderes Segeltuch musste entfernt werden, bis schließlich nur ein Kuvert zum Vorschein kam, mit roten Siegeln versehen.
Breithaupt wandte sich ab, als er sah, wie sich Lilly beim Erbrechen der Siegel und des Kuverts etwas zur Seite drehte.
»Ja«, sagte sie eine Minute später, »es ist eine Mitteilung für den etwa zurückkehrenden ›Tyrann‹ oder für den Boten, den Kapitän Hartung schicken könnte. Dieser hätte nur meine ›Libelle‹ benutzen können, so wäre ich selbst dieser Bote gewesen. Es ist alles anders gekommen, aber schließlich ist die Mitteilung doch für mich bestimmt.«
»Und darf ich erfahren, was sie enthält?«
»Der Hauptsache nach, ja. Was für ein Datum ist heute? Ich weiß. Heute vor elf Tagen ist ein Ausbruch der Kohlensäure von furchtbarer Heftigkeit erfolgt, zum ersten Male mussten alle Kolonisten ins Luftschiff gehen, nicht nur zur Übung, sondern um sich zu retten. Der Saugapparat war eingestellt worden, zeigte sich aber ganz wirkungslos, konnte die ausströmende Kohlensäure nicht bemeistern. Drei Tage hat das Luftschiff über dem Tale gekreuzt, immer einem furchtbaren Sturme aus Westen trotzend. Dann haben die Kolonisten die Hoffnung aufgegeben, dass sich der Kessel wieder von Kohlensäure entleeren würde. Oder sie waren überhaupt wegen Proviantmangels und aus anderen Gründen gezwungen, die Gegend hier zu verlassen. Das Luftschiff hat die Reise nach Mexiko angetreten, nach dem Monte Cerboli, will aber dabei den Weg nach Osten machen. Es kommen dabei die jetzt herrschenden Windverhältnisse in Betracht, es sind auch noch andere Gründe vorhanden, dass man diesen fast noch einmal so weiten Weg nach Osten wählt, um nach Mexiko zu gelangen. So schreibt Mr. Jeffer, der zurückgebliebene Stellvertreter des Kapitäns Hartung. — Sie verzeihen wohl, wenn ich Ihnen nicht den ganzen Brief wörtlich vorlese. Es sind auch einige Sachen darin erwähnt, die ich wirklich geheimhalten muss, solange Sie noch nicht definitiv einer der Unsrigen sind. Verzeihen Sie mir, dass ich noch immer...«
»Bitte sehr, bitte sehr, ich bewundere sogar Ihre Verschwiegenheit.«
»Ich möchte dieses Schreiben lieber vernichten, nachdem ich mir einige Notizen daraus gemacht habe.«
Sie nahm ein Zettelchen Papier, schrieb darauf einiges, ließ es im Busen verschwinden, dann hielt sie den Brief in der etwas geöffneten Maschinerie an die Stichflamme, ließ ihn verbrennen.
»So. Jetzt können auch wir die Weiterfahrt nach Osten antreten, wenn wir hier nicht warten wollen, bis sich die Kohlensäure wieder verlaufen hat, was gute Weile haben dürfte.«
»Nach dem Monte Cerboli zurück?«
»Gewiss. Wohin sonst? Ich bin herzlich froh, dass mir Aufschub gegeben ist, ehe ich den Tod des Kapitäns und der anderen melden muss, wenn es auch nur eine Galgenfrist ist. Jawohl, nach dem Monte Cerboli zurück.«
»Und auch wir wollen den bedeutend weiteren Weg nach Osten machen, sodass wir dabei die ganze Erde umquert haben?«
»Ja, ich will der Spur des zweiten Luftschiffes folgen.«
»Der Spur? Wie ist das zu verstehen?«
»Ich habe Ihnen ja nur die Hauptsache mitgeteilt. Doch sprach ich auch schon von besonderen Gründen, welche Mr. Jeffer veranlassen, den Weg nach Osten herum zu nehmen. Er will dabei einige Punkte in Indien, Australien und in anderen Gegenden aufsuchen, wie schon längst geplant war, wenn nur die ersten Arbeiten hier verrichtet waren, sodass die Luftschiffe frei waren. Die erste Aufgabe musste natürlich die Besiedelung oder doch der Besuch des Monte Cerboli als der neuen, zukünftigen Heimat sein. An allen betreffenden Punkten will nun Mr. Jeffer, wie er schreibt, Nachrichten von sich hinterlassen.«
»Wissen Sie denn diese Punkte — also doch geographische Punkte — zu finden?«
»Mr. Jeffer hat sie angegeben, die eben habe ich mir abgeschrieben. Hier sind sie.«
Lilly zog den Zettel wieder aus dem Busen. Dass sie ihn dort einstweilen geborgen, hatte nichts Besonderes zu sagen. Auf dieser in den Lüften befindlichen Flugmaschine konnte man doch nichts so ohne weiteres irgendwo hinlegen, am wenigsten ein Stückchen Papier, das wäre ja sofort davongeflogen, und bei dem weiblichen Geschlecht vertritt nun einmal der Busen häufig die Tasche.
Der junge Ingenieur hatte eine abwehrende Handbewegung gemacht.
»Wenn es sich um ein Geheimnis handelt...«
»Nein, es ist kein Geheimnis, wenigstens nicht für Sie. Überhaupt bedarf ich ja Ihrer, ohne Sie könnte ich die durch geografische Zahlen angegebenen Punkte ja gar nicht finden, also müssen Sie dieselben doch sowieso lesen.«
»Wenn Sie mich aber nun nicht hätten? Es ist doch nur Zufall, dass ich bei dieser Reise Ihr Begleiter geworden bin.«
»Diese ganze Reise ist eben nur ein Zufall. Wäre ich von Kapitän Hartung als ein Expressbote mit dem Aeroplan zurückgesandt worden, so hätte ich doch natürlich einen Mann mitbekommen, der solche geografische Ortsbestimmungen zu machen versteht.«
»Und wenn ich nun nicht zufällig Ihr Begleiter geworden wäre?«
»Dann hätte ich jetzt erst einen anderen Geografen aufgesucht, dem ich mich in dieser Hinsicht hätte anvertrauen müssen. Wollen Sie den Zettel nun endlich nehmen oder nicht?«
Breithaupt nahm ihn. Es waren also mehrere geografische Ortsbestimmungen, alle mindestens bis zur Sekunde, einige sogar bis zur Zehntelsekunde gemacht.
Ohne erst die Landkarte befragen zu müssen, erkannte der Vermessungsingenieur, doch ein halber oder sogar ganzer Geograf, wo die betreffenden Punkte lagen.
»Der erste Punkt liegt in Vorderindien — beim zweiten dürfte Tibet in Betracht kommen — dann der malaiische Archipel — dann das Festland von Australien, ziemlich das Zentrum... und all diese Punkte wollen auch wir aufsuchen?«
»Jawohl. Ich will unbedingt jenem Luftschiffe folgen, falls es etwas hinterlassen hat.«
»Das ist eine Reise rund um die Erde — oder von hier aus doch immer noch zwei Drittel herum.«
»Nun, was hat das für meinen Aeroplan zu bedeuten? War nicht auch das erste Drittel nur eine Spielerei?«
»Darf ich fragen, ob Sie wissen, was sich an jenen Punkten befindet?«
»Fragen dürfen Sie, aber eine Antwort kann ich Ihnen nicht geben. Ich weiß nur, dass das Luftschiff dort immer landen und für alle Fälle eine Botschaft hinterlassen wird.«
»Weshalb sich Mr. Jeffer nach diesen Punkten begibt, wissen Sie nicht?«
»Keine Ahnung. Höchstens weiß ich noch, dass schon immer eine Erdumsegelung in den Lüften geplant worden ist, es sollten nur erst hier die nötigen Arbeiten vollendet werden.«
»So wollen wir hier nicht mehr warten?«
Es hätte wohl wenig Zweck gehabt, oder sie hätten sicher gar lange warten müssen, denn es sah gar nicht danach aus, als ob sich die Kohlensäure in dem Kraterkessel so bald wieder verlaufen würde.
So richtete sich der Schnabel des Riesenvogels wieder nach Osten, er sauste davon, ohne dass Breithaupt etwas von den Einrichtungen dort unten im Tale näher zu sehen bekommen hätte.
Die ›Libelle‹ hatte den Indischen Ozean überflogen. Für solch ein Tier wie dieser künstliche Riesenvogel war das nur ein Katzensprung gewesen — wenigstens im Vergleich zum Fluge über den Atlantischen Ozean.
Nur einmal war ein Dampfer angesprochen worden, Breithaupt hatte sich von ihm richtige Uhrzeit geben lassen. Beinahe hätte er sie nicht bekommen. Der Kapitän des Dampfers war durch den Anblick des aus großer Höhe herabsausenden Drachens so bestürzt gewesen, dass er sich gleich um eine ganze Stunde irrte — was natürlich von Breithaupt schnell genug bemerkt wurde.
Es war gegen Sonnenuntergang, als man die Westküste Vorderindiens zwischen Bombay und der großen Halbinsel Gujarat erreichte. Die Richtung war genau eingehalten worden, und das Ziel lag in der Provinz Bandelakand. Das konnte man, wenn man die geografische Bestimmung jenes gegebenen Punktes hatte, natürlich leicht auf der Landkarte ersehen, so ziemlich im Herzen Vorderindiens gelegen, besonders wenn man das Herz nicht ins Zentrum eines Körpers verlegt, sondern höher hinauf, wohin es gehört — aber sonst wusste niemand etwas von einer Provinz oder Landschaft Bandelakand, und ein geografisches Nachschlagebuch war auf dem Aeroplan nicht vorhanden, zur Mitnahme einer ganzen Bibliothek war dieses Luftfahrzeug denn doch nicht eingerichtet.
»Wir landen einmal und orientieren uns erst etwas über diese zu besuchende Gegend«, riet Breithaupt.
»Nein, das möchte ich nicht«, wehrte Lilly ab. »Sie wissen doch, was für Gründe ich habe, den Verkehr mit jedem fremden Menschen zu meiden.«
»Wie Sie bestimmen. Nur mache ich Sie darauf aufmerksam, dass ich nach Sonnenuntergang keine geografische Ortsberechnung mehr machen kann. Sie allein nach den Sternen vorzunehmen, dazu gehören besondere Apparate und Tabellen, die ich nicht besitze.«
»Auch nicht nach dem Monde?«
»Wir haben das letzte Viertel, das jetzt für Vorderindien im Allgemeinen erst in der vierten Morgenstunde aufgeht.«
»Und wie weit sind wir noch von jenem Punkte entfernt?«
»Noch sieben Flugstunden, wenn die Stunde mit rund hundert Kilometern eingehalten werden kann.«
»Genügt Ihnen nicht, nur nach dem Kompass die Richtung einzuhalten?«
»Nur um die Provinz Bandelaland zu erreichen, gewiss. Schließlich kommt es ja auch nicht darauf an, ob wir etwas darüber hinaus- oder vorbeifliegen.«
»Dann fliegen Sie los, bitte.«
Immer freiere Hand ließ die Besitzerin des Aeroplans ihrem Gefährten. Der geistige Führer war ja auch er, wenigstens wenn es sich um die Aufsuchung eines bestimmten Ortes handelte. Nur wenn es gewisse Manöver auszuführen galt, der Aeroplan in einem böigen Sturmstoß zu kentern drohte und dergleichen, dann allerdings war es immer noch die Artistin, die nie Steuer und Hebel aus der Hand ließ. Es ging durch die Nacht, die bei bedecktem Himmel so finster war, dass man, gleich im Anfange der Nachtfahrt, mit vollster Kraft beinahe gegen eine jäh sich erhebende Felswand gerannt wäre, obgleich man sich, schon mit den hohen Küstengebirgen rechnend, in einer Höhe von 2000 Metern gehalten hatte — vom Meeresspiegel aus gerechnet. Nur durch Lillys Geistesgegenwart und durch den wunderbaren Gehorsam dieser von Menschenhand gefertigten Riesenlibelle war man der furchtbaren Katastrophe entgangen.
Der Aeroplan musste immer noch tausend Meter höher gehen, ein noch intensiverer Blendstrahl, der den Wasservorrat bald zu erschöpfen drohte, wurde vorausgeschickt. Mochten die Erdenbewohner dort unten an eine Sternschnuppe glauben, die einmal außergewöhnlich lange sichtbar blieb, übrigens auch recht langsam ihres Weges dahinging. Denn so ein Meteor, der sich an unserer Erdatmosphäre glühend reibt, ist denn doch etwas anderes.
Aber auch dieser stärkste Blendstrahl wollte nicht recht wirken, verlor sich in einem Nebel und das immer mehr, wurde zuletzt ganz wirkungslos.
»Wir befinden uns direkt in den Wolken, und ich glaube, ich habe in der Ferne schon donn...«
Das, was die beiden jetzt zu hören und noch mehr zu sehen bekamen, vollzog sich nicht mehr in der Ferne, sondern in ihrer allerdichtesten Nähe.
Ein Knall, für dessen ohrenbetäubende Furchtbarkeit es kein erläuterndes Gleichnis gibt, eine feurige Schlange, welche den Aeroplan verschlucken wollte... ja, dann war es wieder vorbei, aber man hatte gerade genug gehabt, besonders Breithaupt.
»Das hat eingeschlagen!«, ächzte er, so eine Redensart gebrauchend, als er sich bewusst wurde, noch auf seinem Stühlchen zu sitzen.
»Mag es — bei uns nicht, das ist die Hauptsache«, ließ sich Lillys Stimme aus der Stockfinsternis mit eiserner Ruhe vernehmen.
»Ich schlage vor, doch lieber eine Landung vorzunehmen.«
»Ganz im Gegenteil, ich lasse die ›Libelle‹ bereits steigen. Besser über den Wolken als darunter.«
Als das Barometer 3000 Meter anzeigte, hatten sie sternenklaren Himmel über und das Gewitter in den Wolken unter sich. Und was für ein Gewitter! Eben ein indisches Gewitter, von dem nur einer sich eine Vorstellung machen kann, der so etwas schon einmal erlebt hat. Ein ununterbrochenes Durcheinander von feurigen Zickzackschlangen, die ein entsprechendes Konzert dazu machen.
Aber jedes Gewitter hat seine begrenzte Region, diese ist sogar viel beschränkter als die der Regenwolke. Und dieses Luftboot hier machte, von starkem Achterwinde getrieben, jetzt noch viel mehr als hundert Kilometer in der Stunde. Bald hatte man das Feuermeer hinter sich, immer schwächer wurde das Murren des ununterbrochenen Donners.
Die letzte Wache für die schlafenden Gefährten hatte Breithaupt gehabt, er war achtzehn Stunden ohne Schlaf, die Natur fordert ihre Rechte. Füße und Arme in Schlingen, schlummerte er sanft ein. Bis er von Lilly geweckt wurde!
»Es ist zwei Uhr. Wir sind von der Küste aus genau sieben Stunden geflogen, und zuletzt haben wir Gegenwind gehabt, sodass sich unsere erste große Geschwindigkeit wieder ausgeglichen haben dürfte.«
Es war klarer Sternenhimmel, unter ihnen aber nichts zu sehen.
»Wie hoch befinden wir uns?«
»Ich lasse die ›Libelle‹ in einer Höhe von genau tausend Metern stillstehen.«
Es war nötig, dass dies dem Aufgewachten erst gesagt wurde. Dieser Aeroplan flog unter normalen Verhältnissen so sanft dahin, dass man von der Bewegung gar nichts merkte, und gerade durch die Windströmungen konnte man ja irregeführt werden.
»Es herrscht vollkommene Windstille«, ergänzte Lilly noch.
»Tausend Meter über dem Erdboden?«, fragte der noch etwas schlaftrunkene Ingenieur.
»Nein, natürlich über dem Meeresspiegel, über Normalnull. Etwas anderes sagt mir ja der Barometer nicht.«
»Und wie hoch über dem Erdboden?«
»Das weiß ich nicht. Ich bin nur bis auf tausend Meter herabgegangen, da ist von der Erde noch nichts zu sehen.
»Warum sind Sie nicht gleich tiefer gegangen?«
»Ich wollte Sie erst wecken, nicht ohne Ihr Mitwissen handeln.«
Breithaupt spähte hinab. Nichts als undurchdringliche Finsternis.
»So gehen wir mit der nötigen Vorsicht doch tiefer.«
Der Aeroplan senkte sich langsam vertikal hinab, den Blendstrahl nach unten gerichtet.
Die Weltkarte, die sie besaßen, war so groß, dass auch in Indien alle Provinzen und die Gebirge angegeben waren, aber die Höhenangaben fehlten. Die Provinz Bandelakand zeigte einfach einen weißen Fleck, konnte aber trotzdem große Höhenzüge, wenn nicht hohe Gebirge enthalten. So weit ging die Genauigkeit solch einer Weltkarte denn doch nicht.
Nun, bei dieser Windstille war das Auskundschaften der unten liegenden Gegend, besonders wenn man nur die Höhe der Oberfläche erforschen wollte, ganz gefahrlos. Der Blendstrahl reichte etwa 30 Meter weit, dann wurde sein Licht unkontrollierbar, wenigstens hier, wo trotz aller Klarheit sehr feuchte Luft zu herrschen schien.
Das Barometer zeigte ungefähr 600 Meter Höhe an, als beide gleichzeitig unter sich und etwas voraus in der Tiefe ein Lichtchen erblickten, und auch Alberich hatte schon seine Hand danach ausgestreckt.
»Dem Flackern nach ist es ein offenes Feuer«, wurde alsbald entschieden.
Nach kurzer Beratung beschloss man, sich dem Feuer zu nähern, aber mit gelöschten Lichtern.
Zwei Minuten später befand man sich an Ort und Stelle, soweit eine Annäherung angebracht war.
Bei 420 Meter Barometerhöhe schwebte der Aeroplan dicht über einem Urwald, dessen Bäume, wie überhaupt im tropischen Indien, nicht allzuhoch waren — schwebte aber nicht direkt über den Wipfeln, sondern über einer kleinen Waldblöße.
Was man auf dieser nun zu sehen bekam, das war allerdings angebracht, die letzte Annährung vorläufig zu vermeiden, lieber erst einmal in aller Stille weiter zu beobachten.
In der Mitte der Lichtung brannte ein helles Holzfeuer, welches vier Männer beleuchtete, Inder, die sich in ihrer Tracht nach drei Seiten hin unterschieden.
Zwei von ihnen waren offenbar vornehme Hindus, wenigstens waren beide sehr reich gekleidet, aber doch ganz verschieden. Beide repräsentierten die altindische Nationaltracht, die zwei Möglichkeiten hat. Der eine nämlich, ein alter Mann mit wallendem, weißem Vollbart, trug Kaftan und Turban, beides von schwerer Seide, schwarz, aber bunt durchwirkt, oder wahrscheinlicher kostbare Handstickerei, und überall sah man goldgefasste Steine blitzen, die nach ihrem brillanten Feuer sicher echt waren.
Der andere Hindu, jung und kräftig, äußerst kurzes Jäckchen, das die noch buntere Weste sehen ließ, und ungemein enge Beinkleider aus weißer Baumwolle, aber doch nicht trikotartig gefertigt, dazu waren sie oben wieder zu weit.
Das sind die beiden uralten indischen Nationaltrachten, und nicht etwa, dass der Alte unter seinem Kaftan ein ähnliches enges Kostüm getragen hätte.
Ferner war der Jüngere jetzt barhäuptig, und auffallend war seine Haarfrisur: der ganze Kopf war kahl rasiert, bis auf einen Haarbüschel, den er aber nicht nach Art der nordamerikanischen Indianer in der Mitte des Schädels hatte, sondern vorn in der Nähe der Stirn.
Es ist dies die Haartracht, die man auch viel bei den Arabern findet, nicht aber bei den mohammedanischen Indern, hier in Indien hingegen wieder allgemein bei den strenggläubigen Sikhs, den wilden Bewohnern des Himalajagebirges, die den Engländern — allerdings ganz freiwillig, gegen hohen Sold — die beste irreguläre Kavallerie liefert.
Und einen furchtbar wilden Eindruck machte auch dieser junge, herkulische Inder, mit dem herabfallenden Haarstutz, mit dem langherabhängenden schwarzen Schnurrbart, und wenn die Beobachter in ihrer Höhe einmal sein Gesicht zu sehen bekamen, so erblickten sie erst recht finstere, von wildem Trotz erfüllte Züge, in denen die Augen wie glühende Kohlen leuchteten. An Waffen zeigte er nur einen Kris, den langen flammenähnlichen Dolch, den er in der blauen Schärpe stecken hatte, ohne Scheide, der Griff von Juwelen strotzend.
Diese zwei hockten mit untergeschlagenen Füßen am Feuer und beobachteten die Arbeit der beiden anderen.
Das waren zwei Inder in gewöhnlicher Arbeitstracht, im kurzen baumwollenen Kittel von ordinärster Sorte, Kulis. Jeder handhabte eifrig einen Spaten, sie gruben in den Rasenboden ein Loch, waren schon ziemlich tief gekommen und machten es immer länglicher, und dieses Loch sah ganz so aus, als sollte es...
»Tot, alles tot!«, seufzte wieder einmal der Zwerg, aber so leise, dass es nur die Ohren der dicht neben ihm Sitzenden vernehmen konnten.
»Bei Gott«, flüsterte Lilly erregt, »das sieht geradeso aus, als sollte es ein Grab werden!«
Auch Breithaupt hatte schon genau denselben Gedanken gehabt, jetzt aber wollte er es nicht so ohne weiteres zugeben, musste dem widersprechen, weil er im Moment glaubte, nur die stereotype Redensart des Zwerges wolle ihm erst jetzt diesen Gedanken suggerieren, und dessen schämte er sich.
»Weshalb denn gleich ein Grab?«, flüsterte er zurück. »Wo ist der Tote, der hineingelegt werden soll?«
Der fehlte allerdings. Das kurze Gras konnte nichts verbergen, das große Feuer erleuchtete die ganze Lichtung, zwischen den beiden Hindus lag nur noch ein kleines Bündel, das nicht einmal die Leiche eines neugeborenen Kindes verhüllen konnte.
»Die Leiche liegt im Walde oder wird noch gebracht«, beharrte Lilly bei ihrer Meinung.
»Warum muss es denn gerade ein Grab sein?«, wiederholte Breithaupt. »Sieht denn das Loch überhaupt wirklich so aus? Da geht doch gar kein Mensch hinein, dazu ist es doch viel zu kurz.«
Er hatte Recht. Die beiden Kulis waren jetzt offenbar fertig mit ihrer Arbeit. Der junge Hindu erhob sich, ging hin, betrachtete die Grube, nickte zufrieden. Also fertig, was auch das weitere Gebaren der Arbeiter bewies. Nun hatten sie das Erdloch allerdings länglich gemacht, aber ein richtiges Grab, um einen Menschen aufzunehmen, viermal so lang wie breit, war es bei weitem nicht geworden.
»Wozu aber sonst diese Arbeit, dieses Auswerfen einer großen Grube mitten im Urwald?«, gab Lilly jetzt wohl erst ihre Ansicht auf.
»Tor, alles tot!«, seufzte Alberich noch einmal.
Sein Unglückskrächzen wurde nicht beachtet, man zwang sich mit Gewalt dazu.
»Woher wissen Sie denn, dass wir uns hier mitten in einem Urwald befinden?«, fragte Breithaupt. »Das kann ein Park sein, gar nicht so sehr verwildert, dicht daneben steht ein Wohnhaus.«
»Und da wird diese Erdarbeit in der zweiten Nachtstunde vorgenommen?«
»Freilich«, musste der Ingenieur zugeben, »etwas Außergewöhnliches ist es. Vielleicht sind wir Zeuge, wie ein Schatz vergraben wird, so ein sagenhafter Maharattenschatz im Werte von ungezählten Millionen.«
Er hatte es scherzhaft sagen wollen, seine Begleiterin nahm es für Ernst.
»Oder die Frucht eines Verbrechens, eine Beute. Der junge Kerl mit dem zerfetzten Gesicht sieht überhaupt ganz so wie ein Bandit aus.«
»Aber der Alte ist wieder ganz das Gegenteil, der macht einen höchst ehrwürdigen Eindruck. Jetzt fängt er sogar zu beten an. Und seit wann beten Mörder und Diebe?«
»Schon seit dem grauen Altertum«, gab die Amerikanerin schlagfertig zurück. »Denken Sie nur an Ihre schönen Ritterzeiten, was für fromme Helden das waren, die nie vergaßen, zur Beichte zu gehen, um dann mit reinem Gewissen von neuem die reisenden Kaufleute zu plündern, und an manchen Stellen der Nordseeküste soll noch heute der liebe Gott sogar in der Kirche angefleht werden, er möge die Küste doch mit recht viel Schiffbrüchigen segnen. — Ja, was aber soll hier zur nächtlichen Stunde in den Schoß der Erde versenkt werden?«
»Tot, alles tot!«, seufzte Alberich zum dritten Male, und Breithaupt hatte einmal fast Lust, dem alten Knaben eins auf den Mund zu geben.
Jetzt aber schien das Rätsel seiner Lösung entgegengehen zu wollen. Auch der alte Hindu erhob sich. Zuletzt hatte er die reichberingten Hände in jener eigentümlichen Weise zusammengelegt, wie es die brahmanischen und buddhistischen Inder tun, wenn sie beten, ganz anders wieder als die Juden, hatte vor sich hingemurmelt. Sonst war zwischen den vieren noch kein einziges Wort gewechselt worden.
Zum ersten Male sprach der junge Hindu zu dem alten etwas, sehr ehrfürchtig. Von den drei Lauschern verstand keiner die ihnen fremden Worte zu deuten.
Also der Alte erhob sich, schritt langsam nach der Grube, kniete an ihrem Rande nieder, betete weiter.
»Jetzt begeht er den Raub«, flüsterte Lilly, »oder segnet die Grube, die den Schatz aufnehmen soll. Da, der junge Räuber geht schon, ihn zu holen, nimmt den Zwerchsack dazu mit.«
Richtig, der junge Hindu war unter Mitnahme des Bündels in den Wald gegangen, war für die Blicke der in den Lüften befindlichen Beobachter verschwunden.
Auf beiden Seiten der Grube, aber in einiger Entfernung davon, standen die beiden Kulis, sich auf ihre Spaten stützend, blickten aufmerksam nach dem Alten, der dicht am schmäleren Rande der Grube kniete, den Rücken der Richtung zukehrend, in welcher sein junger Gefährte verschwunden war.
Er betete noch immer mit zusammengelegten Händen, den Oberkörper etwas vorgeneigt, aber dabei nach oben blickend, wozu er also den beturbanten Kopf wieder zurückneigte. Doch den Aeroplan konnte er dabei nicht erblicken, der schwebte bedeutend hinter ihm, gesetzt überhaupt den Fall, dass er auch trotz des sternenbesäten Himmels zu unterscheiden gewesen wäre.
So vergingen einige Minuten, und nichts wollte sich an dieser Situation ändern.
»Was soll hieraus noch werden?«, flüsterte Lilly in leichtbegreiflicher Neugier.
Die Antwort, wenn es eine solche war, gab wiederum Alberich.
»Tot, alles tot!«, seufzte er.
»Mensch«, raunte Breithaupt ihm unwillig zu, »du bist ja zu bedauern, aber wenn du nun nicht bald...«
Das Wort erstarb dem Flüsternden im Munde. Dort unten hatte sich in einem Momente etwas Furchtbares zugetragen.
Auch während des Flüsterns hatte Breithaupt den Blick nicht von der Tiefe gewendet, so wenig wie die anderen — und da plötzlich sah er im Feuerscheine etwas Blitzendes und Gleißendes dicht über dem rasigen Grunde dahinsausen, wie ein breites, glänzendes Stahlband war es, das beim Dahinsausen aber keine Spur hinterließ — es kam von dort aus dem finsteren Walde, wo der junge Hindu verschwunden war — und dieses gleißende Etwas sauste direkt gegen den im Gebet zurückgeneigten Kopf des Alten, traf gerade seinen Nacken — fuhr durch den Nacken und fuhr weiter und verschwand gegenüber wieder im Walde — und da plötzlich neigte sich der Oberkörper des Alten noch weiter nach vorn, wollte in die Grube hineinstürzen — aber noch eher als der ganze Körper stürzte, fiel der beturbante Kopf herunter und verschwand zuerst in der Grube, wurde von einem starken Strome roten, rauchenden Blutes begossen, der dem Halsstumpfe entsprang — dann fiel auch der ganze Körper vornüber, verschwand in der Grube, die ihn völlig aufnahm — und alsbald begannen die beiden Arbeiter wieder mit dem Zuschaufeln, so ruhig, so gelassen, als wenn nichts geschehen wäre, als wenn sie eben ein zwecklos ausgeworfenes Erdloch wieder zuschaufelten — und ebenso gelassen kam auch der junge Hindu wieder aus dem Walde heraus, statt des Bündels jetzt nur einen kurzen Stock in der Hand.
Was die Beobachter oben in den Lüften dazu dachten, das lässt sich nicht schildern.
Zunächst dachten sie überhaupt gar nichts. Höchstens, dass sie glaubten, nur geträumt zu haben, oder ihren Augen nicht trauen zu dürfen. Dieser ganze Vorgang hatte sich auch so fabelhaft rasch abgespielt, viel, viel schneller, als sich hier erzählen ließ. Der sausende Blitz, Kopf ab, Blutstrom, Nachsturz des ganzen Körpers, Anfang des Zusammenschaufelns — das war ja alles nur eins gewesen.
Breithaupt war es, der zuerst die Sprache wiederfand.
»Thugs, das sind Thugs!!«, hauchte er.
Wenn die Artistin auch sonst nicht viel von Indien wusste, die Bedeutung dieses Wortes kannte sie, gerade weil sie eine Amerikanerin war. Denn ein Amerikaner ist es gewesen, der sich am intensivsten mit dieser Mördersekte beschäftigt hat, ihr am erfolgreichsten zu Leibe gerückt ist. Über diesen Mann und seine Abenteuer existiert in Amerika eine ganze Literatur, die nur noch nicht — glücklicherweise — bis zu uns gedrungen ist.
Also eine indische Mördersekte, Thugs genannt. Oder auch Phansigars, von Phansi, die Schlinge.
Denn sie ermorden ihre Opfer nur durch Erdrosselung mittels einer seidenen Schlinge, dürfen es nicht anders tun, denn dieser Mord ist eine heilige Handlung. Es sind Priester und Verehrer der Göttin Kali, die alles hasst, was die guten Geister geschaffen haben, und am meisten hasst sie die Krone der Schöpfung, den Menschen.
Dass es eine solche Mördersekte gibt, haben die Europäer, solange sie mit Indien in Berührung sind, immer gewusst oder doch geahnt. Wenn es nicht ganz ›aufgeklärte‹ Köpfe waren, die solches Geschwätz ins Reich der Fabel verwiesen. Ja, es verschwanden genug Menschen, Europäer wie Eingeborene, Männer, Frauen und Kinder, verschwanden spurlos — aber soll das in Indien nicht leicht möglich sein, auf diesen von Urwäldern und Dschungeln begrenzten Landstraßen, in diesen Lasterhöhlen der Städte!
Man sprach von Schlingenwerfern, und dergleichen, mancher Überfallene konnte noch rechtzeitig die Schlinge durchschneiden, sonst aber wusste man gar nichts.
Im Jahre 1830 erbot sich der englischen Regierung ein amerikanischer Abenteurer, Indien von den Thugs zu befreien. Er nannte sich Kapitän Howes, hatte sein ganzes Leben an den Indianergrenzen zugebracht, war aber schon in Indien gewesen, wollte mit den Schlingenwerfern ganz intime Bekanntschaften gemacht haben, wusste Fürchterliches zu erzählen. Lord William Ventinck, der ehemalige Generalgouverneur von Indien schenkte ihm Glauben, gab ihm die gewünschten Vollmachten. Und von 1831 bis 1837 hat sich dieser Kapitän Howes achtmal die seidene Schlinge über den Kopf werfen lassen, hat einige hundert Stellen nachgewiesen, wo man erdrosselte Menschen vergraben fand, hat Lord Ventinck 3266 geständige Thugs hinrichten lassen!
Geständig insofern, als sie zugeben mussten, schon Menschen erdrosselt zu haben oder doch zu den Verehrern der Kali zu gehören. Sonst war aus keinem einzigen etwas herauszubringen. Kapitän Howes ist der einzige gewesen, der jemals über das Treiben dieser Mördersekte hat vollständigen Aufschluss geben können, er hat sich einzuschleichen gewusst, ist selbst Mitglied gewesen, erzählt ganz offen, dass er zur Prüfungsarbeit mit eigener Hand einige Opfer erdrosseln musste. So hatte er auch ihre Geheimsprache erlernt, von ihnen Ramajana genannt, hat darüber sogar ein Wörterbuch und eine Grammatik herausgegeben.
Dieses Ramajana mussten eingeborene Detektive erlernen — den normalen Indern sind die Thugs doch nicht minder verhasst — sie gingen durch das Land, und wer auf die Geheimsprache und gewisse Zeichen reagierte, der wurde als Phansigar festgenommen und alsbald einen Kopf kürzer gemacht. Hauptsächlich auf diese Weise sind innerhalb jener sieben Jahre nicht weniger als 3266 Inder als Thugs hingerichtet worden, sicher nicht mit Unrecht, ob sie gestanden oder nicht. Nur soll es hin und wieder passiert sein, dass auch solch ein Geheimagent standrechtlich gehangen wurde, eben weil er das Ramajana beherrschte.
Ausführlicher wollen wir hier nicht werden, nicht weiter dieses ganze Sektenwesen schildern. Man hört jetzt wenig von den Thugs, aber sie existieren noch, treiben ihr mörderisches Handwerk zu Ehren der Göttin Kali noch heute, das ist zweifellos, nur sind sie eben viel vorsichtiger geworden.
Wir bleiben bei dem, was die Beobachter in den Lüften schauten, und wollen von den Thugs nicht mehr wissen, als diese wussten.
Breithaupt hatte ihren Namen ausgesprochen, eines weiteren Wortes war er auch nicht fähig, oder alle drei hüteten sich jetzt, auch nur ein Flüstern von sich zu geben.
Mit angehaltenem Atem beobachteten sie. Alles Weitere hatte sich in kaum fünf Minuten abgespielt.
Schnell war das Grab wieder zugeschaufelt, die zwei Kulis stampften etwas auf dem Hügel herum, unterdessen warf schon der junge Hindu Rasenstücke auf das Feuer — in dessen letztem Leuchten sah man die drei im Walde verschwinden.
»Thugs!«, wiederholte Lilly erst jetzt, während es unter ihnen aus der Finsternis nur noch etwas glühte. »Wir dürfen sie nicht so gehen lassen, es sind Mörder!«
»Das hätten Sie eher sagen sollen, wenn das Ihre Absicht war«, meinte Breithaupt.
Ja, jetzt wäre es schwer gewesen, die dort unten noch zu fassen. Das waren Inder, hier zu Hause, und die drei Europäer waren ja ganz auf ihren Aeroplan angewiesen.
Sie hätten sie höchstens von oben niederschießen können, aber das war alles viel zu schnell gegangen, diese Guillotierung, und dann beim Einschaufeln hatte man immer noch keinen Entschluss fassen können.
»Besser, wir haben uns nicht eingemischt, auch nachträglich nicht«, nahm Breithaupt wieder das Wort. »Hier wurde doch offenbar ein Strafakt vollzogen, und wer sagt uns denn, dass es nicht ein ganz gerechter war?«
»Es waren Thugs!«, konnte Lilly zunächst nur wiederholen.
»Haben Sie von den Thugs schon gehört?«
»Ich habe genug über sie gelesen.«
Ja, die Artistin war sehr gut über die Thugs orientiert, eben durch jene Bücher, ebenso auch Breithaupt, wenn sie auch nicht alle die in Betracht kommenden indischen Namen wussten, und sie tauschten schnell noch ihre Meinungen aus.
Die Thugs sind ganz gemeine Raubmörder, denen es nur auf das Geld und die Schmucksachen ihrer Opfer ankommt. Mag das mit der Göttin Kali auch ursprünglich ein religiöser Kult gewesen sein — im Großen und Ganzen dient das nur als ein scheinheiliger Vorwand. Und um diesen Schein zu wahren, beobachten diese professionellen Raubmörder gewisse Zeremonien.
»Ich bin schnell wieder von meiner ersten Ansicht abgekommen, dass wir Thugs bei ihrer heimlichen oder vielmehr unheimlichen Arbeit beobachtet haben«, sagte Breithaupt.
»Es waren keine Thugs?!«
»Nein, woraus wollen Sie denn das schließen?«
»Das vorherige Bereiten eines Grabes, noch ehe das Opfer getötet ist...«
»Das ist aber auch das einzige, was uns auf diese Idee, es mit Thugs zu tun zu haben, bringen konnte. Gewiss, die schauerlichen Gesetze dieser Mördersekte schreiben vor, dass der Thug erst das Grab seines Opfers bereiten muss, ehe er dieses mit der Schlinge erdrosselt, das Erdloch muss also immer in nächster Nähe des Opfers ausgeworfen werden, und so mag schon mancher ahnungslos vor seinem eigenen Grabe gestanden haben. Aber wir haben hier doch etwas ganz, ganz anderes beobachtet. Der Alte ist doch enthauptet worden.«
»Ja, und auf welche Weise denn nur? Das ist mir noch völlig unerklärlich!«
»Wie? Sie wissen nicht, wie diese Enthauptung vollzogen wurde?«
»Keine Ahnung. Ich stehe immer noch vor einem Rätsel. Ich sah nur einen blitzenden Gegenstand durch die Luft sausen.«
Breithaupt konnte ihr die Erklärung geben. Es handelte sich um eine ganz besondere Art von Waffe, die nur bei einigen wenigen Stämmen des Himalajas gebräuchlich ist, speziell bei den Sikhs, von diesen Majawena genannt.
Der Diskus, die Metallscheibe, die von den alten Griechen im Wettkampfe geschleudert wurde, dürfte den meisten Lesern bekannt sein. Das Diskuswerfen spielt ja in der Iliade und in der Odyssee eine große Rolle, es wird ausführlich beschrieben, es sind auch Statuen aus jener hellenischen Blütezeit erhalten geblieben, Athleten darstellend, wie sie mit der Scheibe zum Wurfe ausholen.
Aber das Diskuswerfen war nur ein sportliches Vergnügen. Es galt, die Scheibe so weit als möglich zu schleudern, oder auch dabei ein bestimmtes Ziel zu treffen. Im Kriege, im Kampfe, um den Gegner zu töten, ist der Diskus nie verwendet worden.
Solch einen Diskus haben seit den ältesten Zeiten auch die indischen Himalajavölker, benutzen ihn aber nicht als Spielerei, sondern als mordende Waffe, handhaben ihn auch ganz anders.
Es ist ebenfalls eine kreisrunde Metallscheibe, am besten von Stahl, Größe und Stärke richtet sich nach der Kraft des Besitzers, meist etwa 30 Zentimeter in Durchmesser, am Rande stark geschliffen, in der dicken Mitte befindet sich eine Höhlung. Die Scheibe wird mit dieser Höhlung auf einen Stock gelegt, auf dem sie allerdings nicht so ohne weiteres liegen bleibt, sie muss durch eine Handbewegung erst in Rotation versetzt werden, und so wird sie durch eine Armbewegung von dem Stocke abgeschleudert, nach dem Ziele, das sie durchschneiden soll.
Wenn man das Schwert mit einer Bandsäge vergleicht, so ist diese Waffe eine Kreissäge. Diese Himalajavölker sind die einzigen Menschen auf der Erde, die solch ein rotierendes Kreisschwert erfunden haben, das sie auch als Geschoss fortschleudern.
Freilich berichten die Reisenden, die dort gewesen sind, diese Waffe ist nicht so einfach zu handhaben, nur die Scheibe auf dem Stocke so in Rotation zu versetzen, das lernt mancher in seinem ganzen Leben nicht, dazu gehört wohl ein besonderer Kniff, den einem ein besonderer Lehrmeister beibringen muss, und dann gilt es noch die rotierende Scheibe von dem elastischen Stocke abzuschleudern, und schließlich die Hauptsache: das Ziel zu treffen!
So hatte Breithaupt seiner Gefährtin über diese Waffe berichtet.
»Nein, das waren keine Thugs. Wenigstens haben wir gar keinen Grund, das anzunehmen. Das war eine ganz voreilige Mutmaßung von mir, erzeugt durch das Bereiten eines Grabes, in das sich ein Toter gewissermaßen selbt hineinlegte. Der Alte ist ganz einfach hingerichtet worden, und er war mit der Vollziehung seines Todesurteils ganz einverstanden. Wer weiß, was der für ein Verbrechen, wahrscheinlich ein religiöses, begangen hat. Merkwürdig ist nur, dass man ihn mit allen seinen kostbaren Schmucksachen verscharrt hat. Überhaupt dieses einfache Verscharren! Aber wenn es Thugs gewesen wären, die hätten ihm natürlich erst alles abgenommen. Ja, wir sind hier Zeuge von einer ebenso schauerlichen wie rätselhaften und geheimnisvollen Szene geworden. Wie gesagt — die Vollziehung einer vom Verurteilten ruhig angenommenen Todesstrafe — mehr weiß ich nicht zu sagen. Wir sind eben in Indien, im Lande der Wunder und Rätsel.«
»Hat er denn die Scheibe nicht wiedergeholt?«, fragte Lilly.
»Ich habe nichts bemerkt, er müsste sie denn...«
»Er hat sie wiedergeholt«, ließ sich da einmal Alberich ganz vernünftig vernehmen, »gleich als der Alte in die Grube gestürzt war, kam der junge Hindu wieder aus dem Walde, ging nach der anderen Siete und löste die Scheibe wohl aus einem Baume, in den sie sich eingeschnitten hatte.«
So war dies den beiden anderen in jenen Minuten, da sie noch ganz unter dem Eindruck des ersten Entsetzens gestanden hatten, nur entgangen.
»Diese Edelsteine, diese Ringe, die der alte Mann trug!«, sagte Lilly, natürlich immer noch im leisesten Flüstertone.
Sich jäh nach ihr umwendend, blickte Breithaupt aufmerksam nach ihr, konnte aber im schwachen Sternenlichte kaum ihre Konturen unterscheiden.
»Können die Sie reizen?«
»Was heißt reizen! Ja, ich liebe solche blitzende Steinchen. Dass man das alles nur so einfach mitverscharrt hat! Dem anderen, dem jungen Hindu, muss sehr wenig an so etwas gelegen sein, hat's wohl nicht nötig, mag selbst genug davon haben — oder aber, wie Sie schon andeuteten, der Alte hatte durch eine religiöse Freveltat einen Fluch auf sich geladen, den auch alles betrifft, womit er in Berührung gekommen. Ob es aber die Arbeiter nicht locken könnte, noch einmal zurückzukehren, um den Toten wegen des Schmuckes wieder auszugraben?«
»Wenn so etwas möglich wäre, wenn der junge Hindu das den beiden Kulis zutraute, dann würde er schon dafür sorgen, dass es eben nicht geschehen könnte. Aber wollen wir den Toten ausgraben?«
»Ausgraben? Wozu denn? Sie meinen, es könnte vielleicht noch gelingen, seine Personalien festzustellen?«
»Um uns den wertvollen Schmuck anzueignen.«
»Um Gottes willen, wo denken Sie hin!«, rief Lilly erschrocken, alle Vorsicht vergessend. »Sie meinen, ich könnte diesen Schmuck tragen? Oder ihn verkaufen? Sie halten mich solch einer Leichenschändung für fähig?«
Der junge Ingenieur blieb zunächst die Antwort schuldig, er tastete mit der ausgestreckten Hand, jedenfalls um die Lillys zu ergreifen, um sie zu drücken, zog aber seine Hand wieder zurück, ohne es ausgeführt zu haben. Es war besser so.
»O nein, ich hielt Sie dessen nimmermehr für fähig«, sagte er dann leise.
»Oder Sie...«
»Nein, nein, ich denke ebensowenig daran. Verzeihen Sie meine vorige Frage. Wissen Sie was: kümmern wir uns doch gar nicht mehr um die ganze Sache, suchen wir sie zu vergessen.«
»Richtig!«, stimmte Lilly bei. »Also warten wir auch nicht hier den Aufgang des Mondes ab, um hier eine geografische Ortsbestimmung zu machen, fliegen wir erst einige Kilometer weiter. Durch Zufall dürften wir diese Waldblöße schwerlich wiederfinden. Sind Sie damit einverstanden?«
»Voll und ganz!«
»So steige ich höher, gehe noch etwas weiter nach Osten.«
Ein leises Knacken verriet, dass sie an Hebeln drehte. Die nach unten gerichtete Propellerschraube musste bedeutend schneller arbeiten, um den in der Schwebe befindlichen Flugdrachen in die Höhe zu bringen.
»Was ist denn das?!«, stieß da Lilly hervor.
Breithaupt merkte zunächst nur, dass der Aeroplan nicht emporstieg.
»Der Motor versagt plötzlich!!«
Er versagte nicht gänzlich, blieb nicht stehen, ließ sich aber nicht in schnelleren Gang setzen, wie Lilly auch an den verschiedensten Hebeln hantierte.
Da konnte jetzt nicht erst noch beraten werden, ob man sich durch ein Licht verraten würde oder nicht — die elektrische Lampe flammte auf, in ihrem Scheine wurde nach dem Fehler gesucht.
Er wurde nicht sogleich gefunden. Und lange hatte man dazu auch keine Zeit, wenigstens nicht, während man hier so frei in der Luft schwebte.
Bei diesem frei auf der Stelle schweben war ja ein beständiges Justieren des Motors nötig, bald musste er etwas schneller, bald etwas langsamer laufen respektive die nach unten gerichtete Propellerschraube sich drehen, nur in großer Höhe kam das nicht so genau drauf an, da glich der künstliche Drachen eben einem großen Vogel, der ohne Flügelschlag ganz unmerkliche Kreise zieht — aber hier in solcher dichten Bodennähe hatte der Motorengang fortwährend geändert werden müssen, und nur weil alles absolut geräuschlos lief, hatten vorhin die dort unten nicht das Geringste gemerkt.
Zuletzt war der Aeroplan wieder etwas gefallen, dem Auftriebe gehorchte er nicht mehr — so schaltete Lilly den Motor gleich ganz aus, richtete den Propeller wieder in die Höhe und ließ den Aeroplan im sanften Gleitfluge auf der Waldblöße landen, keine zehn Schritte von dem im Sterben liegenden Feuer, wobei sie zur Vorsicht jetzt auch noch den großen Blendstrahl vorausgeschickt hatte.
»So, da wären wir doch noch auf dieser unheimlichen Stelle gelandet, deren Existenz wir ganz aus unserem Gedächtnis hatten streichen wollen«, sagte sie phlegmatisch, als sie sich aus dem Sattel schwang. »Freilich eine recht unfreiwillige Landung.«
»Wir haben immer Glück mit unseren unfreiwilligen Landungen.«
»Glück, wieso?«,
»Nun, das hätte uns auch passieren können, als wir gerade über einem der beiden Ozeane schwebten, die wir überflogen haben. Da wären wir wohl geliefert gewesen. Oder ein reißender Strom als Niedergangsplatz genügt auch schon. Und hätten wir uns beim ersten Defekt nicht gerade auf dem gefeiten Dache jener Moschee befunden — in den Straßen Timbuktus wäre es uns wohl übel ergangen, zumal dort einige Menschen waren, denen solch ein Aeroplan keine neue Erscheinung mehr ist.«
»Sie haben Recht, aber lieber wäre es mir, wenn solche unfreiwillige Landungen überhaupt nicht vorkämen. Wo liegt nun der Fehler?«
Als sie ihn auch hier auf festem Boden, wo man sich frei bewegen, seitwärtsgehen und sich gefahrlos bücken konnte, bei oberflächlichem Suchen und Probieren nicht gleich fanden, wollten sie systematisch vorgehen, unter Zuhilfenahme von mehr Licht.
Hierbei aber wollte man, indem man an das narbenvolle, so furchtbar finstere Gesicht des herkulischen Inders dachte, doch lieber etwas vorsichtig sein, wollte eine Wache ausstellen.
Am besten eignete sich hierzu Alberich. Man hatte schon mehrmals bemerkt, was für ein überaus scharfes Auge und noch feineres Gehör der Zwerg besaß. Das heißt, nicht, dass er besonders weitsichtig gewesen wäre, aber sein Auge, obgleich es immer so stumpfsinnig ins Leere stierte — scheinbar — entging auch nicht das Geringste. Bisher hatte man das ja nur in großer Höhe über dem Lande und mehr noch über Wasser beobachtet, da aber hatte er die beiden anderen auch auf jeden Gegenstand aufmerksam gemacht, der unter ihnen auf dem Meere trieb. Allerdings hatte eben nie besondere Scharfsinnigkeit dazu gehört, um diesen Gegenstand zu entdecken, sondern immer nur ganz besondere Aufmerksamkeit, die sich nichts Auffallendes entgehen ließ. In dieser so überaus scharfen Aufmerksamkeit für jede Kleinigkeit lag für den Menschenkenner etwas Tierisches; denn so beobachten Tiere unausgesetzt aufs schärfste die ganze Umgebung — freie Tiere, die noch nicht unter die Fürsorge des Menschen gekommen sind. Aber auch bei Wilden, bei Jägervölkern und Nomaden findet man dasselbe. Die haben doch kein Auge für den herrlichsten Sonnenaufgang, für eine schöne Landschaft, haben kein Interesse für den seltsamst gewachsenen Baum, auch wenn sie ihn zum ersten Male sehen — aber wenn an diesem merkwürdigen Baum ein Axthieb ist, wenn sie daran nur ein Menschenhaar entdecken — dafür interessieren sie sich, da staunen oder erschrecken sie.
Offenbar hatte der Zwerg in der einsamen Wildnis des Monte Cerboli, in der er nicht nur zum wilden Menschen, sondern schon mehr zum wilden Tiere herabgesunken war, solche Fähigkeiten erworben, die nicht mehr recht zum Kulturmenschen passen, der sich sorglos schlafen legen kann, und durch dieselbe unausgesetzte Furcht vor irgendeiner Angst hatte sich bei dem Zwerge auch ein fabelhaft scharfes Gehör entwickelt, welches die ferne Brandung schon deutlich vernahm, von der die beiden anderen noch nicht das Geringste hörten, und gerade in der Nacht waren seine Sinne so geschärft.
Also Alberich sollte die Sicherheitswache übernehmen, das war ihm schon gesagt worden, und er hatte sich bereits mit einer Luftpistole und einem Gewehre bewaffnet.
»Kannst du nicht auch etwas weiter im Walde umherstreifen?«, fragte Breithaupt noch.
»Das kann ich, ich werde es tun«, lautete die bereitwillige Antwort.
»Raubtiere kommen nicht in Betracht, die entsetzen sich vor solch hellem Lichtscheine, höchstens Schlangen. Fürchtest du dich vor Schlangen?«
»Ach, und wie sehr ich mich fürchte!«, erklang es mit einem Male ganz kläglich zurück.
»Vor Schlangen?«
»Nein, vor Schlangen fürchte ich mich nicht, denen gehe ich aus dem Wege.«
»Du siehst sie?«
»Ja.«
»Du kannst sie im Finstern sehen?«
»Nein, das kann ich nicht — oder doch — ich rieche die Schlangen — fühle ihre Nähe — ich rieche und fühle alles, was mir Gefahr droht.«
»Ja, wenn du dich nicht vor Giftschlangen und Raubtieren fürchtest, wovor denn sonst?«
»Ich fürchte mich im Finstern«, erklang es kläglich wie zuvor.
»Vor Gespenstern?«
»Es gibt keine Gespenster.«
»Du fürchtest dich, in den finsteren Wald zu gehen?«
»Ja, sehr.«
»Und dennoch willst du es jetzt sofort tun?«, wunderte sich Breithaupt immer mehr.
»Ich gehe schon«, entgegnete der Zwerg, wandte sich um und verschwand zwischen den Bäumen.
Kopfschüttelnd blickte ihm der junge Ingenieur nach.
»Aus diesen Widersprüchen werde ein anderer klug!«
»Lassen Sie ihn nur gehen«, sagte Lilly, »ich verstehe ihn schon, und ich glaube, Sie auch, Sie finden nur nicht gleich Worte der Erklärung für dieses Verhalten, so wenig wie ich. Diesem armen Menschen ist die beständige Furcht zur zweiten Natur geworden — ja, er fürchtet sich im finsteren Walde, ist aber gegen diese Furcht doch schon ganz abgestumpft. Hauptsache ist, dass wir einen zuverlässigen Wächter haben, sodass wir alle Aufmerksamkeit dem Suchen des Fehlers zuwenden können. Kommen Sie, helfen Sie mir.«
Nach zwei Stunden, als sich der Mond über die Baumwipfel erhob, die Waldblöße mit ziemlich hellem Lichte übergießend, hatten sie den Fehler immer noch nicht gefunden. Jetzt wollte sich der Motor überhaupt nicht mehr in Gang setzen lassen.
»Das ist eine schöne Geschichte!«, seufzte Lilly, die bisher eine unsägliche Geduld bewiesen hatte. »Und ich weiß doch, dass es nur an einem Häkchen liegen kann. Aber wo ist dieses Häkchen! Es bleibt mir nichts anderes übrig, als ich muss wieder einmal den ganzen Motor auseinandernehmen. Dabei ist es am besten, Sie rühren gar nichts an, damit nichts unnötig in Unordnung kommt, kein Schräubchen verloren gehen kann.«
»Na, dann werde ich unterdessen doch noch die geografische Lage dieses Ortes bestimmen, da der Mond nun einmal aufgegangen ist«, meinte Breithaupt, »und wissen möchte ich jetzt doch, wo wir uns befinden.«
»Tun Sie es, und wer weiß ob wir nicht bald das nächste gastliche Haus aufsuchen müssen. So etwas ist mir denn doch noch nicht passiert.«
Breithaupt machte nach dem Monde eine geografische Ortsbestimmung bis zur Zehntelsekunde. Danach befanden sie sich, wenn man die Landkarte zu Rate zog, so ziemlich in der Mitte der Provinz Bandelakand. Aber weiter verriet diese große Weltkarte, wie schon gesagt, sonst nichts.
Hiervon hatte Breithaupt zu seiner Gefährtin gesprochen, hatte die geografischen Zahlen genannt.
Einen Augenblick später trat Alberich aus dem Walde heraus, zum ersten Male. Gerufen hatte man ihn öfters, was nicht gefährlicher war als der weiß-blendende Lichtschein, geantwortet hatte er immer, stets aus einer anderen Richtung, aber sehen lassen hatte er sich noch nicht wieder.
Dass er jetzt auf den Aeroplan zuschritt, hatte seinen gerechtfertigten Grund, Breithaupt hätte ihn wohl sicher sowieso jetzt gerufen. Denn der Zwerg war nun einmal ein ausgeprägtes Zahlengenie, hatte in letzterer Zeit stets Breithaupts geografische Ortsbestimmungen nachgerechnet, meldete sich nun allein zur Stelle.
»Hier Alarich, rechne nach, ob es stimmt«, empfing ihn Breithaupt denn auch.
Vorläufig aber hatte der Zwerg den Aeroplan noch nicht erreicht, war erst in der Nähe des Feuerherdes, in dessen Asche es noch immer etwas glühte, und da stockte sein Fuß plötzlich, er bückte sich, hob etwas auf, hielt im Weiterschreiten die Hand dicht vor Augen.
»Ein Haltestift«, sagte er.
»Was, ein Haltestift?!«, rief Lilly, ihm den dünnen Stahlstift förmlich aus den Fingern reißend. »Himmel, ein Ventilstift vom Vergasungsapparat!«
Jetzt war der Fehler sofort gefunden. Die ganze Maschinerie lässt sich ja schwer beschreiben. Kurz, es handelte sich um einen Ventilstift im Vergasungsapparat, durch dessen Herausfallen der Motor nicht mehr funktionierte.
»Aber wie ist das nur möglich, dass dieser Stift herausgefallen sein kann?!«
Immer wieder sagte und murmelte dies Lilly, während sie den Stift wieder an Ort und Stelle brachte, und unterdessen rechnete der sonst halb oder ganz irrsinnige Zwerg mit fabelhafter Geschwindigkeit des Ingenieurs Exempel nach. Und dabei hatte er noch immer Zeit, ab und zu nach Lillys geschäftigen Händen zu schielen.
»Es stimmt.«
»Dann«, setzte Breithaupt hinzu, »sind wir kaum noch zwei geografische Minuten oder eine halbe geografische Meile von dem bestimmten Punkte entfernt. Wir haben Glück wie immer gehabt.«
»Glück, Glück!«, echote Lilly mit ärgerlichem Spott. »Wenn ich lieber wüsste, wie dieses Stiftchen aus dem Ventil herausfallen konnte!«
Alberich war hinzugetreten, er hatte wieder einmal ganz vernünftige Augenblicke.
»Das, Mylady, kann ich Ihnen erklären.«
»Sie?«, staunte Lilly.
»Ich habe schon einmal gesehen, wie Sie den Motor auseinandernahmen und ich habe es jetzt wieder beobachtet.«
»Nun?«
»Sobald Sie diesen Hebel hier auf halb stellen, hat dieses Stiftchen die Möglichkeit, aus dem Schmierloch herauszufallen.«
Lilly starrte auf die bezeichnete Stelle der Maschinerie, die sie von grundauf selbst konstruiert und eigenhändig gebaut hatte.
»Bei Gott, ert hat Recht!«, musste sie dann beistimmen.
Ein Stöpsel auf dem Schmierloch genügte, um diesen Verlust fernerhin unmöglich zu machen. Der größte Zufall, das größte Glück aber war es gewesen, dass der Zwerg das winzige Stiftchen im Grase hatte liegen sehen, sonst hätten sie den Fehler gar nicht gefunden, denn das kleine Ventil aufzuschrauben, daran hätte Lilly gar nicht gedacht, wenigstens nicht eher, als bis sie sich entschlossen hätte, die ganze Maschinerie bis in all die kleinsten Teile auseinanderzunehmen.
Die Fahrt konnte fortgesetzt werden. Als sie sich in die Höhe schraubten, glaubten Lilly und Breithaupt, jetzt das unter ihnen verschwindende Grab des alten Inders wie die ganze ebenso geheimnisvolle wie grausige Szeneaus ihrer Erinnerung streichen zu können, wenn sie es nur einmal wollten, wenn sie nur die nötige Energie dazu besaßen.
Aber es sollte anders kommen. Sie sollten mit jenen Indern, ob es nun Mörder oder nur Vollstrecker eines gerechten Todesurteils waren, noch nähere, höchst unliebsame Bekanntschaft machen, und... auch ihren zwerghaften Reisebegleiter, den sie nur noch als Ballast bei sich führten, sollten sie noch von einer ganz anderen Seite kennen lernen.
Jetzt im hellen Mondlichte erkannten sie, wie die Gegend unter ihnen beschaffen war, und sie wunderten sich sehr.
Sie hatten an einen Urwald geglaubt, den man sich doch immer auf einer Ebene vorstellt, und jetzt sahen sie, dass es eine ganz gebirgige Landschaft war, nur teilweise bewaldet.
Felsen und Klüfte, alles wild zerrissen, so bizarr als möglich, und dort, wohin der Aeroplan seinen Flug richten musste, um das sonst noch unbekannte Ziel zu erreichen, erhob sich erst recht ein hohes Felsengebirge. Von einer menschlichen Ansiedlung war nichts zu entdecken.
In zehn Minuten hatte die ›Libelle‹ bei sehr gemäßigtem Fluge die auskalkulierten zwei englischen Meilen zurückgelegt, bei dieser Windstille konnte die Richtung nach dem Kompass ganz genau eingehalten werden.
Auf einer abgeplatteten Felskuppe wurde wieder gelandet, um nochmals eine genaue Ortsbestimmung zu machen, was ja während des Fluges natürlich nicht möglich war.
»Sechsundsiebzig Meter weiter in Richtung Nordost zu Ost dreiviertel Ost«, entschied Breithaupt nach der Berechnung, nachdem deren Richtigkeit von Alberich bestätigt worden war.
Wenn man in diese Richtung blickte, so sah man eine hohe, jäh emporsteigende Felswand, am Fuße dicht bewaldet. Der Weg dorthin führte durch Buschholz, aus dem nackte Felsen emporsahen, aber nur kleine, und jedenfalls gab es auch Schluchten.
Diese Felsenkuppe hier, auf der sie gelandet, war die einzige von Bedeutung.
»Sie glauben, dass dort an der Felswand der gesuchte Punkt ist?«, fragte Lilly.
»Ich glaube es bestimmt. Ich als Geometer verstehe Entfernungen abzuschätzen, auch das sonst sehr unsichere Mondlicht kann mich darin nicht irre machen, und ich schätze die Entfernung von hier bis nach jener Felswand auf siebzig bis achtzig Meter.«
»Mir scheint gar nicht, als ob sich außer dieser Stelle hier ein günstiger Landungsplatz für unseren Aeroplan vorfindet.«
Das war schwer zu beurteilen, dazu war das Mondlicht doch zu schwach.
»Auch das Luftschiff, wenn es wirklich hier gewesen ist, muss gelandet sein«, meinte Breithaupt.
»Weshalb?«
»Wenn man den gefundenen Ort näher untersuchen wollte. Da mussten doch Leute ausgesetzt werden.«
»Ja, aber deshalb brauchte es nicht unbedingt zu landen.«
»Nicht?«
»Gesetzt den Fall, der gesuchte und gefundene Punkt befindet sich dort gerade an der Felswand, an ihrem Fuße. Dort kann das Luftschiff überhaupt nicht landen, oder es müssten erst die Bäume gefällt werden, um genügend Platz zu schaffen. Aber das Luftschiff hat eine Landung gar nicht nötig, um Menschen auszusetzen. Unser Luftschiff ist ja ganz außerordentlich in der Gewalt seines Lenkers, es wird direkt gegen die Felswand dirigiert, bleibt in einiger Höhe über dem Boden ruhig schweben, eine Strickleiter wird hinabgelassen, die Leute klettern hinunter und kommen so auch wieder herauf.«
»Das können wir nicht.«
»Nein, das ist von meiner ›Libelle‹ denn doch zu viel verlangt. Solche Kunststückchen dürfen wir nicht machen, bei Verlust eines Mannes würde sie mit arbeitendem Propeller wer weiß wie weit in die Höhe schnellen und jedenfalls kopfüber gehen.«
»So lassen wir den Aeroplan doch hier vor Anker liegen und bahnen uns zu Fuß einen Weg nach der Felswand hin.«
»Das habe ich auch schon gedacht. Oder wir können ja auch erst noch einen Flug nach jener Felswand machen, um auszukundschaften, wie die Umgegend unten wegen eines Landens aussieht. Nur schlage ich vor, damit bis zum Sonnenaufgange zu warten, wir bedürfen überhaupt einiger Stunden Schlafes.«
Ein Ruf Alberichs unterbrach die Unterhaltung.
Das völlig ebene Plateau war ungefähr fünfundzwanzig Meter lang und nicht viel weniger breit, der Aeroplan hatte sich genau auf seiner Mitte niedergelassen.
Gleich nach seiner Berechnung hatte Alberich einen Rundgang gemacht, jetzt also rief er, am nordöstlichen Rande des Plateaus stehend, seinen Gefährten.
Beide begaben sich schnell hin. An dieser Stelle konnte man den Aeroplan wohl sorglos allein lassen.
Das Plateau war völlig kahl, zeigte keinen Grashalm, an allen anderen Seiten ging es gegen zehn Meter tief steil hinab, erst dort unten begann das Unterholz, an diesem nordöstlichen Rande aber, wo Alberich stand, also in der Richtung nach jener Felswand, wucherten die Büsche noch über den Rand des Plateaus hinaus. Auf dieser Seite fiel der sonst steile Felsen eben sanft ab.
Der Zwerg deutete in die Büsche hinein.
»Sehen Sie?«
Nein, die beiden sahen nichts — oder doch nur Büsche.
»Was soll da sein?«
»Hier ist vor kurzem ein Weg gehauen worden.«
Ja, wenn sie so aufmerksam gemacht wurden, dann sahen es auch Lilly und Breithaupt. Eine Axt oder ein Messer hatte hier zwischen den dichten Büschen einmal Bahn gemacht, eben für einen Menschen gangbar, nicht breiter, aber sie war mit jungen Trieben schon wieder zugewachsen.
»Wer mag das gemacht haben?!«, wurde mit einiger Scheu geflüstert.
Die Antwort gab Alberich, zunächst in seiner stillen Weise. Er hielt ihnen die kleine, aber so auffällig muskulöse Hand hin, öffnete sie — eine längliche Kugel war darin, aus Blei oder einem anderen Metall, einfach eine Spitzkugel, ein Geschoss, aber doch wieder von etwas anderer Form als die der üblichen — doch die beiden kannten diese Form recht gut: es war eine Explosivkugel, zu ihren Windbüchsen und Pistolen passend.
Noch imemr wusste man nicht, was Alberich eigentlich wollte. Solch eine Kugel konnte jeder der Aeroplanflieger bei sich haben, der ganze Munitionskasten war davon voll.
»Was soll die Kugel?«
»Sie lag hier.«
Ja, jetzt freilich nahm die Sache eine ganz andere Wendung.
»Was? Du hast diese Kugel hier gefunden?!«
»Hier an dieser Stelle lag sie.«
»Dann ist das Luftschiff hier gewesen!«, erklang es zweistimmig.
Anders konnte es wohl nicht sein, diese Explosivkugel war ja auch eine Erfindung des alten Maximus Morris.
Nur Breithaupt hatte noch ein Bedenken.
»Sie meinen, es muss unbedingt hier auf diesem Plateau gelandet haben? Nicht so voreilig! Es kann auch nur darüber hinweggeflogen sein, hat diese Kugel gerade hier verloren.«
»O nein, keine solche Einwände! Sie sind hier gelandet und haben den Weg von hier aus nach jener Stelle zu Fuß zurückgelegt, ganz genau so, wie wir es schon vorhatten, dieser Weg ist von ihnen gehauen worden.«
»Wann kann das gewesen sein?«
»Wenn das Luftschiff sonst keinen Aufenthalt gehabt hat — vor acht Tagen. Dieses Luftschiff fliegt ebenso schnell wie mein Aeroplan.«
»Und da soll der ausgehauene Weg in diesen acht Tagen wieder so zugewachsen sein?«
»Jawohl. Das ist möglich. Bedenken Sie nur die indische Vegetation mit ihrer ungeheuren Triebkraft. Und das ist doch auch nur ganz oberflächlich zugewachsen, das sind doch ganz junge Triebe.«
Breithaupt betrachtete noch einmal den Neuwuchs und hatte in dieser Hinsicht keine Einwendungen mehr zu machen, stimmte der Gefährtin bei.
»Wollte der Führer des Luftschiffes nicht an jedem jener Punkte eine Mitteilung hinterlassen?«
»Gewiss, aber wir befinden uns doch noch nicht an jenem ersten Punkte, der liegt dort drüben.«
»Sollte der Führer nicht daran gedacht haben, dass das ihm nachfolgende Luftschiff oder der Aeroplan ebenfalls hier landen würde, weil es der beste Platz in der ganzen Umgebung ist?«
»Das ist allerdings zu bedenken. Aber wir haben uns ja noch gar nicht nach solch einem Zeichen umgeschaut. Tun wir es.«
Dass die Luftschiffer hier in der Wildnis solch einen Brief in Paketform niedergelegt hätten, das war wohl ausgeschlossen. Man dachte gleich an in den Felsen gehauene Zeichen. Lillys erster Gedanke, den Aeroplan noch einmal hochsteigen zu lassen, falls dieses Zeichen sich in der Mitte des Plateaus befand, wurde auch gleich wieder verworfen. Alles dies würden wohl auch jene Ingenieure erwogen haben.
Und richtig, man brauchte gar nicht lange mit der Blendlaterne zu suchen, so fand man an der westlichen Seite große, in den Stein gehauene Zahlen und einige andere Zeichen.
Die Zahlen gaben das Datum vor sieben Tagen an, die Hieroglyphen gehörten einer Geheimsprache jener Kolonisten an, die Lilly zu übersetzen verstand. Sie sagten übrigens nichts weiter, als dass das Luftschiff hier gewesen sei.
Offenbar waren die vertieften Zeichen auch mit roter Farbe ausgemalt gewesen, aber Witterungseinflüsse hatten die Farbe schnell erbleichen lassen, oder sie war durch Regengüsse ausgewaschen worden.
»Schlafen wir noch die letzten Nachtstunden«, schlug Lilly vor, »morgen früh bei Sonnenschein verfolgen wir den Fußweg unserer Kameraden, die schon hier gewesen sind. Wer muss wachen?«
Die Reihe war an Alberich, und man vertraute sich seinem Schutze an.
Als zwei Stunden später der Tag anbrach, wurde wieder Kriegsrat gehalten. Zuerst beschloss man einen Flug mit dem Aeroplan direkt nach jener Felswand auszuführen. Es geschah, und die Erwartung war richtig gewesen. Außer jener abgeplatteten Felskuppe war unter ihnen alles ein wüstes Gemisch von zackigen Felsen und zerrissenen Klüften, überwuchert von dornigem Buschwerk, das nirgends eine Landung des auf Balance angewiesenen Aeroplans, der beim Aufstieg doch wenigstens einen kleinen Anlauf nehmen musste, gestattete, und das war auch am Fuße der Felswand der Fall, wo lückenloser Urwald stand.
»Ja, aber warum überfliegen wir nicht erst einmal die Felswand, um festzustellen, wie es dort oben aussieht?«, meinte Breithaupt.
Lilly machte eine Bewegung, als wolle sie sich vor die Stirn schlagen, weil ihr dieser einfache Gedanke noch nicht eingefallen war.
Der Aeroplan schraubte sich über zweihundert Meter höher, ehe er freien Überblick gewann, und da gewahrten die drei wiederum ein seltsames Naturspiel.
Die Felswand begrenzte nicht etwa ein Pleteau, wie doch sicher zu erwarten gewesen wäre, sondern sie bildete mit ganz, ganz schwacher Abweichung vom rechten Winkel nur die eine Seite eines Höhenzuges, der auf der anderen Seite ebnenso jäh wieder abfiel, es war ein Höhenkamm, der schärfer nicht gedacht werden konnte, von einiger Höhe aus sah er, so weit das Auge reichte, nicht nur wie ein Messerrücken, sondern sogar wie eine scharfe Messerschneide aus.
Auf der jenseitigen Seite unten im Tal war die Region der Dschungel, des Sumpfes, wie man gleich aus dem Bambusrohre erkannte.
Nein, hier konnte nicht gelandet werden, weder dort unten im Tale, noch auf diesem Höhenkamme, die Bewegungsfreiheit auch dieses Wunders von Aeroplan hatte doch seine Grenzen.
So senkte man sich wieder zu dem kleinen Felsplateau zurück, ließ sich darauf nieder.
Eine Wache musste aber doch bei dem Aeroplan zurückgelassen werden. Alberich erbot sich freiwillig dazu. Er sei des Schlafes noch nicht bedürftig, hatte auch wirklich schon häufig Proben abgelegt, wie lange er den Schlaf entbehren konnte.
Es wurden Signalschüsse, die auch diese Luftschiffer mit richtigem Knalle abgeben konnten, verabredet, und Breithaupt und Lilly machten sich auf den Weg, natürlich entsprechend bewaffnet.
Jetzt genügte ein Messer, um den wieder zugewachsenen Buschweg neu zu bahnen. Ihre Vorgänger aber hatten sicher öfter die Axt anwenden müssen.
Der Weg senkte sich etwas, wurde immer steiler, führte durch eine Schlucht, in der ein klares Wässerchen reiselte. Das war wichtig für alle Eventualitäten.
An Tieren wurden nur kleine Vögel aufgescheucht, die sich in diesem undurchdringlichen Busche zu Hause fühlten, indische Zaunkönige, in der Schlucht kamen noch einige Arten Eidechsen oder wohl richtiger Molche hinzu, darunter solche von riesenhafter Größe, freilich noch lange nicht mit Krokodilen konkurrieren könnend, und leider wurden auch einige Schlangen bemerkt. Doch sie waren immer nur undeutlich zu sehen, sie zogen sich vor den durch den Busch brechenden Menschen immer rechtzeitig zurück. Ein richtiges, sonnendurchbranntes Schlangenland war dies überhaupt nicht.
Dann ging es Windungen wieder hinauf, immer höher ward das Buschholz, es wurden Bäume daraus, bis men gegen die Felswand stieß, die ohne Vermittelung direkt aus dem ebenen Boden jäh emporstieg. Freilich war diese Ebene in Wirklichkeit nur ein Absatz, eine Terrasse in der ganzen Gebirgsformation.
»Nun müssen wir aber doch hier bis zum Mittag warten«, sagte Breithaupt.
Weshalb denn und worauf?«
»Bis die Mittagssonne den Felsenkamm überschritten hat, eher kann ich doch keine geografische Ortsbestimmung...«
Er vollendete den Satz nicht.
Sie hatten die glatte Felswand, die sich nicht mit Vegetation bedecken wollte, noch nicht ganz erreicht, und da blieben sie beide stehen — beide hatten gleichzeitig etwas erblickt, was sie hier nicht zu finden erwartet hatten.
Genau dort, wo der provisorische Weg endete, war in der Felswand dicht über dem Boden eine eiserne Tür eingelassen, etwas höher als ein Meter und etwas schmäler, und man durfte nicht von einer Eisenplatte, sondern musste gleich von einer Tür sprechen, weil man schon von weitem die beiden Angeln erkannte, in denen sich die Eisenplatte drehte, und ebenso an der anderen Seite den Riegel, durch den sie geschlossen werden konnte.
»Da ist es!«, wurde scheu geflüstert.
Sollten sie auch nicht scheu flüstern! Jeder mochte sich in seiner Phantasie Vorstellungen gemacht haben, was man hier finden würde — gesprochen war darüber nicht worden — und nun hier mitten in dieser unbewohnten Wildnis Indiens eine in die Felswand eingelassene Eisentür zu finden, das hätte sich niemand träumen lassen. Ja, wären sie hier auf einen Punkt gestoßen, der sich durch gewisse äußere Kennzeichen verriet, dass sich hier ein geheimer Tunneleingang befand, durch Drehen einer wohleingefügten Eisenplatte zu öffnen, wie so etwas die indischen Baumeister ebenso gut wie die arabischen, die alten maurischen zu konstruieren wussten und noch heute wissen, die beiden wären viel weniger überrascht gewesen. Aber hier in dieser jungfräulichen Wildnis im Herzen Indiens diese eiserne Tür — es machte einen gar unheimlichen Eindruck auf sie, dessen Grund eben mehr herauszufühlen als zu erklären ist.
»Oder ob die Tür erst von den Luftschiffern angebracht worden ist?«, suchte Breithaupt denn auch gleich nach einer anderen Möglichkeit.
»Ach wo! Wozu denn das?«
»Ja, was weiß ich?«
»Gehen wir doch hin!«
Sie gingen nicht, sondern sie schlichen hin. Das Schleichen geschah ganz unbewusst.
Es war und blieb eine eiserne Tür. Aber hier in dichter Nähe konnte man aus gewissen Anzeichen auch ihr hohes Alter erkennen. Die Angeln waren nicht einzementiert, sondern mit einer wunderbaren Genauigkeit in ausgemeißelte Höhlungen eingepasst, so wie es von jeher nur die Inder und Araber verstanden haben, die nie Mörtel und Zement oder etwas Ähnliches verwendeten, sondern bei ihren Bauwerken die Steine immer ganz genau zusammenfalzten. Auch die alten Peruaner und Mexikaner haben so gebaut.
»Aber hier — das ist frisches Öl«, flüsterte Breithaupt.
Er meinte den Riegel. Dieser war geschmiert worden.
»Es gibt kein Öl, welches auf die Dauer nicht ranzig wird, und dieses ist noch ganz frisch«, setzte der Ingenieur noch hinzu.
»Doch, wir besitzen ein Schmieröl, welches nie ranzig wird.«
»Dann ist dieser Riegel wahrscheinlich erst von Ihren Kollegen vor sieben Tagen geschmiert worden.«
»Anders ist es auch nicht. Der Riegel war eingerostet, sie mussten ihn erst wieder gangbar machen.«
»Aber die Angeln zeigen keine Spur von Öl.«
»Die hatten ein Schmieren eben nicht nötig.«
»Sollten die Luftschiffer so unvorsichtig gewesen sein, durch dieses Öl ganz auffallende Spuren zu hinterlassen?«
»Ist der ganze Weg nicht eine auffallende Spur?«
»Der wächst wieder zu.«
»Aber wie lange das dauert, und bis dahin wird sich auch das Schmieröl verflüchtigt haben. Denn das tut es allerdings.«
»Nun gut. Öffnen wir die Tür.«
Lilly hielt ihren Gefährten noch zurück.
»Halten wir erst Umschau, ob Mr. Jeffer für die, die er vielleicht auf seiner Spur wähnt, nicht etwas hinterlassen hat.«
Nein, sie fanden nichts. Lange brauchten sie sich damit auch nicht aufzuhalten. Wollte der Führer des Luftschiffes denen, welchen er auf der Felseninsel die Mitteilung hinterlassen hatte, wie auf der Felskuppe dort wenigstens ein Zeichen, auch hier etwas übermitteln, so durfte er es doch nicht unauffindbar verstecken, musste die Botschaft vielmehr recht auffallend anbringen.
Dann schoben sie den Riegel zurück, wozu gar keine Kraftanstrengung nötig war.
Es zeigte sich alsbald, dass derselbe Riegel, der sich in einen Falz der Steinwand einfügte, auch von innen vor- und zurückzuschieben war.
Die Hauptsache aber war zunächst, dass ihnen ein schwarzer Tunnel entgegengähnte, oder vielmehr ein schwarzes Loch, eine finstere Höhle, natürlich von demselben Durchmesser, wie die eiserne Tür.
»Ja, wer sagt uns denn überhaupt mit solcher Gewissheit, dass es ein Tunnel, ein langer Gang sein müsse?«, flüsterte Breithaupt. »Es kann sich doch auch nur um eine kleine Höhle handeln, die irgend etwas birgt — oder vielleicht auch nichts.«
»Nein, nein, es ist ein Tunnel!«, flüsterte Lilly.
»Sehen Sie denn den Fortgang?«
»Das nicht, aber... es ist ganz gewiss ein geheimnisvoller Gang!«, flüsterte Lilly immer aufgeregter.
Mochte sie auch Recht behalten — jetzt unterlag sie doch nur den Einflüsterungen ihrer regen Einbildungskraft.
Doch das war ja schnell zu entscheiden. Sie hatte nur erst die elektrische Lampe aus der Tasche ziehen und gebrauchsfertig machen müssen.
Dann flammte der grellweiße Blendstrahl auf. Er vorlor sich bei mindestens zwanzig Meter Entfernung in der Finsternis, ohne eine Gegenwand getroffen zu haben. Weiter zeigte er, dass der Boden wie die Seitenwände und Decke ganz eben waren, offenbar von Menschenhand gemeißelt.
Sie waren bereit, einzudringen. Erst aber noch eine Vorsicht!
Nach kurzer Verabredung ging Lilly zuerst hinein, schob den Riegel von innen vor — sie konnte ihn von innen auch wieder zurückschieben, und dass sonst ein verderbliches Fallschloss vorhanden, davon war nichts zu bemerken.
Und überhaupt, es musste riskiert werden, und trennen wollten sie sich nicht. So drangen sie beide ein, zogen die Tür wieder zu, nur dass sie den Riegel nicht vorschoben.
»Wie lange hält Ihre elektrische Lampe Licht?«
»Zwei Stunden.«
»Das wird wohl genügen, aber richten müssen wir uns doch danach«, sagte Breithaupt, nach der Uhr sehend.
Es war gegen acht Uhr, als sie den unterirdischen Expeditionsmarsch antraten, zuerst in gebückter Stellung. Bald aber erweiterte sich der Tunnel nach oben, sie konnten sich aufrichten, dann auch nebeneinander gehen. Dabei wurden die abgemessenen Schritte gezählt.
Bein zweiundvierzigsten Schritte stießen sie in dem immer geradeaus führenden Tunnel gegen eine Wand, die aber nicht das Ende des Ganges bedeutete. In einem rechten Winkel führte nach links ein Seitengang ab, ganz ebenso beschaffen wie der erste.
»Wer mag diesen Tunnel gebohrt haben?«, flüsterte Lilly, ehe sie ihren Weg fortsetzten.
»Natürlich Inder. Gemeißelt ist er, wenn auch schon ein Tunnel von Natur vorhanden gewesen sein mag.«
»Aber wozu diese kolossale Arbeit? Wohin führt der Tunnel?«
»Wir werden es ergründen, wenn es zu ergründen ist.«
Sie setzten ihren Weg fort, wieder ihre Schritte zählend.
Jetzt aber stieg der Gang bedeutend bergan, doch nur fünfunddreißig Schritte konnten sie diesmal zählen, dann... standen sie wiederum vor einer eisernen Tür, in die Felswand eingelassen, wieder in Angeln gehend und mit einem Riegel verschlossen, gleichfalls wieder geölt.
Er wurde zurückgeschoben, die Tür geöffnet, und... ein Anblick, den sie nicht erwartet hatten.
Sie befanden sich schon auf der anderen Seite dieses mächtigen Felsengebildes, dessen Durchschnitt einem riesigen, sehr spitzen Zuckerhute glich. Das heißt, noch nicht so ganz auf der anderen Seite, wo die Dschungelregion herrschte, noch nicht im Freien, obgleich es hier schon tageshell war.
Es war eine ungeheure Tropfsteingrotte, in welche dieser Tunnel mündete, die Decke gar nicht zu erblicken, von der kolossale Zacken herabhingen, ihr Durchmesser mochte mindestens dreihundert Meter betragen, und zwar war ihr Ein-, oder vielmehr, von hier aus gesehen, ihr Ausgang nicht etwa verengt, sondern die ganze ungeheure Grotte war wie halb durchgeschnitten, sodass das Tageslicht voll und ganz bis in den hintersten Winkel hereindringen konnte, und zwar jetzt als goldener Morgensonnenschein.
Draußen erblickte man die sumpfige Dschungel, durch die baumhohen Bambusrohre und andere riesige Grasarten charakterisiert, und da es nun auch in der Grotte nicht an hellem Lichte mangelte, so war deren Boden mit der üppigsten Vegetation bedeckt, die nur nicht eine solche Höhe erreichte, jedenfalls weil der Boden nicht sumpfig war, Bambus und Gräser waren bedeutend niedriger, dafür kamen auch schon Bäume hinzu, allerdings sehr niedrige, zwerghafte Formen, weil es das eigentliche Tageslicht eben doch nicht war, denn es fehlte die Mittags- und Abendsonne.
Und, das Allermerkwürdigste, durch diese Grotte floß nun ein Strom, der hinten aus der Felswand hervorbrach, oder hervorkam, ohne jedes Gefälle, ganz ruhig, eben ein unterirdischer Wasserlauf, der irgendwo verschwand und hier wieder zum Vorschein kam. Seine Breite mochte ja nur zehn Meter betragen, also kaum ein Fluß zu nennen, aber in dieser Grotte machte er doch ganz den Eindruck eines mächtigen Stromes. Er verlor sich, wie die beiden von ihrem etwas erhöhten Standpunkte recht gut beobachten konnten, gleich nach Verlassen der Grotte in den Dschungel, verschwand spurlos im Sumpfe, so wie die Wüstenquelle nach kurzem Laufe spurlos im Sande verrinnt.
»Wissen Sie, was wir hier vor uns haben?«, unterbrach endlich Breithaupt das Schweigen, nachdem sich die beiden lange genug an dem wundersamen Anblick geweidet hatten.
»Wie soll ich es wissen?«
»Mir ist eine Erklärung gekommen. Dort draußen liegt ein sumpfiges Dschungelgebiet, jedenfalls gänzlich unpassierbar, mindestens für jeden Menschen. Nun hat es aber jemand gegeben, der von der Existenz dieser bewohnbaren Grotte wusste, die ja zur Aufnahme eines Einsiedlers oder einer ganzen Einsiedlerkolonie wie geschaffen ist. Entweder kann man sie von einem jenseitigen Berge erblicken, oder es war schon ein natürlicher Zugang von der anderen Seite vorhanden. In letzterem Falle brauchte man diesen nur noch zu erweitern, gangbar zu machen, im ersteren Falle musste der Tunnel ganz neu mit dem Meißel geschaffen werden. Um sich noch mehr von der Welt abzuschließen, vielleicht auch gegen Raubtiere zu sichern, hat man den Zugangstunnel auch noch durch zwei eiserne Türen verschlossen.«
»Ja, so wird es sein«, bestätigte Lilly. »Aber ob die Grotte noch jetzt bewohnt ist?«
»Das bezweifle ich sehr.«
»Woraus schließen Sie das?«
»Einmal bemerkt man so gar nichts davon, dass hier noch Menschen wohnen. Solche indische Einsiedler — Vanaprastha wird ein solcher wohl genannt — zieht an seiner einsamen Wohnstätte immer Bohnen, um sich selbständig Nahrung zu verschaffen, und diese Fläche reichte wohl aus, um ein Dutzend Einsiedler ernähren zu können. Nun können wir doch von hier aus so ziemlich die ganze Grotte bis ins entfernteste Winkelchen überblicken. Gewahren Sie irgendetwas von einer Anpflanzung?«
»Nein, das macht alles den Eindruck einer vollkommenen, noch nie betretenen Wildnis«, gab Lilly zu.
»Zweitens«, fuhr Breithaupt fort, »denken Sie an die Riegel, die von unseren Vorgängern erst geschmiert werden mussten, ehe sie die Türen öffnen konnten. Nein, diese Grotte ist schon längst wieder von ihren ehemaligen Bewohnern verlassen worden.«
»Dann könnten wir uns ja hier ansiedeln«, schlug Lilly vor, natürlich wohl nur im Scherz. »Das ist ja das idyllischste Fleckchen Erde, das ich je geschaut, mit dem sind ja unsere Felseninsel im Viktoria-Njansa und der Monte Cerboli gar nicht zu vergleichen.«
»Hm. Wollen Sie da nicht lieber erst erwägen, weshalb wohl jene Ansiedler dieses Paradies wieder verlassen haben?«
»Sie mögen an Altersschwäche gestorben sein.«
»Wohl eher am Fieber. Dieser Dschungelsumpf mag keine schlechten Fieberdünste aushauchen.«
»Sie haben Recht — ach«, seufzte die Artistin, »dass es hier auf Erden so gar kein Paradies ohne ein böses Wenn oder Aber mehr gibt!«
Sie versenkten sich noch einmal in den Anblick des Ganzen.
»Wollen wir nicht etwas nähere Umschau halten«, meinte Lilly dann, »so lange die Morgensonne noch voll herein scheint? Dann später möchte es hier doch etwas düsterer und unfreundlicher, wenn nicht unheimlich werden.«
Breithaupt war damit natürlich einverstanden. Zur ersten näheren Besichtigung dieser ganzen Grottenwildnis brauchten sie dieselbe gar nicht zu betreten. Nach Verlassen des Tunnels waren sie auf einen Vorsprung zu stehen gekommen, der sich als Terrasse um die ganze Grotte herumzog, in gleichmäßiger Höhe und Breite, jedenfalls ein Werk von Menschenhand, oder der Meißel hatte doch tüchtig nachgeholfen, und aus irgend einem Grunde hatte sich nirgends Humus gebildet, sodass diese Terrasse kein Grashälmchen zeigte, ganz nackt war.
Beim Herumgehen veränderte sich das Bild der Grotte nicht sehr. Sie gewannen nur einen freieren Einblick in die Dschungel hinein. Doch die hätten sie noch bessert betrachten können, wenn sie eben nach dem Ausgang hin geschritten wären. Zunächst aber war ihr Ziel der Fluss, also die Stelle, wo er aus der Felswand heraustrat.
Diese Stelle hatten sie erreicht, ohne in der Grotte etwas Auffallendes zu bemerken, wozu jedes Vögelchen gehört hätte. Zwei Meter unter ihnen brach der Fluß hervor, also ganz ruhig fließend. Das Wasser war nicht schlammig, wohl auch nicht trübe, aber doch völlig undurchsichtig, was an der schwarzen Färbung des Grundes liegen mochte.
»Da, da, da — um Gottes willen!«, stieß da Lilly hervor, die Hand ausstreckend, in die Grotte hineindeutend.
Ja, jetzt erblickte es auch Breithaupt, und sein Schreck war nicht minder groß.
Dort unten, nur wenige Schritte von ihnen entfernt, wozu man allerdings, wenn man sie hätte machen wollen, erst herunterspringen musste, lag ein ganzer Knäuel großer Schlangen, wie unentwirrbar mit den Leibern durcheinander geflochten. Keine einzige war richtig zu erkennen, die bedeutende Länge war nur aus den großen Köpfen und den starken Leibern zu taxieren, auf zwei Meter Länge musste man sie wohl schätzen. Auch ein Zählen war gar nicht möglich, weil die Köpfe fortwährend nach allen Seiten hin züngelten, die Leiber sich durcheinander wanden, ohne dass dadurch der ganze Knäuel in Unordnung geriet oder sich auflöste. Anfangs mochten sie ruhig auf einem Haufen gelegen haben, sodass man das Bündel zwischen den Farnkräutern ganz übersehen hatte. Erst beim Anblick der Menschen waren sie in Aufregung geraten, hatte der Knäuel Leben bekommen.
Es war ein scheußliches Schauspiel, dieses blitzschnelle Zucken der züngelnden Köpfe und dieses Durcheinanderwinden der glitzernden Schlangenleiber, der erste Schreck oder das Entsetzen der beiden war begreiflich.
Doch dann zeigte Lilly ihren mutigen Charakter und wie sie sich sagte, dass ihr von dort unten so ohne weiteres keine Gefahr drohen könne, indem sie zunächst eine wissenschaftliche Frage aufwarf.
»So kommt es also wirklich vor, dass sich Schlangen in ganzen Bündeln zusammenwinden?! Ich habe davon gehört, aber auch von Sachverständigen, dass sie das niemals täten, das sei nur ein Märchen.«
Nein, das ist kein Märchen. Bei zwei Schlangenarten ist es beobachtet worden, bei der europäischen Kreuzotter und bei der amerikanischen Klapperschlange, aber nur bei bestimmter Gelegenheit findet es statt: beim Begattungsakt. Da finden sich möglichst viele Schlangen derselben Art zusammen, bilden solche Knäuel. Dann aber gibt es hierzu auch noch eine andere Gelegenheit, wovon jedoch erst später die Rede sein soll.
»Ja, es kommt wirklich vor, wie Sie jetzt selbst sehen«, erklärte Breithaupt, aufmerksam nach dem lebendigen Knäuel blickend. »Miss Leley, ich muss mich Ihnen als ganz gründlichen Schlangenkenner vorstellen. Es gibt keine Schlange auf der ganzen Erde, die ich nicht mit all ihren Gewohnheiten kenne, soweit man davon eben etwas weiß. Woher dieses mein Interesse für Schlangen? Ich wollte nämlich erst Zoologe werden, in ganz einseitiger Richtung, nur für Reptilien. Sie wissen doch, wie das bei Jungen ist, und gerade bei uns in Deutschland — der eine sammelt Käfer und Schmetterlinge, der andere hält sich so viele Singvögel, wie er mit seinem kärglichen Taschengeld füttern kann, der dritte geht in der Freizeit ganz in seinem Aquarium auf. Das heißt diejenigen Jungen, die sich nun einmal mit aufgewecktem Blick für das Tierleben in der Natur interessieren. Andere inklinieren wieder mehr für Briefmarken oder Laubsägearbeiten oder sonst etwas. Ich hielt es mit dem Terrarium. Das bevölkerte ich mit allem, was da mehr auf dem Bauche als auf Füßen kräucht, mit Schlangen, Eidechsen, Schildkröten und dergleichen. Ich bin nicht Zoologe sondern Geometer geworden, aber meine Jugendliebhaberei ist mir treu geblieben. Ich bin ja schon weit in der Welt herumgekommen, und in jedem zoologischen Museum besichtige ich immer nur die Reptiliensammlung, wenn ich das kriechende Viehzeug nicht lebendig zu sehen bekommen kann. Kurz, ich wiederhole: es gibt keine Schlange auf der Erde, die ich nicht aus dem Gedächtnis beschreiben, über deren Lebensgewohnheiten ich nicht berichten könnte. Weshalb ich Ihnen dies erzähle? Weil ich jetzt beschämend gestehen muss, dass ich diese Art dort nicht kenne.«
»Sie wissen nicht, was für eine Schlange das dort ist?«
»Nein. Höchstens kann ich behaupten, dass es keine Giftschlange ist.«
»Woraus wollen Sie denn das so gleich erkennen?«
»Weil der Kopf nicht scharf genug abgesetzt ist. Jede Giftschlange hat einen scharf abgesetzten Kopf, merken Sie sich das. Freilich ist dazu auch schon das Auge des Kenners nötig. Diese schiefergraue Färbung des Rückens, besetzt mit schwarzen Flecken, der Bauch hellgelb, über den Kopf ein schmutzigroter Streifen — nein, da stehe ich ratlos, solch eine Schlange dürfte es in Indien gar nicht geben.«
»Können Sie denn das so scharf erkennen, während sich die Schlangen immer durcheinander bewegen?«
»Ja, das kann ich, dafür habe ich eben ein besonders geschultes Auge.«
»Gibt es denn noch unbekannte Schlangen?«
»Die noch kein Mensch gesehen hat, oder doch solche, von der wenigstens die Wissenschaft, der Zoologe, noch nichts weiß? Gewiss, die dürfte es geben. Die Erde ist gar groß, und herzlich wenig ist es, was wir vom Innern Afrikas und Australiens wissen. Jede neue Expedition bringt uns ganz neue Pflanzen und Tiere. Aber das gilt nicht für Indien. Das ist durchaus erforscht, da kann keine neue Schlangenspezies mehr entdeckt werden. Ja, nur eine Möglichkeit wäre vorhanden. Oder vielmehr eine Unmöglichkeit. Sollte ich diese Schlangenspezies in der Studierstube klassifizieren, sähe ich sie lebendig in der Menagerie oder eingesetzt in Spiritus, ich würde sie als ein zwerghaftes Exemplar der südamerikanischen... Himmel noch einmal!«
Auch Lilly war entsetzt zurückgefahren, bis ihr die Felswand Halt gebot, dort zur Statue erstarrend, wenn auch noch an weitere Flucht denkend.
Unter ihnen hatte das stillfließende Wasser plötzlich zu schäumen begonnen, aus dem Strudel tauchte ein furchtbares Etwas auf, ein mächtiger Schlangenkopf, ein kolossaler Schlangenleib folgte nach, so dick wie ein starker Menschenschenkel.
Auf eine nicht wiederzugebende Weise wand sich das Ungeheuer auf das Ufer hinauf, nach dem Verlassen des Wassers, als sich die Schlange einmal ganz streckte, konnte man ihre Länge ziemlich richtig taxieren, zehn Meter betrug diese sicher. Die Färbung und Zeichnung war ganz wie die jener kleineren Schlangen, nur noch viel schärfer ausgeprägt.
»Eine Riesenschlange!«, flüsterte Lilly.
Nach der ersten Erstarrung vor Schreck ward Breithaupt plötzlich von der größten Aufregung befallen.
»Ja«, stieß er hervor, »eine Riesenschlange, aber keine indische Python, sondern eine brasilianische Anakonda!«
»Was, eine brasilianische Riesenschlange?«
»Bei Gott, nicht anders ist es!«
»Wie soll denn die hierher kommen?«
»Was weiß ich — nur das weiß ich, dass es eine brasilianische Anakonda ist — und jetzt weiß ich noch etwas anderes — das dort sind junge Anakondas, nicht jünger als ein Jahr und nicht älter als zwei.«
Ja, dann war auch das erstere Rätsel gelöst. Im Allgemeinen sind Schlangen ja keine Herdentiere, sie lieben die Isoliertheit, jede will immer für sich sein. Wenn sich Schlangen in der Gefangenschaft oft eng zusammenschmiegen, solche Knäuel bilden, so ist das ja etwas ganz anderes. Sie tun sich aus Langerweile zusammen, oder dort ist gerade der wärmste Fleck, ein Sonnenstrahl oder künstliche Wärme. In der Freiheit tun sie es nur aus jenem ersterwähnten Grunde, und dann, solange sie noch jung sind, sich noch nicht isoliert forthelfen können. Dabei entwickeln sie auch, obgleich sie sich doch immer kühl anfühlen, eine ganz bedeutende Wärme. Gerade die Anakonda ist eine der wenigen Schlangen, die ihre Eier selbst ausbrütet, indem sie dieselben tagelang zwischen ihre Bauchfalten nimmt, die dann den Jungen auch ihre besondere Sorgfalt widmet, sie sogar füttert, und das unter Umständen zwei bis drei Jahre lang. So hat man in zoologischen Gärten beobachtet.
Das Ungetüm hatte sich dem lebendigen Knäuel genähert, und jetzt begann sich dieser aufzulösen, neun Schlangen konnte man zählen, die sich nach einer Richtung streckten, die größte etwa zwei Meter lang, im Gegensatz zur Mutter aber doch noch ganz kleine Kinder, diese Riesenschlangen werden ja sehr, sehr alt und wachsen dementsprechend sehr langsam. Das Ziel aller war der Kopf der Alten, die jetzt ruhig blieb, ihr Maul von der jungen Sippschaft bezüngeln ließ, ohne diese Liebkosung zu erwidern — da aber öffnete sie plötzlich ihren furchtbaren Rachen, immer weiter, sodass man wohl an das Verschlingen eines Kalbes glauben konnte — und plötzlich schob es sich an ihrem Vorderleibe wie ein Knoten vor, eine Materie quoll oder spritzte zum Rachen heraus — sie spie ihren Jungen Futter vor, eigenen Fraß, schon halb verdaut. Doch konnte man darunter auch kleine, noch unverdaute Fische unterscheiden.
Es ist dies ein Vorgang, den man noch nicht genügend beobachtet hat. Speziell die Anakonda scheint für diesen Zweck eine Art Vormagen zu haben, einen Kropf, aber nur so lange, als sie für noch unselbstständige Junge zu sorgen hat.
Wenn sich die beiden Beobachter in der Nähe dieses Ungeheuers auch nicht recht in Sicherheit fühlen mochten, so hatten sie doch keine Furcht. Das Interesse überwog alle anderen Bedenken.
»Wir können ganz unbesorgt sein«, versicherte Breithaupt, der die Gewohnheiten jeder Schlange durchaus kennen wollte, auch noch, »die Anakonda greift ohne zwingendsten Grund keinen Menschen an, das ist alles nur Fabel.«
»Ob aber ein zwingender Grund nicht der ist, dass sie ihre Jungen vor uns schützen zu müssen glaubt?«, flüsterte Lilly zurück.
»Nein, nein, bei den Schlangen ist von Mutterliebe keine Spur vorhanden, sie alle lassen ihre Jungen bei der geringsten Gefahr im Stich, und dass die Anakonda ihre Jungen füttert, ist ein Naturtrieb, der mit Mutterliebe nichts zu tun hat.«
»Ob sie uns noch nicht gesehen hat?«
»Sicher. Diesen funkelnden Augen dürfte nichts entgehen. Offenbar aber hat diese Riesenschlange noch keine nähere Bekanntschaft mit dem Menschen gemacht, und sie ist sich voll und ganz ihrer furchtbaren Kraft bewusst, die kein einziges Tier der ganzen Schöpfung zu fürchten braucht. So kümmert sich auch der Elefant, die Elefantenherde nicht im Geringsten um den Menschen, solange sie noch von keinem gejagt worden sind und seine Mordwaffen noch nicht kennen gelernt hat.«
Die kleinen Schlangen hatten das vorgespieene Futter verschlungen, die riesige Mutter kehrte ins Wasser zurück, und jetzt folgten ihr alle neun Jungen nach, schwammen eine kurze Strecke mehr an der Oberfläche stromab, dann verschwanden sie, um nicht wieder aufzutauchen.
»Jetzt halten sie Mittagsruhe auf dem Grunde des Stromes«, sagte Breithaupt. »Die Jungen sind noch nicht gewandt genug, um selbständig Fische fangen zu können, von Vögeln gar nicht zu sprechen, die es hier auch gar nicht zu geben scheint.«
»Und wirklich eine brasilianische Riesenschlange? Irren Sie sich nicht?«, zweifelte Lilly.
»Irrtum vollständig ausgeschlossen! Die Python der alten Welt sieht ganz, ganz anders aus. Und dann sagt es uns doch auch schon die Lebensgewohnheit, wen wir vor uns hatten. Die indische Python gehört zur Gruppe der Felsenschlangen, freiwillig geht die nicht ins Wasser, nicht einmal in die sumpfige Dschungel. Sie hält sich, wie schon der Name der Gattung sagt, mit Vorliebe in steiniger Gegend auf, wo sie sich von der Sonne durchbrennen lassen kann. Höchstens noch in der Steppe. Selbst ihr Vorkommen im trockenen Urwald ist eine Seltenheit. Die südamerikanische Anakonda hingegen gehört zur Gattung der Wasserschlangen, deren eigentliches Element das Wasser ist. Trotzdem ist sie keine echte Wasserschlange, sie kann nicht wie diese durch Kiemen im Wasser atmen. Wohl aber kann sie stundenlang den Atem anhalten, das heißt, sie braucht nicht zu atmen. Ebenso wie das Krokodil, und wie dieses verlässt sie den Strom nur, um sich einmal zu sonnen, aber immer in dichtester Nähe des Wassers. Und bei dieser Gelegenheit schnappt sie sich auch einmal einen Vogel, ein Wasserschwein, eine zur Tränke gehende Antilope weg. Sonst nährt sie sich nur von Fischen.«
»Und einen Menschen greift sie wirklich nicht an? Kann gar keinen verschlingen?«
»Nun, dass sie es nicht kann, darüber will ich nicht streiten. Sie haben ja vorhin selbst gesehen, wie sie den Rachen aufriss, da ginge ein Mensch schon hinein, und der ganze Leib ist unglaublich dehnbar. Alfred Brehm führt in seinem Tierleben zwei verbürgte Fälle an, wie die Anakonda Menschen angegriffen hat. Beide Male begnügte sie sich mit einer Umschlingung, zum Verschlucken kam es nie, die Umstrickten konnten rechtzeitig befreit werden. Merkwürdigerweise hatte jedes Mal der Betreffende ein frisch geschossenes Tier in der Hand, der eine ein Huhn, der andere ein Eichhorn, und ganz offenbar war diese noch blutende Jagdbeute das Ziel der Anakonda, diese wurde noch in der Hand des Mannes, im Zuschießen verschlungen, der Mensch wurde dabei nur so nebenbei umstrickt, wie ein Baumstamm, was freilich auf eine große Kurzsichtigkeit und noch größere Dummheit der Anakonda schließen ließe. Die Eingeborenen fabeln natürlich Ungeheuerliches über die Menschengier ihrer Riesenschlangen zusammen, und sie machen ihre Aussagen so gewiss, dass sogar ein Alexander von Humboldt sie für glaubwürdig befunden hat. Der Prinz von Wied aber, Brehms bester Gewährsmann für diese Sache, stellt die Menschenfresserei der Anakonda entschieden in Abrede.«
»Und die indische Riesenschlange?«, fragte Lilly.
»Die ist noch viel harmloser, obgleich natürlich die Eingeborenen Schreckliches zu erzählen wissen. Und leichtgläubige Europäer erzählen es nach, weiße Jäger und Bärenbinder erfinden ihre eigenen grausigen Geschichten. Nein, bei der indischen Python ist noch kein einziger Fall als Tatsache konstatiert worden, dass sie jemals einen Menschen angegriffen oder gar verschlungen hätte.«
»Ist die Riesenschlange nicht den Indern heilig?«
»So wie noch manch anderes Tier. So wie auch der Elefant, er braucht nicht einmal weiß zu sein. Auch jeder Affe gilt den Indern ja für unverletzlich. Weshalb Elefant und Riesenschlange, das weiß ich nicht. Es sind eben Lieblingstiere Brahmas, oder eines anderen Gottes, als Attribute seiner Kraft. Weshalb sogar die furchtbare Brillenschlange den Indern so heilig ist, besonders den Buddhisten, das weiß ich zufällig. Als Buddha einst in der Sonne schlief, kam eine Kobra und beschattete mit ihrem aufgeblasenen Schild den Gesandten Brahmas. Der Erwachte dankte ihr und sprach sie heilig. Seitdem tötet kein gläubiger Inder, kein strenggläubiger, eine Brillenschlange. Ist solch ein Vieh in eine Wohnung eingedrungen, man bemerkt die unheimliche Gegenwart des furchtbaren Reptils, so wird sie erst unter Zeremonien gebeten, doch das Haus wieder zu verlassen, man versucht sie durch Vorsetzen von Milch und Honig wieder hinauszulocken, und erst wenndas nicht hilft, wird ein Schlangenbändiger geholt, ein Zauberer, der muss sie fangen, ihr aber beileibe nichts tun, sondern muss sie unter Aufsicht forttragen und wieder in Freiheit setzen. Ein sinnloser Aberglaube, nicht wahr? Nun, wir Christen wollen uns nur an der eigenen Nase zupfen, mehr möchte ich dazu nicht sagen.«
»Aber die englische Regierung hat doch eine Fangprämie auf Brillenschlangen ausgesetzt«, wandte Lilly ein, »und wie ich gehört habe, sind es doch gerade Inder, welche die getöteten Reptilien jährlich zu vielen Tausenden bringen.«
»Gewiss. Aber ich betonte doch vorhin auch das ›strenggläubige Inder‹. Die große Masse kümmert sich nicht um diese Heiligkeit der Brillenschlange. Oder vielmehr: die Geldgier ist größer als der Respekt vor den Heiligen. Ihrer Sünde sind sich diese Schlangentöter dennoch bewusst. Dasselbe also gilt auch für die Python, sogar in noch viel stärkerem Grade, sie ist noch viel heiliger als die Kobra. Aber ihren Untergang hat das nicht aufhalten können. Während man von einem Abnehmen der giftigen Brillenschlangen absolut nichts verspürt, ist eine harmlose Riesenschlange heutzutage in Indien kaum noch aufzutreiben. Das macht: Sie ist so überaus leicht zu fangen, eben weil sie nur auf freiem, trockenen Boden lebt, nicht wie andere Schlangen in den Dschungeln, in die Sümpfe geht. Die zoologischen Gärten, die Tierbudenbesitzer sind schuld an dem Untergange der indischen Riesenschlange. Jeder solcher Kerl muss doch unbedingt eine Riesenschlange haben. Die brasilianische Anakonda freilich, das ist ewtas ganz anderes, die soll man einmal in ihrem freien Strome zu fangen suchen, die weiß sich auch zu...«
Breithaupt brach ab und lauschte wie seine Begleiterin.
Es war das Quieken eines Schweines, das sie vernahmen, und zwar ein ganz jämmerliches Quieken.
»Das klingt ja gerade, als wenn...«
Breithaupt brauchte seine Genossin nicht erst zurückzureißen, sie sprang schon von selbst hinter einen Vorsprung, von einer abgebrochenen Tropfsteinzacke gebildet.
Sie standen also gerade in der Mitte der Grotte, das heißt in der Mitte der hinteren Wand — und da plötzlich kamen nur wenige Schritte von ihnen entfernt einige Inder, wie Arbeiter gekleidet, hinter einer anderen Tropfsteinzacke aus der Wand hervor.
Es waren drei Mann, und zwei von ihnen trugen zwischen sich an einem Stocke ein junges Schwein.
Ohne sich aufzuhalten, ganz, als wären sie zu Hause, sprangen sie von der Terrasse herab auf den grasigen Boden der Grotte, befreiten das an dem Tragstock hängende Schwein, aber nur, um es mit einem längeren Strick an einen Baum zu binden.
Dann gingen die beiden wieder, verschwanden von der Terrasse aus wieder in der Wand, wo sich also noch ein anderer Zugang befand, der dritte blieb zurück, und schon ertönte wiederum ein Quieken: es wurde ein anderes Schwein gebracht.
»Das Rätsel ist gelöst«, flüsterte Breithaupt seiner Begleiterin zu, »hier werden von fanatischen Indern brasilianische Anakondas künstlich gezüchtet, als Ersatz für die ausgestorbene Python! So und nicht anders ist es!«
»Ganz gewiss, so und nicht anders ist es!«
Das hatte aber nicht Lilly als Bestätigung gesagt, sondern das war eine tiefe Männerstimme gewesen, dicht hinter Breithaupt.
Doch ehe dieser herumfahren konnte, war es ihm, als ob ihn im Genick eine Biene oder Wespe stäche, in demselben Augenblick aber pflanzte sich dieser Stich auch gleich bis ins Rückenmark und ins Gehirn fort — er brach bewusstlos zusammen.
Als Breithaupt wieder zu sich kam, war er gleich bei voller Besinnung, und er sah sich in einem kleinen Gewölbe mit nackten Wänden, welches durch kleine Öffnungen noch genügend Tageslicht erhielt.
Er saß halb aufgerichtet auf einer Matte, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, sah vor sich einen Mann stehen, einen Inder mit enganliegenden Kostüm — keinen anderen als jenen jungen, herkulisch bebauten Hindu mit den trotzig-wilden zerfetzten Zügen und dem lang herabhängenden Barte.
Aber mit einer weiteren Beobachtung dieses Mannes hielt sich Breihaupt vorläufig nicht auf. Ein furchtbares Entsetzen befiel ihn plötzlich. Er hatte sich mit den Händen aufstemmen wollen, um sich im ersten Schrecke zu erheben, und er vermochte es nicht, konnte die Arme nicht rühren, keinen Finger. Er sah vor sich seine Füße liegen, ungebunden, und er vermochte die Füße nicht zu bewegen. Aber nicht allein das, nicht etwa eine ungemeine Kraftlosigkeit, sondern er fühlte Arme und Beine überhaupt nicht mehr, er hatte gar keinen Körper mehr. Dass er seinen Kopf bewegen konnte und alles, was zum Kopfe gehörte, die Zunge und die Augen, das war alles. Aber alles andere seines ganzen Körpers existierte einfach nicht mehr für ihn.
So soll der fühlen, der einen Schlaganfall gehabt hat. Das betroffene Glied fühlt er nicht, es existiert gar nicht mehr für ihn. Doch es gibt noch ein anderes Beispiel, das jeder schon an sich selbst erlebt hat. Wenn ein Arm total »eingeschlafen« ist, wie man sagt — fühlt man den noch? Nein. Man hebt ihn mit der anderen Hand wie einen fremden, leblosen Gegenstand auf, so fällt er wieder zurück.
So war es mit des jungen Ingenieurs ganzem Körper, mit Ausnahme des Kopfes.
Nun kann man sich sein furchtbares Entsetzen erklären.
»Gelähmt?!«, vermochte Breithaupt mit ganz geläufiger Stimme hervorzubringen, freilich in der Situation entsprechendem Tone.
»Ja, ich habe Sie gelähmt. Fühlten Sie nicht den Stich im Nacken?«
»O du Teufel, du Ausgeburt der Hölle!«, knirschte Breithaupt, zunächst von Wut erfasst.
»Bitte, nicht schimpfen, es hat gar keinen Zweck, wollen wir uns doch ganz friedlich unterhalten. Glauben Sie nicht etwa, dass Sie gelähmt für immer sind. Wir Inder verstehen doch mancherlei, wovon Ihr Abendländer noch nicht einmal eine Ahnung habt. Eine zweite Injektion, und Sie haben Ihre Empfindung zurück, haben für Ihre Gesundheit nicht den geringsten Nachteil davon. Erst aber werden Sie mir einige Fragen beantworten.«
Der so wild aussehende Inder befleißigte sich der größten Höflichkeit, und es war auch wirklich eine ganz vornehme Erscheinung. Für Breithaupt aber war jetzt die Hauptsache, dass seine suchenden Augen in dem Felsengewölbe, das nur einige Matten enthielt, seine Gefährtin nicht sahen.
»Wo ist Lilly... wo ist die Dame?«
»Die befindet sich in einem anderen Raume, in demselben Zustande wie Sie, wird demselben Verhör unterworfen, erhält genau dieselben Fragen vorgelegt, und... wehe Euch, wenn sich die Antworten nicht decken!«
Bei diesen letzten Worten hatte es in den finsteren Zügen furchtbar drohend aufgeblitzt. Breithaupt wusste, was er von diesem Manne zu erwarten hatte und dass es hier nur eines gab: ganz bei der Wahrheit zu bleiben.
»Ich möchte erst einmal meine Begleiterin sprechen.«
»Wozu?«
»Um ihr zu sagen, dass sie immer ganz die Wahrheit antworten soll.«
»Es ist nicht nötig. Sie hat diesen Ihren Bescheid jetzt bereits bekommen.«
»Wie das?«
»Die Dame hört Sie sprechen, auch ich höre die Antworten der Dame, nur Sie hören es nicht. Es ist dies eine besondere Akustik dieses Raumes.«
»So fragen Sie!«
»Wie heißen Sie?«
»Doktor Karl Breithaupt.«
»Was sind Sie?«
»Vermessungsingenieur.«
»Wie heißt die Dame?«
»Miss Lilly Leley.«
»Was ist sie?«
»Artistin, Aviatikerin.«
Der Inder nickte zufrieden, als wisse er, dass diese Angaben stimmten, weil er sie schon von Lilly gehört hatte.
»Wie kommen Sie hierher?«
»Mittels eines Aeroplans.«
Wieder nickte der Inder wie zufrieden, und das war ja auch kein Wilder, der wusste wohl schon, was ein Aeroplan ist, in Indien gab es deren schon genug.
»Wo befindet sich dieser Aeroplan? Wo haben Sie ihn gelassen?«
»Auf der westlichen Seite des Felsengebirges, in dem wir uns doch jetzt offenbar befinden...«
»Jawohl, das stimmt.«
»... erhebt sich doch in einer Entfernung von siebzig bis achtzig Metern ein kleiner Felsen, oben abgeplattet...«
»Jawohl das stimmt. Sie haben oben auf dem Plateau ein Datum und andere Zeichen eingemeißelt.«
»Nicht ich.«
»Dann die Dame, oder...«
»Nein, nicht wir.«
»Wer sonst? Nun, lassen wir das vorläufig, bleiben wir bei der Reihenfolge. Was ist mit diesem Felsen?«
»Auf diesem Plateau haben wir unseren Aeroplan zurückgelassen.«
»Das ist nicht wahr, Sie lügen!«, fuhr der Inder etwas auf.
»Was soll nicht wahr sein?«
»Überlegen Sie jedes Wort, ehe Sie es aussprechen! Ich will nur die strengste Wahrheit hören, woran dann nichts mehr zu deuteln ist! Sie sagten, dort hätten Sie den Aeroplan zurückgelassen.«
»So ist es auch.«
»Die Flugmaschine war doch nicht führerlos.«
»Nein, es war ein dritter dabei.«
»Kann dieser Mann selbständig disponieren?«
»Disponieren? Er stand zu uns in einem abhängigen Verhältnis.«
»War er ein Diener?«
»Ja.«
»Und Sie haben diesem Diener gesagt, er soll mit dem Aeroplan dort auf jener Felsenkuppe bleiben?«
»Ja.«
»Wie lange?«
»Bis wir wieder zurückkommen.«
»Das haben Sie ihm direkt befohlen?«
»Gewiss.«
»Gab es nicht eine Ausnahme?«
»Was für eine Ausnahme?«
»Unter welcher er davonfliegen sollte.«
»Nur wenn er eine drohende Gefahr bemerkte, sollte er sich in die Lüfte erheben.«
»Wohin sollte er da fliegen?«
»Anderswohin gar nicht. Er sollte sich nur in sichere Höhe erheben und dann das Weitere abwarten. Hiervon benachrichtigte er uns durch Signalschüsse, und war unsere Rückkehr noch dringender nötig, durch drei und eventuell durch noch mehr Schüsse.«
Der Inder kreuzte die Arme über die Brust und starrte den Sitzenden an.
»Der Mann ist mit dem Aeroplan nach Westen davongeflogen«, sagte er dann nach einer Pause plötzlich.
Wäre Breithaupt dessen fähig gewesen, so wäre er emporgefahren.
»Nach Westen davongeflogen!? Ist doch nicht möglich!«, gab er dann seinem Staunen, wenn nicht Schreck, wenigstens in der Stimme, Ausdruck.
»Wie ich sage.«
»Wann war das?«
»Ein Viertel nach acht, und zwar gebe ich die Zeit nach Ihrer Uhr an.«
»Und um acht haben wir das Plateau zu Fuß verlassen.«
»Stimmt, dasselbe gab Ihre Begleiterin an, und ihre Verwunderung war nicht geringer als die Ihre, dass jener Mann, den sie Alberich nennt, nach Westen davongeflogen sei. Finden Sie hierfür eine Erklärung?«
»Nein. Oder er hat eben eine Gefahr bemerkt; dann hätte er aber doch nur aufsteigen sollen.«
»Sich in sicherer Höhe in der Luft halten, immer in der Nähe des Felsenplateaus?«
»Ja.«
»Er ist direkt nach Westen geflogen und in der Ferne verschwunden.«
»Wann war das?«
»Es ist jetzt gleich zehn Uhr.«
»Und er ist noch nicht wieder zurückgekehrt?«
»Ist in den zwei und dreiviertel Stunden noch nicht wieder aufgetaucht!«
»Auch geschossen hat er nicht?«
»Nein.«
»Sind Sie dort auf dem Plateau gewesen?«
»Ja, nachträglich.«
»Hat er Ihr Kommen vielleicht bemerkt?«
»Ganz ausgeschlossen. Wir verließen unser Versteck erst, als der Aeroplan ganz in der Ferne verschwunden war.«
»Hat er dort etwas zurückgelassen?«
»Nein.«
»Seine Entfernung ist mir unbegreiflich.«
»Gur«, nickte der Inder zufrieden, »Ihre Aussagen decken sich vollständig mit den Aussagen Ihrer Gefährtin. Dies wollte ich zuerst konstatieren, der erste Teil des Verhörs ist beendet. Kommt der zweite Teil daran. Sie wussten nicht, was Sie hier finden würden?«
»Wir hatten keine Ahnung.«
»Woher kannte der Führer des vorausgegangenen Luftschiffes diesen Ort?«
Also wusste der Inder bereits alles, Lilly hatte ihm schon alles offenbart.
»Ich habe keine Ahnung«, konnte Breithaupt wiederum nur antworten.
»Auch Ihre Gefährtin weiß das nicht?«
»Nein.«
»Woraus entnehmen Sie das, dass es die Dame nicht weiß?«
»Sonst hätte sie es mir sicher offenbart.«
»Sie lieben die Dame?«
Ehe der junge Ingenieur, plötzlich ganz verwirrt werdend, eine Antwort geben konnte, die wahrscheinlich verneinend ausgefallen wäre, fuhr der Inder schnell fort:
»Schon gut, schon gut, ich will gar keine Antwort hören, ich weiß schon, was da herauskommen würde, habe nicht umsonst lange Zeit in Europa zugebracht, ich kenne Euch komische Abendländer.«
Wieder hatte der Inder dabei zufrieden genickt, aber zufrieden sah er niemals aus, es waren und blieben immer die wilden, trotzigen Züge, und jetzt prägte sich in ihnen auch noch Hohn und Spott aus, als er fortfuhr:
»Den zweiten Teil des Verhörs kann ich mir ganz ersparen, durch Sie bin ich völlig überzugt worden, dass mir Lilly Leley immer die reine Wahrheit mitgeteilt hat. Nur noch etwas unterhalten möchte ich mich mit Ihnen. Wir haben noch Zeit. Ich habe Sie vorhin geraume Zeit belauscht, als Sie der Dame Erklärungen über amerikanische und indische Schlangen gaben, Sie sind darin ziemlich gut beschlagen — es freut mich, einen so gebildeten Europäer vor mir zu haben, der ja auch den Doktorhut trägt. Also Sie wissen, wo Sie sich befinden?«
Breithaupt hielt es für das Beste, in aller Gemütlichkeit auf die gewünschte Unterhaltung einzugehen. Verschlimmern konnte diese seine Lage keinesfalls.
»So ziemlich im Herzen der Provinz Bandelakand.«
»Wissen Sie Näheres über die Provinz?«
»Nein.«
»Der Name dieses Gebirges?«
»Ist mir unbekannt.«
»Tut auch nichts zur Sache. Haben Sie von den Skaris gehört?«
»Skaris? Nein, was ist das?«
»Eine religiöse Sekte.«
»Ich höre diesen Namen zum ersten Male.«
Der Inder zog eine Matte heran und ließ sich darauf mit untergeschlagenen Beinen nieder.
»Vor dem Buddhismus und dann dem Mohammedanismus herrschte in Indien allein der Brahmaismus. Sie werde über diesen wohl genug gehört haben, sodass ich darüber weiter keine Vorlesung zu halten brauche, erwähnen will ich nur: Brahma ist für uns überhaupt kein Gott, es ist die unfassbare Weltseele, die gar nicht angebetet wird. Auch die Götter, deren der Brahmaismus zahllose hat, von den zahllosen Devas, Engeln und Dämonen, gar nicht zu sprechen, sind von dieser Weltseele erst geschaffen worden, auf unbegreifliche Weise. Der erste Gott ist Indra, der Herr des hohen Himmels, der Großarmige, der Blitzträger, der Donnerer, der auch diese Erde geschaffen hat mit allem, was sich darauf befindet, der dieses Geschaffene, woran er seine Freude hat, natürlich auch erhalten will. Ihm feindlich gegenüber steht Vitra, der den Regen zurückhält, und Ahi, der noch besonders die Quellen verstopft, um alles Lebendige wieder verdorren zu lassen.
Möge die Anführung der drei Hauptgötter genügen. Wir haben es überhaupt nur mit dem guten Indra zu tun, dem wir ja unser Leben verdanken. Die Attribute dieses stärksten aller Götter sind, wie Sie schon Ihrer Gefährtin ganz richtig erklärten, der Elefant und der Python. Die speziellen Priester des Indra waren — ich will von der Vergangenheit sprechen, obgleich dies alles ja auch jetzt noch existiert — die Skaris. Die Brahmanen hatten und haben ja den ganzen Götterdienst unter sich. Die Skaris hatten nur Dienst in den Tempeln des Indra, ihnen waren seine heiligen Tiere zum Schutze unterstellt, der Elefant und die Riesenschlange. Wissen Sie etwas Näheres hierüber, wie diese Tiere verehrt wurden?«
»Ich weiß nur, dass die weißen Elefanten heilig waren und es noch sind, dass solch ein Tier in dem Tempel gehalten und verehrt wird, als wäre es ein menschlicher Fürst, als wäre es ein Gott selbst.«
»So ist es. Früher aber galt das für alle Elefanten, jetzt ist der gewöhnliche Elefant ganz profan geworden, man verwendet ihn zu den gewöhnlichsten Arbeiten oder sperrt ihn gar als Schauobjekt in eine Menagerie, richtet ihn zu albernen Kunststückchen ab —«
»Aber doch auch in Indien selbst sind die Elefanten von jeher zu Diensten benutzt worden«, unterbrach Breithaupt den Sprecher mit wirklichem Interesse.
»Nur zu Kriegsdiensten, in der Schlacht, und das war etwas Heldenhaftes. Alle unsere Götter waren streitbare Helden, ganz besonders Indra.«
»Aber der Elefant wurde doch von jeher auch zu anderen Arbeiten verwendet, zum Beispiel zum Tragen von gefällten Baumstämmen, zum Pflügen, und das von Indern selbst.«
»Nein, nicht von jeher. Zu solch niedrigen Arbeiten wurde der Elefant nur gezwungen, seitdem unsere Götterreligion dem götterlosen Buddhismus und Mohammedanismus weichen musste. Doch lassen wir jetzt den Elefanten, bleiben wir bei der Python. Wissen Sie, wie diese verehrt wurde?«
»Nein.«
»Von den Elefanten hat man uns wenigszens den weißen Elefanten gelassen, nie wird ein Engländer oder ein andersgläubiger Inder wagen, einen weißen Elefanten zu seinen profanen Arbeiten zu benutzen, ihn überhaupt aus einem uns noch gehörenden Tempel zu nehmen, und wird ein weißer Elefant in der Wildnis gefangen, so wird er unbedingt den Brahmanen ausgeliefert. Anders mit der Python. Die ist ohne Ausnahme für vogelfrei erklärt worden, deren Kultus ist schon längst zur Sage geworden.
»Früher, vor dem Buddhismus, war in ganz Indien jede Riesenschlange gefeit. Unbehelligt erreichten sie noch ein viele Jahrhunderte hohes Alter und daher auch eine enorme Größe, Exemplare von zwanzig Metern Länge waren keine Seltenheit, da kam es noch vor, dass eine Python einen Hirsch, ein großes Kalb erwürgte und verschluckte, damals fielen ihnen auch oft genug noch Menschen zum Opfer, nicht nur Kinder, sondern Erwachsene, und kam solch ein Fall den Brahmanen zu Ohren, so mussten die Skaris ausziehen und den Menschenschlinger fangen, solch eine Python kam in einen Tempel des Indra, genoß göttliche Verehrung, und da Indra durch dieses sein Lieblingstier gezeigt hatte, dass er auch Menschenopfer liebe, so — ward dieser Riesenschlange allmonatlich ein Mensch zum Verschlingen vorgeworfen.«
Der Erzähler hatte nicht umsonst eine Pause vor seinen letzten Worten gemacht. Der Eindruck, den dies auf Breithaupt machte, war auch ein sehr starker.
»Es ist doch nicht möglich!«, rief er, halb erstaunt, halb erschrocken.
»Was soll nicht möglich sein? Dass die Python einen erwachsenen Menschen verschlingen kann oder dass den heiligen Schlangen Menschenopfer dargebracht wurden? Ersteres habe ich ja schon vorhin aus Ihrem Munde bezweifeln hören —«
»Nein, nein, daran zweifle ich nicht, dass Indien dereinst viel mächtigere Riesenschlangen beherbergt hat, das beweisen gefundene Skelette. Aber dass die Brahmanen Menschenopfer dargebracht haben, davon habe ich niemals gehört.«
»Aber von den Thugs oder Phansigars haben Sie doch schon gehört?«
»Allerdings, das habe ich. Doch diese Sekte ist eine Ausgeburt einer höllischen Phantasie, sie wird von jedem rechtschaffenen Hindu und Kuli ebenso gefürchtet wie gehasst.«
»Nun, ich versichere Ihnen: die alten Brahmanen haben vor Einführung des Buddhismus ebenfalls Menschenopfer dargebracht, wenigstens dem Indra, seiner Lieblingsschlange, und ich versichere Ihnen ebenso, dass es jeder Familie für die höchste Ehre galt, wenn das Los eines ihrer Mitglieder traf. Der Buddhismus hat den Brahmaismus so gut wie vollständig verdrängt, das erste dieser neuen Religion war, diese Menschenopfer abzuschaffen, damit fiel der ganze Schlangenkultus — ich meine die Verehrung der Python, die der giftigen Kobra ist buddhistischen Ursprungs, wie ich Sie ja schon Ihrer Begleiterin erklären hörte, und das ist etwas ganz anderes — und der Buddhismus entstand 400 Jahre vor Ihrer christlichen Zeitrechnung, so sind fast zwei Jahrtausende verstrichen , in dieser Zeit kann man gar viel vergessen, und so kommt es, dass auch dieser Pythonkultus mit seinen Menschenopfern so gut wie vergessen worden ist, zumal hierüber niemals etwas geschrieben worden ist.«
Plötzlich kam dem jungen Ingenieur eine Erkenntnis, jetzt wusste er, wo hinaus dieser Inder wollte.
»Und diesen Pythonkultus wollen Sie wohl wieder einführen?«
Der Inder erhob sich, und noch finsterer und herrischer wurden seine dunklen Züge.
»So ist es! Und warum wir Skaris, die noch längst nicht ausgestorben sind, wie die Narren wähnen, diesen Schlangenkultus wieder einführen wollen? Hören Sie mich an, Sie Mann mit dem Doktorhut. Einst waren die Inder ein mächtiges Volk, ein Volk von Helden, stark und kühn in der Schlacht, der Kampf war ihre Lust, sie waren berufen, die ganze Erde zu unterjochen. Und was sind die Inder jetzt? Ein Haufen von hundert Millionen erbärmlichen Schwächlingen, die sich von einer Handvoll Engländer zusammenknuten lassen. Und wodurch ist diese Umwandlung gekommen? Durch den verweichlichenden Buddhismus, der jedes Tier, sogar das peinigende Insekt zu töten verbietet. Der Buddhismus muss wieder beseitigt werden, und wir werden wieder ein freies, starkes Geschlecht sein. Und wir Skaris, wir Schlangenpriester des Indra, fühlen uns berufen, dies zu vollführen.«
»Und mit der Einführung der brasilianischen Anakonda in Indien fangen Sie an«, ergänzte Breithaupt.
»So ist es«, stimmte der Hindu wiederum bei, »und das ist auch ganz richtig. Das Volk muss erst wieder an die alten Götter glauben lernen, und der mächtigste Gott ist Indra, und dessen heiligstes Lieblingstier ist die Riesenschlange. Aber heutzutage glaubt nicht einmal mehr der abergläubischste Paria daran dass eine Python einen Menschen verschlingen könnte, nicht einmal ein neugeborenes Kind. Jene uralten Riesenschlangen, die in den Tempeln gehalten wurden, sind gestorben, besonders die mohammedanischen Herrscher Indiens betrieben die Jagd auf Riesenschlangen mit Leidenschaft, und die hilflosen Tiere, die gar kein Versteck haben, sind ja so leicht zu erlegen, die letzten Exemplare töteten und fingen die Engländer. Wenn heute noch einmal in der felsigen Steppe eine Python aufgestöbert wird, so ist es ein klägliches Geschöpf, es gilt schon als Riesenschlange, wenn es keine drei Meter lang ist, dann wird sie schon als indische Riesenschlange in den europäischen Schaubuden gezeigt. Kein Wunder, dass da auch die Inder allen Respekt vor dem einstmals geheiligten Tiere verloren haben.
Anders die brasilianische Anakonda. Ihre Heimat ist das Wasser, der Sumpf. In diesem ihrem Elemente soll man sie einmal auszurotten versuchen! Doch Sie wissen das ja selbst, ich habe es ja schon aus Ihrem eigenen Munde gehört. Nun, so wollen wir hier in Indien die brasilianische Anakonda einbürgern, die Lebensbedingungen sind ja ganz die gleichen wie in Brasilien.«
Breithaupt wusste nicht recht, weshalb ihm der Inder dies alles offenbarte, trotz seines finsteren Aussehens so in aller Gemütlichkeit, das wollte ihm so gar nicht recht gefallen. Da es aber nun einmal so war, wollte er gleich die Gelegenheit benutzen, noch mehr zu erfahren.
»Sie haben die Anakondas direkt aus Brasilien importiert?«
»Direkt.«
»In der Wildnis gefangen?«
»An der Mündung des Orinoko in den Amazonenstrom.«
»Mehrere?«
»Vier Stück, darunter eine von 12 Meter Länge.«
»Wann war das?«
»Vor fünf Jahren.«
»Ich sah vorhin junge Anakondas.«
»Sind vor zwei Jahren hier geboren, ein Zeichen, wie ihnen dieses Klima zusagt. Gleich im ersten Jahre hat eine Eier gelegt und sieben Junge großgezogen.«
»Diese bleiben alle hier?«
»Nur diese sieben Jungen wurden im dritten Jahre, als sie groß genug waren, um sich selbständig zu ernähren, in den verschiedensten Gegenden Indiens in aus Dschungelsümpfen kommenden oder hineinfließenden Strömen ausgesetzt, wo sie sich selbständig ernähren können. Aber das war nur erst ein Experiment, die Brutstätte soll hier bleiben.«
»Die anderen werden hier künstlich gefüttert?«
»Ja, und das muss auch sein.«
»Warum?«
»In den eigentlichen Sumpf geht die Anakonda nicht, sondern sie hält sich nur dort auf, wo sich der Sumpf mit fließendem Wasser mischt, und ihr Hauptgebiet ist überhaupt fließendes Wasser, in dem sie auf Fische jagt. Ebenso wenig taucht sie in unterirdische Flussläufe, denn sie braucht doch ab und zu Luft. So ist diese Grotte wie dazu geschaffen, um die Riesenschlangen an ein übersehbares Gebiet zu fesseln, auf dem sie dennoch in völliger Freiheit leben.«
»Aus dem unterirdischen Flusslaufe kommen Fische hervor?«
»Ja, sehr viele sogar, große und kleine, aber die Zufuhr reicht doch nicht aus, um die dreizehn Schlangen zu sättigen, die wir jetzt hier beherbergen. Und in dem durchwässerten Sumpfe finden sie überhaupt keine Nahrung.«
»So werden sie mit Schweinen gefüttert?«
»Ja, wie Sie selbst beobachtet haben. Das Ende konnten Sie allerdings nicht beobachten. Aber nicht nur mit Schweinen, auch mit anderen Tieren, mit Antilopen, Kälbern und Schafen.«
»Woher bekommen Sie diese?«
»Teils durch Jagd auf dem trockenen Wald- und Steppengebiet, das sich westlich von diesem Gebirgszuge meilenweit in völliger Wildnis erstreckt, die zahmen Haustiere werden weiter her transportiert.«
»Von wo?«
»Von der nächsten indischen Plantage, deren Besitzer einer der Unserigen ist.«
»Sind die Anakondas hier zahm?«
»Jawohl, sie haben sich im Laufe der fünf Jahre ganz an ihre Hüter gewöhnt.«
»Wie viele Hüter sind das?«
»Acht Mann — ohne die, welche ab und zu gehen, um Futtertiere zu holen.«
»Und was haben Sie mit diesen Schlangen nun vor?«
»Zunächst müssen sie möglichst viel Brut erzeugen, die dann durch ganz Indien in Strömen ausgesetzt wird. Wir wollen ganz Indien wieder mit Riesenschlangen bevölkern, die nicht so leicht wieder zu fangen und auszurotten sind wie die Pythons, vor deren Größe und Gefräßigkeit die Menschheit auch wieder Respekt bekommt.«
»Und wenn das soweit ist?«
»Dann werden die alten brahmanischen Götter wieder auf ihren Thron gesetzt.«
»Eine Revolution?«
»Eine religiöse.«
»Aber auch eine politische.«
»Vielleicht folgt auch die nach.«
»Und die neuen Riesenschlangen werden wieder in Tempeln heilig gehalten?«
»Selbstverständlich.«
»Es werden ihnen wieder Menschen geopfert?«
»Selbstverständlich«, erklang es gleichmütig wie zuvor zurück.
Dem jungen Ingenieur schauderte. Was bekam er da Fürchterliches zu hören! Und wiederum stieg in ihm eine angstvolle Sorge auf, die ihn schon vorhin einmal befangen hatte.
»Warum offenbaren Sie mir dies alles?«
Der Inder hatte sich wieder mit untergeschlagenen Füßen niedergelassen, gähnte, ehe er die Antwort gab.
»Nur eine Unterhaltung, um mir die Zeit zu vertreiben. Ich habe jetzt hier vier Wochen Dienst, und das ist sehr, sehr langweilig. Da nimmt man die Gelegenheit wahr, einmal mit einem gebildeten Menschen plaudern zu können.«
»Aber dadurch ward Breithaupt seine heimliche Sorge nicht los, diese wurde nur immer größer.
»Wie können Sie es wagen, mir dies alles zu offenbaren?«
»Was wagen?«
»Ich kann doch alles verraten!«
»Verraten? Nein, das können Sie nicht«, gähnte der Inder wieder.
Gewissheit musste Breithaupt haben, nur Gewissheit, dann wollte er auch ganz ruhig bleiben.
»Wir, meine Gefährtin und ich, sollen hier gefangen bleiben?«
»Gefangen bleiben? Nein, das sollen Sie nicht.«
»Sie haben ein Mittel, um uns das Erlebte und Gehörte vergessen zu machen?«
»Ich weiß, was Sie meinen. Hypnose nennen Sie es wohl. Ja, das haben wir, aber wir tun es nicht.«
»Wir sollen die Ihrigen werden?«
»Die Ihrigen? Ausgeschlossen. Bald sollen die Anglesis und alle anderen Europäer aus dem heiligen Indien hinausgepeitscht sein. Und da gibt es keine Ausnahme.«
»Was haben Sie sonst mit uns vor?«
»Das ist doch sehr leicht zu erraten.«
»Sie wollen uns töten!«
»Töten?«, wiederholte der Inder fragend, so gemütlich oder gelangweilt wie immer. »Nun, so einfach ist die Sache denn doch nicht. Sehen Sie, unsere Riesenschlangen müssen erst daran gewöhnt werden, Menschen zu verschlingen. Es ist doch ein eigentümliches Ding mit dem Herrn der Schöpfung. Jedes Raubtier, auch das blutgierigste, fürchtet den aufrecht gehenden Menschen. Mag der Löwe, der Tiger, der Panther auch noch so von Hunger geplagt sein, nie wird er wagen, das so seltsam auf zwei Beinen herumstolzierende Geschöpf anzufallen. Anders, wenn das Raubtier dazu gezwungen wird, nur ein einziges Mal, um sein Leben oder das seiner Jungen zu verteidigen — oder wenn Schmerz und Wut des angeschossenen Tieres alle anderen Bedenken überwiegen. Hat aber nun das Raubtier nur ein einziges Mal die Schwäche dieses sogenannten Herrn der Schöpfung kennen gelernt, und hat es Geschmack an Menschenfleisch gefunden, so zieht es dieses allem anderen vor, es wird zum speziellen Menschenfresser.
Dasselbe gilt von der Riesenschlange. Weder die Python noch die Anakonda wagt den Menschen anzugreifen, mag sie noch so groß und stark und hungrig sein. Und der Mensch ist doch viel leichter zu verschlingen, als etwa ein Schwein, eine Antilope! Lässt er die Arme hängen oder hebt er sie, so gleicht er ja dem Wurme, der mit Leichtigkeit hinunterrutscht. Sie wagt es nicht, ihn in ihre Umschlingung zu nehmen. Und die Riesenschlange denkt auch nie an Gegenwehr, immer nur an Flucht, höchstens dass die Anakonda den Feind mit Schlamm bespritzt, durch Schwanzschläge. Aber alle diese Schlangen, so scharfsichtig sie auch sonst sein mögen, sind blind, wenn sie einmal die erspähte Beute im Augen haben. Ich hörte, wie Sie selbst es vorhin Ihrer Gefährtin erzählten. Ja, so kommt es. Ein Jäger schießt das Huhn, welches die Riesenschlange gerade ins Auge gefasst hat, er eilt hin, hebt es auf — jetzt ist es die Riesenschlange, die auf ihre einmal geplante Beute losschießt, den Menschen benutzt sie nur als Baumstamm, um den sie sich wickeln kann — hat sie aber nun einmal gemerkt, wie leicht sie diesen lebenden Baumstamm zerdrücken kann, hört sie die Knochen brechen, dann verschlingt sie auch gleich diesen mit — und von jetzt an ist die Riesenschlange zum Menschenfresser geworden. Heutzutage gilt dies allerdings nur von der Anakonda. Das Riesengeschlecht der Pythons ist in Indien schon längst ausgestorben, so große Exemplare gibt es gar nicht mehr, die dem Menschen gefährlich werden können. In Brasilien aber fallen der Anakonda mehr badende Menschen zum Opfer, als es sich selbst die Eingeborenen träumen lassen. Ich habe mich jahrelang in Brasilien aufgehalten, eben um die Gewohnheiten der Anakonda zu studieren, ich kam an die richtige Quelle — ich weiß es.«
Der Erzähler machte eine Pause, rieb sich sorgenvoll die Stirn, und so sorgenvoll fuhr er, der Stimme nach, auch fort, wohl mehr zu sich selbst sprechend:
»Es ist gar nicht so leicht, für unsere Schlangen genügend Menschenfutter herbeizuschaffen. Wir sind unserer nur wenige, da kann nicht jeden Monat einer geopfert werden. Und anderswo Europäer oder Inder wegzufangen — das ist heutzutage gar nicht mehr so einfach. Das Spurlosverschwindenlassen ist heutzutage nicht mehr so einfach wie früher. Und wenn der erbärmlichste Paria verschwindet, um den sich bisher kein Mensch und kein Hund gekümmert hat — an die Öffentlichkeit kommt es doch früher oder später, und dann setzen diese Spürhunde von englischen Detektivs aus Ehrsucht, um sich berühmt zu machen, Himmel und Hölle in Bewegung, den Verbleib des Entschwundenen aufzuklären. Und wir müssen verflucht vorsichtig sein. Sie leisten etwas, die englischen Detektivs. Die Thugs wissen ein Liedchen davon zu singen. Nein, es ist gar nicht mehr so leicht, Menschenfutter zu verschaffen. Gestern musste einer der Unsrigen daran glauben, aber es war ein Oberhaupt der Skaris, musste regelrecht hingerichtet werden und ein einsames Waldgrab finden, durfte nicht den Schlangen vorgeworfen werden.«
Der Inder blickte aus seinem Selbstgespräch auf, triumphierend ruhten seine glühenden Augen auf dem gelähmten Gefangenen.
»Nun, der große Indra hat uns ja jetzt einige Menschen zugeführt, und wer sie auch sein mögen, was es auch für Folgen hat — ich habe die Brücke hinter mir bereits verbrannt.«
Da wusste der junge Ingenieur, was seiner und seiner Gefährtin wartete — wenn er es nicht schon vorher gewusst hatte.
»Sie wollen uns doch nicht den Schlangen vorwerfen?«
»Du sagst es.«
»Mann, du bist doch kein Teufel —«
»Ich bin ein Skari, ein Priester des Indra, das sagt genug.«
»Wir haben mächtige Freunde, sie werden unseren Verbleib aufspüren —«
»Sagte ich nicht, dass ich die Brücke hinter mir verbrannt habe? Nämlich, indem ich Euch alles offenbart habe, gibt es kein Zurückgehen mehr, Ihr müsst sterben, so oder so, und so sollt Ihr gleich als Schlangenfutter dienen.«
»Dann schone wenigstens das Leben meiner Begleiterin!«
»Du bist ein Narr, wenn du so sprichst. Vielleicht kann ich es einrichten, dass du nicht siehst, wie von der Schlange, die du liebst, die Knochen zerbrochen werden, wie sie mit Schleim überzogen wird, ehe die Schlange sie hinunterwürgt, was manchmal stundenlang dauert, indem du zuerst drankommst. Doch dann muss sie ja dies bei dir beobachten. Es ist hin wie her, und so genau kann ich das auch gar nicht bestimmen.«
Der Ton eines Gongs erscholl, der Inder erhob sich.
»Es ist so weit, die Fütterung kann beginnen.«
Zwei Kulis traten ein, auf den Wink des Hindus hoben sie den Gelähmten auf, um ihn hinauszutragen.
Breithaupt wusste, dass hier jedes weitere Wort ganz vergeblich war, er dachte nur an Lilly, konnte bloß stöhnen.
Er war durch einen Gang ins Freie getragen worden, wurde von der Terrasse hinabgehoben. Da sah er Lilly, die dort zwischen dem Farnkraut am Boden lag, an Händen und Füßen gebunden.
»Lilly, Lilly, kennst du unser Schicksal?«, jammerte der Unglückliche, dabei aber nicht an sein eigenes denkend.
»Ich kenne es, und es ist nichts dagegen zu machen«, erklang es gleichmütig aus Lillys Munde zurück.
In einiger Entfernung von ihr wurde Breithaupt niedergelegt, mit dem Rücken an einen Baum gelehnt, was dann auch mit Lilly geschah, und
gleichfalls an Händen und Füßen gebunden, obwohl er sich doch sowieso gar nicht bewegen konnte.
Da wurde noch ein dritter Gefangener gebracht, ein Inder, wie ein Arbeiter gekleidet. Der brauchte nicht getragen zu werden, er war seiner Glieder noch Herr, man stieß ihn vor sich her, nur die Arme waren ihm auf den Rücken gebunden. Dieser Inder ergab sich nicht so geduldig in sein Schicksal, er schrie und lamentierte und jammerte, wovon die beiden aber nichts verstanden, und es half ihm auch nichts, er wurde niedergeworfen und an einen dritten Baumstamm gebunden. Die beiden anderen hatten ihn vor sich.
Der vornehme Hindu trat zu Breithaupt, in seiner Hand blitzte ein Messerchen.
»Ja, gib mich wenigstens nicht lebendig der Schlange preis«, flehte Breithaupt, »töte mich zuvor — und meine Begleiterin, wenn du dich nicht erweichen lässt.«
»Töten? Ganz im Gegenteil, die Schlange muss Euch bei völliger Lebendigkeit erwürgen, sodass Ihr Euch so viel als möglich noch wehren könnte, damit sie sich daran gewöhnt.«
Er streckte die Hand aus, Breithaupt fühlte, wie ihm das Messerchen in der Nähe der Halsschlagader ritzte, und alsbald ging es ihm von dort aus wie Feuer durch die Adern, durch den ganzen Körper, und nach einer halben Minute konnte er seine Glieder wieder bewegen, soweit das die Fesseln erlaubten.
»Nur das nicht, nur das nicht!«, jammerte er. »Mache mich doch lieber ganz gefühllos!«
»Es bleibt dabei, wie ich sagte. Einen völlig lebendigen Menschen muss die Schlange umstricken und würgen, auch die Fesseln werden Euch dann noch gelöst. Sei lieber froh, dass Ihr dabei auch Eure Kleider anhaben müsst, so bleibt deiner Begleiterin wenigstens diese Schande erspart.«
Er ging hin zu Lilly, die jedenfalls auch so gelähmt worden war, nahm dieselbe Prozedur vor. Breithaupt sah, wie sie sich streckte.
»Nur Mut, nur Mut«, rief sei zu ihm hinüber, »ich glaube nicht, dass es so weit kommt, ich habe so ein ganz bestimmtes Gefühl, dass wir noch gerettet werden.«
Es war ein schwacher Trost, den sie ihm da spenden wollte. Natürlich glaubte sie selbst nicht daran.
Jetzt hatte der vornehme Inder in der Hand eine Dudelsackpfeife, wie die Zauberer, die Brillen- und andere Giftschlangen tanzen lassen, sie benutzen, trat an das nahe Ufer des Flusses, ließ die seltsame Melodie von quiekenden Tönen erschallen.
Alsbald begann das Wasser zu schäumen, ein großer Schlangenkopf tauchte auf, strebte dem Ufer zu — eine Anakonda von wenigstens zwölf Meter Länge wand sich aufs Trockene.
Der Inder floh nicht vor ihr, empfing sie vielmehr, immer weiter spielend, und machte es ebenso, wie es die professionellen Schlangenbeschwörer es mit den Kobras tun, er kauerte sich nieder und streckte den bis auf einen Haarbüschel glattrasierten Kopf vor, und das Ungetüm erhob sich und bezüngelte wie liebkosend seinen Kopf — der Inder erhob sich langsam und ebenso richtete sich die Riesenschlange höher auf, immer den Kopf bezüngelnd — dann hielt er ihr sein Gesicht hin und auch dieses wurde liebkosend bezüngelt. Dabei aber vergaß er niemals, die faszinierende Melodie ertönen zu lassen. Es war wohl überhaupt mehr eine Faszination, als eine richtige Zähmung, die hier vorlag.
Dann wich der Inder langsam zurück, die Anakonda folgte nach, bis sie sich in der Mitte des Dreiecks befanden, das die drei Gefangenen bildeten.
Hier sprang der Inder schnell zurück, seine Sackpfeife mit einem quiekenden Tone verstummen lassend.
»Jetzt entscheidet es sich, wen von Euch sie als Opfer fordert«, war er noch so liebenswürdig, seinen europäischen Gefangenen erklärend auf Englisch zuzurufen.
Es war nur eine einfache Fütterung, religiöse Zeremonien fanden dabei nicht statt.
Einige Minuten blieb die Anakonda ruhig liegen, nur den Kopf wie unschlüssig nach allen Richtungen bewegend, dann — kroch sie auf den indischen Gefangenen zu.
Was das für qualvolle Minuten für die Unglücklichen gewesen waren, lässt sich denken, und für die jetzt Verschonten war es ja doch nur ein Aufschub, und vielleicht um so entsetzlicher für sie, dass sie erst Zeuge werden mussten, welches Schicksal auch ihrer bald wartete.
Die Riesenschlange hatte nun ihren ganzen Körper in die Richtung nach dem erspähten Opfer gebracht, dann schmiegte sie sich so dicht an den Boden, dass sie völlig in den hier wuchernden Farnkräutern verschwand, dann tauchte sie wieder mit fast kreisförmig gebogenem Leibe auf, und mit einem Male schoss sie mit der Schnelligkeit eines Pfeiles auf ihre Beute zu.
Ihr Kopf fuhr, wenn man überhaupt mit den Augen folgen konnte, über den Körper des sitzend an einem Baume lehnenden Gefangenen hin, kam aber fast in demselben Moment auch wieder unter dem Körper auf der anderen Seite zum Vorschein, der ganze Leib folgte mit unglaublicher Schnelligkeit nach, wieder verschwand der Kopf unter dem Gefangenen und kam auf der anderen Seite des Menschenleibes wieder zum Vorschein, jetzt schien auch der Schwanz an diesen Umschlingungen mit teilzunehmen — nicht eine Viertelminute hatte es gedauert, zehn Sekunden, so war der Inder mit drei bis vier Umwindungen umwickelt.
Erst jetzt kam der Unglückliche dazu, vor Entsetzen laut aufzuschreien. Ein Mann sprang hinzu, durchschnitt ihm schnell die Fesseln an Händen und Füßen, die noch frei lagen. Es hatte keinen Zweck, das Opfer konnte die Gliedmaßen gar nicht mehr rühren, um sich gegen das Ungetüm zu wehren, das befreiende Messer war zu spät gekommen, und der vornehme Hindu machte seinem Unmute hierüber auch durch strafende Worte Luft.
Lange zu leiden brauchte der Unglückliche ja nicht. Bald hörte man Knochen krachen, schon vorher musste sein Brustkorb eingedrückt worden sein, und da war es natürlich auch schon mit dem Leben vorbei.
Aber ein Trost für die Zuschauer, für seine Nachfolger, war diese Kürze seines Leidens nicht gewesen. Die halbe Minute hatte genügt, um ihnen den kalten Todesschweiß des Entsetzens zu erpressen, es hatte gar zu grässlich ausgesehen, wie durch den furchtbaren Druck dem Menschen die Augen in buchstäblichem Sinne des Wortes aus den Höhlen herausgepresst worden waren, nachdem ihm schon vorher das Blut aus Mund, Nase und Ohren hervorgespritzt war.
Das Nachfolgende vollzog die Riesenschlange also an einer Leiche, aber das diente nicht zur Beruhigung der Beobachter, auch dies war gar zu grässlich anzusehen, man fühlte die ganze Manipulation des Ungetüms schon am eigenen Leibe.
Nachdem die Schlange ihr Opfer einige Minuten lang am ganzen Körper wie liebkosend bezüngelt hatte, begann sie, es von oben bis unten mit einem Schleim zu überziehen, den sie reichlich aus ihrem Rachen fließen ließ.
Dies ging aber nicht so schnell, währte vielmehr mindestens zwei Stunden. Die Inder, etwa zehn Mann, schauten diesem Schauspiele geduldig zu, hockten im Kreise, rauchten Zigaretten und Pfeifen.
Und auch Breithaupt sah zu. Er wollte nicht, wollte die Augen schließen, sich abwenden — aber er konnte nicht, musste hinschauen, das Grässliche von Anfang bis zu Ende verfolgen.
Während dieser Prozedur wurde zwischen ihm und Lilly kein Wort gewechselt, sie waren nicht fähig dazu.
Jetzt schickte sich die Anakonda an, ihre schlüpfrig gemachte Beute zu verschlingen, fing mit den Füßen an. Der Kuli war nur leicht bekleidet und barfüßig gewesen, natürlich aber war das dem Ungeheuer ganz gleichgültig, der Mann hätte auch schwere Wasserstiefel anhaben können. Der Schleim hatte alles schlüpfrig gemacht, und außer Metallteilen, etwa in den Taschen befindlich, wurde wohl alles verdaut.
Auch dieses Verschlingen würde wieder einige Stunden in Anspruch nehmen. Diese Inder hatten ja Zeit. Wie lange die Anakonda oder überhaupt eine Schlange dann wieder hungern kann, wann sie nach einer sättigenden Mahlzeit wieder Nahrung zu sich nimmt und wie viel, darüber herrscht noch völlige Unkenntnis, in der Gefangenschaft ist so etwas nicht zu kontrollieren, da beobachtet man die allergrößten Gegensätze.
Doch die eingeborenen Zuschauer wollten sich nicht nur an diesem einzigen Schauspiele ergötzen. Die Anakonda hatte ebenerst die Füße in ihrem Rachen verschwinden lassen, unsäglich langsam schien alles andere nachzurutschen, als der vornehme Hindu, der seinen Namen nicht genannt, sich erhob, an das Ufer trat und wieder seine Sackpfeife ertönen ließ, diesmal ihr aber eine ganz andere Melodie als die vorige entlockend.
Und wieder schäumte das trübe Wasser, wieder tauchte ein mächtiger Schlangenkopf auf — eine noch größere Anakonda war es, die der lockenden Melodie folgte, und wieder fand auf festem Boden erst eine liebkosende Begrüßung zwischen dem Manne und dem furchtbaren Reptil statt.
Nachdem der Inder die Schlange bis in die Mitte des freien Platzes gelockt hatte, sprang er wie zuvor zurück.
»Jetzt entscheidet es sich, wen von Euch beiden sie sich zuerst erkürt!«, rief er.
»Mich, lass es mich sein!«, flehte Breithaupt, zum ersten Male nach Stunden wieder eines Wortes fähig. »Bei allem, was dir heilig ist — lenke sie zuerst auf mich!«
»Das steht nicht in meiner Macht, sie selbst muss entscheiden«, klang es als Antwort zurück.
»Mut, nur Mut!«, ließ sich da auch Lilly wieder vernehmen. »Noch immer habe ich die felsenfeste Überzeugung, ein wundervolles Gefühl, dass wir doch noch gerettet —«
Sie vermochte den Satz nicht zu vollenden. Die Schlange hatte ihr Ziel gewählt, in der Richtung nach Lilly hatte sie sich lang ausgestreckt, krümmte sich schon zum Sprunge zusammen.
Da war es auch mit des mutigen Mädchens Zuversicht vorbei, die natürlich überhaupt nur eine erkünstelte gewesen war, um den Schicksalsgenossen noch bis zum letzten Augenblick zu trösten.
»Gott sei mir gnädig — Charly, mein Charly, ich habe dich geliebt — lebe wohl, mein Charly!!«, schrie sie jammernd auf.
»Allmächtiger und allgütiger Gott, sende deinen Engel!!«, fing der, dem dieses Liebesgeständnis im letzten Augenblicke galt, noch einmal zu beten an, aber es klang wie ein Heulen.
Das Gebet sollte nicht erhört werden. Die Schlange hob den Kopf, um auf ihr Opfer loszuschießen — —
Der Schlangenkopf machte nur einen kleinen Ruck nach vorn, dann sank er wieder zurück, dafür kam der ganze Leib in krampfhafte Windungen, aber ohne sich vorwärts zu bewegen, und auch nur wenige Augenblicke, so lag die Anakonda regungslos da.
Und gleichzeitig war der aufrecht stehende Hindu niedergestürzt, um sich nicht wieder zu erheben, waren all die im Kreise hockenden Inder nach vorn- oder hintenüber gefallen, blieben in dieser Lage bewegungslos liegen.
Was sollten die beiden noch lebenden Gefangenen hiervon denken? War in diese Grotte plötzlich ein Blitz von ganz besonderer Eigenschaft gefahren, alles Lebende tötend, nur diese beiden Unglücklichen in ihrer höchsten Not und die erste, noch schlingende Anakonda verschonend?
Der nächste Augenblick sollte die Lösung des Rätsels bringen.
Hinter dem Tropfsteingebilde sprang ein Weib hervor, eine junge Dame, im kurzen Sportkostüm, sprang von der Terrasse herab, eilte, ein Messer aus dem Gürtel ziehend, auf Lilly zu, um ihr die Bande zu durchschneiden.
»Leonor — Mrs. Hartung!!«, rief diese außer sich, die Retterin sofort erkennend und doch ihren Augen nicht trauend.
Im nächsten Moment aber, als sie sich aufrichtete, kam ihr auch schon zum Bewusstsein, was sie dieser jungen Frau jetzt berichten müsse — den Tod ihres Gatten und den der ganzen Besatzung des ›Tyrann‹, und sie wollte es sofort tun, wurde wie von einer inneren Macht dazu gezwungen.
»Ihr Gatte — Mr. Hartung — und Mr. Adam Green —«, stieß sie hervor, an diese beiden Hauptpersonen zuerst denkend, ihre Namen nennend, »alles tot —«
»Nu, ich bin noch nich dod, wenn Se gietigst erlaum«, ließ sich da eine gemütlich singende Stimme vernehmen, und von dem Menschenschwarm, der jetzt aus einem Tunnelausgang quoll, für Lilly lauter wohlbekannte Gestalten, löste sich ein schwarzgekleidetes Männchen ab und eilte auf die Gruppe zu, ein anderer folgte —
»Mr. Adam Green, Mr. Hartung!!«, schrie Lilly, jetzt ihren Augen noch viel weniger trauend und doch schon von der seligsten Freude erfüllt. — —
Wir wollen nicht dabei sein, wie die Aufklärung erfolgte, während die noch würgende Anakonda mit leichter Mühe durch Schlingen unschädlich gemacht wurde. So kurz als möglich sei alles berichtet.
Auch an Bord des zweiten, in dem Inseltale des Viktoria-Njansa zurückgebliebenen Luftschiffes hatte sich solch ein Aeroplan befunden, ganz nach Lillys System gefertigt.
Die Flucht der Talbewohner vor der Kohlensäure war ja diesmal so Hals über Kopf erfolgt. Der Führer des Luftschiffes, Mr. Jeffer, hatte also beschlossen, den Weg nach dem Monte Cerboli nach Osten herum zu nehmen. Diesem Entschlusse blieb er auch treu. Aber erst nachträglich fiel ihm ein, er könne doch wenigstens den Aeroplan nach demselben Ziele in der Richtung nach Westen schicken.
So geschah es. Der Aeroplan, mit zwei Mann besetzt, ging nach Westen ab. Unterwegs sollte er noch einmal die Felseninsel aufsuchen, dort noch nachträglich eine entsprechende Mitteilung für jeden Fall hinterlassen. Aber der Kohlensäureausbruch war noch ein ganz enormer, der Aeroplan musste sich in vorsichtiger Höhe über dem giftigen Gase halten, ein kleines Paket, die entsprechende Mitteilung enthaltend, verfehlte das Ziel, den oberen Rand, fiel auf die erste Terrasse unterhalb des Kraterrandes, und weiter wollten sich die Aviatiker nicht aufhalten.
Sie setzten ihren Weg fort nach Westen, die genaue Luftlinie nach Mexiko und noch genauer nach dem Monte Cerboli einhaltend. Am zweiten Tage, in später Nachmittagsstunde, sich schon der atlantischen Küste Afrikas nähernd, sahen sie unter sich in der Wüste eine große Karawane, aus der heraus dem Aeroplan zum namenlosen Staunen der beiden Aviatiker Signale gegeben wurden, wie die Kolonisten unter sich ausgemacht hatten.
Der Aeroplan solle landen. Die Unterschrift der in Geheimsprache gegebenen Depesche war sogar die von Georg Hartung, dem Präsidenten der kleinen Republik.
Die Aviatiker leisteten dem Befehle natürlich unverzüglich Folge. Sie fanden bei der arabischen Handelskarawane fast die ganze Besatzung des ›Tyrann‹, zum Teil allerdings mehr oder weniger verwundet, hauptsächlich an Knochenbrüchen, Quetschungen laborierend, auf Kamelen in Hängekörben transportiert werdend.
Sie erfuhren das Schicksal des ersten mit der Hälfte der Kolonisten abgegangenen Luftschiffes. Lilly hatte es gleich erkannt. Bei dem Probeaufstieg an dem Wüstenbrunnen in jener Nacht waren die Balanceverhältnisse in Unordnung gekommen, ein von einigen Sachverständigen schon immer behaupteter, von anderen aber nicht anerkannter Konstruktionsfehler hatte sich bewahrheitet — der Führer verlor die Herrschaft über das Luftschiff, es schoss mit nach oben gekehrter Spitze fast senkrecht in die Höhe, konnte wohl wieder in horizontale Lage gebracht werden, aber nur für kurze Zeit, es war nur eine Drehung um die Achse gewesen, es schoss wieder nach unten.
Die endliche Katastrophe war unvermeidlich. Durch gewisse Manipulationen konnte der Sturz nur etwas abgeschwächt werden. Alles an Deck, klar zum Absprung in den Wüstensand!
So schlug das Luftschiff auf. Ja, diese Metallplatten konnten einen tüchtigen Puff vertragen, solch einen Sturz aber doch nicht, da musste alles aus den Fugen gehen.
Die meisten hatten sich im letzten Augenblick durch einen kühnen Sprung gerettet oder hatten sonstige Vorsichtsmaßregeln getroffen, um nicht zerschmettert zu werden, mit Polstern konnte da viel gemacht werden. Viele hatten dabei allerdings Knochenbrüche und Quetschungen davongetragen, einige wenige auch ihren Tod gefunden, so auch der erste Offizier als ein Opfer seiner Pflicht, die er, am Steuer stehend, bis zum letzten Moment erfüllt hatte, auch noch die letzte Schnelligkeit des Sturzes bremsend.
Kurz vor dem Absturze hatte man in der Nacht unter sich die Lagerfeuer einer Karawane gesehen. Diese musste zuerst aufgesucht werden, dort musste man Hilfe holen, wenn aus diesem wüsten Chaos überhaupt noch etwas zu retten war.
Die arabischen Karawanenhändler nahmen die Hilfsbedürftigen wie immer gütig auf, wollten aber von dem Schutthaufen, nach dem sie geführt wurden, absolut nichts wissen, wollten überhaupt gar nichts erfahren. Es ging über ihre Begriffe — ein Werk des Teufels — nur aufnehmen mussten sie die in der Wüste, die Wasser- und Proviantlosen — genug!
Übrigens setzte in derselben Nacht ein Sturm ein, welcher den Trümmerhaufen mit Flugsand zudeckte, ihn vollends unzugänglich machte, und wer sich noch lebend darin befunden hatte, war schon längst erstickt.
Zu Tode betrübt wanderten die Unverletzten, darunter Kapitän Hartung und Adam Green, mit der Karawane, deren Ziel ein Hafen an der Westküste war, ihre verwundeten Kameraden pflegend, zwei von ihnen noch nachträglich ein Grab im Wüstensande bereitend.
Ungefähr eine Woche war die Karawane gewandert, so langsam, wie alle schwerbepackten Handelskarawanen, ohne jde Abwechslung — da war der Aeroplan erblickt, sofort als eigenes Werk erkannt worden.
Jetzt änderte sich die Sache, ein definitiver Plan konnte gefasst werden. Hartung und Green lösten die beiden Aviatiker ab, sie wollten schnellstens nach Osten dem zweiten Luftschiffe nacheilen, in der Hoffnung, es schon in Indien einholen zu können. Die betreffenden Punkte, wo es sich immer einige Zeit aufhalten würde, konnten die beiden Abgesandten mitteilen. Die anderen sollten in der nächsten Oase verweilen, bis ihnen weitere Instruktionen zugingen. Mit Geldmitteln waren sie reichlich versehen, und Geld übt auch in der einsamsten Wüstenoase Afrikas seine Macht aus.
Die beiden, Hartung und Green, eilten auf dem Aeroplan, der nicht mehr als zwei Menschen trug, in rasender Schnelligkeit nach Osten, überflogen die Talinsel im Viktoria-Njansa, ohne sich aufzuhalten, weil sie in dem Tale noch immer kein Leben entdeckten, überflogen den indischen Ozean, die Provinz Bandelakand.
Als sie sich anschickten, eine geografische Ortsbestimmung zu machen, in der ganz richtigen Meinung, sich in der Nähe ihres ersten Zieles zu befinden, wurden sie von Alberich erblickt.
Dieser erkannte sofort, dass dieser Aeroplan ganz ein solcher wie die ›Libelle‹ war, er hatte schon gehört, dass sich auch an Bord des zweiten Luftschiffes eine derartige Flugmaschine befand, weitere Schlüsse brauchte er gar nicht zu ziehen — er erhob sich, flog dem Aeroplan entgegen der sonst auch tatsächlich weit an seinem Ziele vorbeigestrichen wäre. Bei der Begegnung der beiden Aeroplane fand ein merkwürdiges Wiedersehen statt, das die größten Folgen haben sollte, wie später noch geschildert wird.
Auch das Luftschiff selbst befabd sich noch in der Nähe dieses Ortes, hielt sich im Gebirge verborgen. Woher den Kolonisten etwas von diesem geheimen Versteck der Skaris bekannt war, oder was sie sonst hier hatten suchen wollen, das erfuhr Breithaupt, mit dessen Ohren wir jetzt hören, bei dieser kurzen Erklärung noch nicht. Bei den Kolonisten war auch ein Inder, der hierbei die Hauptrolle zu spielen schien, der mochte früher mit den Schlangenpriestern Indras nähere Bekanntschaft gemacht haben, sicher hatte er diesen Besuch veranlasst.
Aber er konnte nicht so direkt führen, auch er hatte erst einen Weg suchen müssen. So hatten die Luftschiffer einen solchen durch den Busch gehauen, hatten an dem geografisch bezeichneten Punkte in der Felswand die eiserne Tür entdeckt, waren durch den Tunnel in die Grotte gedrungen, hatten hier die brasilianischen Riesenschlangen, aber keinen Menschen gefunden, jedoch die frühere Anwesenheit solcher, und man konnte aus gewissen Anzeichen auch annehmen, dass die Bewohner dieser Grotte bald zurückkehren würden.
Nachdem die Luftschiffer noch andere Tunnels entdeckt und sich auch sonst weiter orientiert hatten, legten sie sich im Gebirge auf die Lauer. Dass sie freilich eine Woche lang hier warten müssten, das war nicht ihre Absicht gewesen. Aber jeder Tag musste aller Wahrscheinlichkeit nach die Skaris zurückbringen. Und es war gut gewesen, dass sie eine Woche lang ausgehalten hatten.
In dieser letzten Mondscheinnacht hatte sie von ihrem Versteck aus die Landung des Aeroplans beobachtet, in ihm sofort keinen anderen erkennend, als die Hilfsmaschine des ›Tyrann‹. Aber so hell die Nacht auch sein mochte, es war kaum möglich, sich sofort mit den Aviatikern in Verbindung zu setzen, es war eben Nacht, man befand sich in der indischen Wildnis, in einer sonst völlig unbekannten Gegend, man musste den Anbruch des Tages abwarten.
Am Morgen sah man aus dem hochgelegenen Versteck des Luftschiffes, wie der Aeroplan nach Westen abflog, sah auch gleich den Grund, man erkannte in der Ferne einen zweiten Aeroplan, die Hilfsmaschine des eigenen Luftschiffes — und gleichzeitig sah man auch einen ganzen Trupp Inder ankommen, getötetes Wild tragend und lebendige Haustiere treibend, offenbar zur Fütterung der Riesenschlangen bestimmt.
Jetzt hieß es schnell handeln. Zuerst setzte man sich mit den beiden Aeroplanen in Verbindung, was durch glückliche Umstände leicht geschah. Leonor feierte ein Wiedersehen mit ihrem Gatten, das freilich durch die Todesnachricht einiger Mitglieder und durch den Verlust des ›Tyrann‹ in etwas getrübt wurde. Weiter vernahm man jetzt von Alberich, dass seine beiden Begleiter schon in den Tunnel, also in die Grotte gedrungen waren, da konnte man sich alles andere gleich ausmalen, sie würden doch sicher mit den zurückkehrenden Indern zusammentreffen, da hieß es jetzt noch schneller handeln.
Von verschiedenen Seiten wurden die ausspionierten Tunneleingänge beschlichen. Man traf auf aufgestellte Posten, die aber anscheinend keine Ahnung davon hatten, was in der Umgebung des Berges unterdessen alles vor sich gegangen war. Und unter diesen Luftschiffern befanden sich einige, welche das Schleichen verstanden, an der Spitze Georg Hartung, der einstige Wald- und Wüstenläufer, der mit der Büchse die ganze Erde zu Fuß umquert hatte.
Die überrumpelten Wachen wurden nicht durch elektrische Kugeln getötet, sondern aus den lautlosen Luftbüchsen mit Bolzen beschossen, deren leiseste Verletzung genügte, um den Getroffenen im selben Augenblicke bewusstlos zu machen. Dieses Mittel hatten die Kolonisten von ihrem indischen Mitgliede, das schon mit den Skaris in Berührung gestanden.
Dann drangen sie, ohne auf ein weiteres Hindernis zu stoßen, durch den Tunnel in die Grotte, und sie kamen gerade noch im letzten Augenblicke, um Lilly vor der Umstrickung durch die Anakonda zu retten.
»Der rettende Engel bin ich gewesen«, fügte Adam Green den von anderer Seite gegebenen Erklärungen hinzu, »denn ich war'sch, der die Riesenschlange auf's Gorn genomm' hat. Awwer«, wandte er sich an Breithaupt, »Herr Dokter, wie ich's Ihnen schon damals sagte — ich hawe in der Liewe ähm gee Glick — nu ham Se mich ooch wieder bei der da hintennunterrutschen lassen.«
»Adam, mein lieber Adam!«, rief Lilly in wirklichem Schmerz.
»Schon gut, schon gut«, wehrte diese ab, »was ich geheert hawe, das habb'ch geheert — un ich nehm's Ihn ja ooch gar nich weiter iewel, 's is ganz gut so, ich hawe's mir unterdessen andersch iewerlegt, ich bleiwe doch liewer ledg. Awer hier, wissen Se denn, wen'ch hier getroffen hawe? Mei alter Freind Oliphant Dorlington, frieher erschter Assistent bei mein alten Freinde Edison.«
Alberich war es, auf den er dabei gedeutet, und weinend stürzte der Unglückliche zu den Füßen Lillys nieder um sie mit Küssen zu bedecken, weinend vor Freude. Schon allein das Nennen seines Namens hatte ihm die völlige Erinnerung an sein früheres Leben zurückgegeben, die Unterhaltung mit dem einstmaligen Freunde tat das übrige.
Es ist hier nicht mehr Platz, über das sonstige Schicksal dieses Mannes zu berichten, und außerdem wurde jetzt die ganze Szene durch etwas anderes unterbrochen.
Das indische Mitglied der Gesellschaft hatte unterdessen seine braunen Kameraden untersucht und machte eine mehr überraschende als bestürzende Mitteilung: von den Indern, die man nur für bewusstlos hielt, war kein einziger mehr am Leben. Das Mittel, mit denen die Bolzen imprägniert worden, war wenn es auch nur betäuben sollte, natürlich ein Gift, es mochte zu stark zubereitet worden sein, hatte durch eine Verletzung den augenblicklichen Tod herbeigeführt.
»Gut, dass es so gekommen ist«, entschied Kapitän Hartung alsbald, »wir wollen ihnen ein Begräbnis geben, sonst haben wir hier nichts mehr zu suchen, wir haben mit der ganzen Menschheit nichts mehr zu tun, am allerwenigsten mit diesen Skaris und ihren Riesenschlangen, ob es nun indische Pythons oder brasilianische Anakondas sind. So haben wir auch keine Anzeige von dem ganzen Vorfall zu machen.«
Eine Stunde später setzte das Luftschiff seine Reise nach Osten fort, als letztes Ziel noch immer den Monte Cerboli habend.
Hiermit schließt dieser Teil der Erzählung. Hoffen wir, unseren Freunden noch einmal auf dem geheimnisvollen Berge und auf weiteren Reisen begegnen zu können.
»Kennen Sie mich nicht?«, lächelte der Fremde. (S. 13)
Sie rannte durch das Zimmer und... lief einfach
die Wand hinauf bis zur Decke. Und es war
doch eine ganz richtige, glatte Wand. (S. 48)
Es war alles besser gegangen, als die
beiden zu hoffen gewagt hatten. (S. 70)
»Diese Verdächtigung ist das Unerhörteste, was
mir je begegnet ist«, keuchte der erste Maschinist.
»Miss, ich bin der erste Ingenieur, halten Sie mich
etwa für einen Taschenspieler?« (S. 78)
»Im Namen des Königs, Sie sind verhaftet! Und das Gleiche
gilt für Sie, als den Begleiter dieser Dame.« (S. 100)
»Wer sind Sie?«, redete Lilly den nackten Zwerg an. (S. 124)
Wohl waren Kopf und Gesicht ganz ausgetrocknet, die charak-
teristischen Züge waren aber doch noch wohlerhalten. (S. 144)
Ohne Weiteres kletterte Alberich hinauf, Hand
über Hand angelnd, die Füße nur dazu benutzend,
sich mit ihnen von der Wand abzustützen. (S. 160)
Und da tauchten aus dem finsteren Schachte
zwei Hände empor, griffen blitzschnell zu, um-
klammerten einendürren Hals wie mit Eisenzangen,
und diese Eisenzangen drückten und drückten. (S. 193)
Breithaupt schwebte schon einige Meter über dem Boden, als Lilly zu-
rücksprang und mit der Luftpistole das Seil durchschoss. (S. 216)
In fünf Sekunden hatte Lilly, natürlich den Atem
anhaltend, das Paket erreicht, hob es auf und
war in fünf Sekunden schon wieder oben. (S. 247)
Einige Minuten blieb die Anakonda ruhig liegen, nur den
Kopf wie unschlüssig nach allen Richtungen bewegend,
dann kroch sie auf den indischen Gefangenen zu. (S. 299)
Roy Glashan's Library
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