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ROBERT KRAFT

SANTA MADONNA

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EINEM ENGLISCHEN DETEKTIV NACHERZÄHLT


Ex Libris

Erstdruck in
Bunte Blätter
Unterhaltungs-Beilage zum Nürnberger Anzeiger, 1896

Diese E-Buch-Ausgabe: Roy Glashan's Library, 2025
Version: 2025-11-10

Bearbeitung: Matthias Kaether und Roy Glashan

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I.

In der Westcity Londons ist ein Café gelegen, dessen palaisartige Einrichtung nur zur Bewirtung von Fürstlichkeiten oder doch wenigstens der Reichsten des In- und Auslandes bestimmt zu sein scheint. Der mit dem Zwecke dieses Kaffeehauses unbekannte Besucher wird sich aber höchlichst verwundern, dort eine Gesellschaft von Gästen in geschäftlichen Gesprächen zu finden, wie er sie bunter zusammengewürfelt wohl selten getroffen hat. Geckenhaft aufgeputzte Gentlemen unterhalten sich im vertraulichen Tone mit Leuten in fadenscheinigen Kaftanen; wohlgenährte Herren, deren Anzüge den ersten Modemagazinen Londons entstammen, den in England unvermeidlichen Zylinder auf dem Kopfe, schämen sich durchaus nicht, Individuen mit den ausgesprochendsten Abenteurerphysiognomien, welche besser in ein verrufenes Spiel-Cafe passen würden, wohlwollend auf die Achsel zu klopfen oder gar Arm in Arm mit ihnen durch den Saal zu promenieren.

Aber gerade unter den unscheinbaren Gestalten sind einige, welche alle diese Kaffee schlürfenden, schwatzenden und Geschäfte abschließenden Menschen beherrschen, bei deren Erscheinen ein Flüstern im Saale entsteht, und deren Urteil unwiderruflich gilt — es sind die Diamantenfürsten, die sich hier, dem Weltmarkte der Edelsteine, von Zeit zu Zeit einfinden.

Die interessanteste Figur ist jedenfalls jener kleine, bartlose Geselle mit den krummen Beinen, der, mit seinem ewigen höhnischen Grinsen in dem braunledernen Gesicht, die Hände in den Hosentaschen, einem stutzerhaft gekleideten Manne zuhört. Es ist Master Young, von Geburt ein Yankee, der sein Glück als Branntweinkrämer in Südafrika gemacht hat. Er könnte erzählen, wie er einmal einem Schwarzen ein großes Glas Rum einschenkte und als Bezahlung dasselbe Glas mit roten Diamanten gefüllt bekam, oder wie sein Kompagnon, von den Speeren der Kaffern durchbohrt, neben ihm zu Boden sank und er Besitzer seines vollen Lederbeutels wurde. Obwohl Mister Young bereits seit mehreren Jahren seine gefährlichen Expeditionen aufgegeben hat und nur noch von einem Diamantmarkt zum andern reist, um für die geschliffenen Steine Liebhaber zu finden, thut er doch noch gerade so, als habe er nicht mit zivilisierten Menschen, sondern mit Kaffern und Hottentotten zu feilschen; nicht einmal sein Äußeres zu ändern, hält er der Mühe wert. Der karierte Buckskinanzug sieht aus, als hätte ihn Mister Young schon in den Steppen Afrikas getragen, und einen Kragen, Schlips oder Schnupftuch braucht er hier in diesem Prachtsaal ebensowenig als auf einem Ochsenkarren — Geld, Geld und noch einmal Geld ist bei ihm die Losung, alles andere ist Nebensache.

Eines Tages waren die Gäste des Cafe's besonders zahlreich vertreten und alle in fieberhafter Aufregung. Ein holländischer Diamantenhändler war soeben eingetroffen und bot eine große Anzahl der schönsten Steine zum Verkauf an. Ab und zu ließ der schon ältliche behäbige Holländer seine Hand im Busen verschwinden und zeigte auf Wunsch einen oder den anderen Stein, welcher stets die Begierde bei den Kennern hervorrief; selbst Mister Young verlor beim Anblick eines solhen Diamanten einmal seinen höhnischen Gesichtsau8druck und musterte ihn durch die Lupe lange mit unverhohlener Bewunderung.

Am ersten Tage hatte der vorsichtige von Deeken noch kein einziges Geschäft abgeschlossen, er begnügte sich, die Steine bereitwilligst bewundern zu lassen und wartete ruhig auf höhere Angebote — um dann das Doppelte zu verlangen und ein Viertel sich wieder abhandeln zu lassen.

Fast gleichzeitig mit van Deeken war ein Mann auf der Börse eingetroffen, der dort zum ersten Male gesehen worden war, schwächlicher Gestalt, etwas hüstelnd, wie überhaupt das gelbe, runzliche Gesicht ein inneres Leiden verriet. Die ganze untere Partie des Gesichts war von einem leicht ergrauten, langen Vollbart verhüllt und der Fez saß bis auf die Augenbrauen in der Stirn.

Ibrahim Effendi, wie er sich nannte, ließ sich von verschiedenen Händlern Steine vorlegen und da sich nach und nach das Gerücht verbreitete, daß er im Auftrage einiger orientalischen Größen die kostbarsten Diamanten erstehen sollte und er auf Fragen durch geheimnisvolles Schweigen oder dunkle Redensarten das Gerücht bestätigte, so war der Türke immer von Händlern umdrängt. Aber nichts schien dessen Erwartung zu befriedigen, bis er endlich dem van Deeken in gebrochenem Englisch erklärte, die ihm gehörenden Steine ließen nichts zu wünschen übrig. Wenn er, van Deeken, eine genügende Anzahl von Diamanten mit sich führe, ließ sich wohl ein gutes Geschäft abschließen, wobei befriedigt sein würden. Van Deeken war hocherfreut und ging darauf ein, dem Türken am anderen Morgen in dessen elegante Wohnung, in derselben Straße gelegen, in der sich Cafe befand, zu folgen.

Das Haus war ein privates Hotel und wurde ganz besonders von den aus allen Ländern zugereisten Diamantenhändlern benutzt; auch van Deeken hatte dort sein Quartier aufgeschlagen. Jede Zimmerthür war oben mit einem Glasfenster versehen, so daß ein ängstlicher Mann nicht leiht von einem Gewaltakt zu fürchten brauchte, denn auf dem Korridor eilten beständig Hausdiener auf und ab — und am wenigsten fürchtete der muskulöse van Deeken den schwächlichen Türken. Ibrahim ließ sich den Schatz des Holländers auf den Tisch ausbreiten, und das Feilschen begann ...

Da hörte ein Kellner im Geschäftszimmer Ibrahims Hilferufe erschallen. Er sah durch das Fenster und erblickte den Holländer, wie er händeringend einem Wahnsinnigen gleich auf und ab rannte. Der herbeigerufene Wirt hielt es vorsichtiger Weise, im Falle, daß man es mit einem Geistesgestörten zu thun habe, für nötig, nach einem Konstabler zu schicken. Die verschlossene Thür ward mittelst eines Nachschlüssels geöffnet und nun erfuhr man, daß van Deeken, als er sich nach einem heruntergefallenen Diamanten gebückt hatte, von dem Türken plötzlich einen Furchtbaren Schlag auf den Kopf erhalten habe, wie der Holländer meinte, wahrscheinlich mit einem Gummischlauch, und als er aus seiner Betäubung erwachte, war der Türke nicht nur mit den auf dm Tische ausgebreiteten Diamanten verschwunden, sondern der Beraubte vermisste auch die übrigen wertvollen Steine, welche er in einem Beutel auf der Brust getragen hatte, sowie eine große Summe in Banknoten. Den Verlust gab er auf über 50,000 Pfund Sterling an.

Die sofort herbeigeholte Kriminalpolizei stellte ein Verhör mit allen an, welche sich um diese Zeit auf den Korridoren oder dem Portal des Hotels befunden hatten, aber niemand wollte einen Türken das Haus haben verlassen sehen. Alle Bahnhöfe, alle Schiffe wurden unter die genaueste Kontrolle gestellt, die Polizei setzte alle ihre Apparate in Bewegung, um den leicht zu erkennenden, hustenden Türken zu fassen, aber die nächsten drei Tage brachten keinen Erfolg. Ibrahim Effendi war verschwunden und man konnte nur annehmen. daß er sich in irgend einem Schlupfwinkel Londons versteckt hatte und eine Gelegenheit zum Entfliehen abwarte. Jedenfalls hatte es man hier mit einem ganz geriebenen Verbrecher zu thun, welcher diesen Diebstahl schon längst vorbereitet, denn in den von ihm bewohnt gewesenen Zimmern war auch nicht der geringste hinterlassene Gegenstand zu finden und beim Aufbrechen seines großen Koffers zeigte es sich, daß dieser nur Heu und Steine enthielt.


II.

Im Speiseaal eines der ersten Hotels Liverpools aßen kurze Zeit darauf spät am Abend ein Herr und eine Dame an einem Tisch für sich und nahmen unter fröhlichem Geplauder die Nachtmahlzeit ein. Die leise, kosende Weise, wie sie sich unterhielten, brachte jeden Beobachter auf den Gedanken, daß er hier ein auf der Hochzeitsreise befindliches Ehepaar vor sich habe. Der Herr, eine stattliche Erscheinung, Mitte der Dreißiger, mit keckem, hellblonden Schnurrbart, war in ritterlicher Galanterie um seine Dame bemüht und diese war wirklich der Huldigungen wert. Die schlanke, zierliche aber dennoch üppige Figur zeigte in ihren Bewegungen eine Sicherheit und Grazie, zugleich aber auch ein Lebhaftigkeit, welche das Auge entzückte. Schön konnte man sie gerade nicht nennen, dazu waren die Züge etwas zu knabenhaft, aber die schwarzen, funkelnden Augen, der sammetbraune Teint, das üppige schwarze Haar, hinten in einem Knoten zusammengewunden, stempelten sie so recht zu einem Kind des Südens, das mit seiner wilden Leidenschaftlichkeit den kalten Nordländer bezaubert. Das enganliegende Kleid mit langer Schleppe zeigte eine etwas auffallende, aber geschmackvolle Farbenzusammenstellung und Form, ebenso wie der breitkrempige Strohhut mit weißen Straußenfedern keck auf der Seite saß.

Sie waren erst vor einem Tage im Hotel angekommen und schienen ein Schiff zu erwarten, denn sie hatten angelegentlich die Fahrpläne der Dampfer studiert. Mister Harrlington, Plantagenbesitzer in Brasilien und Gemahlin, hatte er ins Fremdenbuch geschrieben; er bewohnte mit der Dame zusammen zwei Zimmer im ersten Stock.

Die Dame hatte den übrigen wenigen Gästen den Rücken gekehrt, warf aber jedes mal beim Öffnen der Thür dem Eintretenden aus Neugierde einen schnellen Blick zu, ohne sich dabei in ihrer leisen und, wie es schien, recht munteren Unterhaltung stören zu lassen.

Ein neuer Gast betrat den Salon, setzte sich nicht weit entfernt von dem Pärchen an einen Tisch und vertiefte sich nach Bestellung einer Limonade in die neuesten Sportberichte. Auf einmal zuckte er zusammen; ein von Lachen begleiteter, halblauter Ausruf war der Dame entschlüpft und ließ ihn das Zeitungsblatt weglegen, einen Blick nach den Sprechenden werfen, dann aber gleich wieder unbekümmert weiterlesen. Nach einigen Minuten trank er sein Glas Limonade aus, bezahlte den Kellner und verließ das Lokal, ohne den beiden einen weiteren Blick zu gönnen.

Auf der Straße erkundigte er sich bei dem ersten Konstabler nach der nächsten Polizeiwache und schlug eiligst den beschriebenen Weg ein. Eben bog er um die letzte Ecke, die ihn von der Wache trennte, als er mit einem kleinen, einfach gekleideten Herrn zusammenrannte, aber ehe er noch ein Wort der Entschuldigung sagen konnte, hatte ihn der andere trotz der Dunkelheit erkannt und rief: »Halloh, Mister Hammond, das nenne ich ein Zusammentreffen! Kommen Sie extra deswegen von jenseits des Ozeans her, um mich über den Haufen zu rennen?«

Und er streckte ihm lachend die Hand entgegen; es war ein Detektive, welcher sich eben dienstlich in Liverpool aufhielt, und zwar eben derselbe, aus dessen Munde der Erzähler die Einzelheiten der Geschichte erfuhr.

»Ein Glück, daß Sie der Zufall gerade jetzt mir in den Weg führt«, sagte erfreut der mit Hammond Angeredete und schüttelte dem Detektiv die Hand. »Soeben wollte ich auf der Polizei eine Anzeige machen, welche vielleicht von großer Wichtigkeit ist. Jetzt, da ich Sie getroffen habe, können Sie mit Ihrer Erfahrung mir die Sache abnehmen. Haben Sie vielleicht für eine viertel Stunde Zeit, mich anzuhören?«

»Gewiß, wenn es etwas zu fangen gibt, habe ich Tag und Nacht Zeit«, erwiderte der Detektive.

Hammond nahm seinen Arm und begann ohne weiteres zu erzählen, während sie langsam eine menschenleere Straße auf und ab gegangen waren.

»Sie wissen, daß ich bis vor einem Jahre die vereinigten Staaten als Pferdehändler bereiste. Mein Beruf brachte mich nicht nur mit Sportsleuten zusammen, sondern auch häufig mit Zirkusbesitzern und Artisten. So hatte ich auch einmal mit dem Direktor einer wandernden Kunstreitergesellschaft, welche damals in New-York weilte, eine Lieferung von Pferden abzumachen, und da so ein Geschäft nicht gleich abgeschlossen ist, sondern mit Besichtigung und Reiten der Tiere ein Tag nach dem andern hingeht, machte ich auch genauere Bekanntschaft mit dem Personal, wohnte ihren Vorstellungen bei und nahm nach diesen auch an ihren Soupers Teil. Es kam sehr viel darauf an, daß die Kunstreiter und Reiterinnen, welche später meine Pferde benützen sollten, über diese beim Probereiten ein günstiges Urteil abgaben und so ließ ich es denn bei den Abendmahlzeiten an Wein und an Sekt nicht fehlen, wofür ich auf Gegendank rechnen durfte.

Die beste Kraft der Gesellschaft war ohne Zweifel der Voltigeur, ein gewisser James Gregory, oder, wie er sich mit feinem Künstlernamen nannte, Antonio. Er sollte aus einer guten amerikanischen Familie stammen, von einer italienischen Mutter, und eine sorgsame Erziehung genossen haben, aber wegen schlechter Streiche in Geldangelegenheiten von seinem Vater verstoßen worden sein. Man erzählte sich von ihm, daß er erst nach der Verstoßung aus dem Hause in einer kleinen Singspielhalle als Charakterdarsteller und auch öfters in Damenrollen aufgetreten sei, wozu sich sein hübsches, mädchenhaftes Gesicht, die hohe vibrierende Stimme und seine biegsame Gestalt in der statt Knochen Sprungfedern zu stecken schienen, sehr gut geeignet hätten. Jetzt war er in dieser Gesellschaft als Voltigeur engagiert und leistetete auf ungesatteltem Pferde Erstaunliches.

James Gregory wurde aber weder bei diesem Namen noch Antonio gerufen, sondern hieß allgemein bei seinen Kollegen »Santa Madonna«, weil er diesen Ausruf als ein Zeichen der Freude, des Erstaunens oder auch als eine Verwünschung fortwährend im Munde führte. Vielleicht war ihm die Bezeichnung »Madonna« darum ironisch gegeben worden, weil er ein sehr wüstes, unmoralisches Leben führte und seine frühere Thätigkeit als Damendarsteller bekannt war.

Ich konnte den frivolen Burschen nicht ausstehen und mußte mich doch gerade mit ihm, der wegen seiner Geschicklichkeit im Reiten auf die übrigen Mitglieder eine gewisse Autorität ausübte, sehr viel abgeben.

Etwa ein halbes Jahr später reiste im nach einer Farm in der Nähe von St. Louis, deren Besitzer, Mister X., mir einige Pferde abgekauft und mir noch aufgetragen hatte, wenn ich in Besitz eines besonders wertvollen Tieres kommen sollte, ihm dies mitzubringen. Mister X. war erst seit kurzer Zeit verheiratet und wollte seine Gemahlin, eine kühne Reiterin, mit diesem Geschenk überraschen. So hatte ich außer den bereits gekauften drei Pferden noch ein viertes, eine prachtvolle arabische Stute, bei mir.

Mister X., seinen Namen muß ich verschweigen, empfing mich auf dem etwa zwei Stunden von seiner Villa entfernten Bahnhofe und war mit dem Kaufe des Arabers sofort einverstanden. Wir langten auf der Farm an, und während meine beiden Reitknechte in dem von einer Fenz eingeschlossenen Vorhofe die Zügel der vier Pferde hielten, von denen nur der Araber ungesattelt war, lud mich der Herr ein, im Hause eine Erfrischung einzunehmen.

Kaum waren wir in das Empfangszimmer getreten, als auf einmal die Hilferufe eines Weibes — durch das Haus gellten. Mein Wirt verliert plötzlich alle Farbe und stürzt aus dem Gemach. Ich folgte ihm mechanisch und erreichte eben den Korridor, als eine weibliche Gestalt an mir vorbeischießt und zur Hausthüre hinaus. Wie ich im nächsten Augenblick ebenfalls vor die Thür trete, ist mir doch, als sollte ich zur Bildsäule werden. Da steht mein Reitknecht und streckt noch die Hand aus, in welcher er den Zügel des Arabers gehalten hat, und dieser selbst fliegt eben, mit einem Weibe auf dem sattellosen Rücken, über die zwei Meter hohe Fenz hinweg.

Wie ich noch halberstarrt dastehe, stürmt Mister X. durch den Vorplatz, schleudert mich aus dem Thürrahmen und sitzt im nächsten Moment auf dem Rücken eines anderen meiner Pferde und schreit wie außer sich: »Ihm nach, ihm nach«, während er derselben Stelle der Fenz zusprengt, wo der Araber hinübergesetzt war. Jetzt werde ich auch lebendig; ich springe auf das beste der letzten beiden Tiere, nehme aber vorsichtigerweise meinen Weg durch das etwas abseits gelegene Hofthor, und wie ich hinauskomme, galoppiert das Pferd meines Wirtes frei auf der Wiese herum, während er selbst neben der Fenz im Grase liegt, mir aber heftig winkt, dem Flüchtling zu folgen, welcher schon einen bedeutenden Vorsprung hatte.

Das war ein wilder Ritt, und zugleich ein hoffnungsloser — der Araber war mir bald aus den Augen. — Nach fünf Stunden kam ich zurück, den hinkenden Araber am Zügel führend; ich hatte ihn nach etwa einer Stunde in einem Wäldchen schaumbedeckt und zitternd stehen gefunden, mit einer tiefen Wunde an dem linken Vorderbein, wahrscheinlich durch einen Sturz zugezogen. Von dem Flüchtling fehlte mir jede Spur, ich befand mich in einer menschenleeren, mir unbekannten Gegend, und so hielt ich es für das beste, nach der Farm zurückzukehren.

Mister X., den Arm in der Binde, hörte schweigend meinen Bericht an, gab mir eine Anweisung auf die Summe, welche ich für den Araber verlangt hatte, besichtigte deren Wunde, zog — alles ohne ein Wort zu sagen — einen Revolver aus der Tasche und jagte der Stute eine Kugel ins Gehirn.

Nachdem sich seine Wut etwas gelegt hatte, teilte er mir, mein Schweigen erbittend, den Anlass zu dieser sonderbaren Szene mit.

Vor einigen Wochen hatte Mister X. in den Zeitungen um eine Kammerzofe für seine Gemahlin annonciert. Es hatte sich auch bald ein junges Mädchen gemeldet, dessen Papiere auf Mary Simmers lauteten, und war von Mistreß X. angenommen worden. Sie war mit der neuen Zofe sehr zufrieden, nur einmal hatte sie ihrem Gemahl so nebenbei geäußert, daß das Mädchen öfters ein sonderbares, unruhiges Benehmen an sich habe.

Heute war Mister X. zur rechten Zeit zurückgekehrt, um seine Frau aus den Händen dieser Person zu retten. Er mußte von ihr hören, daß die angebliche Kammerzofe ein verkleideter Mann war und einen Raubanfall versucht hatte.

Mister X. brach in meiner Gegenwart die Koffer des angeblichen Mädchens auf, und meine Ahnung hatte mich nicht betrogen, als wir die Papiere von James Gregory vorfanden. Nun muß ich aber noch erwähnen, daß ich auch erfahren hatte, wie dieser Gregory vor etwa drei Monaten plötzlich jene Künstlergesellschaft verlassen hatte und seitdem nicht mehr gesehen worden war, als durch besondere Umstände der Verdacht auf ihn gefallen war, bei einem Raubanfall in einer kleinen Stadt, wo der Zirkus gerade gastierte, seine Hand mit im Spiele gehabt zu haben. Ich fand diese Vermutung hiermit bestätigt, denn die Koffer enthielten eine Menge jener geraubten Gegenstände, wie sie damals in allen Zeitungen genau beschrieben waren. Auch Mister X. hatte wahrscheinlich dieselben Gedanken wie ich, doch meinem Versprechen gemäß, dem Flüchtling nicht weiter nachzuspüren, behielt ich diese Entdeckung für mich.

James Gregory, oder die Madonna, blieb seitdem für mich verschollen.«

* * *

»Vorhin nun«, schloß der Pferdehändler seine Erzählung, »gehe ich nicht weit von hier in ein Hotel, als ich die Ehre hatte, der »Santa Madonna« zum drittenmale zu begegnen und zwar diesmal, wie es schien, als jung verheiratete Frau in Begleitung ihres Mannes. Ich hätte sie oder vielmehr ihn nicht wiedererkannt, denn das sonst blasse Gesicht hatte er braun gefärbt und sein Damenkostüm verstellte ihn sehr. Da hörte ich ihn mit einem Male »Santa Madonna« rufen, mit einem so eigentümlichen Tonfall und von einem so eigenartigen Lachen begleitet, daß ich ihn an diesen beiden Worten unter tausenden herausfinden wollte.«

Der Detektive hatte aufmerksam und nachdenkend zugehört; als Hammond geendet, sagte er:

»Und nun gedenken Sie diesen Gregory verhaften zu lassen. Aber auf welchen Grund, wenn Sie die von ihm in Amerika verübten Thaten verschweigen wollen?«

»Diese Frage wundert mich von Ihnen«, entgegnete erstaunt der Pferdehändler. »Es ist doch allein schon ein Vergehen gegen die Gesetze, daß er sich als Frau ausgibt. Und dann ist doch sicher zu vermuten, daß Gregory sich entweder unter der Frauenmaske verbirgt, weil er ein Verbrechen begangen hat, oder weil er eins zu begehen beabsichtigt. Jedenfalls hat er sich überhaupt der Verbrecherkarriere gewidmet und der Herr, der sich als Ehemann ausgibt, ist sein Kompagnon. Daß er sich damals bei Mistreß X. als Kammerzofe eingeschlichen, hatte doch nur den Zweck, einen neuen Raub zu begehen, und nur durch seine vorzeitige Eile wurde er an sich selbst zum Verräter.«

»Ganz meine Meinung, das heißt, wenn Sie sich nicht in der Dame getäuscht haben!« sagte lächelnd der Detektive.

»Hundert Pfund zum Pfande, ist er es nicht. Der Ausruf, die Stimme, das Lachen, die Bewegungen — kein Zweifel es ist James Gregory; und wenn Sie die Verhaftung dieses Schurken nicht vornehmen wollen, suche ich jemand anderen ... «

»Nur gemach, Mister Hammond, gleich sind wir auf der Polizei-Station«, unterbrach der Detektive den Aufgeregten.

»Dann mache ich Sie nur noch darauf aufmerksam, daß dieser Gregory sich jedenfalls nicht ohne weiteres verhaften lassen wird. Ich habe ihn in der Manege reiten sehen und weiß daher, daß er ein tollkühner Bursche ist und trotz seiner schmächtigen Gestalt stählerne Muskeln besitzt.«

Der Detektive nickte nur und bat ihn, vor der Thür der unterdes erreichten Polizei-Station zu warten. Einige Minuten später kam er in Begleitung von sechs uniformierten Konstablern wieder heraus und alle schlugen den Weg nach dem Hotel ein.

Es war schon gegen elf Uhr, als der Detektive mit seiner Begleitung, dicht an der Häuserwand hingehend, unbemerkt das Hotel erreichte. Er ließ die sechs Männer in der Hausflur warten, trat an den Schalter des Portiers und bat Hammond, den betreffenden Herrn und die Dame zu beschreiben, worauf der Portier sie als Mister Harrlington und Frau bezeichnete. Der Wirt wurde gerufen, der Detektive legitimierte sich, erklärte ersterem, daß er Mister Harrlington nebst Gemahlin zu verhaften habe, und fragte, wo diese sich befänden.

Als der Zimmerkellner sagte, daß sie sich eben erst in ihre Zimmer im ersten Stock begeben hätten, welche nur unter sich und durch je eine Thüre mit dem Korridore verbunden waren, postierte der Detektive auf der Straße unter den Zimmerfenstern drei Policeleute und begab sich mit den anderen drei, Hammond und dem Wirt geräuschlos in den ersten Stock.

Durch eine Ritze der Schlafzimmerthür des Ehepaares schimmerte Licht. Der Verabredung gemäß klopfte der Wirt an die Thür und wünschte Mister Harrlington zu sprechen. Drinnen wurde ein Kofferdeckel zugeschlagen und man hörte leise flüstern. Dann wurde der Riegel zurückgeschoben und die Thür von Mr. Harrlington geöffnet, während die Dame sich mehr im Hintergrund des Zimmers befand, beide vollständig angezogen.

Neben dem Wirt stand nur noch der Detektive, welcher jetzt, die rechte Hand in der Rocktasche am Revolver, etwas vortrat und ruhig fragte, sich mehr der Dame zuwendend:

»Habe ich das Vergnügen, mit James Gregory zu sprechen?«

Erbleichend taumelte der Herr zurück und stützte sich mit den Händen auf die Tischkante. Ganz anders war das Verhalten der Dame. Sie sah, wie jetzt auf ein Zeichen des Detektivs die Konstabler ins Zimmer drangen, im Nu hatte sie ihr Kleid aufgerafft, so daß man unter diesem die Herrenbeinkleider sehen konnte, und stand mit einem Satze in dem geöffneten Fenster. Wohl sprang der Detektive mit ausgebreiteten Armen nach ihr hin, um sie zu fassen, aber er griff in die Luft — die Frauengestalt hatte den Sprung aus dem sehr hohen Stockwerk gewagt.

Da gellte ein entsetzlicher, kurzer Weheruf durch die Nacht, ein Krachen, als würde ein irdener Topf auf dem Pflaster der Straße zerschmettert — und alles war wieder still. Der Detektive lehnte sich zum Fenster hinaus. Dann wandte er sich um und sagte erschüttert zu Hammond: »Ich komme zu spät, Gott hat gerichtet.« Beide gingen hinab auf die Straße, Harrlington den Konstablern überlassend.

Auch wenn nicht die drei Policeleute unten postiert gewesen wären, wäre doch die Flucht Gregorys vereitelt worden. Die lange Schleppe seines Gewandes hatte sich an einem Haken des Parterrefensters gefangen, und der herabsausende Körper war durch den Ruck mit verdoppelter Schnelle vornüber und der Kopf hart auf die Granitplatten geschlagen.

Herbeigeholte Mannschaften transportierten die Leiche, Mister Harrlington und alle vorgefundenen Effekten nach der Wache, wo zuerst die Entkleidung des toten Gregory vorgenommen wurde. Es zeigte sich, daß er unter dem 'Damenkleid einen vollständigen Herrenanzug trug, so daß er nur das dünne Oberkleid, den Hut und die Perücke abzuwerfen und eine in der Tasche verborgene Mütze aufzusetzen brauchte, um wieder als Herr aufzutreten.

Als der Detektive das mit Luft aufgeblasene Korsett öffnete, nahmen seine Züge auf einmal einen überraschten Ausdruck an. Er nahm von der Brust des Toten einen Beutel, hielt ihn hoch empor und rief: »Gentlemen, die Diamanten des Holländers.« Nach wenigen Minuten hatten sich auch dessen Brieftasche mit Banknoten, von denen nur wenige fehlten, am Körper der Leiche gefunden.

Am nächsten Tage wurden die Koffer des sauberen Ehepaares gründlich untersucht. Sie — enthielten nicht nur die Kleider des »Türken«, den langen Bart und Fez, sondern auch eine Menge falscher Bärte, Männer- und Damenkostüme, elegant, einfach und arm, Haarfärbemittel, Perücken u. s. w.

Wider Erwarten war Harrlington, für den vorläufig nur belastend war, daß er von der Verkleidung des Gregory gewußt und sie begünstigt habe, völlig geständig. Vor einiger Zeit hatte ihn Gregory in Amerika im tiefsten Elend gefunden und ihm geholfen. Dem beredten James war es leicht gewesen, ihn durch glänzende Verlockungen dahin zu bringen, daß er ihm, Gregory, bei einem seinem verbrecherischen Vorhaben helfe — die Aussicht, mit einem Male ein reicher Mann zu werden, hatte ihn verblendet.

Beide reisten nach London, wo sie ein unscheinbares Privatlogis bewohnten, bis Gregory die Ankunft des holländischen Diamantenhändlers erfuhr. Nun verschaffte sich der geriebene Gauner Pferd und Wagen und Harrlington mußte in einer Livree als Kutscher fungieren. Mit dem vorbereiteten Gepäck fuhr Gregory nach jenem Hotel, kleidete sich unterwegs als Türke an und trat als Ibrahim Effendi auf. Nach der Beraubung des Holländers verbarg er das Obergewand, den Bart und den Fez des Türken am Körper und bestieg, hoch aufgerichtet und als Gentlemen gekleidet seinen Wagen, welcher bereits auf ihn gewartet hatte.

Während einer langen Spazierfahrt in einem Parke Londons zog sich Gregory als Dame an und stieg dann in einem Hotel ab, wartete, bis er von Harrlington, der sich unterdessen in einen noblen Herrn verwandelt hatte, abgeholt wurde und beide fuhren nach Liverpool, um mit dem nächsten Dampfer nach Sydney zu gehen. Da hatte das Schicksal der Verbrecherlaufbahn Gregorys ein Ziel gesetzt, indem es ihm den Pferdehändler in den Weg schickte, welcher ihn an dem Ausruf »Santa Madonna« erkannte und seine Verhaftung anregte.

Die reiche Belohnung des glücklichen Holländers, der sich bereits am vierten Tage wieder im Besitze seiner Schätze sah, nahm der Detektive zwar an, stellte sie jedoch dem Pferdehändler zur Verfügung. Dieser aber, ein sehr wohlhabender Mann, schlug jedes Anerbieten ab. An demselben Abend berichtete er nur noch dem Farmbesitzer in St. Louis, wie die frühere Kammerzofe seiner Gemahlin dem Arm der Gerechtigkeit nicht entgangen sei.


ENDE


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